Inhalt

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Eins
  6. Zwei
  7. Drei
  8. Vier
  9. Fünf
  10. Sechs
  11. Sieben
  12. Acht
  13. Neun
  14. Zehn
  15. Elf
  16. Zwölf
  17. Dreizehn
  18. Vierzehn
  19. Fünfzehn
  20. Sechzehn
  21. Siebzehn
  22. Achtzehn
  23. Neunzehn
  24. Zwanzig
  25. Einundzwanzig
  26. Zweiundzwanzig
  27. Dreiundzwanzig
  28. Vierundzwanzig
  29. Fünfundzwanzig

Nicci Gerrard

Das Fenster nach innen

Roman

Übersetzung aus dem Englischen
von Rita Seuß und Barbara Steckhan

BASTEI ENTERTAINMENT

Für Jackie, Tim und Kate

1 Eins

Der Anruf kam Viertel vor acht, noch bevor es richtig hell war. Ein kalter Nieselregen überzog die Fensterscheiben mit einem feinen Schleier, der die Konturen der Häuser verwischte und Dächer und Bäume in ein trübes, geheimnisvolles Licht tauchte. Marnie zögerte einen Moment. Die Brotscheibe auf dem Toaster war auf einer Seite bereits geröstet, der Kaffee brodelte in der Espressomaschine, und die Zeitung lag aufgeschlagen auf dem Tisch, neben dem Teller und dem Glas Marmelade. Dies war für sie der friedlichste Moment des Tages. Sie hatte schon gejoggt und geduscht und saß nun im Morgenmantel in der Küche, frisch geschrubbt und zufrieden mit sich selbst. Sie spürte ihre Muskeln – ein angenehmes Gefühl. Es roch nach getoastetem Brot, Waschpulver und dem Basilikum in dem Topf auf dem Fensterbrett, das sie jeden Morgen goss. Eva und ihr Freund schliefen im Zimmer nebenan und würden erst viel später aufstehen. Ein neuer Tag lag vor ihr. Unwillig nahm sie den Hörer ab.

»Hallo? Hier Marnie.«

»Marnie?« Die Stimme in der knackenden Leitung ließ sich nicht sofort zuordnen, obwohl sie ihr seltsam vertraut erschien. Es war wie bei manchen Gerüchen, die eine intensive, aber schwer fassbare Erinnerung wachrufen.

»Ja, am Apparat.«

»Hier ist Oliver. Oliver Fenton.«

»Oliver?« Sie runzelte die Stirn und umklammerte den Hörer. Der Morgen entwickelte sich anders als erwartet. »Aber … Ich meine … Was …?«

»Ich weiß, das kommt überraschend. Es ist wegen Ralph.«

»Warte mal«, sagte Marnie. »Nur einen Moment.« Sie legte behutsam den Hörer beiseite und schaltete mit zitternden Händen den Toaster aus. Das Brot war schon ganz schwarz am Rand, fast verbrannt. Sie schenkte sich eine halbe Tasse Kaffee ein und griff erneut zum Hörer, den Blick aus dem Fenster gerichtet, das sorgfältig arrangierte Tableau zum Auftakt des Tages im Rücken. In der Wohnung gegenüber aß ein Mann in Boxershorts Cornflakes direkt aus der Packung. »Entschuldige«, sagte sie. »Ich musste schnell noch … Ralph, sagst du?«

»Du musst herkommen. Zu ihm.« Olivers Stimme klang verzerrt, verschluckte Silben, als müsse er gegen einen starken Wind anschreien.

»Herkommen. Zu ihm«, wiederholte sie, wie vor den Kopf gestoßen. »Das verstehe ich nicht.«

»Er liegt im Sterben.« Draußen ging eine junge Frau in einer Hose im modischen Military-Look vorbei, einen Styroporbecher mit Kaffee in der Hand. Marnie sah hinunter auf den geraden hellen Scheitel in ihrem glänzend schwarzen, hinten zusammengebundenen Haar. Die Frau bewegte sich anmutig wie eine Tänzerin.

»Marnie?«

»Ja, ich bin noch da.«

»Tut mir leid.«

»Ich versteh dich nur ganz schlecht.«

»Ich sagte, er liegt im Sterben. Und er möchte dich gern sehen.«

»Aber ich …«

»Er ist in seinem Cottage in Schottland. Ich habe einen Flug für dich gebucht, zum nächsten Flughafen, neunzig Kilometer entfernt.«

»Moment … Ich kann doch nicht einfach …«

»Das Flugzeug geht heute Nachmittag um zwanzig nach drei. Von Stansted. Du brauchst nur deinen Pass vorzuzeigen.«

»Ich muss heute zur Arbeit.«

»Es wird dich jemand abholen.« Oliver redete weiter, als hätte sie gar nichts gesagt.

»Die Verbindung ist sehr schlecht.«

»Ich sagte: Jemand wird dich abholen. Okay?«

»Oliver, warte! Du musst mir sagen … Ich meine: Wieso?«

»Ich schaff ’s nicht allein«, sagte er. Zumindest glaubte sie, das gehört zu haben. Es knisterte in der Leitung.

»Warte!« Jetzt hörte sie nur noch ein Rauschen, und sie erschauderte, als hätte der kalte Atem des Windes ihre Haut gestreift. »Für wie lange?«, schrie sie in den Hörer. »Hallo? Oliver? Bist du noch da? Hörst du mich? Verdammt.«

Stirnrunzelnd legte sie auf. Ihre Hände zitterten jetzt nicht mehr, aber sie fröstelte und fühlte sich merkwürdig gelähmt. Der Kaffee war lauwarm und schmeckte so bitter, dass sie ihn in den Ausguss kippte. Das verbrannte Toastbrot warf sie in den Abfalleimer. Die Marmelade stellte sie in den Schrank zurück und faltete die Zeitung so, dass die Schlagzeile (»Familie stirbt in Flammeninferno«) nicht mehr zu lesen war. Dann setzte sie sich an den Tisch, stützte den Kopf in die Hände und schloss die Augen. Sie versuchte nachzudenken, aber ihr Kopf war leer, keine Gedanken, keine Bilder, nur eine Stimme in der Dunkelheit, die ständig wiederholte: »Ralph … Er liegt im Sterben …« Worte, die keinen Sinn ergaben.

Als sie den Kopf hob, kam ihr das Zimmer so fremd vor, als hätte sie es bereits verlassen, als wäre es Teil ihrer Vergangenheit wie eine Geschichte, die längst vorbei war. Ein kleiner, hell erleuchteter Raum. Vier Stühle um einen Holztisch, den sie vom Sperrmüll gerettet und abgeschliffen hatte. Gut gefüllte Vorratsschränke, Regale mit Küchenkräutern, an der Wand ein Kalender mit dem Monat Dezember und dem Foto eines Baums, der seine kahlen Äste in eine leere Winterlandschaft reckt. An der Tür ein kleines Whiteboard, darauf mit rotem Stift die Einkaufsliste: Milch, Mülltüten, Telefonkarten, Geburtstagskarten für Claire, Martin und Anna. Die Küche war gemütlich und zugleich funktional wie die Kajüte eines großen Linienschiffs. Abends, wenn Marnie von der Arbeit nach Hause zurückkehrte, schaute sie stets zu dem erleuchteten Fenster hinauf, und dann schien ihre Wohnung dort oben in einem Meer von Dunkelheit zu schwimmen.

