JODI PICOULT

In den Augen
der anderen

Roman

Übersetzung aus dem amerikanischen
Englisch von Rainer Schumacher

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BASTEI ENTERTAINMENT

Für Nancy Friend Stuart (1949–2008) und David Stuart

FALL 1: SCHLAF GUT

Auf den ersten Blick sah sie wie eine Heilige aus. Dorothea Puente vermietete in den Achtzigern Zimmer an Alte und Behinderte in Sacramento, Kalifornien. Doch dann verschwanden ihre Mieter einer nach dem anderen. Sieben Leichen wurden in ihrem Garten gefunden und in den Körpern Spuren von verschreibungspflichtigen Schlafmitteln. Puente wurde des Mordes aus niederen Beweggründen angeklagt. Sie wollte an die Pensionsschecks ihrer Mieter kommen, um damit Schönheitsoperationen und teure Kleidung zu finanzieren. So versuchte sie, das Bild der vornehmen Dame aufrechtzuerhalten, das sie in der feinen Gesellschaft Sacramentos von sich erschaffen hatte. Sie wurde in neun Fällen des Mordes angeklagt und für drei verurteilt.

Im Jahre 1998, während sie zwei aufeinander folgende lebenslange Haftstrafen absaß, begann Puente, mit einem Schriftsteller namens Shane Bugbee zu korrespondieren. Sie schickte ihm Rezepte, die schließlich in einem Buch mit dem Titel Kochen mit einem Serienkiller veröffentlicht wurden.

Halten Sie mich für verrückt, aber ich würde dieses Essen nicht mal mit der Kneifzange anfassen.

1

Emma

Wo ich auch hinschaue, sehe ich Kampfspuren. Die Post liegt auf dem Küchenboden verstreut, die Hocker sind umgestoßen, das Telefon ist aus seiner Halterung gerissen worden, der Akku hängt an den Kabeln heraus. Auf der Schwelle zum Wohnzimmer findet sich ein einzelner, schwacher Fußabdruck und deutet in Richtung der Leiche meines Sohnes Jacob.

Jacob liegt vor dem Kamin und hat alle viere von sich gestreckt. Seine Schläfen und Hände sind voller Blut. Einen Augenblick lang bin ich wie erstarrt, kann nicht mehr atmen.

Plötzlich setzt er sich auf. »Mom«, sagt Jacob, »du versuchst es ja noch nicht einmal.«

»Das ist nur gespielt«, erinnere ich mich selbst und schaue zu, wie er sich wieder genauso hinlegt wie zuvor – auf den Rücken, die Beine nach links verdreht.

»Äh … Es hat einen Kampf gegeben …«, sage ich.

Jacobs Mund bewegt sich kaum. »Und …?«

»Jemand hat dir auf den Kopf geschlagen.« Ich knie mich hin, wie er es mir schon hundert Mal erklärt hat, und bemerke die schwere Uhr aus Kristallglas, die normalerweise auf dem Kaminsims steht, nun aber unter der Couch liegt. Vorsichtig hebe ich sie auf und sehe das Blut an einer Ecke. Mit dem kleinen Finger berühre ich die Flüssigkeit und lecke daran. »Oh, Jacob, sag mir jetzt nicht, dass du wieder den ganzen Sirup aufgebraucht hast …«

»Mom! Konzentrier dich!«

Ich setze mich auf die Couch und halte die Uhr in den Händen. »Es hat einen Einbruch gegeben, und du hast dich den Einbrechern entgegengestellt.«

Jacob setzt sich auf und seufzt. Die Mischung aus Lebensmittelfarbe und Sirup hat sein dunkles Haar verklebt. Seine Augen leuchten, aber er schaut mir nicht in meine Augen. »Glaubst du wirklich, ich würde zweimal den gleichen Tatort aufbauen?« Er öffnet seine Faust, und ich sehe ein Büschel blonden Haars. Jacobs Vater ist blond … oder zumindest war er das, als er mich vor fünfzehn Jahren mit Jacob und Theo, Jacobs blondem kleinen Bruder, sitzenließ.

»Theo hat dich ermordet?«

»Also wirklich, Mom, ein Kindergartenkind könnte diesen Fall lösen«, tadelt mich Jacob und springt auf. Falsches Blut tropft ihm vom Gesicht, doch er bemerkt es nicht. Ich glaube, wenn er auf einen Tatort fixiert ist, könnte eine Atombombe neben ihm detonieren, und er würde noch nicht einmal mit der Wimper zucken. Er geht zu dem Fußabdruck und deutet darauf. Als ich genauer hinsehe, bemerke ich, dass es sich um den Abdruck eines der Skateboard-Sneaker handelt, für die Theo seit Monaten gespart hat. Ein Teil des in die Sohle gebrannten Firmenlogos – NS – ist deutlich zu erkennen. »In der Küche ist es zu einem Streit gekommen«, erklärt Jacob. »Er endete damit, dass ich zur Selbstverteidigung das Telefon nach Theo geworfen habe. Dann bin ich ins Wohnzimmer geflüchtet, wo Theo mir gezeigt hat, was die Stunde geschlagen hat.«

Ich muss ein wenig lächeln. »Wo hast du den Ausdruck denn her?«

»CrimeBusters, Folge 43.«

»Nun, weißt du … das bedeutet eigentlich, jemandem zu sagen, wie spät es ist, aber nicht, ihn mit einer Uhr zu schlagen.«

Jacob blinzelt mich ausdruckslos an. Er lebt in einer wörtlichen Welt. Das ist eines der Kennzeichen seiner Krankheit. Als wir vor Jahren nach Vermont gezogen sind, hat er mich gefragt, wie es da so sei. »Ziemlich grün«, habe ich geantwortet. »Und Hügel wie Wellen.« Er brach in Tränen aus. »Aber dann ertrinken wir doch, oder?«, hat er damals gesagt.

