2. CYSGURA DORYS SHAKARA

Vier Jahre später

 

Die Hand war fest um den Zauberstab geschlossen, der im Licht des Deckenkristalls weißlich schimmerte; die blauen Augen, die nicht schmal waren wie die eines Elfen, sondern ihren menschlichen Besitzer verrieten, starrten matt und blicklos.

Sie hatten vieles gesehen, Freude und Leid, Sieg und Niederlage, Triumph und Verzweiflung. Sie hatten größere Wunder geschaut als je ein Mensch zuvor, aber auch in tiefere Abgründe geblickt; und sie waren Zeuge jener dunklen Stunde gewesen, die in mancher Hinsicht Granocks Leben beendet hatte.

Die Stunde des Abschieds.

Die Stunde des Bruchs.

Du blutest, Meister 

Granock brauchte den Blick nicht zu heben. Er wusste auch so, wem die Stimme gehörte, die er in seinem Kopf hörte, obwohl die eisige Stille, die in der Kammer herrschte, nicht gestört worden war. Es war kein anderer als Ariel, sein Koboldsdiener, der zu ihm sprach und der sich wie alle Angehörigen seiner Art der Gedankenübertragung bediente, um sich mitzuteilen.

Dein Zauberstab 

Granock blickte auf den flasfyn in seiner Hand und stellte fest, dass tatsächlich ein rotes Rinnsal an dem aus Elfenbein gefertigten Schaft rann. Er hatte die Finger so fest in das glatte Material gekrallt, dass unter den Nägeln Blut hervorgetreten war. Granock scherte sich nicht darum. Im Gegenteil, wenn er den Schmerz gefühlt hatte, so hatte er ihn genossen. Es war einer der vielen Wege, die er gefunden hatte, um sich für seine Verfehlung zu bestrafen.

Er zuckte gleichmütig mit den Schultern und wischte das Blut mit seiner Robe ab. Dass es auf dem grauen Stoff dunkle Flecken hinterließ, scherte ihn ebenso wenig wie die Besorgnis, die sich auf Ariels pausbäckigen Gesichtszügen zeigte. Der Kobold vor ihm, trotz der Kälte barfüßig und in grüne Kleidung gehüllt, die an diesem Ort seltsam fehl am Platz schien, stemmte in gespielter Entrüstung die Ärmchen in die Hüften. In dieser Haltung hatte er Granock früher gern verspottet, weil dieser als Mensch die Geheimnisse der Zauberei zu erforschen trachtete. Doch die Unkenrufe des Kobolds waren längst verstummt. Zum einen, weil Granock gelungen war, was kein anderer Mensch vor ihm geschafft hatte, und er in den Orden der Zauberer aufgenommen worden war; zum anderen, weil er schon lange nicht mehr der einzige Sterbliche war, der durch die geheiligten Hallen Shakaras schritt.

Die Zeiten hatten sich geändert.

Krieg war über Erdwelt gekommen wie eine Seuche, und wie in jedem Konflikt galt es, Verbündete zu suchen, die das Überleben sicherten. Ideale und Prinzipien, so schien es, hatten schon vor langer Zeit ihre Bedeutung verloren und waren der bitteren Notwendigkeit gewichen; Granock jedenfalls hatte den Grund, in diesem Krieg zu kämpfen und sich mit aller Macht dafür einzusetzen, dass die gute Seite triumphierte, vor langer Zeit eingebüßt, an jenem schicksalhaften Tag, der nun fast vier Jahre zurücklag …

Denkst du wieder an sie?

Granock erwiderte nichts. Ariel war der Einzige, dem er je erzählt hatte, was sich damals ereignet hatte – schon deshalb, weil das beständige Abschirmen seiner Gefühle und Gedanken ihn mehr Kraft gekostet hätte, als er aufzubringen in der Lage war. Ein kaum merkliches Nicken war seine einzige Antwort.

Es war nicht deine Schuld, und das weißt du. Ihr alle habt Fehler gemacht. Auch sie 

Granock verzog das Gesicht. Er nahm dankbar zur Kenntnis, dass Ariel ihren Namen nicht erwähnte, aber Granock empfand trotzdem jenen dumpfen Schmerz, der seit vier Jahren sein Begleiter war und der in all der Zeit nicht nachgelassen hatte, sondern immer noch zuzunehmen schien.

Warum bist du hier?, wechselte Ariel das Thema. Der Ausdruck in seinem kleinen blassen Gesicht wechselte von Besorgnis auf Neugier.

»Was soll die Frage?«, hörte Granock sich selbst sagen. Er erschrak über den matten, kraftlosen Klang seiner Stimme, ließ es sich jedoch nicht anmerken.

