LITERATUR KOMPAKT
Herausgegeben von Gunter E. Grimm
Tectum
Gunter E. Grimm
FRIEDRICH
DÜRRENMATT
Der Autor
Prof. Dr. Gunter E. Grimm, bis 2010 Lehrstuhlinhaber für Neuere deutsche Literatur an der Universität Duisburg-Essen. Arbeitsschwerpunkte sind u.a. Literatur der Aufklärung, Geschichte der deutschen Lyrik, Wissenschafts- und Mentalitätsgeschichte. Autor zahlreicher Monografien und Aufsätze sowie Herausgeber von Sammelbänden, Editionen und Reihenwerken, darunter Lessings Werke, Herders Werke, Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte, Einführungen Germanistik sowie Literatur kompakt und die Internetportale www.goethezeitportal.de und www.nibelungenrezeption.de
Gunter E.Grimm
Friedrich Dürrenmatt
Literatur Kompakt – Bd. 5
Reihenkonzept und Herausgeberschaft: Gunter E. Grimm
Projektleitung Verlag: Christina Sieg
Layout: Sabine Manke
© Tectum Verlag Marburg, 2013
ISBN EPUB 978-3-8288-5713-1
Bildnachweis Cover: Umschlagabbildung: Friedrich Dürrenmatt bei
der Verleihung des Ernst-
Robert-Curtius-Preises, 1989, Fotografie von Elke Wetzig (CC-by-SA 3.0)
(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter der ISBN 978-3-8288-3118-6 im Tectum Verlag erschienen.)
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
»Ein Schriftsteller kann nur schreiben. Aber was hat die Literatur denn heute noch für eine Funktion? Sie hat keine mehr. Theater und Literatur – das spielt sich in einer Ecke ab. Heute kommt man ohne Lesen und Schreiben gut durch die Welt. Literatur ist heute doch nur noch ein aufgeklebtes Etikett. Ein Schriftsteller versucht, sich über die Welt klarzuwerden. Wenn er Leser hat, hofft er, daß auch sie diese Klarheit gewinnen. Es ist die Pflicht eines Menschen sich über diese Welt klarzuwerden. Und ich als Schriftsteller erfülle eine Pflicht, wenn ich über die Lage der Menschheit nachdenke.«
Dürrenmatt im Gespräch 1986 mit Klaus B. Harms; Gespräche 3, 250
Inhalt
I. Die Lust an der Katastrophe. Dürrenmatts Aktualität
II. Zeittafel
III. Leben und Werk
Grafik: Dürrenmatt kompakt
IV. Voraussetzungen, Themen, Werk-Aspekte
1. Ausgangspositionen eines Autors
2. Hauptthemen, Motive, Bilder
3. Gattungen, Schreib- und Stiltendenzen
Grafik: Wichtige Punkte
V. Die Korrumpierung der Welt – Das dramatische Werk
1. Gestaltungen des Grotesken. Zur Dramaturgie des Einfalls
2. Auf der Suche nach der eigenen Bühnenform.
Das dramatische Frühwerk
3. Rache, Mut und Korruption (Der Besuch der alten Dame)
4. Spiel mit der Apokalypse (Die Physiker)
5. Unsterblichkeit als Stigma (Der Meteor)
6. Rückzug von der Bühne. Das dramatische Spätwerk
VI. Weltmodell Labyrinth – Das erzählerische Werk
1. Zwischen Existentialismus und Unterhaltung.
Frühe Erzählungen und Romane
2. Die Macht des Zufalls. Die Kriminalromane
3. Das Erinnerungsprojekt Stoffe
4. Untergangsszenarien (Der Winterkrieg in Tibet)
5. Gefangen im Spiegelkabinett (Minotaurus. Eine Ballade)
6. Experimentelles Erzählen. Das Prosa-Spätwerk
VII. Intermediale Wirkung – Der Roman Das Versprechen und seine Verfilmungen
VIII. Literaturverzeichnis
IX. Werkübersichten und Konkordanz
Glossar
Abbildungsverzeichnis
I. Die Lust an der Katastrophe
Dürrenmatts Aktualität
Friedrich Dürrenmatt ist seit über zwanzig Jahren tot. Die Welt hat sich seit seinem Tod auf damals nicht vorhersehbare Weise geändert. Er hat noch die Anfänge vom Ende des ‚Kalten Kriegs‘ zwischen den zwei Weltkriegs-Supermächten erlebt, die gravierenden Änderungen – das Auseinanderbrechen der Sowjetunion und den rasanten Aufstieg Chinas zur Weltmacht – hingegen nicht mehr. Aus einem politisch-ideologischen Stellungskrieg wurde mittlerweile ein globaler ökonomischer ‚Krieg‘. Das Kapital in seiner rüdesten Form – als Herrschaft der Banken und der internationalen Trusts – regiert mittlerweile das Weltgeschehen. Daran hätte Dürrenmatt seine ‚Freude‘ gehabt, denn auch diese Gefahr hat er hellsichtig vorausgesehen.
Dürrenmatt war ein Kind der Nachkriegszeit, der Ära des ‚Kalten Kriegs‘. Dies erklärt seine Vorstellung einer antagonistischen politischen Welt und seine apokalyptische Grundgestimmtheit. Als Theaterautor feierte Dürrenmatt seinen Höhepunkt nach Der Besuch der alten Dame Ende der fünfziger und mit den Physikern Anfang der sechziger Jahre. Und auch heute noch ist er auf der Bühne präsent: Immerhin war die Komödie Der Besuch der alten Dame in der Spielzeit 2010/11 mit 143.000 Besuchern das meistfrequentierte deutschsprachige Theaterstück.
Wichtig für eine Beschäftigung mit Dürrenmatts Œeuvre sind jedoch nicht die historischen Erfolge und Misserfolge und schon gar nicht Dürrenmatts Selbsteinschätzung, wichtig ist, was uns heute noch angeht. Mit einigen seiner Texte hat Dürrenmatts den Nerv der Zeit getroffen. Einiges ist heute nicht mehr aktuell: etwa die christlichen Themen Sünde, Hybris, Gnade, die sein Frühwerk prägen und die sich in verschlüsselter und verweltlichter Form bis in sein Spätwerk hinein nachweisen lassen. Ebenso das Jonglieren mit Gedankengebilden der ‚Kalten-Kriegs-Ära‘. Anders verhält es sich bei Themen wie der Omnipotenz des Geldes und der Finanzkrise, der Entfremdung und Isolierung des Menschen in der modernen Gesellschaft, dem Ausgeliefertsein des Menschen an die »Barbarei der Zivilisation« (33, 89), der Verstümmelung des Subjekts und dem Einsatz in einer anonym verwalteten Welt, der Automation und Allmacht der Technik, der Umweltzerstörung und Vernichtung der Lebensbedingungen. Das Bild vom Labyrinth und dessen einsamem Bewohner Minotaurus hat sein literarisches und zeichnerisches Werk von den Anfängen bis zum Ende in immer neuen Varianten begleitet.
