DIE
ASSASSINE
ROMAN
Übersetzung aus dem
Amerikanischen von
Michael Krug
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»The Skewed Throne«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2006 by Joshua Palmatier
Published by Arrangement with DAW BOOKS INC., New York, NY, USA
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2009 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Wolfgang Neuhaus
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München
Umschlagmotiv: © Frank Fiedler
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-8387-1233-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Dieser Roman
ist dem Andenken meines Vaters,
Kdt. Philip F. Palmatier, Jr.,
gewidmet, vermisst auf See
nach einer Kollision zweier
A-4 Skyhawks in der Luft am
10. Dezember 1990.
Vor über tausend Jahren fegte ein gewaltiges Feuer durch die Stadt Amenkor. Es war kein Feuer wie jene roten und orangefarbenen Flammen, die in den ölgefüllten Standschalen entlang der Promenade zum Palast flackerten, vom Wind angefacht, der vom Meer heraufzog. Nein, dieses Feuer war weiß und rein und kalt. Den Legenden zufolge brannte es von Horizont zu Horizont und loderte bis zu den Wolken empor. Wie ein Sturmwind jagte es aus dem Westen heran, und als es über die Stadt hereinbrach, raste es durch die Mauern und Gebäude hindurch, ließ sie aber ebenso unversehrt wie die Menschen, durch deren Körper es toste, ohne sie zu verbrennen. Das Feuer überzog die ganze Stadt. Es gab kein Entrinnen; jeder wurde von den Flammen berührt. Und weiter jagte das Feuer, hinein ins Landesinnere, bis es nur noch ein weißer Schimmer am fernen Horizont war und schließlich ganz verblich.
Es heißt, das Weiße Feuer habe die Stadt in den Wahnsinn gestürzt. Es heißt, das Feuer sei ein Omen gewesen, ein Vorbote der elfjährigen Dürre und Hungersnot und Krankheit, die darauf folgten.
Es heißt, das Feuer habe die damals herrschende Regentin getötet, obwohl man ihren Leib unversehrt auf den breiten Steinstufen fand, die am Ende der Promenade hinauf zum Palast führten. Um den Hals der Regentin prangten Blutergüsse, welche die Form von Händen besaßen, während sich auf ihrem nackten Rücken und den entblößten Brüsten Wundmale zeigten, die die Form von Stiefelsohlen aufwiesen. Am ganzen Körper hatte sie Blutergüsse, sogar unter den weißen Gewändern, die in Fetzen um ihren unnatürlich verdrehten Körper hingen und nur noch von ihrer goldenen Schärpe gehalten wurden. Auch Blut war zu sehen, wenn auch nur Spritzer.
Den Legenden zufolge hatte das Feuer die Regentin getötet.
Das Feuer, pah!
Verborgen in einer hoch gelegenen Nische in einem schmalen Gang im Palastinnern schnaubte ich verächtlich, ehe ich mein Gewicht verlagerte, um einen verkrampften Muskel zu entlasten, wobei mein Körper im Dunkel verborgen blieb. Die Nische befand sich am Ende eines langen Schachts, der für eine ständige Zufuhr frischer Luft ins Innere des Palasts sorgte.
Jeder Blinde hätte erkennen können, was der Regentin tatsächlich widerfahren war. Und der Mistkerl, der sie umgebracht hatte, sollte im tiefsten Höllenloch Amenkors verrotten! Man kann einen Menschen schneller und weniger qualvoll töten als durch Erdrosseln. In diesen Dingen kannte ich mich aus.
Langsam holte ich Luft und lauschte. Alles war still außer dem leisen Zischen der Ölflammen, die den verwaisten Gang erhellten. Der Luftzug im Palast wehte in Böen durch die Öffnung in meinem Rücken. Ein Sturm braute sich zusammen. Aber der Wind hatte auch sein Gutes, denn er trieb den Rauch des brennenden Öls und andere Gerüche fort.
Nach einem langen Augenblick des Abwägens glitt ich zum Rand der Nische vor und spähte den Gang in beide Richtungen entlang. Nichts.
Mit einer fließenden Bewegung ließ ich mich über die Kante der Öffnung gleiten, baumelte einen Lidschlag lang über dem Boden, bis ich mich eingependelt hatte. Dann ließ ich mich fallen.
»Du da, Junge! Komm her und hilf mir.«
Ich wirbelte herum. Meine Hand zuckte zum Dolch, der unter meiner Kleidung verborgen war – Pagenkleider, die man mir in der Nacht zuvor zur Verfügung gestellt hatte und die ein wenig zu groß und zu weit für mich waren. Dennoch erfüllten sie anscheinend ihren Zweck. Ich war klein für mein Alter und besaß keinen nennenswerten Busen; trotzdem würde mich niemand bei näherer Betrachtung für einen Jungen halten.
Die Frau, die mich angesprochen hatte, trug das weiße Gewand einer Leibdienerin der Regentin, dazu zwei Flechtkörbe, einen in jedem Arm. Einer der Körbe drohte ihrem Griff zu entgleiten. Es war der Frau gelungen, den einen Korb mit dem anderen aufzufangen, ehe er fallen konnte, doch nun lehnten beide Körbe wackelig an ihrer Brust und würden bei der geringsten Bewegung kippen.
»Worauf wartest du?« Gereizt und wütend verzog die Frau das Gesicht, doch ihr Blick verharrte auf den Körben.
Ich richtete mich aus der geduckten Haltung auf, die ich unwillkürlich eingenommen hatte, und setzte mich in Bewegung, um den Korb zu ergreifen, bevor er kippte. Er war schwerer, als er aussah.
Als ich den Korb an mich nahm, strich meine Hand über die Haut der Frau, worauf ein scharfer, brennender Schmerz meinen Arm entlangraste, als hätte jemand vom Handgelenk bis zum Ellbogen eine Dolchklinge darüber gezogen. Jäh schaute ich die Frau an und erstarrte.
Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und wischte sich mit zittriger Hand über die Stirn. »Danke«, sagte sie, atmete durch und deutete auf den Korb. »Und jetzt gib ihn mir zurück. Aber vorsichtig!«
Erleichterung erfasste mich. Die Frau hatte die Berührung nicht gespürt, hatte weder den sengenden Schmerz noch sonst etwas Ungewöhnliches bemerkt.
Ich drückte ihr den Korb in den Arm, wobei ich darauf achtete, nicht noch einmal mit ihrer Haut in Berührung zu kommen. Die Frau ächzte unter dem Gewicht. Ich trat beiseite und ließ sie vorbei. Keuchend mühte sie sich den Gang hinunter und verschwand um eine Biegung.
Ich sah ihr nach und kniff die Augen zusammen. Eigentlich hätte ich keinem Menschen über den Weg laufen sollen, erst recht niemandem von der Dienerschaft. Niemand durfte wissen, dass ich hier war.
Ich musste vorsichtiger sein.