»Aber was war das Motiv?«, fragt er nun, und wie aufs Stichwort poltert Theo die Treppe herunter.

»Wo steckt der Freak?«, brüllt er.

»Theo, du sollst deinen Bruder nicht …«

»Ich werde aufhören, ihn einen Freak zu nennen, wenn er aufhört, Sachen aus meinem Zimmer zu klauen.« Instinktiv trete ich zwischen Theo und seinen Bruder, obwohl Jacob einen Kopf größer ist als wir beide.

»Ich habe nichts aus deinem Zimmer gestohlen«, wehrt Jacob sich.

»Ach ja? Und was ist mit meinen Sneakern?«

»Die waren in der Abstellkammer«, erklärt Jacob.

»Spasti«, knurrt Theo vor sich hin, und ich sehe ein Funkeln in Jacobs Augen.

»Ich bin kein Spasti«, faucht er und stürzt sich auf seinen Bruder.

Ich halte ihn fest. »Jacob«, ermahne ich ihn, »du darfst dir nichts von Theo nehmen, ohne ihn vorher um Erlaubnis zu bitten. Und Theo, ich will dieses Wort nie wieder hören, sonst schnappe ich mir deine Sneakers und werfe sie in den Müll. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

»Ich bin weg«, schnaubt Theo und stapft zur Abstellkammer. Einen Augenblick später höre ich die Tür knallen.

Ich folge Jacob in die Küche und schaue zu, wie er sich in eine Ecke zurückzieht. »Was wir hier haben«, murmelt er übertrieben gedehnt, »ist … ein schwerwiegendes Kommunikationsproblem.« Er hockt sich hin und schlingt die Arme um die Knie.

Wenn er nicht weiß, wie er seine Gefühle in Worte fassen soll, leiht Jacob sich die eines anderen. In diesem Fall stammen sie aus Der Unbeugsame. Wenn Jacob einen Film einmal gesehen hat, erinnert er sich an jede Zeile daraus.

Ich habe viele Eltern von Kindern am unteren Ende der Autismusskala kennengelernt, von Kindern, die das genaue Gegenteil von Jacob mit seinem Asperger-Syndrom sind. Und diese Eltern haben mir immer gesagt, was für ein Glück ich mit meinem gesprächigen Sohn hätte, mit einem Sohn, der schier unglaublich intelligent ist und eine defekte Mikrowelle in nur einer Stunde wieder hinkriegt. Sie glauben, es gebe keine schlimmere Hölle, als einen Sohn zu haben, der ganz in seiner eigenen Welt gefangen ist und nichts, wirklich rein gar nichts von der größeren um sich herum weiß. Aber haben Sie mal einen Sohn, der in seiner eigenen Welt feststeckt und trotzdem Kontakt mit der Welt draußen aufnehmen will – mit einem Sohn, der wie alle anderen sein will, aber nicht weiß, wie das geht.

Ich strecke die Hand aus, um ihn zu trösten, halte mich dann jedoch zurück. Selbst bei der kleinsten Berührung kann Jacob explodieren. Er mag weder Händeschütteln noch Schulterklopfen oder Haareraufen.

»Jacob …«, beginne ich, aber dann erkenne ich, dass er überhaupt nicht schmollt. Er hebt den Telefonhörer hoch, über dem er kauert, damit ich den schwarzen Fleck auf der Seite sehen kann. »Du hast auch einen Fingerabdruck übersehen«, verkündet Jacob fröhlich. »Ich will dich ja nicht beleidigen, aber als Kriminaltechnikerin bist du einfach mies.« Er reißt ein Blatt von der Küchenrolle ab und macht es in der Spüle feucht. »Keine Sorge. Ich werde das Blut wegwischen.«

»Du hast mir gar nicht gesagt, was für ein Motiv Theo gehabt hat, dich zu ermorden.«

»Oh.« Jacob schaut über die Schulter, und ein böses Grinsen erscheint auf seinem Gesicht. »Ich hatte seine Sneaker gestohlen.«

Für mich beschreibt der Begriff »Asperger-Syndrom« nicht die Eigenschaften, die Jacob besitzt, sondern die, die er verloren hat. Er war ungefähr zwei Jahre alt, als er zu sprechen begann, keinen Augenkontakt mehr herstellte und andere Menschen mied. Entweder konnte er uns nicht hören, oder er wollte nicht. Eines Tages habe ich ihn beobachtet, wie er neben seinem Spielzeugtruck auf dem Boden saß. Er drehte die Räder, sein Gesicht war nur wenige Zoll von meinem entfernt, und ich dachte: Wo bist du hingegangen?