Wertung
An Friedrich Dürrenmatt haben sich schon zu seinen Lebzeiten die Geister geschieden. Die einen hielten ihn für ein Genie, einen literarischen Giganten, die anderen für einen in verschiedenen Gattungen mehrfach gescheiterten Autor. Die einen sahen in ihm einen Moralisten und Humanisten, die anderen einen Ironiker oder sogar Zyniker, wieder andere einen nicht ernst zu nehmenden Spaßmacher und Clown.
Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer hat eine Hymne angestimmt: »Dürrenmatt gehört zu den ganz wenigen Genies der Nachkriegsliteratur deutscher Sprache. Ein Meteor wie Büchner und Kafka. Dieser geniale Mensch hatte eine unheimliche Witterung von wirklichen Zuständen, und man hat es überhaupt nicht wahrgenommen, man hielt ihn für einen Clown, weil er einen Clown gespielt hat. Dabei ist er einer der tiefsten Denker und einer der klügsten politischen Schriftsteller« (LB, Rückumschlag).
Franz Kafka
Georg Büchner
Karl Valentin
Dagegen ließe sich der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki anführen, der bei aller Anerkennung von Dürrenmatts literarischer Potenz Zweifel an dessen Ernsthaftigkeit vorbringt:
Gar kein Zweifel: Dieser schwerfällige Mann aus der schweizerischen Provinz gehört zu den unverwechselbaren Figuren der europäischen Literatur nach 1945. Dürrenmatt ist beinahe ein Genie, nur eben ein albernes, vielleicht sogar das albernste in diesem Jahrhundert. Er gehört – und das gibt es in deutschen Landen nur sehr selten – zu den Predigern mit Pfiff, er fungiert als ein professioneller Prophet, dem es gefällt, Schreckliches zu verkünden, und dem es gelingt, dabei niemandem die Laune zu verderben. Ja, er ist ein pessimistischer, ein pechschwarzer Poet, der aber immer wieder Allotria treibt und dann, halb drohend und halb lachend, behauptet, es sei Philosophie, wenn nicht gar Theologie. Gern beruft er sich auf Karl Barth, doch habe ich zuweilen den Verdacht, daß man ihn eher in der Nähe von Karl Valentin sehen sollte (FAZ, 30.11.1985).
Insbesondere über das Spätwerk gehen die Meinungen auseinander. Die negative Variante findet sich in der 1988 erschienenen Monografie von Jan Knopf, der dem späten Dürrenmatt ein schöpferisches Stehenbleiben attestiert und sein Spätwerk als eine Form des Recyclings längst bekannter Themen und Motive disqualifiziert (Knopf 1988, S. 194). Dagegen hält Peter Rüedi in seiner Biografie Dürrenmatts Spätwerk für den Gipfel seines Schreibens. Für ihn hat Dürrenmatt aus einer Not eine Tugend gemacht und sich aus allen schöpferischen Krisen und Katastrophen gerettet. Dürrenmatts Kunst sei insgesamt »eine Kunst des Scheiterns« (R, 712). Jedes Scheitern sei indes für ihn Anstoß gewesen, in einer anderen Gattung und mit anderen Formen weiterzuarbeiten und Neues zu schaffen. Dies gelte in besonderem Maß für das Alterswerk: »Seine Wiedergeburt mit dem Mitmacher-Komplex, den Zusammenhängen, den Stoffen ist ein Geheimnis. Hörte ich ihn nicht vom letzten Ufer her grollen, würde ich sagen: ein Wunder, das dem seiner Geburt als Schriftsteller nicht nachsteht« (R, 107).
Forschung
In den sechziger Jahren gehörten die Dramen der zwei Schweizer Autoren Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt zu den meistgespielten Stücken auf deutschen Theatern. Blickt man auf die Programme der Bühnen der Gegenwart, so finden sich von Dürrenmatt nur noch zwei Dramen, und diese in schöner Regelmäßigkeit: Der Besuch der alten Dame und Die Physiker, die schon zu seinen Lebzeiten den größten Erfolg hatten. Während sich eine wissenschaftliche Erforschung von Max Frischs Werk schon lange etabliert hat, gab es zu Dürrenmatt überwiegend nur didaktische Handreichungen. Erst seit etwa zwanzig Jahren hat sich eine ernsthafte Forschung entwickelt, die mit der Einrichtung einer Dürrenmatt-Forschungsstelle in engem Zusammenhang steht. So sind die meisten Untersuchungen philologisch in engerem Sinn, und nicht zufällig widmen sie sich der wissenschaftlichen Erschließung des komplexen Spätwerks. Heute sind Interpretationen einzelner Werke eher selten geworden, dagegen sind werkgeschichtliche Untersuchungen zu Motiven, Einflüssen und Bild-Text-Beziehungen in den Vordergrund gerückt. Die lange Zeit ausstehende Biografie hat Peter Rüedi geliefert. Sie führt von den Anfängen bis zu Dürrenmatts internationalem Durchbruch mit dem Stück Der Besuch der alten Dame, handelt aber die Spätzeit nur kursorisch ab. Trotz kritischer Bemerkungen im Einzelnen basiert sie auf einer verehrenden Grundeinstellung.