Abermals tastete ich nach meinem Dolch, wandte mich ab, setzte mich in Bewegung und schüttelte die Gedanken an die Frau ab, während ich in der entgegengesetzten Richtung durch den Gang schritt. Die Frau hatte kaum von ihren Körben aufgeschaut; sie war viel zu sehr darauf bedacht gewesen, ja nichts fallen zu lassen. Bestimmt würde sie sich nicht daran erinnern, einem Pagen begegnet zu sein. Nicht innerhalb des Palasts. Außerdem hatte ich keine Zeit zu verlieren, wollte ich vor dem Morgengrauen in die Gemächer der Regentin gelangen. Ich befand mich im äußersten Bereich der Palastanlage und musste noch zu dem Wäscheschrank mit der Bogenaussparung, vorbei an den Wachen im inneren Bereich.
Ich schüttelte den Kopf und lief ein wenig schneller den schmalen Gang entlang, während ich in Gedanken den Grundriss des Palasts und die zeitliche Abfolge meines Vorhabens durchging. Der aufziehende Sturm ließ meine Haut prickeln und trieb mich zusätzlich an. Ich griff in eine Innentasche und betastete den darin verborgenen Schlüssel.
Ich musste noch in dieser Nacht in die Gemächer der Regentin gelangen. Wir hatten bereits zu lange gewartet – sechs Jahre in der vergeblichen Hoffnung, dass die Dinge sich besserten. Sechs Jahre auf der ständigen Suche nach neuen Lösungen. Sechs Jahre seit der Wiederkehr des Weißen Feuers. Sechs Jahre seit dem Tag, nach dem die Dinge sich immer mehr verschlechtert hatten. Den Legenden zufolge hatte bereits das erste Feuer der Stadt den Verstand geraubt. Das zweite Feuer hatte einen schleichenden, unterschwelligen Wahnsinn verbreitet. Und nun stand der Winter vor der Tür. Die Meere wurden rauer und für Handelsschiffe unbefahrbar. Auch der Landweg würde bald versperrt sein, denn die Gebirgspässe wurden im Winter unpassierbar. Und die Vorräte schwanden.
Meine Miene war hart und entschlossen, als ich in einen zweiten Gang einbog. Wir hatten alles versucht, es zu beenden. Wir hatten alles getan, was den Legenden zufolge damals, nach dem ersten Feuer, geholfen hatte. Doch alles war vergeblich gewesen. Nun gab es keine Wahl mehr.
Die Regentin musste sterben.
Erster Teil
DER SIEL
Ich richtete den Blick auf die Frau mit den dunklen Augen, dem breiten Gesicht und dem langen, glatten schwarzen Haar, dann auf den Korb an ihrer Hüfte, dessen Inhalt von einem Tuch bedeckt wurde. Die Frau trug ein sandfarbenes Kleid. Ein Dreieckstuch, das unter ihrem Kinn verknotet war, verhüllte den größten Teil ihres Kopfes. Die Frau war in der Menschenmenge auf der Straße einfach auszumachen. Sie bewegte sich ohne Eile und mit gesenktem Kopf.
Ein leichtes Opfer.
Wieder schaute ich auf den Korb, und meine Hand glitt zum Dolch, den ich in meinem zerschlissenen Hemd verbarg. Mein Magen knurrte.
Ich biss mir auf die Oberlippe und richtete den Blick wieder auf die Frau, die noch immer den Kopf gesenkt hielt. Über die Straße hinweg versuchte ich, ihre Augen zu erkennen, denn die Augen offenbarten das meiste. Doch die Frau entfernte sich weiter, bis sie an einer Gassenmündung stehen blieb.
Einen Augenblick später verschwand sie in der Gasse.
Ich zögerte am Rand der Straße, die als der »Siel« bezeichnet wurde. Meine Finger kneteten den Dolchgriff. Menschen strömten an mir vorüber. Ich ließ den Blick über die Straße und die Leute schweifen und bemerkte dabei einen Gardisten, einen Fuhrmann mit kräftigen Schultern und einen verwahrlosten Strolch. Niemanden, der offenkundig gefährlich war. Niemanden, der eine Bedrohung für ein vierzehnjähriges Mädchen darstellen könnte, das sich an eine Wand drückte, dreckverschmiert, mit zerlumpten Kleidern und dermaßen schmutzigem Haar, dass man die Farbe kaum erkennen konnte. Ein kleines Mädchen – viel zu klein für seine vierzehn Jahre und viel zu dürr, um Aufmerksamkeit zu erregen.
Mit unbeteiligtem Blick wandte ich mich wieder der Mündung der schmalen Gasse zu, in der die Frau verschwunden war, doch es gab nichts zu sehen. Da waren nur Stille und Dunkelheit.
Ich überquerte den Siel und bahnte mir dabei so geschickt einen Weg durch die Menge, dass ich niemanden berührte. Ich huschte in die schmale Gasse, drückte mich an die Mauer und duckte mich tief, bis meine Augen sich an die Düsternis gewöhnt hatten. Ich lauschte. Der Lärm von der Straße verblasste zu einem Hintergrundgeräusch, die Welt wurde grau …
Dann, in der Stille, hörte ich den Klang von Schritten auf nassem Stein, rasch und regelmäßig. Ich vernahm das Rascheln von Kleidern, das Knarren von Bastgeflecht, als das Gewicht eines Korbes verlagert wurde. Die Schritte entfernten sich.
In der schützenden Dunkelheit der Gasse schaute ich zurück zur Straße, beobachtete die Bewegungen dort, blinzelte ins Sonnenlicht. Niemand hatte gesehen, wie ich der Frau gefolgt war, nicht einmal der Gardist.
Ich wandte mich von der Straße weg und glitt tiefer hinein in die Dunkelheit, in den Gestank von Unrat, Schimmel und menschlichen Ausscheidungen. Ich bewegte mich geräuschlos und mit kalter, hungriger Zielstrebigkeit. Mein leerer Magen verkrampfte sich; ich konnte nur an den Korb und an die Lebensmittel denken, die er enthalten mochte. Die Schritte der Frau schlurften nun über den schmutzigen Steinboden und platschten durch unsichtbare Pfützen. Ich atmete den Gestank der Gasse ein, konnte beinahe den Schweiß der Frau riechen. Meine Hand schloss sich um den Griff des Dolchs …
Und die Schritte vor mir verlangsamten sich. Es schien, als würde die Frau sich mit einem Mal wachsam und vorsichtig bewegen.
Ich hielt inne. Dann bewegte ich mich dicht an der Wand, eine Hand gegen die feuchten Lehmziegel gepresst.
Vor mir traten Füße auf der Stelle. Die Kälte der Gasse nahm zu. Es war eine Kälte tief in der Brust, die sich wie das trockene Brennen von Raureif anfühlte.
Mit einem Mal vernahm ich andere, schwerere Schritte und ein scharfes Einatmen. Dann schrie die Frau auf – ein Laut, der jäh abgewürgt wurde.