Ich suchte nach Entschuldigungen für sein Verhalten. Er kauerte sich im Supermarkt natürlich nur deswegen immer im Einkaufswagen zusammen, weil es im Geschäft zu kalt war. Die Wäscheschildchen, die ich immer aus seinen Kleidern herausschneiden musste, waren natürlich nur besonders kratzig. Als er keinen Kontakt zu anderen Kindern im Kindergarten zu bekommen schien, habe ich eine kompromisslose Geburtstagsparty für ihn organisiert, mit Wasserbombenschlacht und Topfschlagen. Dann habe ich plötzlich bemerkt, dass Jacob verschwunden war. Ich war im sechsten Monat schwanger und hysterisch vor Angst. Die anderen Eltern suchten im Hof, auf der Straße und im Haus. Schließlich war ich diejenige, die ihn fand. Er saß im Keller und steckte immer wieder ein und dieselbe Kassette in den Videorekorder und holte sie heraus.

Als seine Krankheit schließlich diagnostiziert wurde, bin ich in Tränen ausgebrochen. Sie dürfen dabei nicht vergessen, dass das 1995 war. Damals beschränkten sich meine Erfahrungen mit Autismus auf Dustin Hoffman in Rain Man. Dem Psychiater zufolge, den wir als Erstes aufgesucht haben, litt Jacob an einer merklichen Beeinträchtigung seines Sozialverhaltens allerdings ohne die Sprachdefizite, die andere Formen von Autismus kennzeichnen. Erst Jahre später haben wir zum ersten Mal den Begriff »Asperger-Syndrom« gehört – vorher war das auch bei der Diagnostik noch viel zu unbekannt gewesen. Zu dem Zeitpunkt war Henry, mein Ex, schon längst ausgezogen und hatte mich mit Jacob und Theo allein zurückgelassen. Henry war Programmierer. Er arbeitete daheim und konnte es einfach nicht ertragen, wenn Jacob wieder einmal einen seiner Tobsuchtsanfälle bekam und das aus den nichtigsten Gründen. Mal war das Licht im Badezimmer zu grell, dann störte ihn das Geräusch eines UPS-Wagens in der Einfahrt oder die Zusammensetzung des Müslis zum Frühstück. Zu dieser Zeit war ich fast ausschließlich mit den Therapeuten beschäftigt, die ständig bei uns ein und aus gingen und versuchten, Jacob aus seiner eigenen kleinen Welt zu zerren. »Ich will mein Haus wieder zurück«, sagte Henry eines Tages. »Ich will dich wieder zurück.«

Doch dank der Verhaltens- und Sprachtherapie hatte Jacob wieder begonnen, mit anderen Kontakt aufzunehmen. Ich sah die Verbesserung, und so blieb mir keine Wahl.

An dem Abend, als Henry ging, saßen Jacob und ich am Küchentisch und spielten ein Spiel. Ich verzog das Gesicht, und er versuchte zu raten, welche Gefühle ich damit ausdrücken wollte. Ich lächelte und weinte gleichzeitig und wartete darauf, dass Jacob mir sagte, ich sei glücklich.

Henry lebt jetzt mit seiner neuen Familie im Silicon Valley. Er arbeitet für Apple, und er spricht nur selten mit den Jungs, obwohl er jeden Monat pflichtbewusst Unterhalt zahlt.

Henry war schon immer gut im Organisieren … und mit Zahlen. Er kann sich einen kompletten Artikel aus der New York Times merken und ihn auswendig zitieren, was in der ersten Zeit, als wir miteinander ausgingen, ja sooo akademisch und sexy auf mich gewirkt hatte. Dabei war es eigentlich nichts anderes als das Verhalten, das auch Jacob mit sechs Jahren zum ersten Mal zeigte, als er das gesamte Fernsehprogramm auswendig konnte, nachdem er einen Blick darauf geworfen hatte. Erst Jahre nachdem Henry uns verlassen hatte, habe ich das mit dem Asperger-Syndrom in Verbindung gebracht.

Es wird viel darüber diskutiert, ob man das Asperger-Syndrom dem Autismus zurechnen soll oder nicht, aber um ehrlich zu sein, es ist egal. Es ist eben der Begriff, den wir benutzen, damit Jacob in der Schule das Umfeld bekommt, das er braucht, nicht um zu erklären, wer er ist. Wenn Sie ihm heute begegnen, werden Sie vermutlich als Erstes denken, dass er vergessen hat, das Hemd zu wechseln oder sich die Haare zu kämmen. Wenn Sie mit ihm sprechen wollen, müssen Sie das Gespräch beginnen. Er wird Ihnen nie in die Augen schauen, und wenn Sie mit jemand anderem sprechen, vielleicht nur ganz kurz, werden Sie wahrscheinlich feststellen, dass er in der Zwischenzeit den Raum verlassen hat.

Samstags gehen Jacob und ich Essen kaufen.

Das ist Teil seines gewohnten Tagesablaufs, soll heißen, wir weichen nur selten davon ab. Alles Neue muss lange im Voraus eingeführt werden, damit er sich entsprechend darauf vorbereiten kann – egal ob es sich dabei um einen Zahnarzttermin handelt, einen Urlaub oder um einen neuen Schüler in seinem Mathematikunterricht.

Ich weiß, dass er seinen »Tatort« bis elf Uhr aufgeräumt haben wird, denn dann öffnet die Frau mit den Probierhäppchen ihren Stand vor dem Supermarkt. Inzwischen kennt sie Jacob, und für gewöhnlich gibt sie ihm zwei Minikuchen, Bruschetta oder was auch immer sie gerade im Angebot hat.