Intention des Buchs
Anders als etwa Gerhard P. Knapp und Jan Knopf will die vorliegende Einführung keine historische oder systematische Darstellung von Dürrenmatts Gesamtwerk liefern, sondern dessen Relevanz für die Gegenwart aufzeigen. Sie betrachtet das Werk aus dem Abstand einer halben Generation: Was hat es uns heute noch zu sagen und was ist an seine Entstehungszeit gebunden? Entsprechend soll dies nicht vorrangig an seiner Person aufgezeigt werden, sondern an seinen Schriften. Im Zentrum stehen die nach wie vor bekannten Texte, die Repertoirestücke, die Kriminalromane und einige experimentelle Spätprodukte wie die Ballade Minotaurus oder die Erzählung Der Winterkrieg in Tibet. Daneben hat Dürrenmatt auch Hörspiele und Gedichte verfasst, die hier aber unberücksichtigt bleiben, während seine Essays und Reden indirekt in die Darstellung einfließen. Dabei gilt es durchaus, neue Akzente zu setzen. So findet das unter werkbiografischen Aspekten wichtige und hochkomplexe Spätwerk Stoffe größere Aufmerksamkeit als in bisherigen Monografien. Berücksichtigt wird auch das zeichnerische Werk. Dürrenmatt war eine Doppelbegabung, auch wenn der Bildkünstler nicht den gleichen Rang wie der Schriftsteller beanspruchen kann. Lohnend ist es dabei vor allem, die Querverbindungen zwischen Literatur und Bildkunst aufzuzeigen. Sie erlauben es, manche Themen und Motive, die sein Werk in beiden Ausprägungen durchziehen, besser zu verstehen. Ebenso wichtig sind Dürrenmatts Überlegungen zur Politik und zur Kosmologie. Erstere erfolgen dabei aus Schweizer Blickwinkel, während letztere den Stellenwert dieser ‚irdischen‘ Welt im Weltall verdeutlichen und damit relativieren. Diese Einführung will damit als Kombination von Überblicksdarstellung und Einzelanalysen es dem Leser ermöglichen, die genauer betrachteten Werke in den Lebenszusammenhang und die Werkbiografie Dürrenmatts einzuordnen.
Landschaft bei Ballenbüel, Konolfingen im Kanton Bern, 2010
II. Zeittafel
1921 |
5. Januar, Geburt von Friedrich Dürrenmatt als Sohn des Pfarrers Reinhold Dürrenmatt und seiner Frau Hulda, geb. Zimmermann, in Konolfingen (Emmental, Kanton Bern) |
1928–1937 |
Besuch der Primarschule in Stalden, der Sekundarschule im Nachbardorf Großhöchstetten, des Freien Gymnasiums, dann des privaten Humboldtianum in Bern 1941 |
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Kurzzeitige Mitgliedschaft in der frontistischen »Eidgenössischen Sammlung« |
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Maturitätsprüfung, Studium der Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte in Bern |
1942 |
Kurzes Volontariat beim »Berner Tagblatt«, Fortsetzung des Studiums der Philosophie und der Literatur in Zürich und 1943 in Bern |
1943 |
Fertigstellung der Komödie Der Knopf, erste Erzählungen (Weihnacht, Der Folterknecht, Die Wurst, Der Sohn) |
1944 |
Militärdienst |
1945 |
Erste Veröffentlichung (Der Alte) in der Berner Tageszeitung »Der Bund« |
1946 |
FD bricht sein Studium ab, heiratet die Schauspielerin Lotti Geissler (geb. 1919) und entscheidet sich für die Laufbahn als freier Schriftsteller |
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Umzug nach Basel |
Lotti und Friedrich Dürrenmatt, 1958
1947 |
FD verfasst Theaterkritiken für die Berner Zeitschrift »Die Nation« |
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Die Uraufführung des Dramas Es steht geschrieben am Schauspielhaus Zürich wird ein Theaterskandal |
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Sohn Peter wird geboren (es folgen 1949 Tochter Ruth und 1951 Tochter Barbara) |
1948 |
Uraufführung des Dramas Der Blinde am Stadttheater Basel |
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Umzug des Ehepaars nach Schernelz am Bielersee |
1949 |
Uraufführung der Komödie Romulus der Große am Stadttheater Basel |
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Umsiedlung nach Ligerz |
1950 |
Der Kriminalroman Der Richter und sein Henker erscheint in Fortsetzungen im »Schweizerischen Beobachter« |
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Diagnostizierung von FDs Diabetes |
1951 |
FD schreibt den zweiten Kriminalroman Der Verdacht, Theaterkritiken für »Die Weltwoche« (bis 1953) und Hörspiele (Der Prozess um des Esels Schatten, Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen) im Auftrag deutscher Rundfunkanstalten |
1952 |
Erfolgreiche Uraufführung des Stücks Die Ehe des Herrn Mississippi an den Münchner Kammerspielen |
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FD erwirbt ein Haus am Pertuis-du-Sault in Neuchâtel, das er bis an sein Lebensende bewohnt |
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FD knüpft die Verbindung zu Peter Schifferli, dem Gründer und Leiter des Arche Verlags, in dem der frühe Erzählungsband Die Stadt (darunter Der Tunnel) erscheint. Schifferli bleibt bis zum Bruch 1979 FDs Verleger |
Ansicht von Neuchâtel
1953 |
Uraufführung des Stücks Ein Engel kommt nach Babylon an den Münchner Kammerspielen |
1955 |
»Unterhaltungskomödie« Grieche sucht Griechin |
1956 |
Uraufführung der Tragikomödie Der Besuch der alten Dame am Schauspielhaus Zürich |
1957 |
Treatment zum Film Es geschah am hellichten Tag, aus dem FD den um einen philosophischen Rahmen erweiterten Roman Das Versprechen entwickelt |
Schauspielhaus Zürich
1959 |
Die Uraufführung der Oper Frank der Fünfte am Schauspielhaus Zürich (Musik Paul Burkhard, Regie Oskar Wälterlin) wird ein Misserfolg |
1962 |
Uraufführung der Komödie Die Physiker am Schauspielhaus Zürich. Die Physiker sind in der Spielzeit 1962/63 das meistgespielte deutschsprachige Stück, politikbedingt wieder in der Spielzeit 1982/83 |
1963 |
FD baut ein zweites Haus auf seinem Grundstück in Neuchâtel |
1965 |
Tod von FDs Vater |
1966 |
Uraufführung der Komödie Der Meteor am Schauspielhaus Zürich |
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Umarbeitung des Dramas Es steht geschrieben zur Komödienfassung Die Wiedertäufer |
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Theater-Schriften und Reden |
1967 |
Uraufführung der Komödie Die Wiedertäufer am Schauspielhaus Zürich |
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Reise zum 4. Sowjetischen Schriftstellerkongress nach Moskau, Begegnung mit dem Philosophen Jean-Paul Sartre und der Schriftstellerin Simone de Beauvoir. Das Politbüro inspiriert ihn zur Erzählung Der Sturz |
1968 |
Rede vor Studierenden in Mainz Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht |
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Im August übernimmt FD die Ko-Direktion an den Basler Theatern zusammen mit Werner Düggelin |