Warum bist du hier?, wiederholte der Kobold, statt zu antworten.

»Warum wohl? Weil Farawyn es mir befohlen hat. Weil es meine verdammte Pflicht ist, diese unbedarften Idioten in den Wegen der Magie zu unterweisen.«

Unbedarft wie du einst warst, versetzte Ariel mit – jedenfalls kam es Granock so vor – einer Spur Genugtuung.

»Ich habe meine Lektion gelernt«, versicherte Granock düster. »Für Unbedarftheit ist kein Platz mehr.«

Ebenso wenig wie für Wohlwollen. Oder Geduld.

»Was soll das heißen?«

Weißt du, wie die Schüler dich nennen?

»Wie denn?«

Tailyr – den Schleifer. Die Aspiranten fürchten dich, und selbst die Eingeweihten gehen dir aus dem Weg. Und was die Novizen betrifft 

»Meine Aufgabe besteht nicht darin, die Freundschaft dieser Grünschnäbel zu gewinnen«, stellte Granock klar, »sondern sie auf das vorzubereiten, was sie dort draußen in der Welt erwartet – und das ist Krieg, Ariel, ein erbarmungsloser Kampf um das Überleben. Entweder, du stellst dich ihm, oder du hast schon verloren.«

Dennoch brauchten die Schüler dich nicht zu fürchten 

»Sie sind jung und leicht einzuschüchtern«, verteidigte sich Granock. »Außerdem hat ein wenig Respekt noch niemandem geschadet. Auch ich habe mich einst vor Meister Cethegar gefürchtet.«

Cethegar war hart, das ist wahr, aber er hat es nie an Fürsorge gegenüber seinen Schülern fehlen lassen. Und ist nicht er es gewesen, der dir einst vertraut hat? Der dich gestärkt hat, als es darauf ankam?

Granock hätte gern widersprochen, aber das konnte er nicht. Der gestrenge Zauberer Cethegar, der ihn im Umgang mit dem flasfyn unterwiesen hatte, hatte ihn zwar mit unnachgiebiger Härte geschult, seinen Schüler jedoch tatsächlich zu jeder Zeit gerecht behandelt, was sich von Granocks Unterrichtsmethoden nicht unbedingt behaupten ließ …

»Und?«, fragte er gereizt. »Was hat es ihm gebracht? Cethegar ist tot, genau wie Vater Semias, Meisterin Maeve, Haiwyl und so viele andere, die diesem Orden gedient haben.«

Das ist wahr, räumte Ariel ein, und du solltest ihr Andenken in Ehren halten, statt es zu beflecken.

»Was fällt dir ein?« Granock, der auf einem schlichten Hocker gekauert hatte, sprang auf. Der Kobold, der ohnehin nur eine Elle maß, schien vor ihm noch weiter zu schrumpfen.

Ich spreche nur aus, was viele denken, Meister, versicherte Ariel gelassen.

»Und das wäre?«

Es heißt, dass du dein Herz verloren hast, damals, bei jener Schlacht im Flusstal – und dass du es seither nicht zurückgewonnen hättest.

Granock ließ ein verächtliches Grunzen vernehmen, aber es klang nicht sehr überzeugend. Er lebte inzwischen lange genug unter Elfen, um zu wissen, dass sie eine Vorliebe für blumige Worte und schwülstige Metaphern hatten. In diesem Fall allerdings traf der Vergleich den Nagel auf den Kopf.

Er hatte in jenen Tagen tatsächlich etwas verloren, das er in all den Jahren nicht wiedergefunden hatte.

Seine Liebe.

Seine Ehre.

Seine Freundschaft …

Sieh dich nur einmal an, Meister, fuhr der Kobold in seiner Rüge fort. Dein Haar ist lang und ungepflegt, dein Bart wuchert über dein Gesicht, als wolle er es verschlingen. Von deiner Robe ganz zu schweigen. Du bist verwahrlost, im Inneren wie im Äußeren – wie lange, glaubst du, wird der Rat sich das noch gefallen lassen?

»Ah«, machte Granock. »Darum also geht es dir. Du hast Angst, dass sie mich vor die Tür setzen könnten – und dich gleich mit dazu. Hab keine Sorge. Wenn es das ist, was deinem kleinen Dickschädel Kopfzerbrechen bereitet, dann entlasse ich dich aus meinen Diensten, damit du dir einen neuen Herrn suchen kannst, der deinen Ansprüchen besser gerecht wird.«

Du roher, ungehobelter Klotz von einem Menschen!, ereiferte sich Ariel, wie er es schon lange nicht mehr getan hatte. Glaubst du wirklich, es ginge mir um mich? Wenn es so wäre, wäre ich Diener des Hohen Rates geblieben und hätte gewiss nicht darum gebeten, einem Menschen dienen zu dürfen. Hast du dich nie gefragt, was mich zu diesem Schritt getrieben hat?

