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Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

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© 2011 novum publishing gmbh
 
ISBN Printausgabe: 978-3-99003-540-5
ISBN e-book: 978-3-99026-421-8
Lektorat: Sigrid Jost-Topitsch
Umschlagfoto: Igor Zakowski | Dreamstime.com
 
Gedruckt in der Europäischen Union auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem -Papier.
 
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Hans was Heiri
 
 
Sehr früh an einem Montagmorgen sitzt Claudia mit einer Tasse Kaffee in der Hand im Pavillon. Sie genießt es, wenn rundum noch alles schläft. Nur sie, der Garten, die Vögel und der Kaffee natürlich. Einmal mehr dankt sie Gott für ihr Schicksal. Immer wieder ist sie überrascht, wie gut er es mit ihr meint. Als Kind hat sie sogar geglaubt, sein Lieblingskind zu sein. Heute ist sie verheiratet mit einem guten Mann, hat eine liebe Tochter und lebt in einem schönen Haus.
Eigentlich dankt sie Gott täglich, doch dann steigt sogleich die Frage auf nach mehr.
Warum kann ich nicht einfach mit dem Hier und Jetzt zufrieden sein? Warum verlange ich, immer gleich mehr?
Andererseits, warum geht es uns so gut, weil wir uns mit wenig zufriedengeben?
Sie beschließt, gleich heute Morgen am Frühstückstisch aufs Tapet zu bringen, was sie immer schon gestört hat, immer schon – seit sie mit Pirmin zusammenlebt.
„Sag mal, warum können wir nicht, wie andere Ehepaare auch, ineinander verschlungen einschlafen?“
„Warum tun das andere Eheleute und woher willst du das denn wissen?“, fragt Pirmin zurück. „Wie soll man sich denn da erholen und den nächsten Tag wieder mit Power in Angriff nehmen? Ein Bett ist doch da, um zu schlafen“, meint er etwas verunsichert. „Doch nicht ein Ehebett“, sagt sie. „Du schläfst am linken Rand vom Bett, ich am rechten, dazwischen ein riesiges Loch. Da könnten wir doch gleich zwei Betten kaufen und jedes in eine Ecke stellen. Hättest du denn Lust auf ein eigenes Zimmer, wenn wir genügend Platz hätten?“, fragt sie ihn.
„Natürlich nicht, so, wie es ist, so soll es auch bleiben, für mich stimmt es so! Aber was soll ich nachts an dir rummachen! Ich weiß doch nicht, ob du schon schläfst. Ich will dich nicht aufwecken, denn du bist die, welche dann nicht mehr einschlafen kann!“
„Ja, da hast du schon recht“, antwortet sie ihm, „und du schläfst immer gleich ein. Dann könnten wir uns doch tagsüber mehr umarmen, wie das andere Ehepaare auch tun!“ „Wer zum Beispiel?“
„Zum Beispiel Silvan und Trudi.“
„Tun die das?“
Leonie, das Töchterchen kichert. „Ja, das tun sie. Warum tun sie das?“
„Versteh ich auch nicht, was es da zu umarmen gibt“, bemerkt Claudia etwas bissig. Pirmin runzelt die Stirn.
„Wir umarmen uns doch auch ab und zu – oder?“
„Ja, aber meistens steh ich neben dir und du beachtest mich nicht.“
„Das mein ich aber nicht böse und ich kann dich doch nicht die ganze Zeit festhalten.“
„Das mein ich auch nicht. Aber du schaust die ganze Zeit in die Zeitung, in den PC, auf irgendeine Landkarte oder in den Fernseher, aber mich nimmst du nicht wahr, mich siehst du nicht.“
„Doch, natürlich nehm ich dich wahr – was du dir für Sorgen machst. Keine Bange, es ist alles in bester Ordnung!“ -Smile, smile. „So, nun muss ich mich aber sputen, sonst verpass ich noch den Zug. Heute wird’s übrigens spät, wir haben noch Sitzung.“ Küsschen und tschüss.
Ihr Töchterchen meint sie trösten zu müssen. Es klettert auf ihren Schoß und plappert weiter. Sie nennt es dann immer zärtlich „Löjämüli“. Der Familienname lautet Leu und somit heißt das Töchterchen gleich zweimal „Löwe“. Auf diese Idee sind die Eltern fürchterlich stolz.
Claudia überlegt sich, ob sie das Thema wieder aufgreifen sollte, und wenn ja, wann?