1969 |
FD wird Mitherausgeber der neuen Zürcher Wochenzeitung »Sonntags-Journal« (bis 1971), erleidet wegen Überbelastung einen Herzinfarkt |
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Während des Kuraufenthalts in Vulpera beginnt FD mit der Arbeit an Stoffe – Geschichte meiner Schriftstellerei |
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Im Oktober gibt FD wegen anhaltender Differenzen und Krankheit die praktische Theaterarbeit am Basler Theater auf (»Basler Experiment«) |
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Große Reise in die USA, nach Mexiko und in die Karibik |
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Sätze aus Amerika (publiziert 1970) |
1970 |
Berufung in den Verwaltungsrat des Zürcher Schauspielhauses |
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Uraufführung des »Übungsstücks« Porträt eines Planeten am Schauspielhaus Düsseldorf |
1971 |
FD entscheidet sich gegen das Angebot, Direktor des Zürcher Schauspielhauses zu werden |
1972 |
Premiere von FDs Woyzeck -Bearbeitung am Schauspielhaus Zürich |
1973 |
Die Uraufführung der Komödie Der Mitmacher am Schauspielhaus Zürich wird ein Misserfolg, FD wendet sich in der Folge zeichnerischen Projekten zu und beschließt seinen Rückzug vom Theater |
1974 |
Reise nach Israel, Ehrenmitgliedschaft der Ben-Gurion-Universität Beerschewa |
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Die Dankesrede Zusammenhänge erscheint wesentlich erweitert 1976 in Buchform (1980 nochmals durch Nachgedanken erweitert) |
1975 |
Tod von FDs Mutter |
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Im November hält FD auf dem 4. PEN-Kongress in Wien eine Rede gegen die antiisraelische Resolution der UNO |
1976 |
Erste Ausstellung von FDs Bildern im Hotel »du Rocher« in Neuchâtel |
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Veröffentlichung von Der Mitmacher. Ein Komplex |
1977 |
In der Paulskirche Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille, Rede Über Toleranz |
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Ehrendoktor der Universität Nizza und der Hebräischen Universität Jerusalem |
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Uraufführung der Komödie Die Frist im Züricher Kino Corso |
Daniel Keel, 1999
1978 |
Umfassende Ausstellung der Bilder in der Züricher Galerie des Verlegers Daniel Keel |
1979 |
Aus Anlass des 100. Geburtstags von Albert Einstein hält FD an der ETH Zürich den Vortrag Albert Einstein |
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FD verlässt den Arche Verlag und wechselt zu Daniel Keels Diogenes Verlag |
1980 |
Werkausgabe in 29 Bänden (für die FD seine Stücke überarbeitet hat) und einem Zusatzband Über Friedrich Dürrenmatt |
1981 |
März bis Juni: Writer in Residence an der University of Southern California, Los Angeles |
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Zum 60. Geburtstag Festakt im Schauspielhaus Zürich mit Verleihung des Ehrendoktors der Universität Neuchâtel, |
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Veröffentlichung der Autobiografie Stoffe I–III |
1983 |
Tod von FDs Frau Lotti |
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Ehrendoktor der Universität Zürich |
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Uraufführung der Komödie Achterloo am Schauspielhaus Zürich |
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Dezember (bis Januar 1984): Reise nach Griechenland und Südamerika |
1984 |
Heirat mit der Schauspielerin und Journalistin Charlotte Kerr |
1985 |
Publikation von Minotaurus. Eine Ballade (mit Zeichnungen des Autors) |
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Reise nach Ägypten |
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FD führt das (seit 1957) liegen gebliebene Fragment des Kriminalromans Justiz fort und fügt einen neuen Schluss an. Der Roman erscheint im »Stern« als Fortsetzungsroman und als Buchausgabe |
1986 |
Publikation Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter. Novelle in 24 Sätzen |
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Georg-Büchner-Preis und Ehrenpreis des Schiller-Gedächtnispreises von Baden-Württemberg |
1987 |
Teilnahme am Moskauer Friedensforum im Zeichen von Michail Gorbatschows Perestroika (»für eine atomfreie Welt, für das Überleben der Menschheit«) |
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Reisen in die Türkei, nach Italien und Spanien |
1988 |
Uraufführung von Achterloo IV im Rahmen der Schwetzinger Festspiele |
1989 |
FD vermacht seinen literarischen Nachlass der Schweizerischen Eidgenossenschaft, geknüpft an die Bedingung, ein Schweizerisches Literaturarchiv einzurichten |
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Reise nach Schweden |
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Veröffentlichung des Romans Durcheinandertal |
1990 |
Polenreise und Besuch der KZ-Gedenkstätten Auschwitz und Birkenau |
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Turmbau. Stoffe IV–IX |
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Die Rede Die Schweiz – ein Gefängnis anlässlich der Verleihung des Gottlieb-Duttweiler-Preises an den tschechischen Präsidenten Václav Havel in Rüschlikon bei Zürich erregt in der Schweiz Unmut |
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FD hält die Laudatio Die Hoffnung, uns am eigenen Schopfe aus dem Untergang zu ziehen auf den sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow in Berlin |
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14. Dezember: FD stirbt in Neuchâtel an Herzversagen |
2000 |
11. Januar: Gedenkfeier im Berner Münster. |
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September: Eröffnung des Centre Dürrenmatt in seinem Wohnhaus in Neuchâtel |
2011 |
28. Dezember: Tod von FDs zweiter Ehefrau Charlotte Kerr |
III. Leben und Werk
Reinhold Dürrenmatt, um 1915
Hulda Dürrenmatt, um 1915
Friedrich Dürrenmatt wurde am 5. Januar 1921 im kleinen Emmentaler Dorf Konolfingen im Kanton Bern als Sohn des protestantischen Pfarrers Reinhold Dürrenmatt und seiner Frau Hulda, geb. Zimmermann, geboren. Sein Großvater Ulrich Dürrenmatt war Zeitungsredakteur und betätigte sich in der Freizeit als satirischer Dichter, was vielleicht Friedrich Dürrenmatts schriftstellerische Ambitionen geweckt hat. In der Schule fiel der junge Dürrenmatt nicht als besondere Leuchte auf, unverkennbar war damals aber schon seine Neigung zum Malen und Schreiben. Die eher negative Beurteilung von Kostproben Dürrenmatt’scher Zeichenkunst durch den Direktor der Kunsthalle Bern, Max Huggler, stellte sicher Weichen für die künftige Berufswahl.
