Peter Scholl-Latour
Ein Abgesang
Aus Gründen der Diskretion habe ich die Namen meiner
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Propyläen ist ein Verlag der
Ullstein Buchverlage GmbH
ISBN 978-3-549-92001-5
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2009
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Cornelia Laqua
Karten: Thomas Hammer
Satz und eBook: LVD GmbH, Berlin
Präludium Wachablösung |
7 |
Canto primeiro: Ost-Timor Portugals letzter Gesang |
17 |
Canto segundo: Bali Im Vorfeld des Fünften Kontinents |
88 |
Canto terceiro: Ozeanien Das andere Ende der Welt |
128 |
Canto quarto: Java Indonesische Schattenspiele |
205 |
Canto quinto: Philippinen Die Inseln des Magellan |
245 |
Canto sexto: China »Zittere und gehorche!« |
281 |
Canto sétimo: Kasachstan Die Macht der Steppe |
337 |
Canto oitavo: Kirgistan Die Enttäuschung der »Tulpen-Revolution« |
393 |
Epilog Der Nachlaß |
431 |
Personenregister | 451 |
Bildnachweis | 458 |
PRÄLUDIUM
Vor seinem Besuch im Konzentrationslager Buchenwald am 5. Juni 2009, so wird berichtet, hat Barack Obama einen politischen Dialog mit Angela Merkel geführt. Eine herzliche Atmosphäre sei dabei nicht aufgekommen. Es heißt, der amerikanische Präsident habe die Kanzlerin am Ende mit einem Thema überrascht, das im vereinbarten Austausch nicht vorgesehen war. »Warum sind Sie gegen einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union?« soll Obama abrupt gefragt haben. Relata refero. Es fällt nicht schwer, sich die Argumente der deutschen Kanzlerin vorzustellen, mit der sie ihre Ablehnung und die der meisten Europäer begründete. Die Türkei, so mag sie entgegengehalten haben, weise noch erhebliche Defizite in Sachen Demokratie und Menschenrechte auf. Der Zypern-Disput sei nicht bereinigt. Die Türkei verhalte sich repressiv gegenüber ihren ethnischen und konfessionellen Minderheiten. Für das Kurdenproblem sei trotz einiger dürftiger Zugeständnisse keine wirkliche Regelung in Sicht. Die Europäische Union sei zudem keineswegs begeistert von der Perspektive, im Fall eines türkischen Beitritts unmittelbarer Nachbar des Kaukasus, Irans sowie Mesopotamiens zu werden und unweigerlich in deren Querelen verwickelt zu sein.
Es wäre taktlos gewesen, einem amerikanischen Partner gegenüber, dessen Vater unter dem britischen Kolonialismus gelitten hatte und dessen Frau die Nachfahrin westafrikanischer Sklaven ist, die kulturelle oder gar ethnische Einzigartigkeit des Abendlandes zu betonen, die es gegenüber einer massiven turanischen Zuwanderung aus Anatolien zu bewahren gelte. Selbst ein Verweis auf die Unvereinbarkeit zwischen der christlichen Ursubstanz Europas – die die Kanzlerin, obwohl sie Vorsitzende einer christlichen Partei ist, ohnehin kaum erwähnt – und der spektakulären Rückwendung der post-kemalistischen Türkei zur Lehre des Propheten Mohammed wäre unangebracht gewesen. Barack Obama bekennt sich zwar in aller Form zum christlichen Glauben, doch die muslimische Religionszugehörigkeit seines Vaters reiht ihn laut koranischem Gesetz unwiderruflich in die Reihen der islamischen Umma ein.
Nach dem Sturm der Begeisterung, den die Wahl Barack Hussein Obamas zum mächtigsten Mann der Welt in Europa, mehr noch als in Amerika, ausgelöst hat, kommen wir nicht umhin festzustellen, daß die Beziehungen zwischen der Alten und der Neuen Welt nicht mehr die gleichen sein werden. An infamen Angriffen, an tückischen Verleumdungen wird es in Zukunft nicht fehlen. Es gibt zu viele reaktionäre US Citizens, die sich mit der Präsenz eines schwarzen Mannes im Weißen Haus nicht abfinden. Die rassistischen Vorurteile, die William Faulkner vor gar nicht so langer Zeit in der abgrundtiefen Düsternis seiner Romane aus dem »tiefen Süden« schilderte, sind vielerorts noch präsent. Die Dämonen warten auf ihre Entfesselung. Schon melden sich Stimmen zu Wort, die die amerikanische Staatsangehörigkeit Obamas in Frage stellen und mit der Behauptung auftreten, er sei in Indonesien als Muslim aufgewachsen.
Selbst in europäischen Gazetten kommt plötzlich – vermutlich als Reaktion auf die grandiose Rede, die er in Kairo hielt – der Vorwurf auf, dieser »Commander-in-Chief« gehe nicht mit der gebotenen militärischen Gewalt gegen die Islamische Republik Iran vor, er habe durch seinen Verzicht auf den Ausbau eines Raketenschirms in Polen den Westen der nuklearen Bedrohung durch Schurkenstaaten des Orients ausgeliefert, und gegenüber Israel neige er einer propalästinensischen Haltung zu.
Das Schicksal Martin Luther Kings hängt als düstere Mahnung über diesem Mann, der endgültig der Erkenntnis zum Durchbruch verhalf, daß die politische Ausrichtung der USA nicht mehr durch eine Bevölkerungsminderheit definiert wird, die sich rühmte, »White, Anglo-Saxon and Protestant« zu sein. Welches auch immer das Schicksal des jetzigen Präsidenten sein mag, hier ist ein Deich gebrochen. Das Antlitz der Vereinigten Staaten wird zunehmend von der Masse der Latinos – in der Mehrheit spanisch-indianische Mestizen –, der Afro-Americans und einer wachsenden Zahl von Asiaten gestaltet werden. Die einst mißachteten Katholiken bilden bereits die bei weitem stärkste christliche Konfession.
