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Nachwort
Impressum


Dunkles
Verlangen
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Stefanie Zeller

Lieber Leser,
vor drei Monaten traf ich Rule Turner das erste Mal. Dabei kommt es mir vor, als sei es schon viel länger her. Ich könnte jetzt ganz schnulzig behaupten, mein Leben habe erst begonnen, als sich unsere Blicke in dieser Nacht im Club Hell trafen. Aber dann würde ich lügen. Auch bevor ich Rule kennenlernte, hatte ich ein Leben – mit Höhen und Tiefen und sicher nicht perfekt, aber ein Leben.
Doch jetzt ist in meinem Leben fast nichts mehr so, wie es einmal war. Deswegen fühlt es sich auch so an, als wäre sehr viel mehr Zeit vergangen als drei Monate.
Früher war ich bei der Mordkommission. Ich wollte nie etwas anderes tun – zumindest nicht, seit ich im Alter von acht Jahren herausgefunden hatte, dass es Monster wirklich gibt und dass sie aussehen wie du und ich. Jetzt arbeite ich für das FBI, in der Einheit 12 der MCD – das ist die Magical Crimes Division –, und ich bin auf Lebenszeit an den Prinz des Clans der Nokolai gebunden.
Vor zwei Monaten ermittelte ich in einem Mordfall, dem ersten an der Westküste seit Jahrzehnten, in dem ein Werwolf der Täter war – Pardon, ein Lupus. Zuerst sah es so aus, als wäre Rule Turner mein Hauptverdächtiger, aber sehr schnell wusste ich, dass er es nicht gewesen sein konnte. Doch es dauerte eine Weile, bis ich herausfand, wer wirklich dahintersteckte. Eine verrückte Telepathin, ein charismatischer Sektenführer und eine uralte Möchtegerngöttin hatten sich zusammengetan, um alle Lupi in den Vereinigten Staaten zu vernichten, und es war ihnen egal, ob bei ihrem Versuch, das Land zu übernehmen, auch ein paar Menschen dran glauben mussten.
Wir haben sie aufgehalten. Mit „wir“ meine ich Rule und mich und ein paar andere, wie meine Großmutter – die dann nach China gereist ist, um dort eine Art persönliche Pilgerreise zu unternehmen. Was mir gar nicht behagt. Eine Woche, bevor ich (buchstäblich) durch die Hölle ging, brach sie auf.
Denn ich tötete die Telepathin. Da sie ihrerseits alles darangesetzt hatte, mich zu töten, hatte ich keine andere Wahl. Aber dem Sektenführer gelang die Flucht, und mit ihm verschwand ihr Stab. Dieser Stab war an die Göttin gebunden, die wir nicht beim Namen nennen. Also galt es jetzt, den Stab zu finden und ihn zu zerstören, und dazu mussten wir erst einmal Harlowe, den Sektenführer, ausfindig machen.
Wir fanden ihn, aber die Geschichte nahm keine gute Wendung. Harlowe starb, zusammen mit einigen anderen. Ich wurde in zwei Hälften geteilt, und eine Hälfte von mir wurde in die Dämonenwelt geschleudert.
Und mit mir zusammen auch Rule. Na ja, mit dieser Hälfte von mir.
Verlangen Sie nicht von mir, dass ich Ihnen erkläre, wie das möglich ist. Vielleicht könnte es Cullen – Rules Freund, der Zauberer –, aber ich würde Ihnen nicht raten, ihn darum zu bitten. Der Mann sieht aus wie die leibhaftige Sünde, aber wenn er anfängt, von Ritualen und Zaubersprüchen zu reden, hört er sich an wie ein verrückter Professor.
Danach wurde alles sehr verwirrend. Weder die eine noch die andere Hälfte wusste, dass es die jeweils andere gab. Die Hälfte, die in der Hölle war – oder in Dis, wie die dort Lebenden den Ort nennen –, hatte keine Erinnerungen mehr. Sie hatte Rule an ihrer Seite, doch der war in seiner Wolfsgestalt gefangen. Der Teil von mir, der noch auf der Erde war, wusste wegen des Bandes der Gefährten, dass Rule am Leben war, doch es war gar nicht so einfach, ihn zu finden. Schließlich gelang es einigen der Priesterinnen der Lupi – die Rhejs genannt werden – zusammen mit Cullen, ein kleines Höllentor zu öffnen, was fast so kriminell ist wie Massenmord. Durch dieses Tor gingen dann ich, Cullen, Cynna und ein grässlicher Gnom namens Max, um Rule zurückzuholen.
Dis ist in Regionen unterteilt, und jede wird von einem Fürsten oder von einer Fürstin regiert. Die Möchtegerngöttin war in eine dieser Regionen eingedrungen, indem sie ihren Avatar geschickt hatte; einen Avatar müssen Sie sich vorstellen wie ein Gefäß, aus dem das meiste von dem, was die Person ausmacht, ausgegossen wurde, um Platz zu machen für die Göttin – um einen Pakt mit der dort herrschenden Fürstin zu schließen. Doch sie zerstritten sich, und der Dämon fraß den Avatar, verfiel dem Wahnsinn, und plötzlich fanden sich meine beiden Hälften mitten in einem Krieg in der Hölle wieder.
Als sie feststellten, dass es dort Drachen gibt, waren beide Ichs sehr überrascht.
Als nämlich mein anderes Ich und Rule von einem Drachen aufgegriffen wurden, dachten wir zuerst, wir würden nun bald eines nicht allzu schönen Todes sterben. Doch dann stellte sich heraus, dass dieses Zusammentreffen unser Glück gewesen war. Denn der Drache wusste, wie wir wieder zurück in unsere Welt gelangen konnten – ich und mein anderes Ich natürlich und alle anderen –, zusammen mit ihm und zwanzig seiner riesigen, wunderschönen und lebensgefährlichen Freunde.