Ulrich Dürrenmatt, vor 1908
Bern
1935 zogen die Eltern in die Hauptstadt Bern um, wo Friedrich Dürrenmatt das Freie Gymnasium und danach das private Humboldtianum besuchte. Bern muss auf den Dorfjungen einen gewaltigen Eindruck gemacht haben, es erschien ihm geradezu als ein Labyrinth, undurchschaubar und unentrinnbar.
Berner Bahnhofsplatz, 1930er Jahre
Militärdienst
Im Januar 1940 war Dürrenmatt als Füsilier der Gebirgsinfanterie zugeordnet worden und musste im Juni die Rekrutenschule besuchen. Wegen seines labilen Gesundheitszustandes und seiner Kurzsichtigkeit wurde er jedoch schon nach drei Wochen in den militärischen Hilfsdienst versetzt. Dürrenmatt zog in eine Mansarde über der neuen Wohnung der Eltern; statt Tapeten zu kleben, bemalte er die Wände – eine künstlerische Praxis, die er beibehalten sollte.
Matura und Studium
Im September 1941 legte er die Maturitätsprüfung (Alte Sprachen) ab. Entgegen den Wünschen des Vaters studierte er nicht Theologie, sondern Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte in Bern, in Zürich (wo er Literaturvorlesungen bei Emil Ermatinger und Emil Staiger hörte) und wieder in Bern. Dürrenmatt schwankte zu dieser Zeit bei der Wahl seines Berufsziels zwischen Schreiben und Malen. Neben seiner malerischen Betätigung arbeitete er an seinem dramatischen Erstling Der Knopf und verfasste Erzählungen (Weihnacht, Der Folterknecht, Die Wurst, Der Sohn). Daneben absolvierte er ein kurzes Volontariat beim »Berner Tagblatt«.
Schon während der Studienzeit zeigte sich Dürrenmatts Interesse für Philosophie; er las Platon, Kant, Schopenhauer, Kierkegaard, Nietzsche und erwog eine Dissertation über das Thema »Kierkegaard und das Tragische«. Da sich Europa im Krieg befand, musste er ab Juli 1944 in Interlaken, ab Dezember bis Januar 1945 an der Grenze zu Frankreich in La Plaine bei Genf den militärischen Hilfsdienst ableisten. Die erste Publikation des kleinen Textes Der Alte in der Berner Tageszeitung »Der Bund« beflügelte dann seine Arbeit an den weiteren Erzählungen Das Bild des Sisyphos, Der Theaterdirektor, Der Hund sowie am Drama Es steht geschrieben.
Szenenansicht Es steht geschrieben, Zürich, 1 946/47
Familie und Schriftstellerdasein
Als Dürrenmatt die Schauspielerin Lotti Geissler kennenlernte, entschied er sich für die Laufbahn als freier Schriftsteller. Er brach sein Studium ab und heiratete. Das junge Paar zog nach Schernelz am Bielersee in eine kleine Wohnung der Schwiegermutter Cécile Falb, wo Dürrenmatt sogleich die Wände bemalte. Die Familie, die bald Nachwuchs erhielt (1947 Sohn Peter, 1949 Tochter Ruth, 1951 Tochter Barbara), lebte in sehr beengten Verhältnissen. Um den Unterhalt zu finanzieren, musste Dürrenmatt das Schreiben von Theaterkritiken übernehmen. Die Uraufführung des Dramas Es steht geschrieben am Schauspielhaus Zürich unter der Regie von Kurt Horwitz im April 1947 war ein Theaterskandal, brachte Dürrenmatt aber einen anerkennenden Brief Max Frischs und dessen jahrzehntelange Freundschaft ein. Immerhin bekam er für den Erstling den Preis der »Welti-Stiftung für das Drama«. Für Schriftsteller gab es in den frühen Nachkriegsjahren nur zwei einträgliche Verdienstquellen: Rundfunkarbeiten und Unterhaltungsliteratur. Insbesondere die Honorare, die deutsche Rundfunkanstalten für Hörspiele bezahlten, waren heiß begehrt. Obwohl er persönlich von dieser Kunstform nicht viel hielt, war er sich nicht zu schade, eine Reihe von erfolgreichen Hörspielen zu liefern. Einige von ihnen hat er später für die Bühne bearbeitet, die er als die höhere Kunstform betrachtete. Ähnliches galt für den Kriminalroman, der eindeutig zum Unterhaltungsgenre zählte. Jedenfalls hatte er keine Probleme, Kriminalromane zu schreiben, ‚Kunst da zu tun‘, »wo sie niemand vermutet« (30, 71f.). Freilich dürfte der Kriminalroman Dürrenmatt auch thematisch entgegengekommen sein, weil sich in ihm sein Generalthema – die Schuld des Einzelnen und die Wiederherstellung der Gerechtigkeit – auf spannende Weise gestalten ließ.
Religion
In seiner lebenslangen Beschäftigung mit der Religion und dem Christentum spiegelt sich Dürrenmatts eigene Auseinandersetzung mit der Welt des Vaters. Christliche Themen bildeten von früh an die Folie zu Dürrenmatts Schriftstellerei, mit christlichen Themen und Motiven hat er sich bis in die Spätzeit beschäftigt. Zur Loslösung von der Vaterwelt gehörte auch deren geistige ‚Überwindung‘. Von der frühen Auseinandersetzung mit christlichen Argumenten zeugt seine Positionsbestimmung (im Brief vom 7. Februar 1948) gegenüber dem Katholiken Kurt Horwitz, der ihn zu bekehren versucht hatte. Darin bekannte sich Dürrenmatt zum Protestantismus, obwohl er grundsätzliche Bedenken gegenüber der die Kirche sprengenden Reformation hatte. Er konzedierte zwar, der Protestantismus sei eine »abtrünnige Kirche«, hielt aber für seine Person entschieden an ihm fest: »Ich bin Protestant. Um dieses Wort in seiner ganzen Tragweite zu belassen: Ich bin eine Folge dessen, was der Protestantismus seinem Wesen nach ist, eine Folge des Abfalls.« Die aus diesem Abfall entstandene »geschichtliche Wirklichkeit« sei nicht mehr revidierbar, und so bleibe dem Protestanten »nur die Hoffnung aber nicht die Gewissheit«, »Gnade zu finden« (zit. nach R, 304-306).