Vielleicht sollte sie den Anruf einfach ignorieren und so tun, als habe es ihn nie gegeben. Dadurch könnte ihr Leben im selben Takt weitergehen, in dem gleichmäßigen Rhythmus, der sie in den letzten Monaten getröstet hatte. Während sie noch mit diesem Gedanken spielte, traf sie jedoch bereits die ersten Vorbereitungen. Sie goss sich eine zweite Tasse Kaffee ein, erwärmte sie in der Mikrowelle und überlegte, was sie unbedingt noch erledigen musste; vorsichtig, um bloß nicht einzubrechen und in die gefährliche Tiefe gezogen zu werden, glitt sie im Geist über die Eisfläche der neuen Gegebenheiten. Sie musste ein paar Anziehsachen einpacken. In Schottland war es im Dezember ziemlich kalt. Also Wanderschuhe und dicke Pullis, Handschuhe und Thermo-Socken. Das Zwiebelprinzip, Kleidungsstücke zum Übereinandertragen, hatte ihre Mutter ihr stets empfohlen, wenn Marnie sich ans Kofferpacken machte, was sie fast ihr ganzes Leben lang getan hatte – so kam es Marnie zumindest vor. Ralph liegt im Sterben, hatte Oliver gesagt. Aber das konnte einfach nicht wahr sein, es war vollkommen unmöglich. Sie durfte ihren Reisepass nicht vergessen, obwohl es nur ein Inlandsflug war. Ein paar Bücher. Ihr Notizheft. Leichtes Gepäck. Wie lange würde sie überhaupt bleiben? Einen Tag? Zwei? Oder länger? Ralphs Gesicht flackerte vor ihrem inneren Auge auf, so voller Leben und jugendlichem Elan, mit unendlich viel Zeit, die noch vor ihm lag; er lächelte sie an, während sie verwirrt in ihrer Küche saß. Und plötzlich stieg eine entsetzliche Panik in ihr auf. Er durfte nicht sterben! Er durfte noch nicht gehen. Tampons, Zahnbürste, Make-up, Migränetabletten. Sie hatte nicht einmal gefragt, was passiert war. War er von einem Auto überfahren worden? Oder hatte er einen Schlaganfall, sodass sein lebhaftes Gesicht jetzt ganz gelähmt war oder einseitig schief? Ob sie ihn überhaupt wiedererkennen würde?

Acht Uhr. Seit Olivers Anruf waren nicht mehr als fünfzehn Minuten verstrichen. Sie musste Elaine Bescheid geben, dass sie ein paar Tage nicht zur Arbeit kommen würde. Elaine würde nicht gerade begeistert sein. Marnie arbeitete in einem Marionettenmuseum in Soho, nur wenige Minuten von ihrer Wohnung entfernt, und Elaine war die Besitzerin des Museums. Eine kleine, dicke Amerikanerin undefinierbaren Alters, die mit ihren Katzen in Chichester lebte, in senfgelben Leggings und kratzigen Wollpullis herumlief, ihr oft prall gefülltes Portemonnaie in einer Plastiktüte bei sich trug und mit Hochgeschwindigkeit redete. Eine intelligente Person und offensichtlich stinkreich, auch wenn es Marnie ein Rätsel war, woher sie das Geld hatte. Das Museum, viel zu klein, dunkel, staubig und skurril, um diesen Namen zu verdienen, war eines von Elaines Hobbys, die sie nach gelegentlich aufflackernden Anfällen von Begeisterung und beträchtlichem finanziellem Aufwand wieder vernachlässigte. Sie erwartete nicht, damit Geld zu verdienen, und sie verdiente auch keines. Das Museum lag versteckt in einer kleinen Seitenstraße. Elaine machte keine Werbung dafür, und daher wusste kaum jemand, dass es überhaupt existierte. Oft erschien den ganzen Tag über kein einziger Besucher; Marnie verbrachte dann die Zeit damit, die zum Verkauf angebotenen Artikel neu zu arrangieren, die Exponate abzustauben, Fenster zu putzen und sich Kaffee zu kochen. Manchmal stahl sie sich für eine halbe Stunde davon, drehte das »Geöffnet«-Schild auf »Geschlossen« und bummelte durch Soho. Die Sexshops mit den Lederkorsetts und all den bizarren Hilfsmitteln der Lust ließ sie links liegen; stattdessen schlenderte sie durch Läden mit indischen Hochzeitsschals oder durch Antiquariate mit abgegriffenen Kupferstichbänden.

Trotzdem legte Elaine Wert darauf, dass Marnie zwischen halb zehn und achtzehn Uhr im Museum blieb, außer mittwochs und sonntags, den Ruhetagen. Dann konnte man es für Veranstaltungen und Feste mieten, aber seit Marnie hier arbeitete, hatte das noch nie jemand getan. Die Räume waren viel zu klein, die Treppe zu schmal, es gab keine Küche und nur eine enge Toilette, eingeklemmt zwischen sizilianischen Marionetten und Regalen mit winzigen Fingerpuppen.

Marnie wählte die Nummer, und schon nach dem ersten Klingelton hob Elaine ab.

»Hallo.«

»Elaine, ich bin’s, Marnie. Ich habe Sie hoffentlich nicht geweckt.«

»Unsinn, es ist doch schon nach acht. Was glauben Sie, wann ich aufstehe?«

»Ich habe ein Problem. Ich muss mir ein paar Tage frei nehmen.«

»Sind Sie krank?«

»Nein, ich nicht. Aber ein Freund von mir.« Sie zögerte. »Ein guter Freund. Ich muss nach Schottland.«

»Wann?«

»Heute noch.«

»Oh!« Elaine stieß einen leisen, unwilligen Seufzer aus. Marnie hörte, wie sie mit ihren Stummelfingern auf eine Tischplatte trommelte. »Tja, was sein muss, muss sein. Dann werde ich eben eine Vertretung für Sie finden müssen. Das Museum kann ja nicht einfach geschlossen bleiben.«

»Ich wüsste jemanden, der für mich einspringen könnte. Sie ist noch jung, nicht mal zwanzig, aber sie ist …« – Marnie zögerte kurz – »… verantwortungsbewusst. Und sie kennt das Museum. Ich habe sie schon öfter mal mitgenommen. Es gefällt ihr.«

»Und wer ist diese Perle?«

»Eva. Meine … Ähm … Meine Nichte. So was in der Art.«

Das erschien ihr einfacher, als zu sagen, dass Eva ihre Ex-Stieftochter war.