Etwas Schweres fiel auf das Kopfsteinpflaster, gefolgt von einem rollenden Poltern und den Geräuschen eines Kampfes: raschelnde Kleider, schweres Atmen, ein grässliches Keuchen, erstickt und verzweifelt. Es hörte sich an wie das Keuchen des Mannes, den ich vor drei Jahren getötet hatte. Nur klangen diese Laute nicht nass und zäh, erstickt von Blut, sondern trocken und rasselnd.
Ein Übelkeit erregender, fiebriger Schauder des Grauens lief mir über die Haut. Ich presste mich mit dem Rücken gegen die Lehmziegel und versuchte, nicht zu atmen. Die sengende Kälte, die in meiner Brust brannte, nahm zu und begann weiß zu lodern wie die Berührung des Feuers, das vor drei Jahren durch die Stadt gefegt war. Schweiß nässte meine Achselhöhlen und meine Brust und ließ mich abermals schaudern. Meine Hand umklammerte den Dolchgriff.
Das Keuchen wurde leiser, träger. Dann drang ein angestrengtes Grunzen durch die Düsternis. Es schwoll kurz und jäh an, ehe es sich in einem zittrigen Seufzen auflöste. Fast wie ein Schluchzen. Der Laut ging in leises Atmen über. Dann war ein dumpfer Aufschlag zu vernehmen, schwerer noch als der erste, und völlige Stille breitete sich aus.
Ich bemühte mich verzweifelt, so flach wie möglich zu atmen, während meine Hand den verschwitzten Dolchgriff umklammerte. Ohne darüber nachzudenken, hatte ich die Klinge ganz hervorgeholt, bereit zum Zustoßen.
Doch niemand kam aus der Dunkelheit hervor. Nicht nach zwanzig flachen Atemzügen, nicht nach fünfzig.
Mittlerweile war das frostige Feuer in meiner Brust erloschen.
Ich entspannte mich, holte tief Luft und ging weiter. Ein Streifen schwarzen Wassers tauchte auf, der in der Gassenmitte verlief. Ich hielt mich an der linken Mauerwand. Mit der einen Hand strich ich über die feuchten Ziegel, mit der anderen hielt ich den Dolch.
Elf Schritte weiter fand ich den zur Seite gekippten Korb. Kartoffeln lagen auf dem Kopfsteinpflaster verstreut. Das Tuch, das sie verdeckt hatte, war fleckig vor Schmutz.
Noch drei Schritte weiter stieß ich auf die Frau.
Sie lag in verrenkter Haltung auf dem Rücken, die Beine abgewinkelt. Einen Arm hatte sie von sich gestreckt, der andere ruhte dicht an ihrer Seite. Ihr Kopftuch war verrutscht, und Strähnen ihres Haares ergossen sich über den Steinboden. Ihr Kopf, leicht seitwärts geneigt, lag im Rinnsal des verdreckten Wassers.
Ich kauerte mich an die Wand, starrte prüfend in die Dunkelheit vor mir und lauschte, doch da war nur das Geräusch tropfenden Wassers und der Geruch feuchten Schimmels.
Ich wandte mich wieder der Frau zu, schlich an ihrem ausgestreckten Arm vorbei und kniete mich hin.
Ein dunkles Band aus Blut umgab ihren Hals. Ihre offenen Augen starrten blicklos an mir vorbei in die Düsternis der Gasse. Ihre Lippen waren zu einem stummen Schrei verzogen.
Abermals betrachtete ich die Linie aus Blut, das aus der feucht schimmernden, tief eingeschnittenen Wunde quoll, welche sich quer über ihren Hals hinzog. Ich beugte mich vor …
Und sah, wie sich eine dünne Schnur vor mein Gesicht herabsenkte.
Sofort riss ich den Dolch hoch, doch es war zu spät. Ich hörte ein kehliges, angestrengtes Grunzen, als ein Mann die Schnur in meinem Nacken überkreuzte und festzog. Die Schnur erfasste die Dolchklinge und presste sie mit der flachen Seite gegen meinen Hals.
Dann beugte der Mann sich nach hinten, stieß mir das Knie ins Rückgrat und drückte zu.
Mein Körper bäumte sich vor; die Schlinge spannte sich noch straffer um meinen Hals. Mein Kopf kippte nach hinten und gegen die Schulter des Mannes, sodass seine bärtige Wange an der meinen zu liegen kam. Ich spürte seinen Atem heiß auf der Brust. Er stank nach Bier, Fisch und Öl.
»Ein bisschen jung und dürr für meinen Geschmack«, keuchte er und zog die Schnur mit einem Ruck fester, »aber wir nehmen, was die Regentin uns an Gaben beschert, nicht wahr?«
Der beißende Frost kehrte wieder, von der Kehle bis tief in meine Brust. Ich schmeckte die Luft aus der Nacht des Feuers vor drei Jahren und fühlte die Flammen kalt und tief in mir. Gequält und schmerzvoll rang ich nach Atem.
Ich bekam keine Luft mehr.
Ich warf mich nach vorn, spürte, wie die Schnur sich tiefer grub, spürte mein warmes Blut, als sie in meine Haut schnitt. Das Keuchen des Mannes rasselte in meinem Ohr. Ich ruckte zur Seite, doch die Schnur fraß sich nur umso tiefer ins Fleisch. Dann bündelte das Grau der Welt sich mehr und mehr, bis ich nur noch die Schnur spürte. Während meine Lungen verzweifelt nach Luft schrien, wütete das erstickende Feuer immer heftiger in meiner Brust. Das kalte Metall des Dolchs drückte schmerzhaft gegen meinen Hals. Mit der rechten Hand hielt ich immer noch das Heft umklammert wie in einem Todesgriff.
Als das Feuer in meiner Brust sich sengend ausbreitete und kribbelnde Hitze in meine Arme und bis tief in meine Eingeweide entsandte, drehte ich mit letzter Kraft den Dolch. Die Schneide grub sich in meine Haut, zog vom Ansatz meines Kiefers bis zum Schlüsselbein einen lotrechten Schnitt, der schmerzte wie tausend Nadelstiche. Ich wand mich hin und her und drückte den Dolch nach außen, während der Mann mir ins Ohr ächzte. Sein stinkender Atem zischte, Speichel sprühte von seinen Lippen auf meinen Hals, und seine Zähne mahlten und knirschten. Ich drohte, den letzten Halt in der Welt zu verlieren. Das Grau geriet in Bewegung, schrumpfte zu einem hohlen Kreis, dann zu einem Punkt. Sengendes Feuer füllte meine Eingeweide, sickerte in meine Oberschenkel und meine Beine hinunter. Tausend Nadelstiche bewegten sich auf meine Knie zu und breiteten sich durch meine Schultern in die Arme aus. Und die Schlinge zog sich immer noch fester. Meine Brust hob und senkte sich krampfhaft …
Dann durchtrennte der Dolch die Schnur.
Der Mann stieß einen überraschten Laut aus, als seine Hände auseinanderflogen. Das in mein Rückgrat gepresste Knie trieb mich nach vorn, sodass ich lang ausgestreckt auf der toten Frau landete. Der Mann taumelte rücklings gegen die Gassenmauer.