*
Es soll nicht der Irrtum aufkommen, das vorliegende Buch beschäftige sich vorrangig mit Amerika. Auch die Probleme der Europäischen Union sind nicht das Thema. Dieser Reisebericht ist der intensiven persönlichen Erfahrung des Autors gewidmet, dass die dominante Ära des »weißen Mannes«, der sich um 1900 die ganze Welt untertan gemacht hatte, ihren Endpunkt erreicht hat. Genau ein halbes Jahrtausend hat diese phänomenale Expansion und ihre zähe Beharrung gedauert. Die einseitige Vorrangstellung Europas wurde im zwanzigsten Jahrhundert durch die Vereinigten Staaten von Amerika – von de Gaulle als »Tochter Europas – fille de l’Europe« bezeichnet – abgelöst und amplifiziert. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges sieht sich diese transatlantische Allianz globalen Machtverschiebungen ausgesetzt, denen sie schon aus demographischen Gründen nicht gewachsen ist. Dem »weißen Mann« ist ja nicht nur das Monopol industrieller und militärischer Überlegenheit abhanden gekommen. Ihm fehlen heute vor allem das Sendungsbewußtsein, die Lust am Abenteuer sowie die Bereitschaft zur Selbstaufopferung, auf die sich sein imperialer Anspruch gründete. Literarisch eingeleitet wurde die Epoche des europäischen Im perialismus durch die mythischen Navigatoren-Gesänge des Portugiesen Luís Vaz de Camões. Ihr Ende wurde symbolisch angedeutet in Rudyard Kiplings Legende von dem »Mann, der König sein wollte« und der in den Schluchten von Kafiristan – so nannte man damals die afghanische Provinz Nuristan – in einen bodenlosen Abgrund stürzte. Dieser »Abgesang« ist weder eine pathetische Prophezeiung noch eine nostalgische Klage. Die Zusammenstellung der sehr unterschiedlichen Kapitel habe ich dem Zufall meiner Reiseroute überlassen. In diesem Punkt fühlte ich mich den Weltumseglern der Entdeckerzeit verbunden, die in ozeanische und terrestrische Weiten vorstießen, ohne sich ihrer präzisen Zielsetzung bewußt zu sein. Die geographische Dimension dieser Saga des Niedergangs ist zwangsläufig unvollständig und müßte durch weitere Regionen ergänzt und bestätigt werden. Das Projekt steht uns ja noch bevor.
Man mag mir entgegenhalten, die »Angst des weißen Mannes« sei ein Produkt meiner Phantasie, und es lebe sich doch weiterhin recht bequem in dieser »Brave New World«, die sich dem Multikulturalismus und der Multiethnizität ergeben hat. Ich bin so alt, daß ich die Stunde einer akuten Bedrohung wohl nicht mehr er leben werde. Doch schon die kommende Generation wird sich mit der schmerzlichen Anpassung an eine inferiore Rolle im globalen Kräftespiel, an geschwundenes Prestige abfinden müssen und mit dem tragischen Fatum leben, daß den weißen Herren von gestern das sachte Abgleiten in Resignation und Bedeutungslosigkeit bevorsteht. Der Ausdruck »White Man« ist heute ja schon verpönt und mit dem Odium des Rassendünkels behaftet.
*
Zunächst stellt sich die Frage: Wer ist überhaupt ein Weißer? So weit liegt der kollektive Wahnwitz ja nicht zurück, der sich in Alfred Rosenbergs Mythos des 20. Jahrhunderts offenbarte und zum Religionsersatz des Dritten Reiches wurde. Die Einwanderungsbehörden der USA, die über strenge ethnische Quoten wachten, hatten für die weißen Europäer den Ausdruck »Caucasian« gefunden. Ich will mich hier nicht in die verschiedenen Rassentheorien verirren, die von Gobineau, Houston Stewart Chamberlain und manch anderen in die Welt gesetzt wurden, um schließlich mit dem Arier-Begriff der Nationalsozialisten in grauenhafter Menschenverachtung, in mörderischer Selektion zu gipfeln. Schon sehr früh gab es den Begriff »Indoeuropäer«, der in Deutschland zur Wortbildung »Indogermanen« führte. Eine deutlich erkennbare lingui stische Verwandtschaft spannte ja tatsächlich einen Riesenbogen verwandter Idiome vom Atlantik bis zum Ganges in den Ebenen Indiens. Sogar die Völker Afghanistans – Paschtunen und Tadschiken – reihten sich in diese Kategorie ein. Bei keinem Begrüßungsgespräch, das ich in den entlegensten Ortschaften am Hindukusch führte, hatte der Dorfälteste es versäumt, auf die enge Verbundenheit zwischen Afghanen und Deutschen zu verweisen, weil sie ja beide Arier seien. Das Wort selbst stammt wohl ursprünglich aus Persien, wo der Kulturkreis »Iran« sich in beinahe manichäischer Strenge von den Nomadenstämmen »Turans« absonderte. Der Schah-in-Schah Persiens trug bis zuletzt den Titel »Aria Mehr« – Leuchte der Arier.
In Teheran bin ich zu Zeiten Mohammed Reza Pahlevis mit dem Oberpriester der Zarathustra-Gemeinde zusammengetroffen, dem »Zarduschti«, wie man dort sagt. Diese Gruppe von etwa 30 000 Menschen wurde von der Pahlevi-Dynastie besonders gefördert, aber auch von der Khomeini-Revolution in die Kategorie der »Familie des Buches« aufgenommen. Sie ist in der Majlis – dem Parlament – von Teheran durch einen Abgeordneten vertreten. Der zoroastrische »Magi«, der sich seinerzeit ohne Scheu vor unserer Kamera äußerte, war ein glühender Prediger der Reinheit der arischen Rasse, die zu bewahren sein höchstes Anliegen war. »Wenn eine unserer Frauen einen Mann heiratet, der an unserem Feuerkult nicht teilnimmt, dann verdient sie den Tod.« Man dürfe doch nicht edle, in heller Pracht blühende Pflanzen mit dem Wüstengestrüpp des Urwaldes vermischen. Die Darstellung Zarathustras in den Tempeln dieser einst allmächtigen Religion der altpersischen Reiche der Achämeniden bis zu den Sassaniden war stets identisch. Der Prophet, der Friedrich Nietzsche zur Ankündigung des »Übermenschen« anregen sollte, erschien unter den Zügen eines blonden, blauäugigen Helden. In der schnöden Wirklichkeit der Gegenwart präsentierte sich der hohe Offiziant, dem ich in Teheran gegenübersaß, allerdings als schmächtige, dunkelhaarige Erscheinung. Seine Gesichtszüge hätten sich sogar für jene abscheulichen Karikaturen geeignet, mit denen im Dritten Reich das antisemitische Hetzblatt Der Stürmer seine widerliche Kampagne gegen die Juden anheizte.
Es konnte nicht ausbleiben, daß die rassische Mythologie, der die Nationalsozialisten huldigten, ihre Aufmerksamkeit auf den indischen Subkontinent richtete, wo seit Urzeiten das Hakenkreuz als Symbol des Glücks und der Kraft verehrt wurde und die hinduistische Kastengesellschaft in mancher Hinsicht den krausen Vorstellungen des Reichsführers SS entsprach. Im Zuge der arischen Völkerwanderungen, die vor viertausend Jahren aus den Steppen Zentralasiens über den Subkontinent hereinbrachen, hatte der Kontakt mit einer ungewohnten, tropisch wuchernden Kultur, mit exotischen, dunkelhäutigen Urbevölkerungen eine einmalige rassisch-religiöse Überlagerung bewirkt, aus der am Ende – auf die Epen des Maha baratha und des Ramayana gestützt – die noch heute gültige Sozialordnung des Hinduismus hervorgegangen ist. Alles Leugnen gewisser Schöngeister oder schwärmerischer Indien-Fans, alle Verweise auf erstaunliche Modernisierungserfolge und oberflächliche Anpassungsreflexe der Gegenwart ändern nichts an der Tatsache, daß das Kastensystem – der übernatürlichen Ordnung des Dharma entsprechend – die religiöse und soziologische Basisstruktur Indiens geblieben ist, aus der sich kein Hindu lösen kann. Eine raffinierte, unerbittliche Herrschaftspyramide war hier entstanden, die sich in letzter Analyse auf rassische Zugehörigkeit zurückführen ließe.
