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Infos über Chantal Schreiber

Chantal Schreiber, in Wien geboren, hat ihr Sprachenstudium abgebrochen und war unter anderem Flugbegleiterin, Kellnerin und Fotomodell. Fazit: Viele Reisen und längere Auslandsaufenthalte (Griechenland, Spanien, Japan, Australien, USA), viele Freunde in vielen Ländern, viele Jobs, aber kein Beruf. Den fand sie schließlich als Drehbuchautorin fürs Kinderfernsehen und als Autorin von Kinder- und Jugendbüchern. Mit Tochter Hannah teilt sie eine Wohnung in Wien, eine große Liebe (zu Darri, einem unwiderstehlichen Isländer-Wallach) und leider vermehrt auch ihre Schuhe.

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Wenn ich mein Tablett etwas vorschiebe, meine Ellenbogen aufstütze und mich ganz unauffällig ein bisschen nach links drehe – am besten mit der Hand im Nacken, damit es aussieht, als wäre ich bloß etwas verspannt von der Fahrt und würde mich strecken –, dann müsste ich ihn sehen können, am anderen Ende der langen Tischreihe, da wo er sich gerade hingesetzt hat. Wenn er es überhaupt ist. Aber ich bin fast sicher, dass er es ist. Ich schiebe mein Tablett vor.

»Magst du nicht mehr?«, fragt das Mädchen mit dem brünetten Pferdeschwanz mir gegenüber und starrt gierig auf meinen Schokopudding.

»Doch, doch.«

Ich stütze die Ellbogen auf, lege die Hand in den Nacken und dehne den Hals zuerst nach unten ... dann nach rechts ...

»Wenn’s dir zu viel ist, dann nehm ich den Pudding gerne ...!«

»Nein!«, knurre ich, immer noch mit gesenktem Kopf. »Danke.«

Ich drehe den Kopf jetzt langsam nach links und folge mit dem Blick einer langen Reihe Tabletts. Teller mit Lasagne, Salat, Schnitzel, Spaghetti. Schüsseln mit Pudding, Tiramisu und Obstsalat. Hände, die Gabeln oder Löffel halten und eifrig schaufeln. Münder, die kauen oder reden oder kauen und reden. Ein grünes T-Shirt hat er an. Ich strecke mich noch ein Stückchen nach vorne und drehe den Kopf noch weiter nach links. Das ist sein Profil. Eindeutig. Da dreht er plötzlich den Kopf in meine Richtung und ich sehe genau in seine Augen! Erschrocken fahre ich zurück. Aber er ist es, kein Zweifel. Dieselben braunen Augen und die Sommersprossen, obwohl er gar nicht so ein hellhäutiger Typ ist. Dieselben wuscheligen Haare, nur sind sie kürzer, als ich sie in Erinnerung hatte. Mein Herz klopft so laut, dass ich überzeugt bin, das Puddingmonster mir gegenüber kann es hören. Ob er mich auch erkannt hat? Aber dazu hätte er mich erst mal bemerken müssen. Er ist sicher zwanzig Mal an mir vorbeigegangen. Ich habe immer schon im Bus gesessen, wenn er mit seinem Scooter angekommen ist, hab ihn beobachtet – total unauffällig, versteht sich –, wie er ihn blitzschnell mit zwei Handgriffen zusammengeklappt hat. Und wenn er dann im Bus meinen Sitz gestreift hat, hab ich den Atem angehalten und gehofft und gleichzeitig befürchtet, er würde was sagen. Fast war ich so weit, was zu sagen – na ja, das hab ich mir jedenfalls eingeredet, ich weiß nicht, ob ich’s wirklich getan hätte. Die Sache hat sich ohnehin erledigt, denn dann ist er plötzlich nicht mehr aufgetaucht. Die ersten Male hab ich gedacht, er hätte einen späteren oder früheren Bus genommen. Also hab ich ein paarmal einen späteren und ein paarmal einen früheren Bus genommen. Zweimal bin ich zu spät zur Schule gekommen. Aber wiedergesehen hab ich ihn nicht. Bis heute. Glaube ich wenigstens.