Ich schnappte so gierig nach Luft, dass es sich wie ein zittriger Schrei anhörte.
Ich rappelte mich auf, trat dabei auf den Arm der Frau und spürte, wie er unter meinem Fuß wegrollte – eine scheußliche, weiche, träge Bewegung. Ich taumelte nach vorn und prallte mit dem Gesicht gegen die Brust des Mannes.
Er hatte sich bereits von der Wand abgestoßen und ragte über mir auf, die Züge eine Grimasse blanken Hasses. Seine Hände griffen nach mir. Die Schnur war noch um seine Finger gewickelt, und die durchtrennten Enden baumelten daran herab, als er nach meinem Hals griff.
Unwillkürlich riss ich den Dolch hoch. Die Welt war noch zu grau und nebelhaft für klare Gedanken.
Die Klinge traf ihn in die Brust. Ich spürte, wie sie durch Haut und Fleisch drang und über Knochen schabte, als sie tiefer und tiefer vorstieß, bis das Heft die Vorwärtsbewegung aufhielt. Der Mann kippte nach vorn, und sein Gewicht drückte mir den Dolchgriff gegen die Brust.
Einen Lidschlag lang sah ich nacktes Entsetzen in den Augen des Mannes und spürte für einen winzigen Moment, wie seine Hände sich lose um meinen Hals legten, dann pressten mir die vom Dolchgriff verursachten Schmerzen den Atem aus den Lungen. Ich stemmte mich nach vorn, drückte den Mann zur Seite, ließ mich auf Hände und Knie fallen und hechelte wie ein Hund. Schmerz strahlte von der Mitte meiner Brust aus. Es war nicht die feurige Pein der Atemnot, auch nicht der kalte Schmerz des warnenden Feuers, sondern das dumpfe Pochen eines zu jähen Herzschlags.
Ein paar Augenblicke keuchte ich noch, dann übergab ich mich.
Ich kauerte gekrümmt auf Händen und Knien und spürte die Galle wie ätzende Säure in meiner geschundenen Kehle, als jemand sagte: »Beeindruckend.«
Ruckartig wich ich vor der Stimme zurück. Ein Speichelfaden, der von den Lippen baumelte, klatschte mir gegen das Kinn, als ich mich bewegte. Mit einem dumpfen Laut prallte ich gegen die Gassenmauer und duckte mich, um ein möglichst kleines Ziel zu bieten. Meine gemarterten Rippen sandten grelle Schmerzen durch meinen Körper. Meine Hand tastete unwillkürlich nach dem Dolch, doch der steckte noch in der Brust meines Angreifers.
Mein Herz schlug rasend schnell, und ich duckte mich tiefer, den Kopf gesenkt, und schlang die Arme um die Knie. Ich zitterte heftig, viel zu geschwächt vom Kampf gegen den unbekannten Mann, als dass ich hätte flüchten können. So kauerte ich mit geschlossenen Augen da und hoffte, die Stimme würde verschwinden.
Ich hörte nichts, weder die Stimme des Mannes noch sich entfernende Schritte. Ich schlug die Augen auf, spürte die Nässe meiner Tränen im Gesicht, neigte den Kopf und starrte durch das verfilzte Gewirr meiner Haare in die Gasse.
Ein Gardist lehnte zwanzig Schritte entfernt an der Mauer. Die Leichen des Mannes und der Frau lagen zwischen uns. Es war derselbe Gardist, den ich zuvor auf der Straße gesehen hatte. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt; seine Haltung wirkte ungezwungen. Er trug die übliche Uniform – Hose, Lederstiefel, braunes Hemd, Lederrüstung darunter –, aber kein Schwert um die Hüfte. Stattdessen steckte ein Dolch an seinem Gürtel. Das Symbol des Geisterthrons war mit rotem Faden auf die linke Seite des Hemds gestickt.
Rot. Ein Sucher. Ein Gardist also, der entsandt wurde, um die Bestrafungen zu vollziehen, die von der Regentin angeordnet wurden, und Urteile zu vollstrecken. Keiner der gewöhnlichen Gardisten; andernfalls wäre die Stickerei golden gewesen.
Wieder kroch mir Furcht in den Magen.
Der Gardist hatte gesehen, wie ich einen Mann getötet hatte.
Mit einem seltsamen, verwirrten Ausdruck beobachtete er mich. Eine steile Falte stand zwischen seinen Augenbrauen, und er hatte die Lippen zusammengepresst.
Nach einer Weile verlagerte sein Blick sich von mir auf den Leichnam des Mannes.
»Sehr beeindruckend«, meinte er abermals; dann stieß er sich von der Wand ab.
Ich zuckte zurück. Meine Schultern schabten über die schimmelige Nässe der Lehmziegel, der Atem stockte mir in der Brust. Wieder schmeckte ich Galle, und ich spürte, wie sich frische Tränen durch meine vor Schmerzen zugekniffenen Augen pressten.
Ich hörte, wie der Gardist stehen blieb.
»Ich bin nicht deinetwegen hier«, sagte er mit strenger, zugleich jedoch besänftigender Stimme.
Ich öffnete die Augen zu Schlitzen, gerade weit genug, dass ich ihn beobachten konnte.
Er schritt auf den toten Mann zu und kauerte sich neben dessen Kopf.
Einen langen Augenblick starrte er in das Gesicht des Mannes und das dünne Blutrinnsal, das dem Toten aus dem Mundwinkel rann. Dann spuckte er zur Seite aus und verzog verächtlich das Gesicht. »Mieser Dreckskerl! Du hättest Schlimmeres verdient gehabt als das hier!«
Mit einem Ruck zog er meinen Dolch aus der Brust des Mannes und vollführte mit einer geübten Bewegung drei rasche Schnitte über dessen Stirn. Kurz betrachtete er sein Werk; dann drehte er sich auf den Fußballen zu mir herum, die Ellbogen auf den Knien. Mein Dolch baumelte lose in seiner Hand. Ich behielt die Waffe aufmerksam im Auge, spürte jedoch den durchdringenden Blick des Gardisten. Mir war gar nicht bewusst gewesen, wie wichtig der Dolch im Laufe der vergangenen drei Jahre für mich geworden war. Ohne ihn fühlte ich mich ungeschützt und hilflos.
Ich wollte meinen Dolch zurück. Ich brauchte ihn.
Der Gardist ließ die Klinge vor und zurück schwingen, wie um mich zu verhöhnen. Ich blickte ihm in die Augen. Aus der Nähe sah ich, dass diese Augen schlammig braun waren, so wie die meinen und die der meisten Menschen, die in Amenkor entlang des Siels lebten. Sein Gesicht war von etlichen Narben gezeichnet, die sich bis in sein schütteres, grau-braunes Haar hinzogen. Sie verliehen ihm ein hartes Aussehen, wie das eines verwitterten, von der Sonne gebleichten Lehmziegels.