Ich will hier nicht die diversen Schichten – Brahmanen oder Priester, Kshatriya oder Krieger, Vaishya oder Händler als kollektive Oberschicht, dann die verachtete, niedere Dienstleistungsgruppe der Shudra, etwa fünfzig Prozent aller Hindus, oder die »Unberührbaren«, die unglücklichen Paria oder Dalits – in ihren Attributen beschreiben, zumal mindestens dreitausend Unter kasten dieses verwirrende Mosaik vervollständigen. Bezeichnend ist immerhin, daß der Begriff »Kaste«, eine portugiesische Vokabel, die bei uns gebräuchlich ist, auf Hindi mit dem Wort »Varna«, das heißt Farbe, bezeichnet wird. Selbst innerhalb der genormten Gemeinschaften spielt die Hautfarbe weiterhin eine wichtige Rolle. Bei den Brahmanen zumindest ist es üblich, nach der Geburt eines Kindes die bange Frage zu stellen: »Is he fair – Ist er hellhäutig?«
Heinrich Himmler ist in seiner völkischen Besessenheit vor keiner Lächerlichkeit zurückgeschreckt. So wurde im Jahr 1938 eine geheime NS-Expedition nach Tibet geschickt, um bei den dortigen Bergnomaden nach dem »Ur-Arier« zu suchen. Der Leiter dieser bizarren Mission, der bewährte Parteigenosse Ernst Schäfer, produzierte einen Dokumentarfilm »Geheimes Tibet«, der die friedliche Natur des Lamaismus ignorierte, um die Aufmerksamkeit auf ein tänzerisches Ritual zu richten, das einem »Kriegsgott mit höchster Kraft, Härte und Zucht« huldigte. Nach seiner Rückkehr wurde Schäfer mit dem Totenkopfring der SS und dem Ehrendegen des »Schwarzen Ordens« ausgezeichnet.
Es muß ein seltsamer Anblick gewesen sein, als die Beauftragten der Ahnenforschung – den Oberkörper gebeugt, den buddhistischen Gebetsschal in Händen, einen Tropenhelm mit SS-Runen auf dem Kopf – sich in Lhasa vorstellten. Diese wissenschaftlich getarnte Farce ist in Vergessenheit geraten, und den wenigsten bleibt die Erinnerung an die kleine Truppe von Hindus in Wehrmachtsuniform und Turban, die das Wappenschild »Jai Hind« – Freies Indien – auf dem Ärmel trugen und sich ideologisch auf den Nehru-Gegner Subhas Chandra Bose ausrichteten. Statt dessen pilgerte nach der Niederlage des Dritten Reichs eine ganz andere Kategorie deutscher Schwärmer und Mystiker an das Ufer des Ganges, um in den »Ashrams« betrügerischer hinduistischer Gurus Erleuchtung und Erlösung zu suchen.
Gelegentlich ist der Verdacht geäußert worden, daß die magische Faszination wie auch die Nachsicht gegenüber dem unerträglichen Kastensystem der hinduistischen Gesellschaft, die bei so manchen Deutschen anzutreffen sind, auf ein imaginäres Zusammengehörigkeitsgefühl aller Arier zurückzuführen sei. Eines ist sicher: In der Rivalität der Giganten Indien und China, die in unseren Tagen ausgetragen wird, neigt die spontane Sympathie des Westens den »wesensverwandten« Hindus zu, während die Volksrepublik China, deren ökonomische und soziale Errungenschaften das indische »Wirtschaftswunder« weit überflügeln, in den westlichen Medien einer negativen Polemik ausgesetzt ist.
Selbst bei den Chinesen, die mit Verwunderung auf die europäischen Feriengäste blicken, die sich stundenlang der prallen Sonne aussetzen, um mit möglichst intensiver Urlaubsbräune die Heimreise anzutreten, scheint irgendwie die Vorstellung zu gelten: »White is beautiful«. Die dortigen Schönen gehen frühestens am Abend an den Strand, um jede Verfärbung ihres Elfenbeinteints zu vermeiden. Wer wird am Ende definieren können, wer zu den Weißen oder zu den Farbigen zählt? Im Rückblick zu erwähnen ist vor allem die absurde Apartheidpolitik, die Pigmentokratie Südafrikas, wo offizielle Ausschüsse anhand des Erscheinungsbildes einer Person darüber entschieden, ob er als »white« oder als »coloured« registriert wurde.
In Québec wiederum bin ich auf Franco-Kanadier gestoßen, die während ihrer militärischen Dienstzeit – wenn sie sich auf französisch ausdrückten – von ihren britischen Offizieren gerügt wurden: »Speak white« – Sprich wie ein Weißer, das heißt, sprich Englisch. In Afrika unterscheiden die französischen Geographen heute noch zwischen »l’Afrique blanche« nördlich und »l’Afrique noire« südlich der Sahara. Und noch eine letzte Kuriosität: In der Vorstellung des durchschnittlichen Arabers, der seine semitischen Vettern aus der hebräischen Erbfolge Abrahams oder Ibrahims als aggressive Vorhut des amerikanischen Imperialismus schmäht und – soweit sie dem Zweig der Aschkenazim angehören – als Kreuzzügler unter dem David-Stern befehdet, dürften wohl auch die Juden den »Weißen« zuzuordnen sein.
Wir wollen uns nicht in Spekulationen über Hautschattierungen und deren politische Auswirkungen verlieren und auch nicht die Europäer allein des Rassismus bezichtigen. Eine extreme Form ethnischer Diskriminierung haben wir unlängst noch in Ruanda erlebt, einem Territorium im »Herzen der Finsternis«, das vor dem Ersten Weltkrieg Bestandteil von Deutsch-Ostafrika war. Dort entlud sich die Todfeindschaft zwischen den hochgewachsenen, heller getönten Niloten vom Volk der Tutsi und der erdrückenden Mehrzahl der kleinen, tiefschwarzen Bantu-Stämme der Hutu, die von jenen seit Menschengedenken wie Leibeigene oder Sklaven mißhandelt wurden, in einem gräßlichen Genozid.