Reformationsdenkmal von Paul Landowski in Genf mit (von li. nach re.) Guillaume Farel, Johannes Calvin, Théodore de Bèze, John Knox, 1909
Arbeit am Durchbruch
Trotz der Uraufführung des Dramas Der Blinde im Stadttheater Basel musste Dürrenmatt weiterhin Brotarbeiten auf sich nehmen und beispielsweise Sketche für das Zürcher »Cabaret Cornichon« verfassen. Er arbeitete verbissen an seinem gigantischen Drama Der Turmbau zu Babel, musste es aber nach vier Akten als unrealisierbar aufgeben – bis auf wenige Überreste hat er die Papiere vernichtet. Die Uraufführung der Komödie Romulus der Große im April 1949 am Stadttheater Basel unter der Regie Ernst Ginsbergs brachte einen beachtlichen Erfolg. Bertolt Brecht bot ihm die Stelle eines Dramaturgen am Berliner Ensemble an. Dürrenmatt lehnte jedoch ab.
Bertolt Brecht, 1954
Während sich mit dem als Fortsetzungsroman im »Schweizerischen Beobachter« erscheinenden Kriminalroman Der Richter und sein Henker endlich auch finanzieller Erfolg einstellte, kam ein unerwarteter gesundheitlicher Rückschlag. Die Diagnose Diabetes veränderte Dürrenmatts Leben. Dennoch musste er weiter schreiben, um den Unterhalt für seine wachsende Familie zu bestreiten. So entstanden ein zweiter Kriminalroman Der Verdacht, Theaterkritiken für »Die Weltwoche« und – im Auftrag deutscher Rundfunkanstalten – verschiedene Hörspiele (Der Prozess um des Esels Schatten, Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen). Das Stück Die Ehe des Herrn Mississippi wurde an den Münchner Kammerspielen unter der Regie von Hans Schweikart mit Erfolg uraufgeführt. Das machte ihn allmählich auch in Deutschland bekannt und das Dramenschreiben lukrativ. So riskierte er – auf Pump – den Erwerb eines Haus in Neuchâtel; Dürrenmatt sollte es bis an sein Lebensende bewohnen. Jetzt knüpfte er auch die Verbindung zum Verleger Peter Schifferli, dem Gründer und Leiter des Arche Verlags, der bis zum Bruch 1979 der Verleger aller seiner Werke wurde.
Blick über das erste Wohnhaus Dürrenmatts in Neuchâtel (nach Umbau durch Mario Botta nun das Centre Dürrenmatt), 2004
Ein weiterer Erfolg war die Premiere des zum Turmbau-Komplex gehörenden Schauspiels Ein Engel kommt nach Babylon im Dezember 1953 an den Münchner Kammerspielen, das der Regisseur Hans Schweikart als Satire inszenierte. Dürrenmatt fühlte sich vom Regisseur missverstanden; kurzzeitig erwog er sogar, keine Theaterstücke mehr zu schreiben. In diesen Jahren arbeitete Dürrenmatt an zahlreichen Projekten nebeneinander (dem satirischen Unterhaltungsroman Grieche sucht Griechin, der Novelle Mondfinsternis, dem Hörspiel und der Erzählung Die Panne). Den eigentlichen Durchbruch als Bühnenautor erlebte er mit der Uraufführung der Tragikomödie Der Besuch der alten Dame im Januar 1956 am Schauspielhaus Zürich, bei der Oskar Wälterlin Regie führte und Therese Giehse die alte Dame spielte. Ein Weltautor war geboren, und in den folgenden Jahren trat das Stück einen Siegeszug über die Bühnen der ganzen Welt an. Dies hatte für Dürrenmatt die erfreuliche Konsequenz, dass seine Geldnöte ein für alle Mal aufhörten und er fortan in bequemem Wohlstand leben konnte.
Schaffensdrang
Eugène Ionescos scherzhaften Rat, hätte er dieses Stück geschrieben, würde er sich zur Ruhe setzen, hat Dürrenmatt nicht befolgt. Vielmehr produzierte er ununterbrochen weiter, und zwar in den unterschiedlichsten Genres. Die Devise hieß: Experimentiere lieber mit vollem Risiko als dich zu wiederholen! So wechselten in seiner Produktion Theaterstück, Hörspiel, Filmtreatment, Roman (Das Versprechen, Justiz) und Erzählung (Mister X macht Ferien). Daneben feilte er ständig an den bereits vorliegenden Stücken und erstellte neue Fassungen – eine Arbeitsweise, die er bis in seine späte Zeit beibehalten hat. Vor allem den jeweiligen Schluss schrieb er ständig – oft noch in der Hauptprobe – um. Nicht alle Projekte waren von Erfolg gekrönt. Zusammen mit dem Komponisten Paul Burkhard erarbeitete er eine Oper, die »Komödie einer Privatbank« Frank der Fünfte; ihre Uraufführung am Schauspielhaus Zürich wurde ein Misserfolg. An den Erfolg der Alten Dame konnte er dann aber mit der 1961 geschriebenen und im Februar 1962 am Schauspielhaus Zürich uraufgeführten Komödie Die Physiker anknüpfen. Das Stück, eine Replik auf die atomare Bedrohung Anfang der sechziger Jahre, wurde in der Spielzeit 1962/63 das meistgespielte deutschsprachige Stück. Die glänzenden Einnahmen erlaubten es Dürrenmatt, im nächsten Jahr ein zweites Haus auf seinem Grundstück in Neuchâtel zu erbauen, zu dem sich in den siebziger Jahren ein drittes Haus gesellte: die ‚Republik Dürrenmatt‘ war geschaffen.
Während die Uraufführung der Komödie Herkules und der Stall des Augias im Schauspielhaus Zürich abermals ein Fehlschlag wurde, gelang ihm mit der Komödie Der Meteor nochmals ein durchschlagender Erfolg. Großen Anteil daran hatte auch Leonard Steckels fulminante Darstellung des Protagonisten Schwitter. Spiegelte sich im Meteor das eigene schriftstellerische Ich, so basierte die Erzählung Der Sturz auf den Eindrücken, die Dürrenmatt während seines Aufenthaltes beim 4. Sowjetischen Schriftstellerkongress in Moskau gewonnen hatte. Dürrenmatt hat sich mit Weltpolitik in fiktionalen Werken auf satirische und ironische Weise auseinandergesetzt; über Israels Lebensrecht äußerte er sich dagegen ernsthaft in mehreren Reden und Essays (Israels Lebensrecht 1967, Zusammenhänge 1974/1976, Nachgedanken 1980).