»Und du«, murmelte er, wobei seine verwirrte Miene zurückkehrte, »du wirkst gar nicht gefährlich. Wie alt bist du? Zehn?« Er beugte sich leicht vor und verengte die Augen; dann schüttelte er den Kopf. »Nein, du bist älter, obwohl du fast jeden täuschen könntest. Du bist dreizehn oder vierzehn, eher noch älter. Und du redest nicht viel.«
Wartend verstummte er. Die Bewegung des Dolchs endete.
»Vielleicht redest du ja überhaupt nicht«, meinte er schließlich und ließ den Dolch wieder schwingen. Die Geste wirkte beiläufig, als wäre ihm die Waffe vollkommen einerlei.
Nun machte auch ich schmale Augen. »Ich kann reden.«
Die Worte kamen rau und trocken über meine Lippen. Meine Stimme klang, als würden Tonziegel aneinandergerieben, und das Reden bereitete mir Schmerzen in Brust und Kehle. Ich wischte mir den Faden aus Speichel und Galle vom Kinn und hustete, weil es in meinem Hals wie Feuer brannte. Selbst das Husten schmerzte schlimmer als alles, was ich bisher je gespürt hatte.
Der Gardist zögerte; dann nickte er. Um seine Mundwinkel spielte der Ansatz eines Lächelns.
»Das sehe ich. Also redest du bloß nicht viel, wie?«
Ich erwiderte nichts, und sein Lächeln wurde breiter.
Er blickte auf den Dolch, den er immer noch zwischen den Fingern pendeln ließ. Mit einer geschickten Bewegung ließ er ihn in seine Hand schnellen und starrte mich über die Spitze hinweg an. Jede Spur eines Lächelns war nun aus seinem Gesicht verschwunden. Seine Augen blickten kalt, seine Züge waren hart, wie gemeißelt.
»Das ist dein Dolch, nicht wahr?« Der beiläufige Tonfall war aus seiner Stimme verschwunden. Stattdessen klang sie bedrohlich.
Ich wand mich. »Ja.«
Er zeigte keine Regung. Sein stählerner Blick durchbohrte mich weiterhin. »Das ist der Dolch eines Gardisten.«
Meine Augen schnellten zu der Waffe an seinem Gürtel und wieder zurück in sein Gesicht. Ich spürte, wie sich mein bereits schmerzender Magen noch mehr verkrampfte. Vor meinem geistigen Auge sah ich den ersten Mann, den ich getötet hatte, wie er auf dem Sims eines Daches lehnte, die Hand nach mir ausgestreckt; ich sah das Blut, das aus seiner Halswunde schoss, und hörte das nasse Rasseln seiner letzten Atemzüge. Und ich sah die Stelle auf der linken Brust seines Hemds, wo die Goldstickerei des Geisterthrons herausgerissen worden war.
Doch zum ersten Mal seit der Nacht des Feuers ängstigte mich der Gedanke an diesen Mann nicht. Stattdessen schwelten Trotz und Zorn unter meiner schmerzenden Brust.
Mit finsterem Blick sah ich den Sucher an. »Ja. Aber jetzt gehört der Dolch mir.«
Der Gardist runzelte die Stirn. Ich konnte in seinen Augen lesen, was er fragen wollte: wie der Dolch in meinen Besitz gelangt war, und woher er stammte. Doch er zuckte nur mit den Schultern. »Was dein ist, soll dein bleiben.«
Damit warf er mir den Dolch dicht über den Boden hinweg zu. Metall klirrte auf Stein, als die Klinge über das feuchte Kopfsteinpflaster schlitterte und unmittelbar vor mir zum Liegen kam.
Langsam, ungläubig streckte ich die Hand nach dem Dolch aus und hob ihn auf. Der Griff war klebrig von Blut. Ich nahm den Blick nicht vom Gesicht des Gardisten. Der rührte sich nicht, beobachtete mich nur. Doch irgendetwas hatte sich verändert. In seinen Augen lag nun ein nachdenklicher Ausdruck, als versuchte er, mich einzuschätzen und zu einer Entscheidung zu gelangen.
Ich zog den Dolch dicht an meinen Körper, hielt ihn bereit.
Der Gardist musterte mich eingehend, ohne ein Wort zu sagen. Dann stand er auf. »Du kennst den Irrgarten auf dieser Seite des Siels so gut wie ich die Narben auf meiner Haut, da gehe ich jede Wette ein«, murmelte er und legte den Kopf schief.
Ich verlagerte unter seinem Blick das Gewicht, wurde mir plötzlich der Dunkelheit und Abgeschiedenheit der Gasse und der kraftvollen Geschmeidigkeit seiner Bewegungen bewusst.
»Geh weg«, sagte ich und spannte die Beinmuskeln, bereit, die Flucht zu ergreifen.
Er setzte ein bedächtiges, träges Lächeln auf, als hätte mein Misstrauen ihn in seiner Meinung über mich bestätigt.
Statt sich zum Gehen zu wenden, verschränkte er wieder die Arme vor der Brust und sagte: »Ich könnte deine Hilfe gebrauchen.«
»Geh weg«, wiederholte ich mit mehr Nachdruck, wenngleich sein Vorschlag Neugier in mir weckte.
»Du kannst selbst gehen, wenn du willst«, erwiderte er. Doch er rührte sich nicht, sondern blieb nur lauernd stehen.
Mein Blick schweifte zu den Kartoffeln, die über das Kopfsteinpflaster verteilt lagen und in der Düsternis kaum zu erkennen waren. Hunger wühlte in meinen Eingeweiden.
Der Gardist bewegte sich, und sofort schnellte mein Blick zu ihm zurück. Doch er hatte sich mir nicht genähert, nur das Gewicht verlagert. Noch immer ruhte sein Blick auf mir. »Jeder flüchtet in die Elendsviertel des Siels«, sagte er. »Mörder, Diebe, Raufbolde. Händler, die ihr Geschäft verloren haben. Spieler, die ihr Leben verwettet haben. Fast jeder. Ein paar flüchten sich aufs Meer, auf die Schiffe im Hafen und in andere Städte an der Küste. Aber nicht viele. Die meisten kommen hierher. Sie denken, sie könnten in dieser dreckigen Enge, diesem Labyrinth aus Gassen, Häusern und schmalen Höfen, irgendwie verschwinden.«
Ohne den Blick von mir zu nehmen, verstummte er. Dann runzelte er die Stirn, und seine Stimme bekam einen düsteren Klang. »Und dieses Gesindel hat recht. Vor fünf Jahren, vor dem Feuer, wäre es aussichtslos gewesen. Wir Sucher hätten sie gefunden, hätte die Regentin uns nach ihnen ausgesandt. Der Geisterthron hätte sie aufgespürt. Aber jetzt …«
Der Blick des Gardisten senkte sich auf den Toten in der Mitte der Gasse, und in seinen Augen loderte wilder Hass auf. Ich schrak zurück, bis meine Schultern gegen die bröcklige Mauer stießen.