Theo ist noch nicht wieder zurück, also hinterlasse ich ihm eine Nachricht, obwohl er unseren Terminplan genauso gut kennt wie ich. Als ich mir Mantel und Handtasche schnappe, sitzt Jacob bereits hinten im Auto. Ihm gefällt es auf dem Rücksitz, denn da kann er sich ausbreiten. Er hat keinen Führerschein, obwohl wir seit seinem achtzehnten Geburtstag regelmäßig darüber diskutieren, und immerhin sind jetzt schon zwei Jahre vergangen, seit er ihn hätte machen können. Jacob weiß bis ins kleinste Detail, wie eine Verkehrsampel funktioniert, und vermutlich könnte er sie ohne Probleme auseinandernehmen und wieder zusammenbauen, aber ich bin nicht sicher, dass er sich daran erinnert, wann er fahren darf und wann nicht, wenn plötzlich Fahrzeuge aus verschiedenen Richtungen auf eine Kreuzung zurollen.

»Was hast du noch an Hausaufgaben?«, frage ich, als wir die Ausfahrt runterfahren.

»Nur noch dieses blöde Englisch.«

»Englisch ist nicht blöd«, sage ich.

»Aber mein Englischlehrer.« Er verzieht das Gesicht. »Mr. Franklin hat uns einen Aufsatz über unser Lieblingsthema aufgegeben. Ich wollte über das Mittagessen schreiben, doch er lässt mich nicht.«

»Warum nicht?«

»Er sagt, das Mittagessen sei kein Thema.«

Ich schaue ihn an. »Das ist es auch nicht.«

»Nun«, sagt Jacob, »ein Rhema ist es aber auch nicht, und das sollte er doch wohl wissen.«

Ich verkneife mir ein Lächeln. Je nachdem kann Jacobs wörtliche Interpretation der Dinge entweder sehr lustig oder extrem frustrierend sein. Im Rückspiegel sehe ich, wie er den Daumen auf die Fensterscheibe drückt. »Es ist zu kalt für Fingerabdrücke«, bemerke ich beiläufig – auch das ist etwas, das er mir beigebracht hat.

»Aber weißt du auch warum?«

»Äh …« Ich schaue ihn wieder an. »Beweise lösen sich bei Minustemperaturen auf?«

»In der Kälte ziehen sich die Poren zusammen«, erklärt Jacob, »dadurch werden weniger Schweiß und andere Körperflüssigkeiten abgesondert, und das wiederum verhindert, dass auf Oberflächen wie Glas ein eindeutiger Abdruck zurückbleibt.«

»Das wäre mein zweiter Gedanke gewesen«, scherze ich.

Früher habe ich Jacob »mein kleines Genie« genannt, denn schon als kleines Kind hat er mir die Dinge auf diese Weise erklärt. Ich erinnere mich noch daran, wie er einmal das Türschild eines Arztes vorgelesen hat, als ein Postbote vorbeikam – damals war er vier. Der Kerl hörte gar nicht mehr auf, ihn anzustarren, aber man hört ja auch nicht allzu oft, wie ein Kindergartenkind das Wort »Gastroenterologie« fehlerfrei ausspricht.

Ich fahre auf den Parkplatz, lasse die erste Parklücke aber links liegen, denn daneben parkt ein leuchtend orangefarbener Wagen, und Jacob hasst Orange. Ich merke, wie er die Luft anhält, bis wir an dem Auto vorbei sind. Schließlich steigen wir aus, und Jacob holt einen Einkaufswagen. Dann gehen wir hinein.

Dort, wo normalerweise die Frau mit den Probierhäppchen steht, ist niemand.

»Jacob«, sage ich sofort, »das ist nicht schlimm.«

Er schaut auf seine Uhr. »Es ist Viertel nach elf. Sie kommt um elf und geht um zwölf.«

»Es muss etwas passiert sein.«

»Sie ist am Fuß operiert worden«, ruft ein Angestellter, der in Hörweite Karotten stapelt. »In vier Wochen ist sie wieder da.«

Jacob beginnt, mit der flachen Hand auf sein Bein zu schlagen. Ich schaue mich in dem Laden um und versuche einzuschätzen, ob ich mehr Aufsehen erregen würde, wenn ich ihn hinausschaffe, bevor er einen richtigen Zusammenbruch erleidet, oder ob es mir rechtzeitig gelingen könnte, ihn zu beruhigen. »Weißt du noch, wie Mrs. Pinham drei Wochen nicht in die Schule kommen konnte, weil sie eine Gürtelrose hatte?«, sage ich. »Sie hat dir auch nicht vorher Bescheid geben können. Hier ist das genauso.«

»Aber es ist Viertel nach elf«, sagt Jacob.

»Mrs. Pinham ist wieder gesund geworden, nicht wahr? Und dann war alles wieder wie immer.«

Inzwischen starrt der Karottenmann uns an. Warum sollte er das auch nicht tun? Jacob sieht wie ein vollkommen normaler junger Mann aus, ganz offensichtlich intelligent. Aber wenn sein normaler Tagesablauf durchbrochen wird, fühlt er sich vermutlich so, wie ich mich fühlen würde, wenn ich plötzlich mit einem Bungee-Seil vom Sears Tower springen müsste.