»Doch«, gestand Granock, »schon unzählige Male. Aber ich finde einfach keine Antwort darauf.«

Dann will ich sie dir geben: Ich glaubte, dass du etwas Besonderes seist. Jemand, der das Vertrauen, das man in ihn setzt, nicht enttäuschen wird. Aber nun sieh dir an, was aus dir geworden ist: ein Schatten deiner selbst, der am ganzen Körper zittert vor Angst!

»Sei vorsichtig mit dem, was du sagst …«

Willst du behaupten, du hättest keine Angst? Der Diener deutete zu der Tür, die den einzigen Zugang der fensterlosen Kammer bildete. Warum hast du diesen Durchgang dann nicht längst durchschritten? Draußen warten deine Schüler, wie du weißt. Wenn du so unerschrocken bist, wie du behauptest, warum trittst du ihnen dann nicht gegenüber? Warum kostet es dich solche Überwindung?

Ariels Stimme, so kam es Granock vor, war zuletzt immer lauter geworden, sodass sie in seinem Kopf nachhallte wie der Hammerschlag auf einem Amboss. Mit einer Mischung aus Wut und Verblüffung schaute er auf den Kobold herab, der mit zorngeplusterten Wangen vor ihm stand, und erwog einen Moment lang, etwas zu erwidern. Dann besann er sich jedoch anders, wandte sich ab und stürzte aus der Kammer.

Auf der anderen Seite erwarteten ihn seine Schüler, zwei Novizen und vier Aspiranten, die er in verschiedenen Verteidigungs- und Angriffstechniken unterweisen sollte. Früher, vor dem Krieg, hatte das Kämpfen mit dem flasfyn nur einen vergleichsweise geringen Teil der Ausbildung eingenommen. Inzwischen bildete es ihren Hauptbestandteil, was zur Folge hatte, dass viele andere Disziplinen vernachlässigt wurden. Philosophie, Literatur, Kunst und Geschichte – all die Kenntnisse, die einen dwethan, einen Weisen in früheren Tagen ausgezeichnet hatten – wurden nur noch in eingeschränktem Maße vermittelt. Auch hier hatten sich die Zeiten geändert …

»… thysyr!«, bellte ein junger Elf, den die Schüler zum Sprecher ihres dysbarth, ihrer Unterrichtsklasse, gewählt hatten. Die Gespräche verstummten daraufhin augenblicklich, und aller Augen richteten sich auf Granock, der die Schüler seinerseits mit eisigen Blicken musterte.

Die beiden Novizen, die der Gruppe angehörten, waren Menschen. Früher, so dachte Granock grimmig, wäre es undenkbar gewesen, dass Schüler, die den prayf noch nicht abgelegt hatten, gemeinsam mit ihren älteren Kameraden unterrichtet wurden. Aber da viele Zaubermeister Shakara verlassen hatten und überall im Reich im Einsatz waren, um gegen den einfallenden Feind zu kämpfen, war dieser Schritt notwendig geworden, ein weiteres Zeichen der Zeit.

»Worum ging es in der letzten Lektion, die ich euch erteilt habe?«, erkundigte sich Granock scharf. Die beiden Menschenjungen, von denen keiner älter als sechzehn Jahre war, blickten zu Boden, als könnten sie so seiner Frage entgehen. Genüsslich rief Granock einen von ihnen auf. »Baldrick?«

Der Angesprochene zuckte zusammen, als hätte ihn ein Schwerthieb getroffen. »Ich, äh …« Sein ganzes Gesicht nahm die Farbe seiner spitzen, von der Kälte geröteten Nase an.

»Nun«, drängte Granock. »Ich warte.«

»M-Meister, bitte verzeiht«, stammelte der Junge, dessen dünnes, flachsblondes Haar den Nordländer verriet.

»Was denn, du kannst dich nicht erinnern? Obwohl es erst gestern gewesen ist? So zollst du mir Aufmerksamkeit?«

»I-ich …« Baldricks Gesichtsfarbe wechselte von Rot auf Grün, und es war ihm anzusehen, dass er sich am liebsten übergeben hätte. »Ich weiß es nicht mehr«, hauchte er, den Blick starr auf den Boden gerichtet.

»Du weißt es nicht mehr?« Granock schaute ihn mitleidlos an. »Was ich dich hier lehre, Baldrick von Suln«, sagte er dann, »sichert in der Welt dort draußen dein Überleben. Wie kannst du erwarten, gegen Unholde oder finsteren Zauber zu bestehen, wenn du es nicht einmal fertigbringst, mir in die Augen zu blicken und dein Versagen einzugestehen?«

»Er fürchtet sich«, sagte jemand an Baldricks Stelle.