Genau genommen hat sich nichts geändert. Es hat schon so begonnen. Sie hat von Anfang an zum Inventar gehört. Er genoss es zwar, Buch über sein Inventar zu führen, doch sich Zeit für das lebende Inventar zu nehmen, kam ihm nicht in den Sinn. So kam es, dass sie zuunterst auf seiner Prioritätenliste stand. Damals hieß die Liste zwar noch anders, nämlich -PENDENZEN. Da lief sie unter „Familie gründen“ (Frau suchen). Aber wie gesagt, diese Pendenz stand zuunterst, es eilte nicht. Wie sie dann so vor ihm stand, fühlte er sich gedrängt. Trotzdem ist diese Pendenz inzwischen erledigt. Nun steht sie (wieder zuunterst) auf der Eigentumsliste. Das Auto steht viel höher oben – ein neues ist fällig. Ihr Platz zuunterst in den Passiva steht ihr zu, bis dass der Tod sie scheidet. Was will sie mehr? Und sowieso ist sie selber schuld, sie hat ihn unbedingt gewollt. Sie hat zu Hause den Telefonhörer hypnotisiert, auf dass er klingeln sollte. Wenn er dann endlich am Sonntagabend anrief und ihr die lapidare Frage stellte: „Na, ein schönes Wochenende gehabt?“ – hätte sie da nicht gleich die Flucht ergreifen sollen?
Wie oft beklagte sie sich damals schon, dass sie zuunterst auf seiner Prioritätenliste stehe. Doch er wusste nicht, wovon sie sprach, er konnte sie nicht verstehen. Er, der Asket, lechzte nicht nach der Nachspeise, ein Asket weiß sich zu beherrschen. Sie hingegen, weniger asketisch veranlagt, wartete darauf, vernascht zu werden. Genau genommen wartet sie noch immer …
Vor der Eheschließung mit Claudia lebte Pirmin kurz mit Susanne zusammen. Das ging aber nicht gut und sie trennten sich bald wieder glücklich. Statt sich zu freuen, dass der Sohn noch rechtzeitig hatte abspringen können, vor Eheschließung, vor Kindersegen, ließ seine schwarz-katholische Verwandtschaft Pirmin durch das sehr grobmaschige Netz fallen. Das Gebaren dieses missratenen Familienmitgliedes galt als skandalös. Sex vor der Ehe und dann wird nicht einmal geheiratet, das war zu viel des Guten. Man bedenke, eine Tante und ein Cousin lebten im Kloster.
Wie er also so dastand, kam Claudia in sein Leben, der Familie bekannt als Mitglied des hiesigen katholischen Kirchenchors, höflich, hübsch, sympathisch. Hätte er sie nicht gewollt, wäre er wohl für alle Zeiten aus den Annalen der Familienhistorie gestrichen worden. Sein Verstand sagte Ja zu ihr, und so kam es, wie es kommen musste.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Claudia die Dreißiger-Grenze schon überschritten. Die Torschlusspanik hatte auch bereits durch den Türspalt geguckt. Trotzdem war sie felsenfest davon überzeugt, dass Gott, und nur Gott, sie zusammengeführt habe. Inzwischen steht diese Überzeugung nicht mehr auf allzu felsenfestem Grund. Der Permafrost hat ja auch angefangen aufzutauen, Grund und Boden wird locker und nicht einmal mehr Schweizer Berge stehen für Garantie – wie also dann ein klitze-kleiner Ehering?
Was sein striktes Abweisen von Süßigkeiten angeht: nota bene – sie sind ja ungesund. Der Asket schimmert täglich durch, jedoch sein Liebesleben rein der Askese zuzuschreiben, ist dies nicht doch eher eine zu billige Ausrede? Vielleicht ist er ganz einfach kein Testosteron-Bolzen oder, noch schlimmer – und das liegt ja eigentlich auf der Hand –, es mangelt ihm an Liebe? Letztere Frage hat Claudia immer schon beschäftigt.
Doch noch mehr hinterfragt sie ihre eigene Liebe. Hat sie wirklich ihn gewollt oder doch lieber seinen Bruder Silvan? Dieser hat Claudia immer schon beachtet. Er hat immer schon auf sie reagiert, damals wie heute. Aber hätte sie denn innerhalb der Familie wechseln sollen – wechseln können?