Als ein leises Knurren in Jacobs Kehle aufsteigt, weiß ich, dass es kein Halten mehr gibt. Er weicht vor mir zurück und prallt gegen ein Regal voller Gläser mit eingelegtem Gemüse. Ein paar Gläser fallen zu Boden, und das Klirren bringt das Fass zum Überlaufen. Plötzlich schreit Jacob – ein hohes, kreischendes Geräusch, der Soundtrack meines Lebens. Er bewegt sich blind und schlägt nach mir, als ich nach ihm greife.

Es sind nur dreißig Sekunden, doch dreißig Sekunden können eine Ewigkeit sein, wenn alle Blicke auf einen gerichtet sind und man seinen sechs Fuß großen Sohn zu Boden ringt und ihn mit dem ganzen Gewicht dort festhält, bis er sich wieder beruhigt hat. Ich drücke meine Lippen auf sein Ohr. »I shot the sheriff«, singe ich, »but I didn’t shoot the deputy …«

Schon als kleines Kind hat Bob Marleys Text ihn immer beruhigt. Es gab Zeiten, da habe ich den Song vierundzwanzig Stunden am Stück gespielt, um Jacob ruhigzustellen. Selbst Theo kannte den Text schon als Zweijähriger. Und wirklich löst sich die Spannung in Jacobs Muskeln, und seine Arme erschlaffen. Eine einzelne Träne rinnt aus seinem Augenwinkel. »I shot the sheriff«, flüstert er, »but I swear it was in self-defense …«

Ich nehme sein Gesicht in meine Hände und zwinge ihn, mir in die Augen zu schauen. »Ist jetzt alles wieder okay?«

Er zögert, als müsse er erst Inventur machen. »Ja.«

Ich setze mich wieder auf und knie in einer Pfütze aus Gurkensaft. Jacob setzt sich ebenfalls und zieht die Knie an die Brust.

Zuschauer haben sich um uns herum versammelt. Neben dem Karottenmann sind da noch der Filialleiter, mehrere Kunden und zwei sommersprossige Zwillingsmädchen. Sie alle starren mit jener seltsamen Mischung aus Entsetzen und Mitleid auf Jacob herab, die uns folgt, wo auch immer wir hingehen. Jacob könnte keiner Fliege was zuleide tun, und das meine ich wörtlich und nicht im übertragenen Sinn. Ich habe gesehen, wie er während einer dreistündigen Fahrt eine Spinne in der Hand gehalten hat, um sie wieder freizulassen, als wir angekommen waren. Aber ein Fremder, der einen großen, muskulösen Mann sieht, der Regale umwirft, geht nun einmal nicht davon aus, dass der arme Kerl einfach nur enttäuscht ist, er hält ihn für gewalttätig.

»Er ist autistisch«, sage ich gereizt. »Haben Sie sonst noch Fragen?«

Ich habe festgestellt, dass Wut in so einer Situation am besten funktioniert. Sie ist wie ein Stromschlag, durch den die Menschen sich von der Katastrophe abwenden. Als wäre nichts geschehen, legen die Kunden wieder Obst in ihre Einkaufswagen und suchen nach Shampoo. Die beiden kleinen Mädchen huschen den Gang mit den Milchprodukten hinunter. Der Karottenmann und der Filialleiter stellen keinen Augenkontakt her, und das kommt mir nur gelegen. Mit ihrer morbiden Neugier komme ich zurecht, es ist ihre Freundlichkeit, die mich an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringt.

Jacob schlurft hinter mir her, während ich den Einkaufswagen an den Regalen vorbeischiebe. Seine Hand zuckt noch immer leicht, aber er reißt sich zusammen.

Ich wünsche mir nichts so sehr für Jacob, als dass es keine Momente wie diese mehr für ihn geben würde.

Und es ist meine größte Angst, dass ich einmal nicht da sein werde, wenn es doch passiert, denn dann werden die Menschen das Schlimmste von ihm denken.

Theo

Mein Bruder ist der Grund dafür, dass ich mit insgesamt vierundzwanzig Stichen im Gesicht genäht wurde. Zehn von ihnen haben eine Narbe quer durch meine linke Augenbraue hinterlassen. Das war damals, als Jacob meinen Hochstuhl umgestoßen hat, ich war gerade acht Monate alt. Die anderen vierzehn Stiche befinden sich an meinem Kinn. Weihnachten 2003 habe ich mich so sehr über irgendein dummes Geschenk gefreut, dass ich das Geschenkpapier zerknüllt habe, das Geräusch war der Grund dafür, dass Jacob durchgedreht ist. Ich erzähle Ihnen das nicht wegen meines Bruders, das mache ich wegen meiner Mutter, die Ihnen sagen wird, Jacob sei nicht gewalttätig, doch ich bin der lebende Gegenbeweis.

Ich soll nachsichtig mit Jacob sein, das ist eine der ungeschriebenen Regeln in unserem Haus. Wenn wir also einen Umweg wegen eines Umleitungsschildes machen (wie paradox ist das denn?), nur weil es orange ist und Jacob in den Wahnsinn treibt, dann ist das wichtiger als die Tatsache, dass ich deshalb zehn Minuten zu spät zur Schule komme. Und er darf immer zuerst duschen, denn vor einer Milliarde Jahre, als ich noch ein Baby war, hat Jacob schon als Erster geduscht, und er hasst es, wenn er seine Gewohnheiten ändern muss. Und später, als ich fünfzehn Jahre alt war und einen Termin gemacht hatte, um mir meine Fahrschullizenz ausstellen zu lassen – ein Termin, der nie stattfand, weil Jacob wegen neuer Sneaker einen Anfall bekam –, erwartete man von mir, Verständnis dafür zu haben, dass so was nun einmal vorkommen kann. Das Problem ist nur, dass auch die nächsten drei Male etwas »passierte«, wenn ich meine Mutter zur Führerscheinstelle schleppen wollte. Irgendwann habe ich dann einfach nicht mehr gefragt. Wenn das so weitergeht, fahre ich noch mit dreißig Skateboard.