Schon immer hatte Dürrenmatt es bedauert, über kein eigenes Theater wie Bertolt Brecht zu verfügen. Umso bereitwilliger nahm er die Chance wahr, die sich ihm bot, als er im August 1968 zusammen mit Werner Düggelin die Ko-Direktion an den Basler Theatern übernehmen konnte. »Das erste Jahr mit Düggelin war meine schönste Theaterzeit überhaupt«, hat er im Rückblick bekannt (Gespräche 2, 228). Mit großem Engagement stürzte er sich in diese aufreibende Arbeit, erstellte eigene Bearbeitungen von Werken Shakespeares (König Johann) und Strindbergs (Play Strindberg), kümmerte sich um praktische Theaterarbeit und übernahm obendrein die Mitherausgeberschaft der neuen Züricher Wochenzeitung »Sonntags-Journal« (bis 1971).
Herzinfarkt und Rückschau
Kein Wunder, dass diese nervenzehrende Tätigkeit in einem Herzinfarkt 1969 mündete. Der Warnschuss ließ ihn innehalten und führte ihn dazu, Rückschau auf das eigene Leben und Schreiben zu halten. Hier liegen die Anfänge seiner Autobiografie Stoffe – Geschichte meiner Schriftstellerei. Die angehäuften Probleme und Emotionen entluden sich während einer Pressekonferenz im Oktober 1969, auf der Dürrenmatt die praktische Theaterarbeit am Basler Theater Knall auf Fall hinwarf. In seiner Rechenschaft Mein Rücktritt von den Basler Theatern zittert noch die Emotion nach (30, 155–161).
Von der Theaterarbeit zur Prosa
Das Schauspielhaus in Zürich konnte kein Ersatz dafür sein. Dürrenmatt wurde in den Verwaltungsrat des Zürcher Schauspielhauses berufen und lieferte Textbearbeitungen (Urfaust, Woyzeck, Emilia Galotti; Porträt eines Planeten), doch das Angebot, Direktor des Zürcher Schauspielhauses zu werden, lehnte er wohlüberlegt ab. Dort erlebte er auch das größte Debakel seiner Theaterlaufbahn: den Durchfall seines neuen Stücks Der Mitmacher, bei dem er in letzter Minute selbst die Regie übernommen hatte. Die Frustration über diesen Misserfolg kompensierte Dürrenmatt zwar, indem er sich zeichnerischen Projekten zuwandte, doch schien sich die Mitmacher-Krise zu einer Schreibkrise auszuwachsen. Obendrein hat Dürrenmatt seinen Entschluss, sich definitiv vom Theater zurückzuziehen, immer wieder selbst durchbrochen. Dennoch ist es unverkennbar, dass er sich in der zweiten Lebenshälfte verstärkt der erzählenden Prosa zugewandt hat. Das mag auch aus der Erkenntnis heraus geschehen sein, dass sein Theatermodell in den siebziger Jahren nicht mehr gefragt war, so wenig wie das Lehrtheater Brechts. Die Verfechter des Regietheaters und des Ausstattungstheaters, die das Gewicht auf die Inszenierung legten, konnten mit seinem Modell eines ‚Gegenwelten‘ entwerfenden Theaters nichts mehr anfangen.
Zahlreiche zeitgenössische Betrachter sahen in dem nach der Mitmacher-Krise entstandenen Werk nur eine Verlängerung dieser Krise, die sich in ständigen Rechtfertigungen bekundete, und erkannten statt neuer Themen nur Wiederaufnahmen und Variationen älterer Stoffe und Motive. Die neuere Forschung sieht diese Spätphase anders und sucht ihrer Komplexität gerecht zu werden. Von einem Versiegen der erfinderischen Kraft zu sprechen, dürfte übertrieben sein. Richtig ist, dass Dürrenmatt auf ältere Projekte zurückgriff. Dies lässt sich aber auch als Ausdruck einer verstärkt einsetzenden Selbstreflexion interpretieren. Dabei muss man nicht gleich den Tonfall der Schweizer Bewunderer annehmen und wie Peter Rüedi die Altersprosa Dürrenmatts als »veritables Wunder« preisen (Rüedi 2004, S. 304). Aber doch gilt es anzuerkennen, dass Dürrenmatt es vermochte, »sich in seiner späten Prosa am eigenen Schopf aus dem ihn niederziehenden Sumpf der ungünstigen Verhältnisse« zu ziehen (R, 706).
Persönliche Umbrüche
In den späten Jahre entstanden zahlreiche Reden über Literatur (Büchner, Schiller), über Politik (Über Toleranz), über Naturwissenschaft (Albert Einstein) und über die Schweiz. Oft geschah dies aus Anlass der eigenen Ehrung, der Feier eines runden Geburtstags oder der Verleihung eines Doktorhuts oder einer Ehrenmedaille. Auf der Bühne hingegen waren die neuen Stücke (Die Frist 1977; Achterloo 1983) nur noch eine Randerscheinung. Hinzu kam ein privates Unglück: Im Januar 1983 starb Dürrenmatts Frau Lotti. Aus der Depression, in die der auf seine Frau stark angewiesene Autor fiel, rettete ihn die Bekanntschaft mit der Journalistin Charlotte Kerr. Er heiratete sie im Mai des folgenden Jahres. Sie sorgte dafür, dass Dürrenmatt liegen gebliebene Arbeiten fertig stellte und neue Projekte in Angriff nahm.