»Ich wusste gar nicht, dass Sie Geschwister haben.«

»Hab ich auch nicht. Ach, es ist kompliziert.«

»Und diese Eva, wann könnte sie anfangen?«

»Sofort. Sie wohnt bei mir. Ich könnte ihr also schnell noch alles zeigen, bevor ich aufbreche.«

»Hm. Verantwortungsbewusst, sagen Sie?«

Diesmal schob Marnie die Bedenken beiseite und gab sich entschiedener. »Ja.«

»Haben Sie sie schon gefragt?«

»Ich dachte, ich frage erst mal Sie. Aber sie ist ganz bestimmt einverstanden. Sie sucht nämlich Arbeit.«

Auch das stimmte nicht ganz. Eva hatte in den vergangenen zehn Tagen angefangen, sich über eine Arbeit Gedanken zu machen, oder vielmehr den Vorsatz gefasst, darüber nachzudenken.

»Also gut. Wenn Sie sich für sie verbürgen.«

»Das tue ich.«

»Und … Marnie …«

»Ja?«

»Ihr Freund … Hoffentlich geht es ihm bald wieder besser.«

»Danke.« Für einen Moment wurde Marnie bewusst, was sie da eigentlich vorhatte, und ihr stockte der Atem, obwohl sie nicht nur Angst verspürte, sondern auch eine geheimnisvolle, prickelnde Erregung. Es gab Augenblicke im Leben, da schwanden alle Gewissheiten und man stand ganz allein vor dem Abgrund des Zweifels. Sie streckte eine Hand aus, um den Tisch zu berühren, und drückte ihre nackten Zehen auf den Fliesenboden. Sie wollte noch etwas hinzufügen, aber das Einzige, was ihr in den Sinn kam, war: »Er heißt Ralph.« Als sie den Namen laut aussprach, wurde sein Bild schärfer. Wann hatte sie zum letzten Mal seinen Namen gesagt?

Elaine wechselte wieder in ihren gewohnten forschen Tonfall.

»Gut. Und geben Sie dieser Eva meine Telefonnummer, für alle Fälle.«

»Natürlich. Danke, Elaine.«

»Alles Gute!«

»Danke. Ihnen auch.«

Marnie kochte noch eine Kanne Kaffee, diesmal besonders starken. Sie machte Milch warm und goss sie mit dem Kaffee in zwei Becher. In einen davon gab sie einen Teelöffel Zucker. Die beiden Becher in einer Hand, klopfte sie an Evas Tür. Sie wartete. Klopfte erneut.

»Hm?«

»Eva?« Sie versuchte die Tür mit dem Fuß aufzustoßen, aber die öffnete sich nur einen Spaltbreit. Irgendetwas lag im Weg. »Guten Morgen.«

»Wie spät?«

»Ich bring Kaffee für euch zwei.«

Marnie zwängte sich durch den Türspalt, stieg über Berge verstreuter Kleidung und trat auf Gegenstände, die unter ihren Füßen knirschten – eine CD-Hülle, ein Handy, eine Brieftasche –, bis sie am Futonbett angelangt war, in dem Eva und ihr Freund Gregor schliefen. Sie konnte Gregors braunen Lockenkopf ausmachen, ein blinzelndes Auge, eine herunterhängende Hand, deren Finger den zugemüllten Teppich berührten, während Eva unsichtbar war. Sie hatte sich ein paillettenbestickes Kissen, das Marnie vor vielen Jahren genäht hatte, vollständig über den Kopf gezogen und sich in die Bettdecke gewickelt. Nur drei dunkellila lackierte Zehen lugten darunter hervor. Und da war noch jemand im Zimmer. Er lag auf dem Fußboden, mit Boxershorts und nur einem Socken bekleidet; ein T-Shirt von Eva bedeckte sein Gesicht. Durch das T-Shirt drang sporadisch ein Pfeifen, und die haarlose Brust hob und senkte sich in friedlichem Schlummer.

Die Vorhänge waren zugezogen, und in der Luft lag ein säuerlicher Geruch, durchsetzt von Tabak und Parfüm. Marnie rümpfte die Nase. Bevor Eva bei ihr aufgekreuzt war, war das ihr kleines Atelier gewesen. Sie hatte alle ihre Utensilien und Materialien in Schuhschachteln und großen Tüten unter ihrem Bett und auf dem Kleiderschrank verstaut. Dafür lagen jetzt Evas und Gregors Sachen im Zimmer verstreut wie Saatgut auf dem Feld. Es war ein mathematisches Rätsel, wie die beiden mit ihren wenigen Habseligkeiten so viel Unordnung zustande brachten.

»Ich hätte dich nicht geweckt, wenn ich nicht in einer Notlage wäre.«

Unter dem Kissen ein Geräusch wie eine Frage. Gregors Finger schlossen sich zur Faust, die unter die Decke zurückgezogen wurde. Er stieß einen gequälten Seufzer aus. Der Junge am Boden drehte sich auf die andere Seite.

»Ich habe Arbeit für dich, Eva, hörst du?«

»Arbeit?«

»Ja. Du hast doch gesagt, du suchst einen Job. Ich habe einen.«

»Ich bin im Winterschlaf.«

»Eva, ich stelle zwei Becher Kaffee hier auf den Boden. Ich wusste nicht, dass ihr einen Gast habt. Pass auf, dass sie nicht umkippen! Ach, hier sind meine Kaffeebecher alle geblieben. In einigen wächst ja schon der Schimmel. Hör zu, Eva, ich muss für ein paar Tage verreisen.«

Evas Kopf kam unter dem Kissen hervor und drehte sich in Marnies Richtung. Ihre Augen waren immer noch fest geschlossen.

»Wann?«

»Heute. In wenigen Stunden. Du wirst mich vertreten.«

Evas Augen öffneten sich einen Spaltbreit.

»Ach ja?«

»Ja.«

»In deinem Museum?«

»Genau.«

»Oh.«

Die Augen schlossen sich erneut.

»Schlaf bloß nicht wieder ein, Eva! Ich mach jetzt das Licht an, okay? In einer halben Stunde gehen wir zusammen los. Ich zeige dir alles, und du bleibst dann gleich dort.«

»In einer halben Stunde!«

»Ja. Bitte, Eva! Es ist wichtig.«

»Warum?«

»Weil ich losmuss, bevor …«

»Nein.« Eva setzte sich auf und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wohin musst du denn?«

»Das sage ich dir, wenn du aufgestanden und angezogen bist.«

»Marnie!«

»Zehn Minuten. Ich mach dir inzwischen was zu essen.«

»Okay.«

»Trink deinen Kaffee, bevor er kalt wird!«

»Ja, ja.«

Marnie schloss die Zimmertür hinter sich. Sie zog einen schwarzen Kordrock an, ein dünnes T-Shirt, einen hellgrauen Pulli mit V-Ausschnitt und alte schwarze Stiefel. Dann holte sie ihre Reisetasche aus dem Schrank. Der Gepäckabschnitt vom letzten Flug klebte noch am Griff, und in einer Seitentasche fand sie ein kleines Deospray und eine Haarbürste. Sie warf Slips, BHs, mehrere Paar Socken und Kosmetiksachen hinein. Ohne groß nachzudenken, nahm sie eine Jeans aus dem Schrank, drei Blusen und einen weiteren Pulli. Ihren Morgenmantel, den sie gerade ausgezogen hatte, packte sie ebenfalls ein. Was noch? Shampoo, Zahnbürste. Ihren Reisepass, der erst in sechs Jahren ablief. Vor vier Jahren hatte sie sehr viel jünger ausgesehen. Ihre Gesichtszüge waren weicher gewesen. Sie nahm ihren grauen Mantel mit Gürtel aus dem Schrank und warf ihn auf die Reisetasche.