Ganz unversehrt sind wir nicht aus der Hölle entkommen. Die Behörden taten einfach so, als sei es unmöglich, ein Höllentor zu öffnen. Deswegen bekamen wir also keinen Ärger. Und darüber hinaus verschwand das Höllentor, sobald wir zurückgekehrt waren. Aber Rule wäre fast gestorben, und ich … ich kenne jetzt Dinge, von denen ich nie geglaubt hätte, dass sie möglich sind. Der Tod ist nicht so absolut, wie ich immer geglaubt habe.
Und die Drachen? Sie verschwanden so spurlos, dass manche Leute von einem Marketinggag für einen Film sprachen. Immerhin geschah das alles in Kalifornien.
Das nun ist die Geschichte von dem, was passiert ist, nachdem wir alle nach Hause zurückgekehrt sind – ungefähr so wie Dorothy und Co. aus dem Zauberer von Oz. Ich wette, Sie glauben, dass nach ihrer Rückkehr für Dorothy und ihre Freunde eitel Sonnenschein geherrscht hat.
Aber vergessen Sie nicht: In Kansas ist man auch nicht sicherer als in Oz. Schließlich hat dort der Tornado zugeschlagen.
Lily Yu
Prolog
20. Dezember, 02.52 Uhr (GMT)
Ein Stück außerhalb von Miller’s Dale in Derbyshire schlichen sich zwei angehende Naturforscherinnen aus dem Cottage, in dem sie wohnten. Natürlich durften Julie und Marnie nachts das Haus eigentlich nicht verlassen, aber sie hofften, dass ihre Mutter es nicht erfahren würde. Wenn sie mit den „Mädels“ aus gewesen war, schlief sie immer besonders tief. Heute Nacht hatten sie vor, die beiden Mustela erminea zu finden, die sie gestern gesehen hatten, und sie zu fotografieren.
Marnie zumindest war überzeugt, dass es Hermelinspuren gewesen waren. Aber zu ihrem Ärger wies Julie ihre Schwester immer wieder darauf hin, dass sie ebenso gut von einem Mustela nivalis stammen konnten – dem des Lateinischen nicht Mächtigen auch als das Gemeine Wiesel bekannt. Beide hatten fünf Zehen und waren nachtaktiv, aber man konnte Wiesel auch tagsüber finden.
Und sie hatten auch ein weißes Fellbüschel entdeckt. „Das könnte von einem Hasen stammen“, sagte Julie zum fünften oder sechsten Mal.
„Das war kein Hasenfell.“
„Woher weißt du das?“
„Ich weiß es einfach.“ Im Stillen musste Marnie sich eingestehen, dass sie es nicht mit Sicherheit wusste, aber es wäre einfach zu schön, wenn sie den schönen Verwandten des Wiesels in seinem weißen Pelz aufspüren würden.
Möglich wäre es. Hermeline waren nicht so selten, und Millers Dale war nicht nur mit einem oder zwei, nein gleich mit drei Naturschutzgebieten in der Nähe gesegnet: Priestcliffe Lees und Station Quarry, die beide dem Derbyshire Naturalists’ Trust, dem Bund der Naturforscher von Derbyshire, gehörten, und Monk’s Dale, dem staatlichen Naturschutzgebiet. Die ganze Gegend, der sogenannte Peak District, war mit Wanderwegen verseucht und wimmelte nur so von Touristen und anderen Schädlingen.
Jetzt aber waren keine Wanderer unterwegs. Der goldene Mond stand tief am Horizont wie ein pummeliger Kobold. Bald würden sie Vollmond haben. In dem hellen Licht hatten die Mädchen keine Mühe, ihren Weg auf dem Pfad zu finden, der am River Wye entlangführte. Ihr Atem stieg blass auf in der stillen Luft. Marnie stopfte die Hände in die Taschen und spürte ihre sperrige neue Nikon. Sie hatte fast hundert Bilder geschossen, nur um die richtige Belichtungszeit, die richtige Blende und den richtigen ISO-Wert für Nachtaufnahmen herauszufinden. Sie hatte alles vorher eingestellt. Sollten sie tatsächlich einen Hermelin sehen, musste sie nur noch auf den Auslöser drücken.
Doch manchmal kommt es anders als geplant. Die Mädchen hatte erst die Hälfte des Gebietes durchstreift, in dem sie die Spuren ausgemacht hatten, als sie ein sanftes Schimmern bemerkten. Es kam aus einem kleinen Wäldchen zu ihrer Linken.
„Irgendein Dummkopf hat ein Feuer brennen lassen“, sagte Julie.
„Vielleicht.“ Licht flackert nicht wie ein Feuer. „Sieht eher aus wie eine Taschenlampe.“
„Es bewegt sich nicht, oder? Los, lass uns mal nachschauen.“
Marnie hüpfte von einem Fuß auf den anderen. Am liebsten hätte sie weiter nach dem Hermelin gesucht … aber wenn das Licht tatsächlich von einem verlassenen Lagerfeuer herrührte, musste es gelöscht werden. „Na gut. Aber sei leise, vielleicht sind es Teenager.“
Die Mädchen waren geübt darin, sich leise zu bewegen, damit sie nicht wilde Tiere aufschreckten, aber unter den Bäumen war es sehr viel dunkler. Trotzdem erreichten sie die kleine runde Lichtung in der Mitte des Wäldchens, ohne allzu viele Geräusche zu machen. Dann aber blieben sie wie angewurzelt stehen … und gingen gleich darauf hinter einem Baum in Deckung.
In dem Feenring waren Feen.
Zumindest dachte Marnie, dass es Feen seien, obwohl niemand mehr eine Fee gesehen hatte seit … nun, seit einer Ewigkeit. Aber sie waren klein, so klein, dass sie ihr wohl im Stehen kaum bis zum Knie gereicht hätten … wenn sie gestanden hätten. Und sie hatten große, wirklich sehr große Schmetterlingsflügel. Und sie schimmerten hell. Die wunderschönen blassen kleinen Körper strahlten ein sanftes Licht aus, als bestünden sie aus Leuchtdioden.