»Jetzt ist es noch beengter im Siel. Alle, denen das Feuer übel mitgespielt hat, ziehen hierher. Arbeiter, Händler und Handwerker mitsamt ihren Familien. Sie sind verzweifelt, denn sie können sonst nirgendwohin. Dir ist sicher aufgefallen, wie überfüllt der Siel geworden ist, kleine Varis.« Er verstummte, schaute auf und nickte. »Ja. Es ist dir aufgefallen. Du lebst davon, nicht wahr?«
Die Frage traf mich wie ein Schlag, wuchtig genug, dass ich zusammenzuckte. Mit trotzig vorgerecktem Kinn und schmalen Augen starrte ich ihn an. »Ja.«
Es klang verbittert, hoffnungslos.
Wieder nickte er. »Du kennst den Siel und dessen Bodensatz. Du lebst hier. Du kannst mir helfen, diese flüchtenden Menschen zu finden.«
Den Blick unverändert auf mich gerichtet, wartete er und ließ sein Angebot auf mich einwirken. Nach einer Weile kam er auf mich zu und kniete sich wenige Schritte von mir entfernt hin, so nah, dass ich deutlich seine Narben sehen und ihm unverwandt in die Augen blicken konnte.
Ich wich vor ihm zurück, vor der hitzigen Gefahr, die er verströmte und die sämtliche Warnsinne alarmierte, die ich mir durch das Leben am Siel angeeignet hatte. Nur einer blieb stumm – der, dem ich am meisten vertraute: das kalte Feuer in meiner Brust. Deshalb blieb ich, statt auf die Straße oder in die andere Richtung zu flüchten, tiefer hinein in das Gewirr dunkler Pfade jenseits des Siels.
»Weißt du, wo der Nymphenbrunnen ist?«, fragte er.
Ich nickte. Allerdings war ich seit Jahren nicht mehr dort gewesen, zumal er sich zu weit oben am Siel befand, zu nah am Fluss und an der Stadt, dem eigentlichen Amenkor. Dort würde ich mit meinen Lumpen und meinen schmutzigen Haaren zu sehr auffallen. Es waren keine guten Jagdgründe.
»Gut«, meinte er und lehnte sich leicht zurück. »Ich kann dir helfen, wenn du mir hilfst. Denk darüber nach. Wenn du mir helfen willst, diese Männer für die Regentin zu finden, dann komm morgen bei Sonnenuntergang zum Nymphenbrunnen. Ich werde dort sein.«
Damit stand er auf, drehte sich um und schritt aus der Gasse, wobei er an deren Ende kurz stehen blieb, um seine Augen an das Sonnenlicht zu gewöhnen, ehe er in der Menge untertauchte. Er schaute nicht zurück.
Argwöhnisch harrte ich noch zehn Herzschläge lang aus; dann erhob ich mich aus meiner kauernden Haltung und zuckte vor Schmerz zusammen, als ich tief Luft holte. Langsam näherte ich mich den beiden Leichen. Jede Bewegung sandte dumpfe Schmerzen durch meine Brust und in meine Arme. Ein sengendes Feuer brannte um meinen Hals, wo die Schnur des toten Mannes mir ins Fleisch geschnitten hatte, und eine dünnere Linie verlief von meinem Kiefer hinunter zur Kehle, wo ich mir den Dolch in den Hals gedrückt hatte, um die Schnur zu durchschneiden. Immer noch behielt ich den fernen Eingang der Gasse im Auge, konnte ich doch nicht sicher sein, ob der Gardist tatsächlich gegangen war. Doch der Schmerz in meiner Brust …
Abermals hustete ich und sog zischend die Luft zwischen den Zähnen ein, als ich mich neben den Mann kniete, den ich getötet hatte.
Seine Züge wirkten seltsam erschlafft, die Augen standen offen. Blut hatte seinen Schlund gefüllt, war aus dem Mundwinkel gequollen und hatte seinen Bart verklebt. Der Gardist hatte ihm den Geisterthron in die Stirn geritzt. Die Schnitte wirkten grob, und es war kaum Blut geflossen. Ein annähernd waagerechter Schnitt oben, zwei senkrechte Schnitte darunter, einer kürzer als der andere. Der Mann war bereits zu lange tot gewesen, als dass viel Blut hätte fließen können.
Ich beugte mich über sein Gesicht. Ein saurer Gestank nach Harn, Blut, Schweiß und etwas Ranzigem wie verdorbener Butter schlug mir entgegen. Ich starrte in die leeren Augen und runzelte die Stirn, als meine Hand zu der wunden Linie um meinen Hals wanderte. In meiner Brust regte sich kein Aufflackern kalten Feuers. Gar nichts. Die Gefahr war vorüber.
Doch als ich ihm in die blicklosen Augen sah, spürte ich wieder seinen rauen Bart an meiner Wange, hörte seine rasselnden, mühsamen Atemstöße, roch seinen fauligen Atem …
Wut schwoll tief in meiner Brust an, ein harter Klumpen inmitten von dumpfem Schmerz. Oh, ich wusste, wie Wut sich anfühlte. In meinem Leben am Siel hatte ich schon viel Male heißen Zorn, ja Hass verspürt – auf den Wagenmeister, der mich getreten hatte; auf den namenlosen Abschaum, der sich in meinen Unterschlupf geschlichen und mir mein Brot gestohlen hatte. Es war ein Hass, der heftig aufloderte, aber rasch wieder verpuffte.
Diesmal jedoch wollten Wut und Hass nicht von mir abfallen. Je länger ich in die Fratze des Toten starrte, desto mehr verfestigte sich der Hass, nahm wabernd Gestalt an.
Ich beugte mich näher zum Toten hinunter und sog tief seinen ranzigen Gestank ein.
Dann spuckte ich ihm ins Gesicht.
Erschrocken lehnte ich mich zurück und beobachtete, wie mein Speichel über die Haut des Mannes rann. Eine seltsame Erregung erfüllte mich. Meine Arme kribbelten, als wäre es mit einem Mal bitterkalt geworden. Aber mir war nicht kalt. Vielmehr wurde ich von feuchter Hitze umhüllt, die sich wie ein Schweißfilm auf meine Haut legte.
Ich wandte mich der Frau zu, und unter dem sengenden, Übelkeit erregenden Hochgefühl durchzuckte mich ein Stich des Bedauerns. Ich kroch zu den verstreut liegenden Kartoffeln und dem Korb und sammelte so rasch wie möglich alles ein.
Dann flüchtete ich in den hinteren Teil der Gasse, weg vom Siel, und versuchte, weder an den toten Mann noch an die tote Frau oder den Gardisten zu denken.
Stattdessen bündelte ich alle Aufmerksamkeit auf den Schmerz in meiner Brust. Und darunter krümmte sich nach wie vor die schwelende Wut wie eine bösartige Schlange.