Im Vorbeigehen klopfte sie noch einmal an Evas Tür, dann schob sie zwei Panini in den Ofen. Ein Panino mit Marmite-Aufstrich und geriebenem Käse war derzeit Evas Lieblingsfrühstück (davor waren es Zimt-Bagel gewesen). Sie war eine schlanke junge Frau mit schmalen, fast zerbrechlich wirkenden Hand- und Fußgelenken, schmal auch im Gesicht, an Hüften und in der Schulter. Aber am Ende eines anstrengenden Tages aß sie wie ein Scheunendrescher. Unerklärlich, wohin sie das alles steckte. Sie trieb kaum Sport und war faul wie eine Katze, die sich in der Sonne räkelt. Eva und ihre jüngere Schwester Luisa waren wahrscheinlich der Hauptgrund gewesen, warum Marnie so lange mit Fabio, dem Vater der beiden, zusammengeblieben war. Vielleicht waren die Mädchen sogar der Grund, aus dem sie sich überhaupt erst in ihn verliebt hatte. Dies und die Sehnsucht nach einem eigenen Kind, die in ihrem gesamten Körper brannte. Als sie die Mädchen kennenlernte, waren sie neun und sieben Jahre alt: feingliedrige Mädchen mit dunklen Augen und Strubbelkopf, die eineinhalb Jahre zuvor die Mutter verloren hatten und nach Liebe hungerten. Jedes auf seine Art so hilflos, dass Marnie geradezu überwältigt war von einem mütterlichen Beschützerinstinkt, den sie nie ganz abgelegt, sondern nur zu kaschieren gelernt hatte. Luisa, ein sanftes, rührend schüchternes Wesen, hatte sofort Vertrauen zu ihr gefasst. Sie war zu Marnie und Fabio ins Bett geklettert und hatte auf dem morgendlichen Weg in die Schule ihre Hand in Marnies Hand geschoben. Sie hatte sich von Marnie das widerspenstige Haar zu Zöpfen flechten lassen und mit ihr zusammen etwas zum Anziehen ausgesucht. Eva dagegen hatte Marnie zunächst ignoriert, sich dann in Fabios Gegenwart über sie lustig gemacht und Marnies Geduld mit Provokationen auf die Probe gestellt. Sie hatte nach Marnie geschlagen, ihr einmal sogar ins Gesicht gespuckt und sie angefaucht wie eine wilde Katze, bevor sie sie endlich in einem Strom von Tränen akzeptierte.

Marnie hatte die beiden Mädchen durch die schwierigen Jahre der Pubertät begleitet. Sie hatte ihnen über Liebeskummer, die einsetzende Menstruation, Schulprüfungen, die ersten Freundschaften mit Jungs und den ersten Kater nach einer durchzechten Nacht hinweggeholfen. Sie hatte ihnen gezeigt, wie man englische und italienische Gerichte kocht, wie man mit Öl- und Aquarellfarben malt, wie man näht, stickt, zerbrochenes Geschirr und Steckdosen repariert. Und die Mädchen hatten ihr Florenz, Siena und Pisa gezeigt und Marnies italienische Grammatik verbessert. Marnie hatte mit ihnen Segeltouren unternommen wie früher ihre eigene Mutter mit ihr. Die Mädchen lachten, wenn ihnen die salzige Gischt ins Gesicht spritzte, und wenn sich das kleine Boot in den Wellen aufbäumte, lächelten beide auf dieselbe Weise. Damals hatte Marnie sich vorgenommen, diese Momente des Glücks niemals zu vergessen. Sie hatte die beiden getröstet, wenn sie weinten, mit ihnen gekichert und herumgealbert. Das gewünschte eigene Kind mit Fabio hatte sie nie bekommen, und erst ganz allmählich – wie im Nebel, der sich langsam lichtet – erkannte sie, dass Fabio außer ihr noch andere Frauen hatte, mit denen er gleichfalls keine Kinder bekam. Die überschwängliche, reumütige Zärtlichkeit, mit der er nach jedem Abenteuer wieder zu ihr zurückgekehrt war, hätte schon viel früher ihren Verdacht erregen müssen. Ihn zu verlassen war ihr leichtgefallen, die Mädchen zu verlassen hingegen war die schwerste Entscheidung ihres Lebens gewesen. Als es so weit war, hatten die beiden allerdings gerade begonnen, sich von zu Hause abzunabeln. Dann, vor wenigen Wochen, war Eva plötzlich mit einer kleinen Tasche und einem großen, zerzausten polnischen Freund hier aufgetaucht. Sie würde gern eine Weile bleiben, hatte sie lässig erklärt, und sich nach einer Arbeit umsehen, bevor sie auf die Reise gehen wolle. Das sei doch kein Problem? Und Marnie, die ihre Freude und Dankbarkeit hinter einer ebenso beiläufigen Miene verborgen hatte, hatte geantwortet, das gehe schon klar. Eva könne bleiben, solange sie wolle.

Jetzt rieb sie Käse über die Panini, schob sie in den Toaster und rief durch die Küchentür hinaus:

»Eva! Jetzt komm endlich!«

»Nur eine Minute.«

»Du hattest schon fünfzehn.«

Als Eva schließlich auf hochhackigen Schuhen in die Küche stakste, trug sie einen kurzen grünen Glockenrock, gemusterte Strümpfe, eine orangerote langärmelige Bluse – halb aufgeknöpft, sodass das pinkfarbene Top darunter hervorschaute –, eine Halskette, glitzernde Armreife und klimpernde Ohrringe. Dazu ein Nasenpiercing. Ihre Fingernägel waren zinnoberrot lackiert, die Augenlider türkis geschminkt, die Wimpern dunkelblau getuscht, und ihre Lippen glänzten in einem satten Rot.

»Ach, du meine Güte!«, sagte Marnie in einem Anflug von Heiterkeit trotz des Anrufs von vorhin. »Da tun einem ja die Augen weh.«

»Ich dachte, es wäre gut, wenn ich mich ein bisschen zurechtmache.« Eva sprach fließend Englisch, obwohl ihre Intonation immer noch klang wie ein melodisches Maschinengewehr.

»Wer ist der junge Mann, der auf dem Boden in deinem Zimmer liegt?«

»Ach, ich weiß nicht mehr«, sagte Eva vage. »Obwohl er mir gesagt hat, wie er heißt. Wir haben ihn gestern Abend kennengelernt. Er hat seinen Zug nach Hause verpasst. Ist das für mich?«

Eva biss mit herzhaftem Appetit in das Panino, dessen geschmolzener Käse lange Fäden zog. Auf ihrem Schlüsselbeinknochen prangte eine gemalte kleine Spirale – oder war es ein Tattoo?