*
In seiner Rede vor den Vereinten Nationen im September 2009 hat Barack Hussein Obama eine bemerkenswerte Kehrtwende, eine kategorische Distanzierung von den Hegemonialallüren seines Vorgängers George W. Bush vollzogen, die in ihrer Bedeutung noch nicht ganz erkannt wurde. Dem Unilateralismus der amerikanischen Führungsmacht hat er entsagt und eingestanden, daß den Vereinigten Staaten nicht länger die Mittel zur Verfügung stünden, die Welt nach ihren Vorstellungen auszurichten. »Diejenigen, die früher Amerika für seine Alleingänge gerügt haben, können nun nicht einfach nur herumstehen und darauf warten, daß die USA die Probleme der Welt allein lösen«, hat er seine Verbündeten ermahnt. »Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, dann müssen wir zugeben, daß wir unserer Verantwortung nicht mehr gerecht werden.« Der in Hawaii geborene, in Indonesien aufgewachsene Sohn eines afrikanischen Vaters aus Kenia und einer europäischen Mutter aus Kansas war sich vielleicht nicht ganz bewußt, daß er mit diesem Eingeständnis die Fackel weitergereicht, daß er mit dem Verzicht auf das eigene Machtmonopol die bislang exklusive Vorrangstellung des weißen Mannes, die spätestens 1945 den USA zugefallen war, zur Disposition stellte.
Weit weniger Aufsehen und politisches Gewicht kommt einem Zwischenfall zu, der sich in der Vorbereitungsphase der Frankfurter Buchmesse des Jahres 2009 zutrug. Aber die symbolische Bedeutung ist beachtlich. Als die Messeleitung zwei chinesische Dissidenten als Kronzeugen der repressiven Literaturzensur der Volksrepublik aufrufen und sie in dieser Veranstaltung kulturellen Austausches als allein glaubhafte Repräsentanten des Reichs der Mitte darstellen wollte, entfesselte sie den Zorn des offiziellen Delegationsleiters Mei Zhaorong. Der ehemalige Botschafter in der Bundesrepublik ist ein guter persönlicher Bekannter aus alten Tagen, den ich jedes Mal konsultiere, wenn ich mich in Peking aufhalte. Er hatte sich von seiner Freundschaft für Deutschland auch nicht abbringen lassen, als die üblichen Trupps von Wichtigtuern und »Betroffenen« sein Botschaftsgebäude in Bonn belagerten und die tragischen Vorfälle am Platz des Himmlischen Friedens nutzten, um sich selbst in das Licht der Öffentlichkeit zu rücken.
Als ich den Zornesausbruch dieses freundlichen, auf Harmonie bedachten Diplomaten auf dem Bildschirm erlebte, als Mei Zhaorong plötzlich als beleidigter »Drachensohn« auftrat, kam mir der Gedanke an jenen hochtrabenden Auftritt Wilhelms II. in Bremerhaven und seine törichte Hunnenrede. Die Deutschen täten gut daran, sich dieser kaiserlichen Arroganz zu entsinnen. Die Erwiderung Mei Zhaorongs zitiere ich aus dem Gedächtnis. Er sei die Unkenntnis, die Unterstellungen, die Verleumdungen deutscher Medien leid, so beschwerte er sich. »So konnten Sie vielleicht in früheren Zeiten mit China umspringen. So haben Sie sich in der Vergangenheit aufgeführt. Aber heute lassen wir uns diese Beleidigungen und Schmähungen nicht mehr gefallen. Diese Zeiten sind vorbei!« – Furcht kam bei dieser Erklärung nicht auf, aber die Vision europäischer Unzulänglichkeit und einer zutiefst veränderten Welt.
Canto primeiro
OST-TIMOR
»Nehmt Rat von jenen, die Erfahrung bieten,
Die lange Jahre, Monate durchschritten.
Hält der Gelehrte sich auch in Bewahrung,
Vermittelt doch viel Wissen die Erfahrung.«
Aus den »Lusiaden« (Canto decimo)
von Luís Vaz de Camões
Dili, im März 2008
Vor zwei Stunden ist die kleine brasilianische Maschine vom Typ Embraer im nordaustralischen Hafen Darwin gestartet. Die östliche Sunda-Insel Timor, die unter der Tragfläche auftaucht, ist von tiefen Klüften durchzogen, von tropischem Dickicht überwuchert. Ein vorzügliches Partisanengelände. Die martialische Beurteilung entspricht nicht etwa der Zwangsvorstellung, der »déformation professionnelle« eines gealterten Kriegskorrespondenten. Diese winzige Republik Timor-Leste, eine Inselhälfte von den Ausmaßen Schleswig-Holsteins mit knapp einer Million Einwohnern, die erst am 20. Mai 2002 als 191. Mitglied der Vereinten Nationen anerkannt wurde, ist in den vergangenen Jahrzehnten von einer ganzen Serie grauenhafter Konflikte heimgesucht worden. Schätzungsweise ein Viertel der Bevölkerung ist dabei ums Leben gekommen.
An Warnungen hatte es nicht gefehlt. In diesem fernen südostasiatischen Fetzen des verflossenen portugiesischen Kolonialreiches herrsche weiterhin Mord und Totschlag, hieß es in den offiziellen Mitteilungen. Tatsächlich steht die Hauptstadt Dili unter Ausnahmezustand. Blauhelme der UNO überwachen nächtens das Ausgangsverbot. Während das Flugzeug auf der kurzen Rollbahn zum Stehen kommt, fällt der Blick auf die grau getönten Kampfhubschrauber der australischen Streitkräfte, die unweit der schneeweißen Helikopter der Vereinten Nationen geparkt sind. Im bescheidenen Abfertigungsgebäude, das mitsamt einer komfortablen VIP-Lounge nach den Verwüstungen des Jahres 2006 in aller Eile wiederhergerichtet wurde, kommt jedoch kein Gefühl akuter Bedrohung auf.
Das liegt vor allem an der Gastlichkeit des deutschen Teams der »Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit«, die in Ermangelung einer permanenten diplomatischen Vertretung der Bundesrepublik in Dili die deutsche Interessenvertretung mit Effizienz und beruflichem Engagement wahrnimmt. Es ist nicht das erste Mal, daß ich in entlegenen Krisenzonen die Betreuung durch die GTZ schätze. Dabei stellte ich stets fest, daß diese Experten des Wiederaufbaus auf möglichst großen Abstand zu den im Land operierenden Streitkräften oder Okkupationstruppen bedacht sind. Das gilt sogar für die Bundeswehr in Afghanistan. Die GTZ zieht es vor, ohne kompromittierenden Waffenschutz zu arbeiten. In Ost-Timor kommt dem verantwortlichen Projektleiter, Günter Kohl, ein weiterer Vorteil zugute. Sämtliche Mitarbeiter haben sich in den ehemaligen portugiesischen Besitzungen Afrikas oder in Brasilien aufgehalten. Sie beherrschen die singende, leicht näselnde Sprache Lusitaniens, wie die iberische Provinz des Imperium Romanum unter Augustus genannt wurde. Das Portugiesische ist auf Timor-Leste neben der malayo-polynesischen Sprache Tetum als offizielle Amtssprache etabliert worden.