»Oh, verdammt!« Leos Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. »Entschuldigung! Tut mir so leid! Verdammt! Entschuldigung!!!«

Mann! Ich kann nicht anders, als die Augen zu verdrehen. Leo ist aber auch so was von ungeschickt! Da drüben ist sie, inmitten des Kuddelmuddels am Selbstbedienungstresen, dessen Ursache sie zweifelsohne ist. Ach ja, jetzt seh ich, was passiert ist. Sie hat ihren Kakao umgeschüttet und damit offenbar nicht nur ihr eigenes Essen getränkt, sondern auch noch die ehemals pastellfarbenen T-Shirts der beiden Mädels, die vor ihr in der Schlange gestanden haben. Also ich liebe Leo echt wie eine Schwester. Aber sie ist so tollpatschig, dass sie eigentlich eine Warntafel um den Hals tragen müsste. Sie stolpert über vorhandene und nicht vorhandene Hindernisse, hält sich dabei an allem fest, was sich nicht wehren kann – Vasen, CD-Regale, beste Freundinnen –, und reißt Letztere unweigerlich mit ins Verderben. Sie radiert Löcher in Hefte, zerbricht Gläser, indem sie den Schnabel der Saftkanne draufknallen lässt, bleibt mit dem Absatz in Straßenbahnschienen hängen, umarmt andere so stürmisch, dass sie Verletzungen davontragen – und das ist nur ein kleiner Auszug aus ihrem Tagebuch der Zerstörung.

Diesmal also nur etwas vergleichsweise harmlose Kakaobelästigung, die ihr zwar unfreundliche Blicke der zwei pastellfarbenen Blondinen, aber auch die Aufmerksamkeit eines ziemlich niedlichen, asiatisch aussehenden Jungen eingebracht hat. Es ist seltsam, aber Jungs scheinen irgendwie darauf abzufahren, Leo zu retten. Ihre großen braunen Augen, langen dunklen Haare und ihre Superfigur könnten auch was damit zu tun haben. Jedenfalls steuert der Junge, das Tablett meiner Freundin höchst professionell über dem Kopf tragend, hinter der strahlenden Leo her auf unseren Tisch zu. »Aua«, sagt sie, als ihr Oberschenkel die Ecke der Tischplatte rammt, und »’tschuldigung«, als sie merkt, dass als Folge davon Limoflaschen aneinanderschlagen und Gläser überschwappen.

»Billie, das ist Mike, Mike – meine beste Freundin Billie!«

»Hey, Mike.«

»Hey, Billie. Du bist Leos beste Freundin?« Er klingt verwundert.

»Ja, wieso?«

»Na, weil du keine sichtbaren Verletzungen aufweist«, sagt er grinsend. »Vielleicht ist es also doch nicht so gefährlich in ihrer Nähe.«

»Ich hab ihn vorgewarnt«, erklärt Leo achselzuckend.

Ich finde Mike auf Anhieb cool. »Man kann es unverletzt überstehen«, erkläre ich ihm, »wenn man ein paar Grundregeln beachtet. Ich übernehm gern deine Einschulung.«

»Und?«, fragt Leo, als wären wir allein im Speisesaal. »Ist dein Busknabe nun tatsächlich auch hier oder nicht?«

»Leo!«, zische ich und werde rot.

»Der da drüben in dem grünen T-Shirt!«, erklärt das Mädchen mir gegenüber zu Mike gewandt, als wäre dies eine Realitysoap und er hätte Folge eins verpasst. »Sie verrenkt sich schon dauernd den Hals nach ihm.« Nach diesem Update wirft sie wieder meinem Pudding einen verliebten Blick zu.

»Das tu ich überhaupt nicht!«, funkle ich das verfressene Früchtchen wütend an. Was muss die sich überhaupt einmischen? »Und wenn jetzt auch nur einer von euch hinsieht, ist er tot!«

»Keine Sorge, ich bin diskret«, sagt Mike amüsiert.

»Und ich bin bestechlich«, erklärt mein Visavis mit einem weiteren bedeutungsvollen Blick auf meinen Pudding.

Seufzend schiebe ich ihr das Schälchen hin – schließlich will ich nicht, dass schon am ersten Tag irgendwelche Gerüchte über mich kursieren. Sie beginnt sofort, die Nachspeise in sich reinzulöffeln.

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