»Du siehst aus wie eine Warnblinkleuchte. Aber zum Glück ist es im Museum dunkel, das dämpft die Farben. Außerdem wird ohnehin kein Besucher kommen, der sich abgeschreckt fühlen könnte. An manchen Tagen ist es sehr ruhig.«

Eva setzte sich auf einen Stuhl.

»Und jetzt erzähl! Wohin musst du, so ganz in Schwarz und Grau wie eine Nonne?«

»Einen kranken Freund besuchen.«

»Einen Freund?«

»Jemand, den ich von früher kenne.«

»Länger als Dad?«

»Viel länger.«

»Mysteriös. Wie krank ist er denn?«

Marnie antwortete nicht. Trotz Evas Besorgnis fand sie die richtigen Worte nicht. Sie schluckte, biss sich auf die Lippen und starrte aus dem Fenster. In dem stärker werdenden Regen eilten drei junge Frauen vorbei; dann eine Politesse mit gesenktem Kopf; ein Vater mit Kind, das einen bunten Schal um den Hals trug und eine Pudelmütze, die bis an die Augenbrauen in die Stirn gezogen war.

»Ist es so schlimm?«, fragte Eva. »Oje, oje.« Sie hatte etwas Mütterliches an sich. Tröstende Worte murmelnd, strich sie Marnie mit ihrer kleinen, beringten Hand über die Schulter.

»Ich weiß nicht, wann ich wieder da bin, aber ich bleibe nicht lange. Vielleicht ein paar Tage. Vielleicht bin ich auch schon morgen wieder zurück. Ich rufe dich an. Wirst du zurechtkommen?«

»Natürlich komme ich zurecht.«

»Und du wirst …?«

»… die Wohnung pfleglich behandeln und nachts nicht zu viel Krach machen und darauf achten, dass bei deiner Arbeit alles glattläuft. Leihst du mir deine pinkfarbene Wolljacke?«

»Ja«, sagte Marnie. »Ich rechne fest damit, dass du meinen Kleiderschrank plünderst. Das gibt mir das Gefühl, immer noch deine Stiefmutter zu sein.«

»Du wirst immer meine Stiefmutter bleiben. Meine zweite Mutter.«

»Dann ist es ja gut. Wir müssen los.«

Aber sie zögerte noch. Dann nahm sie einen etwas schief getöpferten, gestreiften Keramikbecher von der Anrichte sowie ein Gläschen Muskatnüsse und ein Glas Honig vom örtlichen Imker aus dem Vorratsschrank. Eva verfolgte alle ihre Bewegungen genau, stellte aber keine Fragen.

Das Museum war von Dickens’scher Enge, aber gerade das hatte für Elaine seinerzeit wahrscheinlich den Ausschlag gegeben. Sie war ganz angetan von diesem kuriosen, typisch englischen Touch, frei von jeglichem Komfort, den verzogenen Jalousien und dem engen Treppenaufgang. Wenn sich jemand den Kopf an den Deckenbalken stieß, war sie jedes Mal entzückt. Bei ihr selbst bestand diese Gefahr nicht, denn sie war viel zu klein. Das schmale dreistöckige Haus lag eingekeilt zwischen einem Bürogebäude aus den sechziger Jahren und einem heruntergekommenen Mietshaus. Nach hinten ging es auf einen winzigen Innenhof, den Marnie von dem Krempel befreit hatte, der sich dort angesammelt hatte (ein kaputtes Kinderdreirad, ein Haufen Dachziegel, Dosen mit eingetrockneter Farbe, eine morsche Tür). Sie hatte vor, den Hof mit Stauden in Kübeln zu verschönern und vielleicht sogar einen Apfelbaum zu pflanzen. Sie würde ein Vogelhäuschen kaufen. In einer Ecke des Hofs hatte sie sogar einen Komposthaufen angelegt, wo sie den Satz des Besucherkaffees, Teebeutel und Orangenschalen entsorgte. Von dem Zwang, sich eine wohnliche Atmosphäre zu schaffen, hatte Marnie sich noch nie befreien können. Selbst wenn sie nur eine Nacht in einem anonymen Hotelzimmer verbrachte, räumte sie stets ihre Sachen aus der Reisetasche in die Schubfächer und legte Zahnbürste, Haarbürste, Gesichtscreme und Shampoo so zurecht, als bliebe sie länger. Ralph hatte sie immer damit aufgezogen und eine »Glucke« genannt. Dünn und unordentlich, wie er war, hatte er sich zu ihren Füßen gelegt und gesagt, sie solle sich bloß nicht einfallen lassen, ihn ebenfalls zu entsorgen.

»Die Glühbirnen gehen ständig kaputt«, sagte Marnie und sperrte die Tür auf. »Im Schrank sind neue.« Sie schaltete das Licht ein, und sofort erwachten die von den Deckenbalken hängenden und auf den Regalen sitzenden Marionetten zum Leben. An die unheimliche Wirkung der zahlreichen Puppen, die sie aus gemalten Augen beobachteten, die schief grinsenden Münder halb aufgerissen, mit spindeldürren, hängenden Armen und eingeknickten Beinen, hatte sie sich nie ganz gewöhnen können. Dabei waren sie ihr längst vertraut. Marnie kannte ihre Namen, ihr Alter (einige waren ein paar hundert Jahre alt), ihre Herkunft. Sie konnte den Besuchern erklären, welche der Marionetten aus Sizilien stammten, welche aus Indonesien und welche von hier. Viele Kostüme hatte sie selbst restauriert. Den japanischen Seidenkimono zum Beispiel hatte sie am Rücken wieder zusammengesteppt, für einen der alten hölzernen Krieger im hintersten Raum hatte sie ein neues Schwert und für die Kurtisane aus Hickory-Holz mit den zinnoberrot bemalten Wangen einen Fächer gebastelt. Bei dem großen, abgewetzten Drachen am Eingang, den die Kinder so liebten, hatte sie die Nähte ausgebessert und Rolands Rüstung auf Hochglanz poliert. Manchmal, wenn sie allein war, nahm sie eine Marionette herunter und bewegte sie über den Fußboden. Die rautenförmigen Füße trommelten auf die Dielen, die Arme gingen ruckartig nach oben, als wollten sie Schläge abwehren. Einige Puppen, so die siebzig Zentimeter große Prinzessin aus Birma, waren aufwändig geschmückt, andere, vor allem die im oberen Stock, waren einfache Handpuppen. Unter ihnen topsy-turvy dolls, die zwei Gesichter hatten, eines oben, das andere unten, und einige, die sie an die Puppe aus Pappmaché erinnerten, die sie in der Schule gemacht hatte, indem sie Zeitungsschnitzel in Wasser und Klebstoff eingeweicht und über eine grobe Form aus Knetmasse modelliert hatte. Es gab unbewegliche Figuren an Führungsstäben und andere, die die Bezeichnung Marionette letztlich nicht verdienten. Ihr Lieblingsstück war ein kleiner Hund mit flacher Schnauze und konturlosem Kopf aus Papua-Neuguinea, dessen brüchiger, beinloser Rumpf aus Baumrinde gestaltet war.