Ich erwachte in meinem Unterschlupf tief in den Elendsvierteln jenseits des Siels. Draußen herrschte heller Sonnenschein. Ich stöhnte, als ich mich in eine sitzende Haltung rollte, mein zerlumptes Hemd anhob und die Verletzung untersuchte. Auf meiner Brust prangte ein schillernder, schwarzlila Bluterguss. Jeder Atemzug, jede Bewegung ließ mich zusammenzucken; dennoch tastete ich die Ränder der Verfärbung ab.
Dann saß ich da, starrte auf den Korb mit Kartoffeln und dachte an das rundliche Gesicht seiner Besitzerin unter dem Dreieckstuch. Ein Anflug von Bedauern überkam mich, doch unwillig schüttelte ich ihn ab und wandte die Gedanken dem Gardisten und dessen Angebot zu, ihm zu helfen.
Stirnrunzelnd zückte ich meinen Dolch und starrte auf den Streifen Sonnenlicht, der sich auf der Flachseite der Klinge fing.
Ich brauchte den Gardisten nicht. Seit ich neun war, hatte ich mich allein durchgeschlagen. Ich hatte ohne jede Hilfe überlebt, seit Tauber und seine heruntergekommenen Totschläger Jagd auf diese Frau gemacht und ich mich geweigert hatte, ihnen zu folgen.
Ich runzelte die Stirn. Seit jener Nacht hatte ich nicht mehr an Tauber gedacht und versucht, den Nachhall der Ohrfeige zu vergessen, die er mir verpasst hatte, als ich ihm erklärte, dass ich ihm nicht helfen würde, die Frau zu fangen. Ich hatte gewusst, dass Tauber sie nicht bloß ausrauben, sondern töten wollte. Ich hatte es in seinen Augen gesehen.
Meine Miene verdüsterte sich. Damals war ich zu der Einsicht gelangt, dass Tauber seinen Zweck in meinem Leben erfüllt hatte. Er hatte mir genug beigebracht, dass ich allein überleben konnte.
Ich hatte damals niemanden mehr gebraucht, und ich brauchte auch jetzt niemanden.
Das heißt … außer dem mehlweißen Mann, versteht sich. Ihn brauchte ich, auf ihn verließ ich mich hin und wieder. Aber das war etwas anderes.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht erhob ich mich und kroch durch die schmale Öffnung meines Unterschlupfs hinaus ins Sonnenlicht. Der Gardist und sein Angebot waren vergessen. Ich musste auf die Jagd, denn die Kartoffeln würden nicht ewig reichen.
Der Siel war die einzige echte Straße in den Elendsvierteln von Amenkor. Er verlief aus ihren Tiefen geradewegs über den Fluss und in die Oberstadt auf der gegenüber liegenden Seite des Hafens. Der Siel stellte zugleich die Grenze zwischen der eigentlichen Stadt und den Elendsvierteln des Abschaums dar, der jenseits des Siels hauste – das niedere Volk, zu dem auch ich gehörte, der Bodensatz, der letzte Dreck. Ich war vierzehn, und der Siel bezeichnete noch immer Grenze und Zentrum meiner Welt. Noch nie war ich den Siel hinaufgegangen, das aufgebrochene Kopfsteinpflaster entlang, vorbei an den Tavernen und Läden an der Straße, über die Brücke, die den Fluss kreuzte, und hinein nach Amenkor selbst. Ich lauerte dem Volk des Siels auf, dem Abschaum dieser Stadt; jenen Menschen, die harten Zeiten zum Opfer gefallen waren und die ein ungnädiges Schicksal gezwungen hatte, die wahre Stadt aufzugeben und auf der anderen Seite des Hafens Zuflucht zu suchen.
Und der Sucher hatte recht gehabt: Seit dem Feuer vor drei Jahren war die Zahl der Menschen in den Elendsvierteln angeschwollen. Nicht nur durch Zuwanderer aus der eigentlichen Stadt, auch durch andere, die gar nicht aus Amenkor stammten. Menschen, die sich seltsam kleideten, deren Haare oder Augen ungewohnte Farben zeigten, die merkwürdige Waffen trugen und mit Akzent sprachen. Manche redeten sogar mit völlig fremder Zunge. Aber diese Leute waren rar.
Nun spähte ich aus der Dunkelheit der Elendsviertel ins Licht, tief geduckt, Lehmziegel im Rücken. Auf der Straße wimmelte es von Männern und Frauen. Ich beobachtete sie alle, schaute in ihre Gesichter, warf prüfende Blicke auf ihre Kleidung. Ich sah einen Mann in zerlumpten Gewändern, der einen Dolch am Gürtel trug. Doch aus seinen Augen sprach keine Gefahr – sie wirkten hart, aber nicht grausam. Sonst hatte der Mann nichts von Interesse bei sich, und so verschwand er aus meiner Wahrnehmung, wurde zu einem dunkleren Schemen vor dem stumpfen Grau der Welt. Zwar behielt ich ihn unbewusst im Auge, wie alle anderen auch, doch er war nicht mehr von Bedeutung für mich. Er war keine Beute und keine Bedrohung; deshalb war er grau.
Da, ein Aufblitzen feiner Kleider. Meine Augen schwenkten herum. Nein, keine richtig feinen Kleider – ausgefranste Ränder, ein Riss an einer Seite des grauen Saums, fleckige Hose, ölverschmiert –, aber besser als die meisten. Der Besitzer trug Stiefel mit einer an der Ferse losen Sohle. Bei jedem Schritt waren die Nägel zu sehen. Auch dieser Mann trug einen Dolch, wenngleich verborgen; seine Hand ruhte auf der Ausbuchtung der Scheide an seiner Seite. Er ging mit raschen, steifen Schritten, und seine Augen …
Doch er bog ab, ehe ich ihm in die Augen blicken konnte. Das zerrissene Hemd und die lose Sohle verschwanden durch eine Tür.
Der Mann verblasste.
Grau.
Ich ließ mich neben der Mauer nieder, zuckte abermals zusammen, als der Schmerz durch meine Brust raste, und ließ die Strömungen des Siels an mir vorüberziehen. Als die Schmerzen nachließen, widmete ich mich wieder den Menschen, kniff mit geballter Aufmerksamkeit die Augen zusammen und spürte tief in mir ein vertrautes Gefühl.
Mit einer sanften, inneren Bewegung gleich dem Entspannen eines Muskels breitete dieses Gefühl sich aus.
Die Welt fiel in sich zusammen, verlangsamte sich, verschwamm. Gebäude und Menschen verblassten, wurden grau. Die Männer und Frauen, die ich als mögliche Bedrohungen eingeschätzt hatte, verwandelten sich in rote Schlieren wie Blutspritzer vor dem grauen Hintergrund und bewegten sich so durch den Fluss der Straße. Immer wieder aufs Neue richtete ich meine Aufmerksamkeit auf bestimmte Leute, die sich daraufhin aus dem Grau lösten und scharf umrissen und deutlich hervortraten, sodass ich sie beobachten und einschätzen konnte. Beiläufige Blicke holten weitere Personen aus dem Grau hervor und ließen sie und ihr Tun vorübergehend in den Mittelpunkt rücken, bis ich das Interesse verlor, wenn ich feststellte, dass diese Leute nichts bei sich trugen, was ich essen konnte oder was ich haben wollte, worauf auch sie wieder im Grau versanken.