Einmal, als Jacob und ich noch klein waren, sind wir mit einem Gummiboot auf einem Teich herumgepaddelt, nicht weit von unserem Haus entfernt. Es war mein Job, auf Jacob aufzupassen, obwohl er drei Jahre älter ist als ich und genauso viele Schwimmstunden hatte wie ich. Wir brachten das Boot zum Kentern und schwammen darunter, dort wo die Luft dick und feucht ist. Jacob begann über Dinosaurier zu plappern – damals stand er darauf –, und er wollte einfach nicht aufhören. Er verbrauchte den ganzen Sauerstoff in dem winzigen Raum. Ich versuchte, das Boot wieder umzukippen, doch das Plastik hatte sich irgendwie am Wasser festgesaugt, und das steigerte meine Panik. Zurückblickend hätte ich natürlich einfach unter dem Boot hindurchtauchen können, doch zu dem Zeitpunkt ist mir der Gedanke einfach nicht gekommen. Ich wusste nur, dass ich nicht mehr atmen konnte. Wenn die Leute mich fragen, wie es ist, mit einem Bruder aufzuwachsen, der unter dem Asperger-Syndrom leidet, dann fällt mir jedes Mal diese Situation ein, obwohl ich den Leuten immer sage, dass ich es eben nicht anders kenne.

Ich bin kein Heiliger. Manchmal tue ich Dinge, die Jacob in den Wahnsinn treiben, und das nur, weil es so verdammt einfach ist. Einmal habe ich zum Beispiel all seine Klamotten im Schrank durcheinandergebracht, und ein anderes Mal habe ich den Verschluss seiner Zahnpastatube versteckt, sodass er sie nach dem Zähneputzen nicht hat wegpacken können. Doch dann tut mir meine Mutter leid, die immer die Hauptlast tragen muss, wenn Jacob einen seiner Anfälle bekommt. Manchmal höre ich sie weinen, wenn sie glaubt, Jacob und ich würden schon schlafen. Dann erinnere ich mich wieder daran, dass auch sie sich dieses Leben nicht ausgesucht hat.

Also mische auch ich mich ein. Ich bin derjenige, der Jacob im wahrsten Sinne des Wortes aus einem Gespräch reißt, wenn er den Leuten mit seinem Übereifer Angst einjagt. Ich bin derjenige, der ihm sagt, er soll aufhören, mit den Armen zu wedeln, wenn er im Bus nervös wird, er sieht dann nämlich wie ein Vollidiot aus. Ich bin derjenige, der zuerst in Jacobs statt in meine eigene Klasse geht, um dem Lehrer zu sagen, dass mein Bruder einen schlechten Morgen hatte, da uns überraschend die Sojamilch ausgegangen ist. Mit anderen Worten, ich verhalte mich wie ein großer Bruder, obwohl ich eigentlich der kleine bin. Und wenn ich dann das Gefühl habe, das sei nicht fair, wenn mein Blut kocht wie Lava, dann gehe ich einfach weg. Und wenn mein Zimmer nicht weit genug entfernt ist, dann schnappe ich mir mein Skateboard und treibe mich irgendwo herum – egal wo, nur nicht an dem Ort, den ich mein Zuhause nenne.

Und das mache ich auch heute Nachmittag, nachdem mein Bruder beschlossen hat, mich als Bösewicht in seinem Krimitheater zu casten. Ich will ehrlich mit Ihnen sein: Was mich aufregt, ist nicht die Tatsache, dass er meine Sneaker genommen und sich Haare aus meiner Bürste gemopst hat (auch wenn das offen gesagt schon so gruselig ist wie Das Schweigen der Lämmer). Erst als ich ihn mit dem Sirup-Blut und der falschen Wunde am Kopf in der Küche gesehen habe und all die Beweise, die auf mich hindeuteten, da bin ich wütend geworden, da ich habe bei mir gedacht: »Ach, was wäre das schön.«

Aber ich darf nicht laut sagen, dass mein Leben ohne Jacob sehr viel leichter wäre. Genau genommen darf ich das noch nicht einmal denken. Das ist auch wieder so eine ungeschriebene Regel der Hausordnung. Also schnappe ich mir meinen Mantel und laufe Richtung Süden, obwohl es draußen eiskalt ist und der Wind mir ins Gesicht schneidet. Kurz halte ich am Skateboard-Parcours an, dem einzigen Ort in dieser dämlichen Stadt, wo die Cops einen noch fahren lassen. Aber im Winter ist das nutzlos, und in Townsend, Vermont, sind das gefühlte neun Monate im Jahr.

Vergangene Nacht hat es heftig geschneit. Ein Typ versucht, mit dem Snowboard das Treppengeländer herunterzufahren, während sein Freund den Trick mit dem Handy aufnimmt. Ich kenne die beiden aus der Schule, aber sie sind nicht in meinen Kursen. Ehrlich gesagt, bin ich auch nicht gerade der typische Skater. Ich bin in Erweiterungskursen und schreibe gute Noten. Natürlich bin ich deswegen ein Freak in der Skater-Gemeinde. Umgekehrt bin ich das dank meiner Kleidung und dem Skateboard bei den Spitzenschülern auch.