Marnie drehte die Heizung auf, legte Stapel mit Broschüren und Postkarten auf die Besuchertheke, zeigte Eva, wo Kaffee und Tee waren und wie die Kasse bedient wurde. Man konnte hier für wenig Geld Marionetten kaufen: Tiere mit lustigen Gesichtern, schnurrbärtige Schurken, Könige mit Kronen, Harlekine mit überrascht hochgezogenen Augenbrauen und sogar ein aufklappbares, leuchtend buntes Miniaturtheater mit winzigen Pappfiguren, die man bemalen und an Führungsstäben bewegen konnte. Als Kind wäre Marnie begeistert gewesen, und jedes Mal, wenn sie eine Marionette verkaufte, schwelgte sie in nostalgischer Wehmut.

»Glaubst du«, sagte Eva und fuhr prüfend mit dem Zeigefinger über das Regal mit den Pappmasken, »glaubst du, dass du und Dad jemals wieder …?«

»Nein.«

»Das ist aber sehr … Wie sagt man?«

»Unmissverständlich?«

»Das habe ich, glaube ich, nicht gemeint. Du hättest uns nicht verlassen dürfen.«

»Ich habe nicht euch verlassen, sondern ihn. Außerdem hatte er sich innerlich schon längst von mir verabschiedet, als ich gegangen bin. Du weißt, wie es war. Aber jetzt ist wirklich nicht der richtige Moment, um darüber zu reden.«

»Ich weiß. Ich fange immer an zu reden, wenn der andere gerade im Aufbruch ist. Eine schlechte Angewohnheit. Keine Ahnung, woher das kommt.«

»Eva, ich muss jetzt wirklich los. Meinst du, du wirst das hier schaffen?«

»Mach dir keine Sorgen! Vergiss nicht, ich bin inzwischen erwachsen.«

»Und Gregor, wird er …«

»Ob er bleibt? Ja. Das hast du schon mal gefragt. Aber er wird sich zu benehmen wissen, okay? Wir werden uns beide zu benehmen wissen. Wir werden weder deine Weinvorräte plündern, noch das Mobiliar kurz und klein schlagen.«

»Dann geh ich jetzt also.«

»Ja, gut.« Eva kniff die Augen zusammen. »Musst du nicht ein Flugzeug erwischen?«

»Ja.«

Marnie streckte die Hand aus und zupfte ein imaginäres Haar von Evas Schulter, nur weil sie sie berühren und den vertrauten Geruch einatmen wollte – nach Nikotin, gemischt mit den Aromen von Kamille und Zitrone, ein frischer, sauberer Duft. Sie umarmten sich. Evas weiches schwarzes Haar streifte Marnies Hals, und ihr warmer Atem strich wie frisches Gras über ihre Wange.

»Viel Glück«, sagte Eva zum Abschied.

Als das Flugzeug abhob, lehnte Marnie den Kopf an das verschmierte Oval der Fensterscheibe. Ihre Stirn vibrierte sanft im Einklang mit den Motoren. Der Himmel war verhangen und grau. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf Häuser und Hügel und die sich dahinschlängelnde Themse. Irgendwo da unten ging der Tag weiter, allerdings ohne sie. Eva war jetzt in dem dunklen Museum, trommelte mit den lackierten Fingernägeln gelangweilt auf den Tisch oder lächelte mit ihrem vollen, rot geschminkten Mund den Besuchern zu. Währenddessen saß der schweigsame, blasse, kräftige Gregor in ihrer Wohnung, wo es nach Bier und Tabak und polnischem Essen roch. Ihre Mutter lag unter einem kleinen Flecken Erde, auf die ein winterlicher Nieselregen fiel. Wie die beiden anderen, die allerdings vor so langer Zeit gestorben waren, dass ihre Gräber bereits abgeflacht und mit Gras überwuchert waren, eins davon so klein, dass es für das menschliche Auge kaum sichtbar war. Und dann war da noch David, obwohl Marnie versuchte, nicht an ihn zu denken und die Erinnerung an ihn in die trüben Tiefen ihres Unterbewusstseins zu verbannen. Dort regte sie sich nur gelegentlich und schickte dunkle Wolken empor, in denen Marnie keinerlei Gestalt, sondern nur eine vage Bedrohung erkennen konnte. Vor ihr lag die Begegnung mit Ralph und Oliver. Ihre Vergangenheit hatte sich in die Zukunft katapultiert und wartete dort auf sie. Nach Monaten der friedlichen Untätigkeit, einer Zeit der Heilung und allmählichen Bewältigung, befand sie sich nun erneut auf einer Reise. Und obwohl sie auf dieser Reise Abschied nehmen musste, spürte sie eine kribbelnde Erregung. Etwas war in Gang gekommen; das Leben verschob sich unter ihren Füßen.

2 Zwei

Sie war in einer anderen Welt gelandet. Hier herrschte ein Winter, der London noch nicht erreicht hatte und wahrscheinlich nie erreichen würde, jedenfalls nicht in dieser Strenge. Als sie aus dem Flugzeug stieg, schlug ihr schneidend kalte Luft entgegen, sodass die Nase zu schmerzen und die Fingerspitzen zu pochen begannen und sie Kinn und Mund mit dem Schal bedeckte. Die Sonne war bereits hinter dem Horizont verschwunden, und der Mond schwebte als schiefe Sichel über der bereiften Landschaft, obwohl der Nachmittag noch nicht fortgeschritten war. Beiderseits der Landebahn erstreckten sich Felder. Auf einer Wiese grasten Pferde, vom Fluglärm offenbar nicht beeinträchtigt. Ein anderes Feld war gepflügt und wirkte im Zwielicht der Dämmerung wie ein mit Eisschollen bedecktes Meer. Dahinter zeichneten Kiefern und Birken ihre Umrisse in den Himmel. Marnies abgetragene Stiefel rutschten auf dem spiegelglatten Asphalt.

Das Flughafengebäude glich einer Baracke. In der Ankunftshalle wurde das Gepäck bereits auf ein ruckartig anspringendes Laufband geladen. Eine quietschende Tür führte in die von einer nackten Glühbirne beleuchtete Toilette. Marnie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel, aber nicht aus Eitelkeit oder Besorgnis, sondern um sich ihr Aussehen in Erinnerung zu rufen. Sie rechnete beinahe damit, dass ihr das Gesicht einer Fremden entgegenstarren würde – oder das Gesicht der jüngeren Marnie, die Ralph damals gekannt hatte. Aber nein, das war zweifellos sie: mit Krähenfüßen in den Augenwinkeln, den ersten feinen Kerben oberhalb der Lippe, schwachen Falten zwischen Nasenwurzel und Mundwinkeln, mit dem Haar, das mit den Jahren dunkler geworden war, und ihren – von jeher – ruhigen Augen. Ihr Herz schlug langsam und gleichmäßig, ihre Hände zitterten nicht. Sie hatte einen klaren Kopf, auch wenn sie sich dem Geschehen seltsam entrückt fühlte. Sie beugte sich vor, bis sie die Flecken in ihrer Iris und die kaum sichtbare Äderung ihrer hellen Haut sehen konnte. Einige Zeit nachdem sie bei Fabio eingezogen war, noch bevor er sich anderen Frauen zuwandte, hatte er ihr erklärt, er habe sie bei der ersten Begegnung gar nicht richtig wahrgenommen. Doch dann sei sie ihm »ans Herz gewachsen«, und eines Tages habe er festgestellt, dass er sie schön finde. Und Ralph hatte einmal gesagt, vor ihr sei ihm noch keine Frau begegnet, die sich unsichtbar machen könne. Als sie eingewandt hatte, das sei ihr gar nicht bewusst, hatte er ungläubig den Kopf geschüttelt. »Du bist eine Beobachterin«, hatte er gesagt. »Du hältst dich gern im Hintergrund und beobachtest das Geschehen, ohne selbst gesehen zu werden. Du bist eine Spionin, Marnie.«