Was sie sehr deutlich sehen konnten, weil sie nämlich nackt waren. Und sie machten … nun, sie hatte schon gesehen, wie Tiere es taten, aber nicht Wesen, die so sehr aussahen wie richtige Menschen.
Marnie zerrte ihre Kamera aus der Tasche und schaltete sie ein. Sie drückte auf den Auslöser und schickte ein Gebet gen Himmel. Dann knipste sie noch einmal. Und noch einmal.
„Sie haben Sex!“, flüsterte Julie schockiert.
Marnie kniff sie, um sie zum Schweigen zu bringen, aber es war schon zu spät. Eine von den Feen – eine Frau mit gelben Flügeln, auf denen große braune Punkte waren – hielt inne bei dem, was sie gerade mit dem Mann mit den rötlichen Flügeln tat. Sie sagte etwas, sehr schnell.
Marnie staunte. Die kleine Fee hatte Zähne. Spitze Zähne, wie eine Katze.
Ein paar von den anderen lachten. Eine zwitscherte noch ein paar Worte, dann sahen sie sich alle erschrocken um. Ein klitzekleiner Mann mit blauen Flügeln schrie auf und zeigte auf den Baum, hinter dem Marnie und Julie sich versteckten.
Die größte Frau, eine schlanke Rothaarige mit Flügeln, deren Farbe an die Abenddämmerung erinnerte, hob die Hände über den Kopf. Mit scharfer Stimme, als befehle sie jemandem etwas, rief sie ein paar Worte. Sie war laut, lauter, als man es von jemand so Kleinem erwartet hätte. Sie ballte die winzigen Hände zu Fäusten.
Dann waren sie auf einmal alle verschwunden, und es wurde dunkel unter den Bäumen.
Die Mädchen bekamen Schelte, weil sie sich aus dem Haus geschlichen hatten, aber das machte ihnen nichts aus. Marnie verkaufte ihre Fotos an das Lokalblatt und anschließend an einen Nachrichtendienst. Und irgendwann verzieh sie ihrer Schwester, dass diese ihren großen Mund aufgemacht und die Feen verschreckt hatte.
19. Dezember, 20.52 Uhr (Ortszeit)
20. Dezember, 02.52 Uhr (GMT)
Los Lobos hockte gefährlich nah am Rand der bergigen Küste von Michoacán in Mexiko, wo die Bergspitzen der Sierra Madre del Sur sich so eng zusammendrängten, dass es aussah, als müssten sie in den Pazifik stürzen. Der winzige Pueblo erstreckte sich zu beiden Seiten an einer der wenigen holprigen Straßen, die in die Berge führten – wie eine Schlange, die ihre Asphalthaut nach sieben Kilometern abstieß und sich dann erleichtert ins schützende Dämmerlicht wand. Auf den Schotterweg, der von dort aus weiterführte, wagten sich nur Esel oder Leute, denen der Unterboden ihres Fahrzeugs nicht am Herzen lag.
Es gab keinen Gasthof und kein Hotel im Dorf, aber Señora de Pedrosa, die Witwe des alten Enrique, hatte ein freies Schlafzimmer, nachdem sie erst einmal den drittältesten Enkel vor die Tür gesetzt hatte – denn der würde es auch ein paar Tage bei seinem Bruder und seiner Schwägerin aushalten. Das Zimmer hatte sie an einen Fremden vermietet, der jetzt dort schlief – und von der Dunkelheit träumte.
Cullen fuhr aus dem Schlaf hoch. Einen Moment lang wusste er weder, wo er war, noch ob es Tag war oder Nacht, aber er nahm Licht wahr. Er konnte sehen.
Nicht, dass es viel zu sehen gegeben hätte. Der Schlaf hatte ihn übermannt, während er an dem kleinen Tisch saß, den seine Vermieterin ihm großzügig überlassen hatte. Den Kopf auf den Armen, war er eingenickt.
Was für ein langweiliger Traum. Doch nicht so langweilig wie der neulich. Er hatte gehofft, dass er nicht mehr aus seinem Unterbewusstsein hochsteigen würde, nun, da er ein Nokolai war, aber offenbar war ihm dieses Glück nicht vergönnt.
Cullen richtete sich auf, rieb sich mit beiden Handflächen über das Gesicht und drehte sich in der Taille, um seine Wirbelsäule zu lockern. Anscheinend gingen die durchwachten Nächte und die Wanderungen durch den Dschungel nicht spurlos an ihm vorbei. Wie viel Uhr war es eigentlich?
Er nahm das Telefon, das, weitab von irgendeinem Funkturm, eher eine Uhr war als ein Kommunikationsmittel. Das leuchtende Display informierte ihn darüber, dass jetzt eigentlich nicht die rechte Zeit zum Schlafen war. Nun, jetzt war er wach.
Was hatte ihn aufgeweckt?
Er runzelte die Stirn. Der Traum? Aber bis jetzt war er nie aufgewacht von diesem Traum. Er horchte, schnüffelte, aber er hörte oder roch nichts Ungewöhnliches …
Dann spürte er es wieder. Etwas kitzelte an seinen Schutzschilden, sanft wie eine Feder.
Instinktiv zog er sie enger. Was zum Teufel …?
Dann lächelte er. Natürlich. Jemand hatte ihn bemerkt und versuchte nun, ihn abzuwehren. Wer sonst könnte es sein als die, die er suchte?
Seine Hand fuhr zur Brust, wo die längere seiner beiden Halsketten baumelte. Er öffnete den Beutel – Leder, mit Seide bezogen – und leerte ihn aus. Einen Augenblick lang drehte er den Gegenstand zwischen seinen Fingern, genoss das Gefühl.