Während wir im klimatisierten Empfangssalon unser Erkundungsprogramm für die kommende Woche besprechen, bietet sich plötzlich ein überraschendes, irgendwie groteskes Schauspiel. Eine Ministerin der Regierung von Ost-Timor – die Kabinettsmitglieder sind zahlreich und wechseln ständig – ist mit einem Sonderjet eingetroffen und wallt im Vollgefühl ihrer Bedeutung an uns vorbei. Eine ganze Rotte von muskulösen Leibwächtern, das Schnellfeuergewehr im Anschlag, umringt die dunkelhäutige, europäisch gekleidete Frau, als lägen die Attentäter schon bereit.
Noch bevor die unerträgliche, schwüle Mittagshitze sich über die Bucht von Dili senkt, unternehmen wir eine erste Besichtigung. Dieser Verwaltungssitz war wohl niemals mit jenen prachtvollen urbanistischen Leistungen zu vergleichen, die die Portugiesen im angolanischen Luanda, im mosambikanischen Lourenço Marques hinterließen. Doch was wir jetzt entdecken, ist ein einziges Trümmerfeld, ein Ort totaler Verwüstung. Mit Ausnahme von ein paar ausländischen Botschaften und UN-Unterkünften, die – zu Festungen ausgebaut – unter dem Schutz australischer Fallschirmjäger stehen, sind sämtliche Behausungen und Amtsgebäude einem Orkan der Vernichtung anheimgefallen. Seit der letzten Woge des kollektiven Amoklaufs im Mai 2006, als sich der schwelende Banden-und Bürgerkrieg zu einem menschlich inszenierten »Tsunami« steigerte, ist es, so weit das Auge reicht, eine trostlose Ansammlung von Ruinen.
Die Menschen leben in armseligen Notverschlägen und können sich glücklich schätzen, wenn sie dort Schutz vor den Wassergüssen der Regenzeit finden. Noch erbärmlicher sind die Ansammlungen von Strohhütten am Stadtrand. Horden von Flüchtlingen haben hier Zuflucht gesucht, als das Töten, die Vergewaltigungen, die Plünderungen sich auch in den Dörfern des Landesinneren austobten.
Die Freunde von der GTZ haben eine Skizze zur Hand, einen Stadtplan, auf dem die UN-Security die unsicheren Viertel eingezeichnet hat. Da schieben sich die schraffierten »hot zones« und die mit roten Sternen markierten »hot spots« – Punkte akuter Gefährdung durch kriminelle Gangs und unkontrollierbare Rebellen – bis an das Diplomatenviertel und die katholische Kathedrale heran, die wie durch ein Wunder der Zerstörung entging. Unversehrt blieben ebenfalls die stattlich gemauerten Gräberreihen des Friedhofs. Dort war der entfesselte Mob davor zurückgeschreckt, die Rachegeister der Toten zu wecken. Immerhin wurde der alte portugiesische Gouverneurspalast, der mit massiven weißen Mauern und einem wuchtigen Säulenportal koloniale Größe vortäuschen sollte, als Unterkunft diverser Behörden wieder restauriert. In diesem Umfeld mutet es tröstlich an, daß die hohe, schneeweiße Statue der Jungfrau Maria, der Immaculata, unangetastet blieb.
Es bewegen sich wenig Menschen in den öden Straßen von Dili. Jede gewerbliche Tätigkeit scheint erloschen. Wir suchen den Marktplatz auf, eine endlose Ansammlung ärmlicher Stände, wo erschlaffte Händler vergeblich nach Kunden Ausschau halten. So verfault das Überangebot prächtiger Tropenfrüchte in der Sonne. Ich verweile vor der Anhäufung halbzerfetzter Textilien, Ausschuß jener mildtätigen Spenden aus Europa, die am hiesigen Bestimmungsort für ein paar Centavos verhökert werden, soweit sie nicht sogar den ausgepowerten Timoresen zu schäbig erscheinen.
In Reiseführern wird die handwerkliche Begabung der eingeborenen Frauen erwähnt, die auf ihren Webstühlen nach überlieferten Mustern buntgestreifte »Tais« – Schals oder Sarongs – herstellen. Ich kann an diesen Produkten keinen Gefallen finden und erfahre zu meiner Verwunderung, daß sie in der Vorstellung der Einheimischen über magische, heidnische Kräfte verfügen sollen. Der katholische Klerus der Kolonialherren hat angeblich noch vor fünfzig Jahren öffentliche Verbrennungen des suspekten Teufelszeugs angeordnet. Der Inquisitionsbegriff »Autodafé« stammt bekanntlich aus dem Portugiesischen.
Die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung gibt manches Rätsel auf. Die Typen sind extrem unterschiedlich. Durch Schönheit und Grazie zeichnen sich die meisten Timoresen nicht aus. Die Frauen, die uns mit freundlicher Trägheit begegnen, entbehren der betörenden Reize der polynesischen Südsee-Insulanerinnen, denen einst die Meuterer von der »Bounty« erlagen. So manches an diesem Sunda-Hafen von Dili erinnert an die morbide, faulige Atmosphäre, die Joseph Conrad in seinem Outcast of the Islands beschreibt. Doch den erotischen Zauber, dem der verkommene, traurige Held des Romans verfällt, würde man auf Timor vergeblich suchen. Dadurch erklärt sich vielleicht, daß diverse UNO-Besoldete und mehr noch die Freibeuter pseudo-humanitärer NGOs in der ersten Phase der Unabhängigkeit Prostituierte aus Bangkok und Manila einfliegen ließen.
Die Völkerkundler verweisen auf den geographischen Urzustand, als eine Landbrücke zwischen Südostasien und Australien den austronesischen Migrationen erlaubte, bis nach Tasmanien vorzudringen. Der melanesische Rasseneinschlag ist auf Timor vorherrschend und verweist bereits auf die Nachbarschaft der Papua-Stämme Neuguineas. Dazu kommen starke malaiische Einflüsse, obwohl die hinduistisch-buddhistische Hochkultur, die im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert an den Höfen von Java erblühte, die östlichen Sunda-Inseln Flores und Timor nicht erreichte.
Auch die rapide Islamisierung, der es die heutige Republik Indonesien verdankt, der zahlenstärkste Staat der Umma mit 220 Millionen Korangläubigen zu sein, hat diese abgelegenen Eilande nicht erfaßt. Nur eine kleine Anzahl arabischer Seefahrer war aus Jemen, aus der bizarren Welt der biblisch wirkenden Hochhäuser von Hadramaut, aufgebrochen, auf den Spuren des legendären Sindbad nach Südosten gesegelt und hatte sich bis nach Timor verirrt. Hingegen lebt hier eine starke chinesische Kolonie von Hakka aus der Provinz Kwantung. Sie wurden seinerzeit von europäischen Plantagenbesitzern als Kulis angeheuert und haben es in Dili wie im übrigen Insulinde binnen weniger Generationen zu Wohlstand und Einfluß gebracht.