Marnie verließ die Toilette und nahm ihre Reisetasche vom Gepäckband, straffte die Schultern und ging durch die Schwingtür hinaus in die Halle, deren schmutziger weißer Fliesenboden von Neonröhren beleuchtet wurde. Es gab nur einen einzigen Schalter für Autovermietung. Die anderen Reisenden schienen alle genau zu wissen, wohin sie wollten, denn sie liefen zielstrebig hinaus in die kalte Abenddämmerung zu einem Wagen auf dem Parkplatz jenseits der Straße oder umarmten einen wartenden Partner. Ein kleiner Junge stürzte Hals über Kopf auf seine zurückkehrende Mutter zu. Dabei zerriss die Papiertüte, die er bei sich trug, und kleine grüne Äpfel rollten über den Boden in alle Richtungen. Er blieb stehen, und sein Mund zitterte. Marnie bückte sich, um die Äpfel aufzuklauben, und beneidete plötzlich die Frau, die von einem Sohn mit einem Armvoll Äpfel abgeholt wurde. Sie schaute sich unsicher um. Ob Oliver käme? Würde sie ihn überhaupt erkennen? Und er sie? Sie blickte forschend in fremde Gesichter, aber kein Funken von Wiedererkennen. Niemand beachtete sie. Sie stellte die Reisetasche ab, holte ihr Handy hervor und schaltete es ein. Keine neuen Nachrichten. Sie ging zur Tür, spähte hinaus in die Dämmerung.

»Marnie Still!« Es war eher ein Befehl als eine Frage.

Marnie drehte sich um und sah sich einer dicken Frau mit struppig grauer Topffrisur gegenüber, deren Gesicht wie zerknittertes Leinen von zahllosen Fältchen durchzogen war, die Augen von einem frappierenden Hellblau. Sie erinnerte Marnie an die in Tusche gezeichnete Squaw in einem ihrer Kinderbücher, allerdings eine Squaw, die nicht zueinander passende Kleidungsstücke kombinierte: Gummistiefel zur khakifarbener Drillichhose und ein schwarzes Herrenjackett (dessen linke Tasche zerrissen war) über einem dicken grauen Fleece-Pullover.

»Oliver konnte nicht kommen«, sagte die Frau in breitem Dialekt, reichte Marnie eine schwielige Männerhand und drückte so fest zu, dass Marnie der Ring ins Fleisch schnitt. »Ich bin Dorothy.«

»Hallo. Schön, dass Sie mich abholen.«

»Oder Dot.«

»Wie bitte?«

»Ralph meint, das passt besser zu mir.« Bei der Erwähnung von Ralphs Namen wechselte Dots Miene von Ernst zu mädchenhafter Sanftheit. Marnie kannte diesen Gesichtsausdruck älterer Frauen, wenn sie von Ralph sprachen, Frauen, die bei seinem ruppigen Charme wehmütig wurden und ihm nichts entgegenzusetzen hatten.

»Ist Ralph …?«

»Das Auto steht dort drüben.«

Es war ein klappriger kleiner Rover, dessen Beifahrertür eingedrückt und mit Klebeband gesichert war. Marnie stellte ihre Tasche in den Kofferraum neben eine rostige Bügelsäge und eine Dose Grundierungsfarbe, bevor sie über den Fahrersitz ins Wageninnere kletterte. Es roch nach Hund und Nikotin.

»Leider funktioniert die Heizung nicht.«

»Macht nichts«, sagte Marnie tapfer und zog den Mantelkragen bis zum Kinn hoch. »Die Fahrt dauert ja nicht lange, oder?«

»Eineinhalb, zwei Stunden.«

»Oh.«

»Holprige Straße. Und Hochwasser.«

Dot sprach offenbar nur selten in ganzen Sätzen. Sie ließ die Verben weg und die Fragezeichen, sodass ihre Worte wie schnelle Bälle angeflogen kamen und man sich nur noch wegducken konnte, um nicht getroffen zu werden.

»Hochwasser? Dann hat es also viel geregnet.«

»Kann man wohl sagen. Zigarette?«

»Nein, danke.«

Dot steckte sich eine Zigarette in den Mundwinkel, zündete sie aber nicht gleich an. Sie startete den Motor, der schnaubte und stotterte, ehe sich der Wagen dann doch zügig in Bewegung setzte. Die Scheinwerfer beleuchteten eine schmale Fahrbahn.

»Sind Sie eine Freundin von Ralph?«

»Freundin?« Dot bog links ab, in eine noch schmalere Straße. »Hoffe ich doch.«

»Was genau hat er?«

Aber Dot antwortete nicht. Sie drückte den Zigarettenanzünder, und als er heraussprang, hielt sie die rot glühende Metallspirale an ihre Zigarette. Ein beißender Geruch erfüllte den Wagen. Rauch kräuselte aus Dots kleinem geschlossenem Mund.

»Oliver hat am Telefon gesagt, Ralph liegt im Sterben.«

»Der ist doch kein Arzt«, blaffte Dot und warf Marnie einen empörten, vom Rauch getrübten Blick zu. Die Frau konnte nur mit Mühe die Tränen zurückhalten.

»Ich habe ihn seit Jahren nicht mehr gesehen«, sagte Marnie leise mehr zu sich selbst. Sie fuhren jetzt bergauf zu einem flachen Plateau, und der Wind rüttelte an dem leichten Wagen. Marnie konnte zwar nicht viel erkennen, hatte aber den Eindruck, dass sich zu beiden Seiten der Straße eine weite Landschaft erstreckte. »Ich wusste gar nicht, dass er immer noch an mich denkt.«

Natürlich denkt er an mich, machte sie sich klar. Wenn er nach wie vor meine Gedanken heimsucht wie ein Geist, der keine Ruhe findet, dann wird es umgekehrt wohl ähnlich sein. Wir könnten Gespenster spielen.

Dot antwortete nicht. Sie beugte sich über das Lenkrad, die Zigarette in den Fingern der rechten Hand, einen Rauchschleier vor dem wettergegerbten Gesicht. Marnie beobachtete, wie die Aschespitze immer länger wurde und Dot schließlich in den Schoß fiel.

»Hat er Krebs?«, fragte Marnie schließlich.