Er war hart und glatt wie Glas und hatte die Form eines großen Blütenblatts. Die Ränder waren so scharf, dass er ihn nur ganz vorsichtig anfasste. Im Tageslicht, das wusste er, würde er dunkelgrau schillern, als wäre er mit öligem Wasser überzogen. Aber jetzt konnten seine Augen ihn kaum ausmachen.
Doch Cullen war nicht nur auf seine Augen angewiesen, um zu sehen. Und die Blendung, die man ihm kürzlich zugefügt hatte, die aber inzwischen verheilt war, hatte seinen anderen Blick nur noch schärfer gemacht. Mit diesem Blick sah er Farben, lebendige, leuchtende Farben. Blau für Wasser, Silber für Luft, Braun für Erde. Rote, gelbe, grüne Funken – alle Farben der Magie tanzten durcheinander. Aber darunter … unter all diesen Farben lag tiefstes Purpur, so dunkel, dass es fast schwarz war.
Purpur, die Farbe der Andersblütigen. Was er in den Händen hielt, stammte von der ältesten magischen Art, von der, die reiner war als alle anderen. Möglicherweise, dachte Cullen, als er jetzt mit dem Daumen darüberstrich, hatte seit vier- oder fünfhundert Jahren niemand mehr so etwas in der Hand gehalten.
Eine Drachenschuppe, erst vor so kurzer Zeit von ihrem Besitzer abgestoßen, dass seine Magie darin noch lebendig war.
Ein Drache, der vielleicht auf der Suche nach Cullen war, so wie Cullen auf der Suche nach ihm war – wenn auch aus anderen Gründen. Er grinste in der Dunkelheit, während sich seine Hand um die scharfen Kanten seines Schatzes schloss.
20. Dezember, 10.52 Uhr (Ortszeit)
20. Dezember, 02.52 Uhr (GMT)
Achtzig Kilometer außerhalb von Chengdu in der Provinz von Sichuan, China, erklomm eine alte Frau einen Berg, einen recht niedrigen Berg, zugegebenermaßen, obwohl der Pfad steil anstieg. Im Winter nahmen nur wenige diesen Pfad, aber heute fiel kein Schnee. Die Sonne stand am Himmel wie ein glänzender Kiesel.
Sie war nicht allein. Fünf weitere Menschen folgten ihr in einigem Abstand. Vielleicht waren sie nicht so versessen darauf wie sie, den taoistischen Tempel am Ende des Pfades zu erreichen. Die Kälte verärgerte Madam Li Lei Yu, denn sie zeigte ihr, dass sie älter wurde und einmal sterben würde. Auf der anderen Seite jedoch hatte sie diese Pilgerreise eben gerade deswegen unternommen, sowohl diese Wanderung den verdammten Berg hinauf als auch die Reise zurück in ihr Heimatland.
Nachdem sie in Chengdu angekommen war, hatte sie erfahren, dass der Mann, wegen dem sie gekommen war – ein Mönch –, letztes Jahr gestorben war. Sie war böse auf An Du. Hätte er damit nicht noch ein bisschen warten können? Zwar würde sie jetzt sein Grab besuchen, aber sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie es am liebsten so schnell wie möglich hinter sich gebracht hätte.
Als es passierte, war sie noch sechshundert Meter vom Gipfel entfernt und nicht mehr in Sichtweite der anderen. Es war kein Schwindelanfall, obgleich sie nicht mehr wusste, wo oben und unten war. Sie wurde nicht blind oder taub, obwohl ihr grau vor Augen wurde und ihr Gehör schwand. Etwas Starkes und Fremdes fegte durch sie durch, blies ihre Sinne aus wie Kerzen und ließ sie durch die Realität gleiten wie auf Eis.
Als sie auf dem Rücken liegend wieder zu sich kam, schien die Sonne immer noch, ihre Begleiter waren immer noch hinter der Wegbiegung, und auf ihren Lippen lag ein Name, der seit vierhundert Jahren nicht mehr laut ausgesprochen worden war.
Auch jetzt sprach Li Lei den Namen nicht aus. Aber er klang in ihrem Inneren und sprach von einer Zukunft voller Schrecken und Freude, Erinnerung und Wandel. Einige Atemzüge lang rührte sie sich nicht und wartete darauf, dass ihr Herz seinen regelmäßigen Schlag wieder aufnahm. Und darauf, dass sie begriff, was geschehen war und was es bedeutete.
„Dann“, flüsterte sie, „ist er also zurückgekommen.“
Und wie lange war er schon zurück, bevor der Wind durch sie hindurchgeweht war und seinen Namen geflüstert hatte? Ihr Blick verfinsterte sich.
Als sich Stimmen näherten, stand sie auf. Sie zuckte zusammen – es sah ja schließlich keiner –, weil ihre Hüfte schmerzte. Es hatte eine Zeit gegeben, als ein kleiner Sturz wie dieser … nun, das war jetzt nicht wichtig. Sie war alt, und aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte ihr Schöpfer beschlossen, dass Altersschwäche zum Leben dazugehörte. Wenn man damit haderte, wurde es nur noch schlimmer.
Trotzdem brummte sie nun leise vor sich hin, auch wenn es an niemand Bestimmten gerichtet war, als sie den Pfad zurückging.
Die anderen kamen um die Biegung, hinter ihrem Führer. Er war ein kleiner, agiler Mann um die vierzig, dem es gar nicht gefallen hatte, dass sie vorausgelaufen war. Er hatte sogar tatsächlich geglaubt, er könnte sie zurückhalten. Das Ehepaar hinter ihm kam aus Peking, die beiden jungen Männer irgendwo aus Guizhou.