Der Kerl, der das Geländer runterrutscht, fällt auf den Arsch. »Das landet auf YouTube, Mann«, verkündet sein Freund schadenfroh.

Ich gehe weiter durch die Stadt zu der Straße, die sich in Serpentinen windet. Genau in der Mitte liegt ein Lebkuchenhaus – ich glaube, den Stil nennt man viktorianisch. Es ist violett gestrichen und hat einen Turm an der Seite. Ich glaube, der Turm ist der Grund, warum ich das erste Mal stehen geblieben bin – ich meine, wer zum Teufel hat schon einen Turm am Haus … außer Rapunzel natürlich? Aber in dem Turm lebt ein Mädchen von zehn oder elf Jahren, und sie hat einen Bruder, der vielleicht halb so alt ist wie sie. Ihre Mom fährt einen grünen Toyota-Van, und ihr Dad muss so was wie ein Arzt sein, denn ich habe ihn schon zweimal in OP-Kleidung nach Hause kommen sehen.

In letzter Zeit gehe ich oft dorthin. Für gewöhnlich hocke ich mich dann vor das Terrassenfenster, durch das man ins Wohnzimmer schauen kann. Von da kann ich so gut wie alles sehen: den Esszimmertisch, an dem die Kinder ihre Hausaufgaben machen, und die Küche, in der die Mom das Abendessen zubereitet. Manchmal öffnet sie das Fenster einen Spalt, und ich kann fast schmecken, was es zu essen gibt.

An diesem Nachmittag ist jedoch niemand daheim, deshalb werde ich übermütig. Obwohl es noch heller Tag ist und obwohl die ganze Zeit über Autos vorbeifahren, gehe ich hinter das Haus und setze mich auf die Schaukel, auch wenn ich eigentlich schon viel zu alt dafür bin. Dann gehe ich zur Terrasse und drücke auf die Türklinke.

Sie geht auf.

Das sollte ich nicht tun – ich weiß das –, trotzdem gehe ich hinein.

Ich ziehe meine Schuhe aus, denn das gehört sich so. Ich stelle sie auf die Fußmatte und gehe in die Küche. In der Spüle liegen Müslischalen. Ich öffne den Kühlschrank und schaue mir die Tupperdosen an. Da ist noch ein Rest Lasagne.

Ich hole ein Glas Erdnussbutter heraus und rieche daran. Bilde ich mir das nur ein, oder riecht diese Erdnussbutter wirklich besser als das Zeug, das wir daheim haben?

Ich stecke meinen Finger hinein und probiere ein wenig. Dann trage ich das Glas mit klopfendem Herzen zur Arbeitsplatte und danach auch noch ein Glas Gelee von Smucker’s. Ich nehme mir zwei Scheiben Brot von dem Laib auf der Arbeitsplatte und krame in der Schublade herum, bis ich Besteck finde. Dann mache ich mir ein Sandwich, so als würde ich mir immer in dieser Küche Sandwichs machen.

Im Esszimmer setze ich mich auf einen der Stühle, auf dem sonst immer die Mädchen beim Essen sitzen. Ich esse mein Sandwich und stelle mir vor, wie meine Mutter mit einem großen, gebratenen Truthahn aus der Küche kommt. »Hey, Dad«, sage ich laut zu dem leeren Stuhl links von mir und tue so, als hätte ich einen echten Vater und nicht nur einen Samenspender mit schlechtem Gewissen, der uns jeden Monat einen Scheck schickt.

»Wie war’s in der Schule?«, würde er fragen.

»Ich habe hundert Punkte im Bio-Test bekommen.«

»Das ist ja unglaublich. Es würde mich nicht überraschen, wenn du Arzt werden würdest – genau wie ich.«

Ich schüttele den Kopf, um wieder klar zu werden. Entweder sehe ich zu viel fern, oder ich habe so eine Art Goldlöckchen-Komplex.

Jacob hat mir früher abends vorgelesen. Na ja, eigentlich nicht wirklich. Er hat sich selbst vorgelesen, und es war auch weniger ein Lesen als vielmehr die reine Wiedergabe von Auswendiggelerntem, und ich war nur zufälligerweise am gleichen Ort und konnte nicht anders als zuhören. Allerdings hat mir das gefallen. Wenn Jacob redet, dann ist das fast wie Gesang. In einem normalen Gespräch klingt das seltsam, aber bei einem Märchen funktioniert das irgendwie. Als ich so die Geschichte von Goldlöckchen und den drei Bären zum ersten Mal gehört habe, habe ich bei mir gedacht: Was für eine Versagerin. Hätte sie sich schlauer verhalten, sie hätte bleiben können.