Kaum hatte Pirmin geheiratet, stürzte sich auch Silvan ins Eheleben. Pirmin gleich, ging er eine Vernunftsehe ein – so zumindest Claudias Annahme. Sie kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er für diese Frau etwas empfindet. Claudia hält vom Charakter ihrer Schwägerin nichts. Sie ist so rechthaberisch, so verbissen. Sie erzählt zwar, wie sozial sie sei, aber Claudia hat außer Schein noch nichts davon mitbekommen. Dann lacht sie eigentlich nie, wenn doch, dann gekünstelt. Vielleicht gab es in ihrem Leben nicht viel zu lachen. Doch das ist kaum der Fall, denn wenn es so wäre, hätte Claudia bestimmt längst ihr Mitgefühl-Projektil ausgefahren.
Claudia ist sehr humorvoll. Sie lacht und giggelt den ganzen Tag. Ihre unbekümmerte Art fällt Silvan immer wieder wohlwollend auf und es wird ihm warm ums Herz.
Dies spürt Claudia und genießt es. Auf dieses angenehme Beachtetwerden, will sie nicht verzichten. Doch genau der Mann, der ihr am meisten Beachtung schenkt, umarmt eine andere, nämlich „seine“ Frau.
Nein, eifersüchtig ist Claudia nicht, glaubt sie zu wissen. Sie ist nur immer wieder irritiert. Wie kann es sein, dass diese Schwägerin umarmt wird, sie, Claudia, aber nicht. Noch schlimmer, sie wird von ihrem Mann nicht einmal beachtet!
Andererseits muss Claudia zugeben, dass sie seit Anbeginn mit dem Schwager geliebäugelt und somit ihren Mann in die Defensive gedrängt hat. Hat er sich aus Selbstschutz zurückgezogen?
Beide sind rechtschaffene Männer. Beide würden ihre -Frauen nie verlassen. Warum – aus Liebe? Nach so langer Zeit, welche man miteinander verbringt, lernt man sich zu schätzen – aber genügt dies? Auf alle Fälle wissen diese beiden Männer, was sich gehört und was sich nicht gehört. Seiner Frau den Laufpass zu geben, so etwas tut man nicht, und überhaupt, die Kinder – man hat doch Verantwortung! Soll das genügen? Darf es nicht ein bisschen mehr sein? Claudia liebt es zu vergleichen. Wie geht es anderen? Andrea zum Beispiel. Sie hat nie einen Mann abbekommen. So gesehen geht es Claudia sehr gut. Was muss sie auch immer wieder unzufrieden sein. Aber trotzdem, ein bisschen Feuer dürfte man doch verlangen …
Ja, wie sieht es aus mit diesem Feuer? Ganz, ganz zart meldet sich ab und zu ein Flämmchen. Aber es kommt nicht aus der Richtung, aus der es kommen sollte. Nein, der Schwager ist es, welcher immer wieder mit diesem Glütchen spielt. Er verhält sich gegenüber Claudia zu aufmerksam und eben diese Aufmerksamkeit, dieses „Ich hab dich gesehen“, erfreut Claudias Herz immerzu.
Wenn sich Claudia bei ihren Lieben zu Wort melden will, muss sie fast schreien, um sich Gehör zu verschaffen. Macht sie aber in der Gegenwart des Schwagers nur eine ganz leise Bemerkung, reagiert er, gibt Antwort, fragt zurück …
Doch wenden wir uns wieder dem Eheleben unserer zwei Probanden zu.
Auch Claudia schätzt den Fleiß ihres Mannes, doch er übertreibt es ziemlich. Er kommt nach Hause vom Arbeiten und nimmt noch kravatös „Schüfeli und Bäseli“ zur Hand, denn irgendein Stäubchen liegt immer rum. Fernsehen (außer Nachrichten, Politik und Sport) ist nicht drin. Mit Claudia gemeinsam im Pavillon sitzen und ein Halbeli tütschen – ist nicht drin. Faulenzen ist einfach nicht sein Ding.
Das wird dann noch heavy! Wer macht dann all die Arbeit? Die Mitarbeiter (es müssen ja nicht gleich drei sein) wie auch der Vater werden für immer vermisst werden.
Pirmin (die Eule) verbringt seit Beginn der Ehe die Abende am Pult. Claudia (die Lerche) aber geht früh ins Bett – allein, denn er will noch arbeiten. Aber irgendwann nachts legt er sich für einen vermeintlich kurzen Powernap aufs Sofa. Der Powernap soll ja nur von kurzer Dauer sein, fünfzehn Minuten höchstens. Dann will er gestärkt zurück an die Arbeit. Oft aber dauern diese Powernaps an. Wenn Claudia dann nachts aufs Klo muss, löscht sie das Licht, weshalb er aufwacht. Sie wütend: „Was sollen die Nachbarn von uns denken, wenn bei uns die ganze Nacht das Licht brennt? Und überhaupt, warum kannst du nicht neben mir einschlafen?“ „Das hat nichts mit dir zu tun!“, sagt er, schaltet den Computer aus und geht ins Bett, um dort weiterzuschlafen.