Die Portugiesen ihrerseits, die fünfhundert Jahre lang die heutige Republik Timor-Leste dominierten, ließen sich auf diesem Außenposten in geringer Zahl nieder. Aber die lusitanischen Abenteurer, die von den rassebewußten calvinistischen Buren der südafrikanischen Kap-Kolonie als »Seekaffern« geschmäht wurden, vermischten sich intensiv und ohne Vorbehalt mit den Eingeborenen und hinterließen eine zahlreiche Nachkommenschaft. In Afrika hieß es: »Gott schuf den Weißen und den Schwarzen, den Mulatten schuf der Portugiese.« Auf Timor könnte man das Wort »Mulatte« durch »Mestiço« ersetzen.
Heute untersteht die junge Republik Timor-Leste dem De-facto-Protektorat der Vereinten Nationen und mehr noch dem hemdsärmeligen Zugriff Australiens. Auf den ersten Blick fällt die militärische Präsenz der »Aussies«, die auf dem Höhepunkt der Unabhängigkeitswirren mit 6000 Soldaten präsent waren und heute noch über 1500 Mann verfügen, nicht sonderlich auf. Nach den jüngsten dramatischen Ereignissen, die sich drei Wochen vor meiner Ankunft in Dili abspielten, patrouillieren ihre vorzüglich ausgebildeten Commandos nach Einbruch der Dunkelheit im Dschungel. Sie werden bei ihren Einsätzen von Hubschraubern mit Nachtsichtgeräten unterstützt. Bei Tage treten die übrigen Blauhelm-Kontingente recht zurückhaltend in Erscheinung. Diese Muskoten aus Pakistan, Bangladesch, Kenia und anderen Ländern der Dritten Welt, die von ihren Regierungen an die Weltorganisation verpachtet und von ihren Machthabern um den größeren Teil ihres relativ hohen Wehrsoldes betrogen werden, zeichnen sich – wie üblich – durch mangelnde Einsatzbereitschaft und durch Inkompetenz aus.
Die umfangreiche Aktion der UNO, die mit den verwirrenden Anagrammen UNMISET und UNTAET ausgestattet ist – letzteres steht für »Transitional Administration in East-Timor« –, unter steht der Autorität eines Hohen Beauftragten aus Bangladesch. Das wirkt nicht gerade ermutigend. Im westafrikanischen Sierra Leone, wo die Weltorganisation sich durch militärisches Versagen hervortat, ist das Wort »Bangladesch« bei den dortigen Eingeborenen zum Synonym für Chaos und Ratlosigkeit geworden.
Voraussichtlich wird der Einsatz der UNO in Timor-Leste mit einem ähnlichen Fiasko enden wie die massive Intervention im kongolesischen Hexenkessel der frühen sechziger Jahre oder – zwei Dekaden später – im »befreiten« Kambodscha, wo sie in Stärke von 30 000 Bewaffneten nur zusätzliches Unheil, zumal eine massive Verseuchung durch Aids bewirkte. Der Anblick eines bewaffneten Afrikaners in Dili, dessen dunkelblaue Uniform die Aufschrift »Uganda Police« trägt, könnte bittere Heiterkeit auslösen, genießt doch diese vom deutschen Bundespräsidenten gern besuchte und als Demokratie gepriesene ostafrikanische Republik Uganda unter ihrem Staatschef Museveni, die sich der Plünderung der Rohstoffe und des Massakers an Zivilisten in der benachbarten Kongo-Provinz Ituri schuldig machte, einen besonders finsteren Ruf. Daß zudem Filipinos berufen wurden, die timoresische Polizei auszubilden, mutet wie eine böse Farce an, gilt doch Manila als Schwerpunkt ostasiatischer Kriminalität und Korruption.
Die meisten Hilfsdienste, die unter der blauen Flagge operieren, sind in volle Deckung gegangen, als sie feststellten, daß Timor-Leste alles andere als eine Tropenidylle ist. Die UNO ist auch hier mit der üblichen Fahrzeug-Armada extrem teurer, mit allem Komfort ausgestatteter Landrover und Geländewagen zugegen. Die weißen Luxuskarossen – es wurden mehr als tausend gezählt – stehen ungenutzt auf streng bewachten Parkplätzen. Sollte wirklich ein UNO-Beauftragter die Kühnheit aufbringen, irgendein Projekt im Landesinnern persönlich zu inspizieren, läuft er Gefahr, daß seine Windschutzscheibe durch Steinwürfe wütender Einheimischer zerschmettert wird.
Die meisten NGOs, die wie die Heuschrecken über die neu gegründete Republik hergefallen waren, haben sehr schnell den Heimflug angetreten, als sie merkten, daß auf Timor gelegentlich scharf geschossen wird. Eine dubiose deutsche Hilfsorganisation hatte sich dadurch hervorgetan, daß sie die Schulkinder mit Coca-Cola und Chips beglückte. Man hüte sich vor Verallgemeinerungen. Mir ist sehr wohl bewußt, daß eine beachtliche Zahl von internationalen Hilfswerken vorbildliche und selbstlose Arbeit leistet. Man denke nur an Caritas, Brot für die Welt, Ärzte ohne Grenzen, die »Grünhelme« Rupert Neudecks, an die Malteser und manche andere mehr. Doch die Masse der »Non-Governmental Organizations« – im afghanischen Kabul sind sie in Hundertschaften präsent – steht allzu oft im Dienste undurchsichtiger Geschäfte, des exotischen Reiserummels, einer egoistischen Selbstbestätigung und mehr noch der humanitär getarnten Spionage.
Beim Anflug auf Timor war mir das knallrote Ziegeldach eines monumentalen Gebäudes aufgefallen, das aus der allgemeinen Tristesse herausragte. Aus der Nähe betrachtet, erweist sich dieser extravagante Palast als das Außenministerium der Republik Timor-Leste, das von Bautrupps der Volksrepublik China in Rekordzeit aus dem Boden gestampft wurde und das in keinem Verhältnis zu den diplomatischen Bedürfnissen dieses Zwergstaates steht. Schon sind in unmittelbarer Nachbarschaft die rastlosen Arbeiter aus dem Reich der Mitte damit beschäftigt, die Grundmauern des Verteidigungsministeriums und einer pompösen Präsidentenresidenz zu zementieren. Deren Vollendung wird nicht lange auf sich warten lassen und den langfristig planenden roten Mandarinen von Peking Ansehen und – wer weiß – politisches Gewicht verschaffen.
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Die Unterkunftsmöglichkeiten auf Timor waren mir vor der Abreise in düstersten Farben geschildert worden. Ich gedachte schon bei den Geistlichen der Steyler Mission oder bei den Salesianern um Asyl zu ersuchen. Es ist eine freudige Überraschung, als die Betreuer der GTZ uns im komfortabel renovierten Hotel Timor unterbringen, dessen klimatisierte Zimmer mit Fernsehern samt Empfang von CNN und BBC ausgestattet sind und allen hygie nischen Ansprüchen genügen. In der großen Eingangshalle, wo sich riesige Ventilatoren drehen, plaudert ein gemischtrassiges Publikum überwiegend auf Portugiesisch. Es schafft eine iberisch anmutende Atmosphäre. Plötzlich fühle ich mich in eine längst verflossene Kolonialepoche zurückversetzt, die ich – man mag sich darüber empören – in überwiegend positiver Erinnerung behalten habe. »When the going was good«, zitiere ich den reaktionären britischen Schriftsteller Evelyn Waugh und verspüre einen Hauch von Nostalgie.