Letztes Jahr, als ich auf die Bezirkshighschool gekommen bin, musste ich wieder von vorn anfangen. Dort waren Kids aus anderen Orten, die nichts von mir wussten. Die ersten zwei Wochen habe ich mit diesen beiden Typen rumgehangen: Chad und Andrew. Sie waren in meinem Physikkurs und schienen ziemlich cool zu sein. Außerdem kamen sie aus Swanzey und nicht aus Townsend, weshalb sie meinen Bruder nie getroffen hatten. Wir lachten darüber, dass unser Physiklehrer Hochwasserhosen trug, und wir aßen gemeinsam zu Mittag. Wir planten sogar, am Wochenende gemeinsam ins Kino zu gehen, sobald was Gutes laufen würde. Doch dann tauchte Jacob plötzlich in der Mensa auf, nachdem er einen Mathetest in wahnsinnig kurzer Zeit beendet und sein Lehrer ihn entlassen hatte, und natürlich ging er geradewegs auf mich zu. Ich stellte ihn vor und sagte, er sei in der Oberstufe. Nun, das war mein erster Fehler. Chad und Andrew waren so fasziniert davon, mit einem Oberstufenschüler an einem Tisch zu sitzen, dass sie Jacob Fragen stellten. Sie wollten wissen, in welcher Klasse er sei und ob er in einer Sportmannschaft sei. »Ich bin in der Elften«, sagte Jacob und erklärte dann, dass er Sport nicht möge. »Ich mag Forensik«, fuhr er fort. »Habt ihr je von Dr. Henry Lee gehört?« Dann plapperte er geschlagene zehn Minuten am Stück über den Pathologen aus Connecticut, der an so populären Fällen wie denen von O. J. Simpson, Scott Peterson und Elizabeth Smart gearbeitet hatte. Ich glaube, er hat Chad und Andrew irgendwann während des Tutorials über die Muster von Blutspritzern und ihre Bedeutung abgehängt. Unnötig zu erwähnen, dass die beiden mich am nächsten Tag sofort fallenließen, als es darum ging, sich in Physik Partner für ein Experiment zu suchen.

Ich habe mein Sandwich aufgegessen. Also stehe ich auf und gehe nach oben. Das erste Zimmer gehört dem Jungen. Poster von Dinosauriern zieren die Wände. Das Bettzeug ist voller fluoreszierender Flugsaurier, und auf dem Boden liegt ein ferngesteuerter T-Rex. Einen Augenblick lang bin ich wie erstarrt. Es gab eine Zeit, da war Jacob genauso verrückt nach Dinosauriern, wie er es jetzt nach Kriminaltechnik ist. Ob dieser kleine Junge hier einem wohl auch alles über diesen Saurier erzählen kann, der in Utah gefunden wurde und dessen fünfzehn Zoll lange Krallen aussehen wie aus einem Slasher-Film? Oder dass man 1858 ein fast vollständiges Dinosaurierskelett in New Jersey gefunden hat, einen Hadrosaurier?

Nein, der Junge hier ist nur ein Kind, kein Kind mit Asperger-Syndrom. Das sehe ich sofort, wenn ich nachts durch die Fenster schaue und die Familie beobachte. Ich weiß es, weil die Küche mit ihren in warmen Farben gestrichenen Wänden ein Ort ist, an dem ich bleiben, nicht von dem ich fortlaufen will.

Plötzlich erinnere ich mich an etwas. Wissen Sie noch? Der Tag, an dem Jacob und ich auf dem Teich mit dem Gummiboot gespielt haben? Als ich nicht mehr atmen konnte und das Boot förmlich am Wasser klebte? Irgendwie ist es Jacob gelungen, das Ventil zu öffnen, sodass die Oberflächenspannung nachgelassen hat. Dann hat er seine Arme um meine Brust geschlungen und mich weit genug nach oben gehalten, dass ich wieder nach Luft schnappen konnte. Anschließend hat Jacob mich ans Ufer gezogen und sich zitternd neben mich gesetzt, bis ich die Sprache wiedergefunden habe. Soweit ich mich erinnere, war das das letzte Mal, dass Jacob auf mich aufgepasst hat und nicht umgekehrt.

In dem Schlafzimmer, in dem ich jetzt stehe, füllen Videospiele ein ganzes Regal – größtenteils Wii- und XBox-Titel, aber auch ein paar Nintendo-DS-Spiele. Wir haben keine Spielkonsolen. Wir können sie uns nicht leisten. Der ganze Dreck, den Jacob zum Frühstück schlucken muss – eine Extramahlzeit Pillen, dazu Injektionen und Nahrungsergänzungsmittel – kostet ein Vermögen, und ich weiß, dass Mom manchmal nachts noch freiberuflich als Lektorin arbeitet, um Jess bezahlen zu können, Jacobs Sozialtherapeutin.

Ich höre das Grummeln eines Autos auf der ruhigen Straße, und als ich aus dem Fenster schaue, da sehe ich es: Der grüne Van biegt in die Auffahrt ein. Ich fliege die Treppe hinunter, durch die Küche und zur Tür hinaus. Draußen springe ich in die Büsche und schaue zu, wie der Junge den Van als Erster verlässt. Er trägt eine Eishockeyausrüstung. Dann steigt seine Schwester aus und schließlich steigen auch seine Eltern aus. Sein Vater holt eine große Sporttasche aus dem Kofferraum, und schließlich verschwinden alle im Haus.

Ich gehe die Straße hinunter, weg von dem Lebkuchenhaus. Unter meinem Mantel steckt das Wii-Spiel, das ich mir im letzten Augenblick geschnappt habe, irgendein Super-Mario-Titel. Ich spüre, wie mein Herz darunter schlägt.

Ich kann es nicht spielen, aber das will ich eigentlich auch nicht. Ich habe es nur geklaut, weil ich weiß, dass sie sein Fehlen noch nicht einmal bemerken werden. Wie sollten sie auch, wo sie so viel haben?