Auch die Geräusche der Straße verschwammen: Stimmen, Schritte, raschelnde Kleider – alles vermengte sich zu einem einzigen Laut gleich einem sanften Wind, der in meinen Ohren säuselte. Dann und wann stachen bedrohliche Laute aus dem Rauschen hervor und erregten meine Aufmerksamkeit, bis ich mich vergewissert hatte, dass keine Gefahr drohte, woraufhin die Geräusche wieder mit dem Säuseln und Rauschen verschmolzen.
Mit einem Seufzen tauchte ich ein in die Welt aus Gräue, Röte und Wind, eine Welt, die mir geholfen hatte, all die Jahre zu überleben, und hielt Ausschau nach meiner nächsten Beute.
Eine Stunde vor Anbruch der Abenddämmerung lehnte ich mich mit einem Apfel in der Hand gegen die Gassenmauer. Die Frau hatte nicht einmal bemerkt, dass der Apfel fehlte. Sie hatte ihn auf den Rand ihres Karrens gelegt, um den Sack aufzuheben, den sie fallen gelassen hatte. Ich brauchte nur die Hand nach dem Apfel auszustrecken und ihn zu nehmen. Es war nicht viel, nicht für die Arbeit eines ganzen Tages. Aber die Schmerzen in meiner Brust hatten mich davon abgehalten, größere Risiken einzugehen, und immerhin hatte ich noch die Kartoffeln in meinem Unterschlupf.
Ich hatte mich gerade abgewandt, um in meinen Verschlag zurückzukehren, als ich den Gardisten zu sehen vermeinte. Es war eine unscheinbare Bewegung dreißig Schritte weiter unten auf dem Siel. Als hätte er sich von der Ecke eines Gebäudes abgestoßen, an dem er gelehnt hatte, und wäre um die Ecke gebogen. Alles, was ich mit Sicherheit sah, war der undeutliche Schemen eines Mannes, der mit dem Rücken zu mir hinter der Lehmziegelwand in der Dunkelheit einer Gasse verschwand.
Eine beiläufige Bewegung. Trotzdem jagte sie mir ein Kribbeln über die Arme.
Ich zögerte, beobachtete die schmale Gasse weiter unten am Siel. Doch niemand trat aus der Einmündung hervor und kam zurück, und so drehte ich mich schließlich um und begab mich in den Irrgarten jenseits der Straße, ließ die Welt aus Grau und Rot und Wind fortgleiten und schüttelte auch die Gedanken an den Gardisten ab.
Doch irgendetwas hatte sich verändert.
Als ich mir den Weg zurück zu meinem Unterschlupf bahnte, starrte ich auf den Apfel und runzelte die Stirn. Der Apfel sah schmackhaft aus. Kaum Schorf, größtenteils reif, eine kleine Delle an einer Seite, die braun geworden war und faulte. Trotzdem ein guter Apfel. Eigentlich sollte ich mit einem Hochgefühl zurück zu meinem Unterschlupf rennen, mich dort gegen die hintere Mauer kauern und den Körper schützend über den Apfel beugen, während ich ihn verschlang. Aber ich empfand kein Hochgefühl. Ich empfand gar nichts. Mein Magen war seltsam leer, aber nicht vor Hunger, sondern vor … nichts.
Mitten in einer dunklen Gasse verlangsamte ich die Schritte und blieb stehen. Draußen war es noch hell – weiter vorne schien die Sonne –, aber hier herrschte nur Dunkelheit, allumfassend wie ein erstickendes Tuch. Ich stand inmitten der Finsternis und starrte auf den Apfel. Der Lohn für die Arbeit eines ganzen Tages.
Wann hatte dieses hohle Gefühl im Magen eingesetzt? Nachdem ich den Mann getötet und mit dem Gardisten gesprochen hatte?
Nein. Dieses hohle Gefühl war immer da gewesen. Ich hatte ihm nur nie Beachtung geschenkt.
Jetzt aber …
Immer noch starrte ich auf den Apfel, als jemand sagte: »Gib ihn her.«
Die Stimme, ein trockenes Krächzen, klang rau und gewaltbereit. Doch ich zuckte nicht einmal zusammen. Stattdessen spähte ich mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit und erblickte eine Gestalt, die sich an eine Wand drückte. Beinahe sofort erkannte ich, dass es sich um eine Frau handelte, die auf den Fersen kauerte, den Körper dick in Lumpen gehüllt. Das Haar hing ihr in verfilzten Strähnen ins Gesicht. Die Haut war so runzlig und dreckverschmiert, dass sie wie trockener Schlamm wirkte. Ein ungesundes Gelb lag in ihren Augen, dennoch leuchteten sie voller Leben und hatten sich auf mich geheftet.
Auf den Apfel.
»Gib mir den Apfel, Miststück.«
Ich hatte sie schon öfter gesehen, jedes Mal zusammengekauert in irgendeiner Nische, einem Winkel, und jedes Mal in Dunkelheit. Ein keuchender Berg von Lumpen, der von einem Ort zum nächsten schlurfte. Ich kannte sie.
Nun aber, als ich in die schwarzen Pupillen im kränklichgelblichen Weiß ihrer Augen blickte, sah ich sie zum ersten Mal richtig. Und das hohle Gefühl in meinem Magen nahm plötzlich – und sehr lebendig – Gestalt an.
Ich erkannte die Augen.
Es waren meine.
Ich rannte los, flüchtete aus der Gasse ins Sonnenlicht, während die Frau, die ich werden würde, hinter mir kreischte: »Gib ihn mir! Gib ihn mir, Miststück!« Ich rannte zu meinem Unterschlupf, kauerte mich gegen die hintere Wand und weinte heiße, bittere Tränen, die das hohle Gefühl in mir weiter anschwellen ließen. Ich weinte, bis meine Arme und Beine schmerzten und taub wurden, bis das Schluchzen in ein stockendes Husten überging. Durch die schmale Öffnung meines Unterschlupfs beobachtete ich das Sonnenlicht und versuchte, an gar nichts zu denken – was damit endete, dass ich an alles Mögliche dachte: an Tauber; an die fünf Jahre, die ich bereits auf mich allein gestellt war; an die Frau mit den Kartoffeln, die tot in der Gasse gelegen hatte, erdrosselt von dem Mann, den ich getötet hatte. Ein Zittern durchlief meine Arme, ließ meine Schultern beben. Ab und an brannten mir aus keinem ersichtlichen Grund Tränen in den Augen, und ich kniff sie fest zusammen, während das dunkle, hohle Gefühl in meiner Brust wütete. Dann riss ich mich zusammen und kämpfte dagegen an, bis mein Körper sich entspannte, während das Licht draußen allmählich schwand und mir klar wurde, was ich tun musste.