Der Eingang des »Timor« wird von schwarz uniformierten Bewaffneten kontrolliert, kräftige Gestalten mediterranen Typs, die Helm und kugelsichere Weste tragen. An den australischen Ordnungshütern gemessen, wirken sie wie Krieger eines anderen Zeitalters. Das alte Lusitanien hat ein paar hundert Angehörige der »Guarda Nacional Republicana« in seine ehemalige Besitzung am Ende der Welt entsandt, nicht um sinnlose postkoloniale Ansprüche anzumelden, sondern in der Hoffnung, durch bescheidene militärische Präsenz zumindest eine Spur des eigenen Kulturerbes zu retten.
Mir imponieren diese resolut auftretenden Schutzengel, die – anders als die Mehrzahl ihrer eher schmächtig gewachsenen Landsleute – über die Muskulatur von Bodybuildern verfügen. Es heißt, daß sie psychologisch sehr viel besser mit den aufsässigen Timoresen zurechtkommen als die Australier, die zwar vorzüglich nach britischem Vorbild gedrillt, aber oft durch die amerikanischen Methoden der Terrorbekämpfung negativ beeinflußt sind. Während die »Aussies« gegen Randalierer und Plünderer sehr schnell zum Schießeisen greifen, gehen die Portugiesen mit Schlagstöcken vor und erzielen weit bessere Pazifizierungsresultate.
Neben der Elitetruppe der »Guarda Nacional« sind vierhundert portugiesische Sprachlehrer in Dili angekommen. Sie haben sich über die östliche Inselhälfte verstreut, um die Sprache des Dichters Camões, die nur noch von zehn Prozent der Bevölkerung benutzt wird, vor der endgültigen Verdrängung durch das Englische, besser gesagt durch das Amerikanische, zu retten. Sie werden dabei von einer aktiven Embajada unterstützt, der sich auch die brasilianische Botschaft von Dili brüderlich zugesellt. Ob die Lusitanier beim linguistischen Überlebenskampf erfolgreicher sein werden als ihre spanischen oder französischen Leidensgenossen auf den Philippinen oder in Indochina, deren kultureller Einfluß durch das er drückende Übergewicht des »American way of life« verdrängt wurde, bleibt dahingestellt. Den Portugiesen kommt zugute, daß ihr Landsmann Manuel Barroso als Vorsitzender der Europäischen Kommission seinen Einfluß in Brüssel zu ihren Gunsten geltend machen kann.
Die obere Etage des zweistöckigen Hotels wird durch timoresische Pistoleros in Zivil und einheimische Polizisten wie ein Banktresor geschützt. In unmittelbarer Nachbarschaft meines Zimmers hat sich der Interims-Staatschef Fernando de Araujo einquartiert, nachdem vor einem knappen Monat Präsident José Ramos-Horta von mehreren Kugeln in den Brustkorb getroffen worden war. Das Hotel Timor mit seinen portugiesischen Bewachern gilt wohl als sicherstes Refugium für die um ihr Leben besorgten Repräsentanten des Staates.
Während ich mir eine Siesta gönne, die durch den Anflug aus Neuseeland, die kurzen Zwischenstationen in Melbourne und Darwin sowie den krassen Klimawechsel angebracht erscheint, stelle ich mir die Frage, ob man ein deutsches Leserpublikum für das Schicksal dieser fernen exotischen Inselhälfte interessieren kann. Zufällig war ich vor meinem Aufbruch aus Europa auf eine Notiz des Kollegen Rudolph Chimelli gestoßen, der mir stets als vorzüglicher Kenner der konfusen Machtverhältnisse der Islamischen Republik Iran aufgefallen war. Über die Misere des heutigen Journalismus befragt, hatte Chimelli geantwortet: »Die ausführliche Berichterstattung komplizierter Sachverhalte ist dem Nachrichtenkonsumenten meist nicht zuzumuten.«
Den Querkopf Noam Chomsky, der sich (als Sprachforscher) mit Ost-Timor schon lange auseinandergesetzt hatte, bevor es zum Thema internationaler Politik wurde, fragte einst eines der großen US-Fernsehnetze, ob er in einer Minute erklären könne, worin das Problem bestehe. »Nein, das kann ich nicht«, sagte Chomsky, und der Beitrag kam nicht zustande. Der amerikanische Linguist hätte binnen sechzig Sekunden nicht einmal die sechzehn stark unterschiedlichen Dialekte aufzählen können, die auf Timor-Leste gesprochen werden, ganz zu schweigen von der Spaltung der Inselhälfte in einen westlichen und einen östlichen Teil, eine ethnischpolitische Differenzierung, die immer wieder zu Konflikten führt.
Allen Bedenken zum Trotz werde ich zu einer gerafften Chronik ausholen. Auf dieser kleinen Sunda-Insel kann man nämlich wie in einem Mikrokosmos ein abenteuerliches Kapitel der Menschheitsgeschichte untersuchen. Hier läßt sich auf engstem Raum ein grandioses Projekt, die maßlose Hybris und, darauf folgend, der unvermeidliche Niedergang einer europäischen Nation analysieren. An dieser Stelle vollzogen sich auf spektakuläre Weise in dem exakten Zeitraum eines halben Jahrtausends Auftakt und Erlöschen eines imperialen und romantischen Traums.
Man schrieb das Jahr 1512, als der portugiesische Navigator Antonio de Abreu seinen Fuß auf den Strand von Timor setzte und den ersten Kontakt aufnahm zu einer Urbevölkerung, die sich im Zustand endloser Stammeskriege befand, als Kopfjäger berüchtigt war, mit den Schädeln ihrer erschlagenen Feinde ihre Hütten schmückte und sogar im Verdacht des Kannibalismus stand. Die portugiesische Expansion, die auf die grandiose Vision Heinrichs des Seefahrers zurückging, sollte in Timor ihre vorgeschobenste Position am Rande des Pazifischen Ozeans beziehen. Weite Küstenstreifen Afrikas hatten die Lusitanier bereits unterworfen, als Vasco da Gama den Seeweg nach Indien entdeckte, während zum gleichen Zeitpunkt Christoph Kolumbus im Dienste der spanischen Krone noch in der Karibik und an der mittelamerikanischen Landenge nach dem sagenumwobenen Reich der Moguln, der Maharadschas und den unermeßlichen Goldschätzen Cipangos suchte.