Li Lei Yu wusste nicht, warum die anderen sich gerade heute dazu entschlossen hatten, diesen Berg zu besteigen, und es interessierte sie auch nicht. Ihr Interesse galt einzig und allein einer Person in der Gruppe, einer Frau mittleren Alters, die ganz hinten stand. Sie achtete nicht auf die Fragen und Zurechtweisungen des Führers, als sie sich den Weg zu ihrer Begleiterin bahnte. Li Qins liebes, aber hässliches Gesicht war gelassen wie immer, und ihre Stimme war immer noch so überraschend schön wie damals, als sie sich das erste Mal getroffen hatten. „Haben Sie den Gipfel erreicht und sind nun zurückgekommen, um uns den Weg zu weisen, Madam?“
Das war Li Qins Sinn für Humor. Es war offensichtlich, dass nur ein Weg zum Gipfel hinaufführte. „Ich habe keine Lust mehr, ins Leere zu reden. Das ist zu einseitig. Wir gehen jetzt.“
Gehorsam wandte sich Li Qin um und begann, den Pfad hinunterzugehen. „Gehen wir zum Hotel zurück?“
„Nein. Nach Hause.“
„Ah.“ Schweigend folgte ihr Li Qin.
„Du tust es schon wieder“, murmelte Li Lei. „Das ist sehr unschön.“
„Ich habe nichts gesagt.“
„Du denkst sehr laut.“ Ein paar Minuten lang stiegen sie weiter schweigend bergab, bis sie widerstrebend sagte: „Ich gebe es ja zu. Du hattest recht. China ist nicht länger meine Heimat.“
Sanft antwortete Li Qin: „Das habe ich nicht gesagt.“
Nicht wörtlich, nein. Sie hatte gesagt, dass Li Lei ihrer Ansicht nach in China nicht das finden würde, was sie suchte. Aber es lief auf dasselbe hinaus, denn Li Lei sehnte sich nach Heimat. Nach Heimat und danach, Menschen wiederzusehen, von denen doch so viele schon nicht mehr lebten.
Aber nicht alle. Sie blieb stehen und wandte sich um, um ihrer alten Freundin in die Augen zu sehen. „Ich habe etwas gefunden, nach dem ich nicht gesucht habe. Oder es hat mich gefunden.“ Sie holte langsam Luft und atmete wieder aus. „Die Wende. Die Wende ist gekommen, Li Qin.“
Li Qin sog die Luft ein, so leise, dass selbst Li Leis Ohren das Geräusch kaum vernahmen. Ihre Augen weiteten sich. Sie war nun ganz und gar nicht mehr gelassen.
1
19. Dezember, 09.52 Uhr (Ortszeit)
20. Dezember, 02.52 Uhr (GMT)
Das National Symphony Orchestra hatte mit seiner Aufführung des „Messias“ von Händel um halb neun begonnen, und der Chor brachte gerade das „Halleluja“ zu Ende, als der Tenor sich in einen Wolf verwandelte.
Bis dahin hatte Lily Yu den Abend genossen. Was sie nicht erwartet hatte, nachdem sie die neuesten Informationen über die Ermittlungen erhalten hatte. Und davor hatte sie sich mit der Frage herumschlagen müssen, was sie anziehen sollte. Lily hatte nichts gegen schicke Kleidung. Ihr Schrank zu Hause war gut gefüllt, hauptsächlich mit Jacken für die Arbeit und dergleichen, aber ihre wenigen schicken Sachen hatte sie mitgenommen nach D.C. Der Auftrag erforderte es. Ihr Lieblingskleid aus schwarzer Seide hatte sie also dabei, und was machte es schon, wenn sie es bereits viermal getragen hatte? Mit Schwarz konnte man nichts falsch machen, vor allem wenn das Kleid aussah, als hätte man es ihr auf den Leib geschneidert.
Was auch stimmte. Ihre Kusine Lynn war gerade dabei, sich ein Geschäft als Schneiderin aufzubauen.
Was ihr fehlte, war ein Mantel. Ein schicker Mantel, um genau zu sein. Nur einen Tag, nachdem ihr Flugzeug auf dem Boden von Reagan International Airport aufgesetzt hatte, hatte sie sich bei Land’s End eine Jacke gekauft, aber die konnte sie ja wohl kaum über ihr schwarzes Seidenkleid ziehen.
Lily war nur vorübergehend in Washington, D.C. Tagsüber besuchte sie Spezialkurse beim FBI im nahe gelegenen Quantico, und abends ging sie auf Partys. Die Partys waren Arbeit, kein Vergnügen. Sie war jetzt zwar FBI-Agentin, Mitglied der geheimnisvollen Einheit Zwölf in der Magical Crimes Division, aber im Moment an den Secret Service „ausgeliehen“ worden. In dem Fall, wegen dem sie hier war, waren dem FBI die Hände gebunden: Ein Dämon hatte einem Kongressabgeordneten einen Handel angeboten.
Und der Abgeordnete hatte es gemeldet. Was andere, denen das Gleiche passiert war – dessen waren sie sich ziemlich sicher –, nicht getan hatten.
Sie mussten unbedingt herausfinden, ob irgendein Kongresstyp oder ein hochgestellter Beamter mit Blut auf der gestrichelten Linie unterschrieben hatte, aber Lily hasste die Rolle, die sie bei den Ermittlungen spielte – vor allem, weil es ihr nicht erlaubt war, wirklich zu ermitteln. Auch mit Informationen war man sehr sparsam umgegangen. Der Secret Service nahm den ersten Teil seines Namens viel zu ernst, und die meisten von ihnen mochten die Unit nicht oder vertrauten ihr nicht.
Viele Leute dachten so über Magie. Das war einer der Gründe, warum Lily ihre eigene Gabe so lange geheim gehalten hatte.
Lily war eine Berührungssensorikerin; ihre Gabe war sehr selten. Magie hatte keine Wirkung auf sie, aber sie spürte sie auf der Haut und war in der Lage, die Art und manchmal auch die Quelle auszumachen. Jahrelang waren Berührungssensoriker dazu benutzt worden, andere, die eine Gabe hatten, und Andersblütige, die unerkannt bleiben wollten, zu outen. Eigentlich sollte die Zeit der Verfolgung nun vorüber sein, aber das Vorurteil verschwand nicht einfach mit den offiziellen Sanktionen.