Dürrenmatt und die Schweiz
Dürrenmatt hat nie außerhalb der Schweiz gelebt, sie war sein Zuhause. Das heißt aber nicht, dass er ausschließlich ein »Nesthocker« war. Auch wenn er nicht aus Begeisterung reiste und obendrein durch seine Diabetes eingeschränkt war, hat er doch zahlreiche und auch große Reisen unternommen. Dazu gehörten Dienstreisen, also Reisen, um Reden vor bestimmten politischen oder literarischen Foren zu halten, um Ehrungen und Preise entgegenzunehmen oder zu bestimmten Aufführungen seiner Stücke. Sie waren zahlreich und führten in europäische Länder, in die Sowjetunion, in den Vorderen Orient und in die USA. So absolvierte Dürrenmatt zwischen November 1969 und Januar 1970 eine große Reise in die USA (Philadelphia, Florida, New York), nach Mexiko (Maya-Ausgrabungsstätten in Yukatan) und in die Karibik (Karibische Inseln, nach Jamaika, Puerto Rico). An der Temple University, Philadelphia, erhielt er im November den Ehrendoktor verliehen. Auf dieser Reise entstanden die kritischen Sätze aus Amerika. Von März bis Juni 1981 war er ‚Writer in Residence‘ an der University of Southern California in Los Angeles.
Reisen
In der zweiten Ehe mit Charlotte Kerr kamen zahlreiche touristische Reisen hinzu, nach Schweden, Frankreich, Italien, Spanien, Ägypten und Südamerika. Dürrenmatt war kein Reiseschriftsteller. Er hat keine Reisetagebücher geführt oder Reiseberichte verfasst. Immerhin haben verschiedene Reisen ihn zu Glossen und Essays, aber auch zu Zeichnungen inspiriert, die von spontaner Kreativität zeugen. Ein hübsches Beispiel ist die Skizze der Inka-Stätte Sacsayhuamán bei Cusco (DM, S. 173). Bei genauem Betrachten lässt sich erkennen, dass Dürrenmatt den Felsblöcken anthropomorphe Züge verleiht. Unversehens verwandelt sich die Zyklopenmauer in eine Front wehrhafter Giganten.
Friedrich Dürrenmatt: Skizze der Inka-Stätte Sacsayhuamán, Peru, Filzstiftzeichnung, 1984
Die Aktivitäten als Essayist und viel gefragter Redner dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Dürrenmatt auch als Prosaautor keine durchschlagenden Erfolge mehr hatte: Weder der nach Jahren erneut aufgegriffene und mit Mühe beendete Kriminalroman Justiz (1985) noch der satirische Roman Durcheinandertal (1989) vermochten die Kritik zu überzeugen oder große Publikumserfolge zu werden. Allzu verklausuliert und oft mit äußerster Knappheit sind die Handlungsverläufe geschildert, ohne rechte Liebe zum Detail und vielleicht auch zu experimentell. Die mit eigenen Zeichnungen versehene Prosaballade Minotaurus ist ein solches Beispiel, ebenso die Novelle Der Auftrag, die ursprünglich als Treatment für ein Filmprojekt Charlotte Kerrs bestimmt war, schließlich auch die letzte Arbeit, der gattungsmäßig schwer einzuordnende Text Midas oder Die schwarze Leinwand. Den größten Erfolg hatte er mit seiner originellen Autobiografie Stoffe, die sich im Rückblick als das Hauptwerk seiner späten Jahre erweist, auch wenn sie nicht zu einem Abschluss gekommen ist. Hier halten sich Anschauung und Reflexion einigermaßen die Waage.
Letztes Lebensjahr
Das letzte Jahr war gekennzeichnet von reger Tätigkeit. Im Frühjahr reiste Dürrenmatt nach Polen, besichtigte Warschau und Krakau und besuchte die KZ-Gedenkstätten von Auschwitz und Birkenau. Immer noch hatte er Lust an der Provokation. Im November hielt er die Rede Die Schweiz – ein Gefängnis anlässlich der Verleihung des Gottlieb-Duttweiler-Preises an den tschechischen Präsidenten Václav Havel in Rüschlikon bei Zürich und erntete damit blanke Häme. Im selben Monat hielt er in Berlin die Laudatio Die Hoffnung, uns am eigenen Schopfe aus dem Untergang zu ziehen auf den sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow, den Begründer von »Perestroika« (Umgestaltung) und »Glasnost« (Informationsfreiheit). Im Vorfeld des siebzigsten Geburtstags erschien der Sammelband Herkules und Atlas. Lobreden und andere Versuche über Friedrich Dürrenmatt bei Diogenes.
Als Dürrenmatt am 14. Dezember 1990 völlig unerwartet an Herzversagen starb, war die Welt auf die Feier seines siebzigsten Geburtstags eingestellt. Ein Skeptiker und zuweilen ein Zyniker, ein philosophischer Weintrinker und todesbewusster Lebensgenießer, ein süffisanter Provokateur und ein anregender Plauderer hatte sich von der Bühne Welt verabschiedet. Im Grund hatte er den feierlaunigen Mitmenschen wieder ein Schnippchen geschlagen. Für das Überleben seines Ruhms hatte er freilich noch selbst gesorgt, indem er seinen literarischen Nachlass der Schweizerischen Eidgenossenschaft vermachte – unter der Bedingung, dass ein Schweizerisches Literaturarchiv eingerichtet wurde, das auch die Pflege seines eigenen Werks gewährleistete. Er mochte sich selbst wie ein Meteor vorgekommen sein, eingeschlagen in das ernsthafte irdische Getriebe, das er selbst gar nicht immer so ernst genommen hatte. Von seiner Souveränität zeugt, dass er sein von Krankheiten überschattetes Leben heiteren Sinnes gemeistert hat. Sein Diktum, er habe nicht für die Therapie, lediglich für die Diagnose einer einigermaßen heillosen Welt zu sorgen, hat er schriftstellerisch auf launige Weise umgesetzt. Von welchem Schriftsteller des 20. Jahrhunderts ließe sich dies noch sagen?
Dürrenmatts Werk bietet nach wie vor viele Anregungen für den, der Thesen, Reflexionen und Denkspiele schätzt, literarisches Schachspiel gewissermaßen (Der Schachspieler hieß auch seine wohl letzte, posthum in der FAZ vom 5.9.1998 publizierte Erzählung). Es ist eine Fundgrube von Erkenntnissen, Fragestellungen, Zweifeln und ein eindrucksvolles Zeugnis misstrauischer Skepsis.
Rede von Friedrich Dürrenmatt anlässlich der Verleihung des Gottlieb-Duttweiler-Preises an den tschechischen Präsidenten Václav Havel im November 1990 (Auszug)
Walter Jonas: Himalaya, 1951
IV.Voraussetzungen, Themen, Schreib-Aspekte
1. Ausgangspositionen eines Autors