Der Gedanke an diese heroische Vergangenheit, die man dem kleinen Küstenvolk Iberiens gar nicht zugetraut hätte, mag wohl auch die heutige Regierung von Lissabon bewogen haben, durch die Entsendung von Gendarmen und Lehrern an dieser Stätte verlorener Größe noch einmal kurzfristig Flagge zu zeigen. Die portugiesischen Entdecker hatten es im sechzehnten Jahrhundert fertiggebracht, mit einem lächerlich kleinen Aufgebot von Menschen und Karavellen die faktische Oberhoheit über den ganzen Indischen Ozean an sich zu reißen. Der Herzog von Albuquerque, der seinen Gouverneurssitz im indischen Goa ausbaute, hielt die verhaßten arabischen Muselmanen in Schach, die kurz zuvor aus seiner Heimat am Tejo auf ihre maghrebinische Ausgangsbasis zurückgeworfen worden waren. Gewaltige portugiesische Festungen überragen heute noch den Hafen von Mombasa und die Straße von Hormuz am Ausgang des Persischen Golfs, die neuerdings im Zeichen der iranisch-arabischen Konfrontation wieder eminente strategische Bedeutung gewonnen hat.
Weit in den Rücken ihrer Gegner – bis auf die Insel Bahrain – hatten die Lusitanier ihre Bollwerke vorgeschoben, bemächtigten sich Ceylons und der Halbinsel von Malacca. Sie waren die ersten Europäer, die sich vom chinesischen Kaiser einen festen Anlegeplatz konzedieren ließen und den kleinen Fischerhafen Macao zur Drehscheibe ihres fernöstlichen Handelsmonopols ausbauten. Von Macao aus stellten sie regelmäßige Kontakte zum abgekapselten Inselreich Cipango her, das wir heute Japan nennen. Die Seefahrer und Freibeuter bahnten sich eine Route bis in die fernsten Ausläufer von Insulinde.
In Ermangelung der ungeheuren Gold- und Silberschätze, die ihre spanischen Rivalen den Azteken und Inkas von Mexiko und Peru entrissen, verlegten sich die Portugiesen auf den Handel mit den vielfältigen, kostbaren Gewürzen Südostasiens. Diese warfen im damaligen Abendland immense Gewinne ab, wurden doch die schwerreichen Kaufleute von Amsterdam »Pfeffersäcke« genannt.
In der atlantischen Hemisphäre kam der portugiesische Navigator Pedro Cabral mit der Entdeckung und ersten Landnahme in Brasilien den spanischen Konkurrenten zuvor. Die Niederlassungen Portugals im Raum von Recife sollten gewaltige Konsequenzen nach sich ziehen. Denn während das Mutterland seine Bedeutung einbüßte und auf den Status eines Kleinstaates an der europäischen Peripherie schrumpfte, entfaltet sich in unseren Tagen das immense Territorium Brasiliens zur amerikanischen Großmacht, die dank ihres wirtschaftlichen, morgen wohl auch politischen Potentials das lusitanische Erbe an die Nachwelt weiterreicht. Brasilien hat die Vasallenrolle, die Washington den lateinischen Staaten Mittel- und Südamerikas im Sinne der Monroe-Doktrin so lange zugewiesen hatte, längst abgeschüttelt. Auf seltsame Weise wirkt hier der Schiedsspruch des Borgia-Papstes Alexander VI. nach, der um das Jahr 1500 die Neuentdeckungen auf dem gesamten Erdball zu einer Hälfte den Spaniern, zur anderen den Portugiesen zugesprochen hatte.
Die Grausamkeit und die Habgier, mit denen die Besitzergreifung der iberischen Conquistadoren und auch ihre christliche Missionierung einhergingen, soll nicht beschönigt werden. Die späteren, überwiegend angelsächsischen Eroberer – denken wir nur an die Ausrottung der Indianer Nordamerikas – standen dem Wüten eines Cortés, der Herrschsucht eines Albuquerque, der Goldgier eines Pizarro übrigens in keiner Weise nach.
Um mich in die begeisterte Aufbruchstimmung von damals zu versetzen, um das Bewußtsein eines zivilisatorischen, ja göttlichen Auftrages zur Unterwerfung und Bekehrung der Heiden nachzuempfinden, hatte ich noch vor der Abreise aus Europa das umfangreiche Epos des größten portugiesischen Dichters Luís de Camões zur Hand genommen. Eine leichte Lektüre ist das nicht. Aus dem Balladenband »Os Lusiados« spricht ein ganz anderer Zeitgeist. Dabei muß man wissen, daß dieser abenteuernde Poet – nachdem er im Kampf gegen die Marokkaner ein Auge verloren hatte – sechzehn Jahre zur See gefahren war auf den Spuren des portugiesischen Nationalhelden Vasco da Gama, den er verherrlichte.
Camões kannte den Indischen Ozean vom Bab-el-Mandeb bis zu den Molukken. Die Lusiaden, so heißt es, hat er an der chinesischen Küste von Macao niedergeschrieben und sich dafür in eine abgelegene Grotte wie in eine Einsiedelei zurückgezogen. Camões fand seine Inspiration nicht nur in der christlich-biblischen Überlieferung, sondern mehr noch bei den griechisch-lateinischen Autoren des heidnischen Altertums. Er huldigte bereits dem Geist der Renaissance, wenn er sich ganz unverblümt bemühte, die Odyssee des Homer, mehr noch die Aeneis des römischen Dichters Vergil auf die eigene Epoche zu übertragen.
Seine Verse mögen für den heutigen Geschmack unerträglich pathetisch klingen, wenn er im »Canto Primeiro« mit folgenden Zeilen anhebt:
»Die kriegerischen kühnen Heldenscharen Vom Westrand Lusitaniens ausgesandt, Die auf den Meeren – nie zuvor befahren – Sogar passierten Taprobanas [Ceylons] Strand, Die mehr erprobt in Kriegen und Gefahren, Als man der Menschen Kraft hat zuerkannt, Und unter fernem Volk errichtet haben Ein neues Reich, dem so viel Glanz sie gaben.« (In der Übersetzung von Hans Joachim Schaeffer)
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Der französische Aufklärer Voltaire hat sich über diesen »poète aventurier« mokiert, der die Götter des Olymp oder die lästerliche Venus in einem Atemzug mit der jungfräulichen Gottesmutter Maria erwähnte. Der deutsche Übersetzer Friedrich Schlegel hingegen sah in den Lusiaden einen Ansporn für die Aufbruchstimmung, die die deutsche Nation zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts ergriff, ein aufrüttelndes Vorbild der von ihm ersehnten Erweckung Germaniens. Alexander von Humboldt wiederum fand für den schreibenden Navigator Camões den Ausdruck »See maler«.
Die Insel Timor wird im »Canto decimo« kurz erwähnt: »Auch Timor dort, wo man das Holz gewinnt des Sandelbaums, das duftend heilsam wirkt. Das weite Sunda schau! …« Kurz nach der Landung Antonio de Abreus auf der Insel Timor vollbrachte sein Landsmann Fernão de Magalhães, der unter dem Namen Ferdinand de Magellan in die Dienste der zahlungskräftigeren spanischen Monarchie getreten war, die erste Weltumseglung.
Mein Vater hatte mich schon im Knabenalter ermutigt, ja an ge