»Er ist sehr dünn. Das war er zwar schon immer, aber jetzt ist er nur noch Haut und Knochen. Haut und Knochen und dann dieses Lachen. Ich weiß gar nicht, wie in seinem armseligen Körper noch Raum für dieses Lachen sein kann, aber das ist es.« Sie wandte Marnie so plötzlich den Kopf zu, als hielte sie sie für eine Schwindlerin. »Sie kennen doch sein Lachen, oder?«

»Ja, ich kenne es. Kannte es.«

»Kichert wie ein kleiner Junge.«

»Stimmt.«

Dot warf ihre Kippe auf den Boden und schaltete das Radio ein. Es zischte und knisterte, und nur gelegentlich drang ein Schwall Musik daraus hervor. Sie drehte am Suchknopf, aber bei anderen Sendern war der Empfang auch nicht besser, und schließlich schaltete sie es wieder aus. Marnie nahm es als Hinweis, dass Dot sich nicht unterhalten wollte, weder über Ralph noch über sonst irgendetwas. Daher ließ sie sich tiefer in den Sitz sinken, vergrub das Gesicht in ihrem Schal, verschränkte die Arme vor der Brust, um sich zu wärmen, und schaute aus dem Fenster.

Der Mond war fast vollständig hinter den Wolken verschwunden, die Landschaft huschte schemenhaft vorüber, und nur ab und zu entdeckte Marnie ein paar Häuser in der Ferne. Der klapprige Rover quälte sich die Hügel hoch, gelegentlich wurden sie von einem Wagen überholt, oder ein entgegenkommendes Fahrzeug beleuchtete für einen kurzen Augenblick das Moor. In dem kalten, stinkenden Auto neben der wortkargen Dot, auf dem Weg zu einem sterbenden Mann, der ihr fremd geworden war, überkam Marnie plötzlich Furcht. Und da war noch etwas, etwas Düsteres, Schweres, was sie bedrückte. Sie hatte Heimweh, aber nicht nach ihrer Wohnung in Soho, auch nicht nach dem italienischen Zuhause, das sie sich erst aufgebaut und dann verlassen hatte. Es war Heimweh nach ihrem verlorenen Ich, nach ihrer toten Mutter, nach ihrer Kindheit in dem heruntergekommenen Haus am Meer, wo sie nachts bei stürmischem Wind im Bett gelegen hatte, wohlbehütet und verschanzt vor der Welt.

Es begann zu regnen. Zuerst fielen nur einzelne dicke Tropfen, dann goss es so heftig, dass die Scheibenwischer kaum noch nachkamen und die abgenutzten Gummis über das Glas quietschten. Der Regen klatschte aufs Dach, überflutete die Straße und spritzte rund um die Reifen in hohem Bogen empor. Fast hätte man meinen können, sie bewegten sich unter Wasser. Dot beugte sich noch weiter vor, bis ihre Nase fast die regenüberströmte Scheibe berührte und ihr Körper sich gegen das Lenkrad zu pressen schien. Zwischen ihren Lippen steckte eine neue Zigarette in einem überraschend schrägen Winkel. Rauch kräuselte sich vor ihrem Gesicht, Asche rieselte auf ihren Kragen und hinterließ eine graue Spur auf ihrem Hals.

»Möchten Sie vielleicht eine kurze Pause einlegen?«, wagte Marnie zu fragen, als das Auto zum dritten Mal auf den schlammigen Seitenstreifen geriet und die Reifen im Matsch durchdrehten.

»Passiert schon nichts«, sagte Dot.

Aber Marnie fühlte sich gar nicht sicher – nicht in dieser Blechkiste, die viel zu leicht wirkte, um die Spur zu halten, und auch nicht in sich selbst. Sie presste die Stirn an das Fenster und suchte nach Anhaltspunkten in der Landschaft, die ihr in der regennassen Dunkelheit wie ein riesiger Ozean erschien. Ralph liebte solche Fahrten ins Unbekannte, Marnie nicht. Sie musste die Dinge planen und auf alles vorbereitet sein. Ralphs Bild tauchte vor ihr auf – Ralphs Gesicht von früher –, und auf einmal kam es ihr so vor, als reise sie in die Vergangenheit, zurück zu ihrem alten Ich.

Während der Wagen die holprige Fahrt fortsetzte, lehnte sich Marnie zurück und schloss die Augen. Schlaf übermannte sie, und sie spürte, wie sie in einen Traum sank, in dem Ralph einen Pullover trug, den ihre Mutter für ihn gestrickt hatte. Er war sehr jung in diesem Traum, fast noch ein Kind, und er weinte untröstlich. Sie wollte ihn umarmen, aber plötzlich war er verschwunden und an seine Stelle war ein Fremder mit gezwirbeltem Schnurrbart und kalten Augen getreten, der eine Fliege trug. Er sah aus wie Salvador Dalí oder wie ein Schurke in einer Komödie. Dann war sie wieder im Auto, neben Dot, die sich standhaft übers Lenkrad beugte. Marnie blinzelte mehrmals, um den Traum abzuschütteln, und rieb sich mit den Fäusten die Augen, die vor Müdigkeit und vom Zigarettenrauch brannten. Sie fühlte sich benommen und hatte keine Ahnung, wie lange sie geschlafen hatte. Die Zigarette, die Dot zwischen den Lippen hatte, war vielleicht noch dieselbe wie in dem Moment, als Marnie die Augen zugefallen waren, vielleicht aber hatte sie inzwischen noch einige mehr geraucht. Die Landschaft draußen wirkte unverändert schwarz, nass und leer.

Sie musste noch einmal eingeschlafen sein, denn Dot legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte mit lauter, aber keineswegs unfreundlicher Stimme: »Marnie! Marnie, wachen Sie auf! Wir sind da.«

Marnie richtete sich verwirrt auf und strich sich ein paar Haarsträhnen hinter die Ohren. Das Auto stand vor einem kleinen, weiß getünchten Haus am Ende eines zerfurchten Wegs. Die Fenster im oberen Stock waren dunkel, doch im Erdgeschoss schimmerte Licht hinter den zugezogenen Vorhängen, und aus dem Schornstein stieg Rauch auf. Nach wie vor trommelte der Regen aufs Wagendach.

»Entschuldigung«, sagte sie. Sie war ganz klamm vor Kälte, ihre Zunge wie gelähmt, sie fühlte sich wie benebelt und völlig unvorbereitet auf das, was vor ihr lag. »Wie spät ist es?«

»Viertel vor sieben, so ungefähr. Schaffen Sie’s mit Ihrer Tasche?«

»Kommen Sie nicht mit rein?«

»Ich? Nein.«

»Aber ich …« Marnie unterbrach sich. Was gab es da noch zu sagen? »Vielen Dank, dass Sie mich hergebracht haben.«

»Gern geschehen«, erwiderte Dot.

»Bevor Sie gehen, sagen Sie mir noch eins: Ist er …? Ich meine – werde ich ihn wiedererkennen?«

Dot bedachte sie mit einem langen Blick.

»Er ist Ihr Freund.«