Lily hatte nie jemanden geoutet. Punkt. Die Arbeit, die sie jetzt für den Secret Service machte, kam dem sehr nah, aber es war etwas anderes, ob man einen Pakt mit einem Dämon schloss und Hexerei ausübte oder ob man sich einmal im Monat in einen Wolf verwandelte. Lily verstand das. Außerdem wollten die da oben nicht, dass irgendetwas von diesen Ermittlungen an die Öffentlichkeit drang, und sie hatte eine perfekte Tarnung für ihre Partybesuche. Rule verbrachte viel Zeit in D.C., wo er für sein Volk Lobbyarbeit machte. Im Moment setzte er – oder vielmehr sein Vater – sich für den Gesetzentwurf zur Bürgerrechtsreform ein. Die Verhandlungen des Ausschusses hatten sich festgefahren, aber es gab noch Hoffnung.
Also hatte sie Hände geschüttelt, gelächelt und dabei einen Berater, ein Mitglied des Repräsentantenhauses und einen hohen Beamten gefunden, auf deren Haut orangefarbene Spuren gewesen waren. Sie waren befragt worden, und obwohl Lily bei diesen Befragungen nicht dabei gewesen war, sah es so aus, als würden sie bald herausfinden, wer den Dämon hierhergebracht hatte, damit der diesen Handel anbieten konnte.
Heute Nachmittag dann hatte man ihr gesagt, dass die Akte geschlossen würde. Der Verdächtige hätte gestanden, indem er sich umgebracht hatte. Er war sogar so umsichtig gewesen, eine Nachricht zu hinterlassen. Nun sah es so aus, als würde sie Weihnachten nach Hause fliegen können.
Eigentlich sollte sie sich darüber freuen. Schade, dass sie selten so fühlte, wie sie eigentlich sollte.
Ihr Zuhause war San Diego, wo das Wetter wenigstens vernünftig war. Dort wurde Wasser nicht fest, es sei denn, man tat es ins Gefrierfach. Und es fiel auch nicht oft vom Himmel, und ganz bestimmt nicht in Form von eisigen Kugeln, wie hier in der letzten Nacht.
Das war ein Schock für sie gewesen. Sie hatte immer gedacht, in Virginia wäre es warm.
Als sie gestern aus Quantico zurückgekommen war, hatte ein Mantel auf ihrem Bett gelegen, ein langer schwarzer Mantel aus einer teuren Mischung aus Wolle, Seide und Kaschmir. Ein außerordentlich warmer und luxuriöser Mantel, an dessen Kragen eine billige rote Schleife steckte … und auf dem ein dicker roter Kater seine Haare verteilte.
Schnell hatte sie Dirty Harry heruntergehoben, sehr zu seinem Missfallen.
Harry war eine von Rules Extravaganzen. Da sie nicht gewusst hatten, wie lange sie in Washington bleiben würden, hatte Rule darauf bestanden, den Flug für den Kater zu bezahlen. Das Komische war, dass er und Harry sich nicht einmal besonders mochten, aber Rule betrachtete Harry als Lilys Familienangehörigen. Also war Harry mit ihnen zusammen in der ersten Klasse geflogen, auch wenn er die Ehre nicht sehr zu würdigen gewusst hatte. Natürlich war er in seiner Tragekiste gewesen und hatte Beruhigungsmittel bekommen – ebenso zu seinem wie zu ihrem Wohl.
„Ich hatte keine Zeit, ihn einzupacken“, hatte Rule gesagt, der hinter ihr ins Zimmer getreten war.
„Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass wir uns unsere Geschenke Heiligabend überreichen und nicht vorher.“ Sie wollte streng klingen, aber die Art, wie sie über den Stoff des Mantels strich, hatte den Eindruck möglicherweise wieder zunichtegemacht.
Seine Mundwinkel hatten gezuckt. „Ich konnte nicht mehr warten. Vergib mir. Mir macht es nichts aus, dich zittern zu sehen und zu hören, wie du dich über das Wetter beschwerst. Daran habe ich mich inzwischen gewöhnt, und deine Lippen sind sehr hübsch, wenn sie blau anlaufen. Aber ich weiß, wie sehr du Verschwendung hasst, und da es so aussieht, als würden wir den großen Tag nun doch in Kalifornien verbringen …“
Sie verdrehte die Augen und brachte ihn mit einem Kuss zum Schweigen. Dann hatte sie ihm die Karten für das heutige Konzert überreicht, ihr eigenes vorgezogenes Weihnachtsgeschenk, sodass sie sich nicht mehr darüber beschweren konnte, dass er mit seinem Geschenk so vorgeprescht war.
Und eigentlich hatte sie sich auch gar nicht beschweren wollen. Der Mantel war wunderschön.
Dieser wunderschöne Mantel lag jetzt, zehn Minuten vor zehn, über ihren Schultern, als das „Halleluja“ seinem Höhepunkt entgegenstrebte. Sie warf einen Blick auf den Mann an ihrer Seite.
Er sah gut aus. Lily begann, sich daran zu gewöhnen. Sie selber hatte sich auch ganz nett zurechtgemacht, aber Rule in einem Smoking war ein echter Hingucker. Das lag nicht nur an einer einzelnen Sache, dachte sie. Seine Gesichtszüge waren wohlgeformt, aber nicht perfekt: Die Lippen ein wenig schmal, die Nase ein bisschen schief, genauso wie sein Lächeln. Die Wangenknochen waren scharf geschnitten, genauso wie die Augenbrauen, die so dunkel waren wie sein Haar.
Im Moment saß er vollkommen still da, den Kopf leicht schief gelegt, ganz auf die Musik konzentriert.
Gut. Sehr gut.
Die Magie, die dafür sorgte, dass Lupi so schnell heilten, war bei Rule besonders stark ausgeprägt. Er hatte sich schnell wieder erholt von der Operation, die nötig gewesen war, nachdem ein Dämon ihn in Stücke gerissen hatte. Aber etwas in ihm war nicht geheilt. Er schwieg zu häufig und zögerte oft, bis er lächelte.
Trauerte er? Vermisste er sie … die andere Lily? Die, die sowohl fort als auch hier war?
Die Sänger sangen davon, dass es keinen Verlust gebe. Dass der Tod, wie die Buddhisten behaupteten, nur eine Illusion sei. Lily wünschte, sie könnte sich entspannen und sich von der Melodie treiben lassen. Aber dies war nicht ihre Art von Musik.
Aber es war die von Rule.
Er hatte ihr gesagt, dass seine Art Musik liebt, aber genauso gut könnte man sagen, dass Texaner Football lieben oder Katzen Thunfisch. Sie wusste jetzt, dass die meisten Lupi zumindest ein Instrument spielten und dass alle gut singen konnten. Das absolute Gehör war eher die Regel als die Ausnahme.
Das war der Grund, warum sie nun hier war, warum sie die Karten gekauft hatte. Außerhalb des Bettes hatte sie Rule schon lange nicht mehr so bei der Sache gesehen …
… nicht seitdem wir zusammen an dem steinigen Strand gesessen und den Drachen gelauscht haben.
Sie blinzelte. Freude, Trauer und ein Hauch von Eifersucht flackerten auf und erloschen wieder, zusammen mit der Erinnerung. Nie gelang es ihr, es festzuhalten, dieses Flüstern ihres anderen Ichs. Wie der Flaum von Pusteblumen schwebten sie manchmal durch ihren Geist und quälten sie mit dem, was noch nicht ganz verloren war.
Fast glaubte sie, sie könnte hören, wie die Drachen die heraufziehende Nacht besangen. Fast.
Sie schreckte auf.
Magie zuckte und blitzte über jeden Zentimeter ihrer nackten Haut, eine Welle roher Kraft, als wenn eine Tür sich geöffnet hätte und nun der Wind hineinblies. Ihr Herz stockte, und als sie den Atem einsog, prickelte Magie ihren Hals hinunter, etwas, was bisher noch nie passiert war.
Dann war es vorbei, wie eine magische Windhose, die weitergezogen war. Sie drehte sich um, um es Rule zu sagen.
Seine Augen waren schwarz. Nicht nur dunkel, sondern ganz schwarz. Das Weiße war verschwunden. Die Augen eines Tieres. An seinem Kiefer zuckte ein Muskel, und seine Hände hatten die Armlehnen des Stuhls so fest gepackt, dass es ein Wunder war, dass er sie nicht auseinandergebrochen hatte.
„Alles in Ordnung?“, fragte sie erschrocken.
Er sah sie aus blinden schwarzen Augen an. „Gib mir einen Moment“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Jemand schrie. Zuerst dachte sie, es wäre wegen Rule, aber gleich darauf folgte ein zweiter Schrei, und dieses Mal kam er von der Bühne.
Sie wandte den Blick dorthin und sah noch die letzten Sekunden der Verwandlung.
Wahrscheinlich wusste niemand sonst im Publikum, was da gerade vor sich ging. Es war unmöglich, das Bild zu beschreiben – ein Riss in der Wirklichkeit, in dem Formen vor- und wieder zurückglitten, wie ein Möbiusband auf Speed.
Aber Lily sah so etwas nicht zum ersten Mal. Sie wusste, was hier passierte. Sehr bald würde auf der Bühne ein Werwolf stehen. Und dieser Werwolf würde verwirrt und verängstigt sein. Was sich nicht gut mit verwirrten und verängstigten Menschen vertrug.
Lupus, rief sie sich in Erinnerung, als sie sich erhob und an den Menschen vorbeiging, die neben ihr in der Reihe gesessen hatten. Nicht Werwolf. Heutzutage musste man sie Lupi im Plural und Lupus im Singular nennen. „Polizei“, fuhr sie einen bulligen Mann an, der aufgestanden war, um zu sehen, was auf der Bühne vor sich ging. „Setzen Sie sich hin.“
Er gehorchte. Sie trat in den Gang hinaus. Auf der Bühne herrschte das reinste Chaos. Sänger stolperten blindlings übereinander, Musiker ergriffen die Flucht. Der Dirigent hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Er schrie das Orchester an, wenn auch nicht in Englisch.
Schnell warf sie einen Blick zurück zu Rule. Er hatte sich nicht bewegt. Der Drang, sich zu verwandeln, war wohl zu stark, vermutete sie. Wenn er in seiner Konzentration nur einen Moment nachließe, würde er den Kampf verlieren. Und dann hätten sie es mit zwei Wölfen zu tun, die den Menschen Angst einjagen würden.
Sie war nicht bewaffnet. Bei einem Abend im Kennedy Center wäre ein Schulterhalfter nicht das passende modische Accessoire gewesen, daher hatte sie es im Auto gelassen.
Das war wahrscheinlich ohnehin kein Problem, das mit einer Schusswaffe zu lösen war. Sie rannte den Gang hinunter zur Bühne. Auch andere Leute im Publikum waren jetzt aufgestanden. Es würde nicht lange dauern, bis aus der Verwirrung Panik würde und sie alle auf die Notausgänge zustürmten.
„Polizei!“, schrie sie jetzt. „Setzen Sie sich alle hin und bleiben Sie ganz ruhig. Sie sind nicht in Gefahr.“ Wenigstens gab es keinen Orchestergraben. Sie stemmte sich hoch auf die Bühne – nicht sehr graziös in ihrem kurzen Rock, aber das war nicht zu ändern. Der Chor hatte auf einem Treppenaufbau hinter dem Orchester gestanden. Die meisten Stufen waren jetzt leer, nur einige Menschen kletterten noch hastig herunter. Am Ende der höchsten Reihe lag eine Frau stöhnend am Boden.
Aber um den Wolf herum war niemand. Er stand am Fuß der Stufen, ein großes Tier, aber kleiner als Rule in seiner Wolfsgestalt. Rötliches Fell. Das Nackenfell gesträubt. Die Zähne gefletscht.
Der Dirigent schrie ihn an.
„Idiot“, murmelte sie leise und hastete mit großen Schritten zu ihm hin und packte ihn an der Schulter. „Seien Sie still.“
Er wandte sich um, die Augenbrauen fuhren nach oben, der Mund formte sich zu einem überraschten O.
„Sie schreien einen Wolf an. Das mag er nicht.“ Obwohl unter dem Fell und hinter dem Knurren ein Mann war, schien der Wolf im Moment die Oberhand zu haben.
„Aber er hat die Aufführung ruiniert! Er hat alles ruiniert!“
„Das ist nicht seine Schuld. Wie heißt er?“
„Was? Wie er heißt? Warum?“
„Sagen Sie mir einfach, wie er heißt.“
„Paul. Paul Chernowich.“
„Okay. Die Leute sind in Panik ausgebrochen. Eine Person ist verletzt.“ Sie deutete zu der Frau auf dem Boden. „Sorgen Sie dafür, dass sie medizinische Hilfe bekommt. Sie da.“ Sie wandte sich an eine Frau, die einfach dastand und den Wolf mit offenem Mund anstarrte, offenbar zu geschockt, um die Flucht zu ergreifen. Sie war jung, hatte dunkle Haare und war mindestes zur Hälfte asiatischer Abstammung. In der einen Hand baumelte ihre Violine, in der anderen der Bogen. „Spielen Sie etwas.“
Die Frau drehte sich zu ihr um. „W… wie bitte?“
„Spielen Sie etwas. Irgendetwas. Das wird die Leute beruhigen.“ Und auch den Wolf, hoffte sie. „Lupi tun Frauen nichts“, fügte sie hinzu. „Ihnen wird nichts passieren.“
Die Frau warf erst einen Blick auf den Wolf, dann auf die Menge und sah dann wieder Lily an. Ihre Augen zeigten, dass sie zu verstehen begann. Ihre Mundwinkel hoben sich. „Ein Solo“, murmelte sie. „Warum nicht?“ Sie trat nach vorn auf die Bühne, legte die Violine unter das Kinn, ließ den Boden für einen dramatischen Moment über den Saiten schweben und begann zu spielen.
Die süßen Töne einer Bach-Sonate erklangen.
Lily wandte sich dem Wolf zu. Er sah sich um, die Nackenhaare immer noch aufgerichtet, aber er knurrte nicht mehr. Gut. Sie fragte sich, warum er nicht einfach davongelaufen war. Wäre das nicht der natürliche Impuls gewesen? „Paul.“ Sie sprach mit fester, aber nicht lauter Stimme. Er würde sie hören. „Du bist durcheinander. Du weißt nicht, was passiert ist, nicht wahr?“
Er sah sie an und suchte dann die Umgebung mit den Augen ab.
Wonach suchte er? Nach dem, der ihm das angetan hatte, vielleicht. „Ich weiß nicht, wer dich zu der Verwandlung gezwungen hat, aber du bist nicht unmittelbar in Gefahr.“ Sie trat einen Schritt näher. Wo war Rule? Kämpfte er immer noch gegen die Verwandlung an? „Wir kennen uns nicht, aber ich bin sicher, du hast von mir gehört. Ich bin Lily Yu, Rules Auserwählte. Rule Turner, vom Clan der Nokolai.“
Er sah sie direkt an und knurrte.
„Okay, vielleicht bist du kein Nokolai. Aber du würdest einer Auserwählten nichts tun.“ Das sagte sie sehr entschieden, obgleich der Anblick seiner Zähne, seines gesenkten Kopfes und der aufgestellten Nackenhaare ihr Herz schneller schlagen ließ. Sie hob das kleine Amulett hoch, das sie um den Hals trug. „Du weißt, was das ist. Eure Dame …“
Ein Schuss ertönte. Sie wirbelte herum, und ihre Hand fuhr instinktiv an die Stelle, wo normalerweise ihre Waffe war.
Ein uniformierter Polizist stand im Gang, die Beine gespreizt, die Waffe auf sie gerichtet.
Der Wolf rannte an Lily vorbei, so schnell, dass es kaum zu sehen war, direkt auf den Idioten mit der Waffe zu.
Bis Rule sich auf ihn warf.
Lily wusste nicht, wo er hergekommen war. Er schien einfach vom Himmel gefallen zu sein. Und er war in Menschengestalt, verdammt, was ihn kaum in die Lage versetzte, mit einem zweihundert Pfund schweren Wolf zu ringen! Das Knäuel aus Mann und Wolf wälzte sich hin und her und blieb schließlich am äußersten Rand der Bühne liegen. Rule war unten. Die Kiefer des Wolfs öffneten sich und schnappten nach Rules Kehle …
Die Rule noch weiter entblößte, indem er den Kopf zurücklegte. Jemand schrie.
Vielleicht war es sie dieses Mal.
Der Wolf erstarrte. Seine Zähne waren an Rules Kehle, aber er rührte sich nicht. Nach einem schrecklich langen Moment zog er das Maul zurück. Er schnüffelte an Rules Kinn und seine Brust hinunter und schaute dann in sein Gesicht. Sie hätte schwören können, dass sie Misstrauen sah in seinem Blick.
„Ni culpa, ne defensia“, sagte Rule.
Langsam zog sich der Wolf zurück, und Rule konnte sich aufsetzen.
Zitternd atmete Lily ein. Die Violinistin ging von einer Sonate in die andere über, verlangsamte von Allegro auf Adagio. Die Musik schwebte von der Bühne hinaus in das Publikum, wie Schaum auf einer sich zurückziehenden Welle.
Das uniformierte Arschloch legte wieder seine Waffe an.