»Wer hat das gesagt?«, blaffte Granock, obschon er es sich denken konnte.

Eine junge Elfin, die zu den Aspiranten gehörte, trat einen Schritt vor. Ihr langes blondes Haar war streng zurückgekämmt und wurde von einer silbernen Spange gehalten, und ihre weise blickenden Augen und ihre edlen Gesichtszüge weckten in Granock Erinnerungen, die er lieber nicht …

»Una«, krächzte er. »Was hast du dich einzumischen?«

»Verzeiht, Meister, aber Baldrick ist erst seit Kurzem hier in Shakara.«

»Und?«

»Das bedeutet, dass er mit den Gebräuchen des Ordens noch nicht vertraut ist«, erklärte die junge Elfin. Dem Aussehen nach schien sie in Baldricks Alter zu sein, aber Granock wusste, dass dieser Eindruck täuschen konnte. Aus ihren Worten sprach die Nachsicht eines langen Lebens, und auch in dieser Hinsicht erinnerte sie ihn nicht zum ersten Mal an jene Frau, die er …

»Willst du mich belehren?«, fragte er barsch. »Glaubst du, das wüsste ich nicht?«

»Verzeiht, Meister. Euren Zorn zu erregen lag nicht in meiner Absicht«, versicherte sie.

»Denkt ihr, ich wüsste nicht, was es bedeutet, hier zu stehen und Aufnahme in den Orden zu begehren?«, wandte er sich an alle. »Ich war einst ein Schüler genau wie ihr, und genau wie ihr musste ich lernen, mit dem flasfyn umzugehen und meine Fähigkeit weise zu gebrauchen. Aber euch muss zu jedem Zeitpunkt bewusst sein, dass außerhalb dieser Mauern ein mörderischer Krieg tobt, in dem ihr keinen Augenblick lang überleben werdet, wenn ihr nicht endlich an euch arbeitet und damit aufhört, verzogene Gören zu sein, die am liebsten in den heimatlichen Hain zurückkriechen würden, aus dem sie zu uns geschickt wurden. Bereust du es bereits, nach Shakara gekommen zu sein, Baldrick?«, fragte er den Novizen, der zu einem zitternden Häufchen Elend zusammengesunken war. »Das ist gut. Je eher du zu zweifeln beginnst, desto besser, denn der Orden kann weder Zweifler noch Schwächlinge brauchen. Wenn irgendjemand von euch der Ansicht ist, dass er von mir ungerecht oder zu hart behandelt wird, dann steht es ihm frei zu gehen. Dort ist die Tür!«

Er deutete auf die Pforte, die aus dem Unterrichtsraum führte, der kreisrund war wie eine Arena und über dem sich eine Decke aus halb durchsichtigem Eis wölbte. Darüber war schemenhaft der dämmernde Himmel der Yngaia zu erkennen.

Der größte Teil der Schüler zog es vor, weiter zu Boden zu starren. Nur einer von ihnen schaute auf und hielt Granocks bohrendem Blick stand.

»Nein«, erklärte er leise.

»Wie war das?«, hakte Granock nach.

»Nein«, wiederholte der Aspirant. »Weder zweifle ich, noch werde ich den Orden freiwillig verlassen. Es ist meine Bestimmung, hier zu sein, mein ureigenes Schicksal.«

Der Name des Aspiranten war Nimon, ein junger Elf, den die Schüler zum Sprecher ihrer Gruppe gewählt hatten. Nimon war von allen am längsten in Shakara, und er machte kein Hehl daraus, dass er im Grunde seines Herzens nichts davon hielt, Menschen in die Ordensburg aufzunehmen.

Damit stand er keineswegs allein.

Auch unter den Zaubermeistern gab es noch immer viele, die Menschen im Orden ablehnten, und die Tatsache, dass es außer Granock noch kein Sterblicher geschafft hatte, den Meistergrad zu erlangen, sprach in dieser Hinsicht Bände. Lange Zeit hatte Granock versucht, diese Haltung zu verstehen, zumal nach dem schändlichen Verrat, den die Menschen am Elfenkönig verübt hatten. Er hatte versucht, mit Großmut darüber hinwegzusehen, wenn ihm jemand mit jener Mischung aus Arroganz und Feindseligkeit begegnete, die Elfen so meisterlich an den Tag zu legen verstanden. Inzwischen konnte er das nicht mehr …

»Dein ureigenes Schicksal?«, hakte er nach. »Du glaubst, nur weil Elfenblut in deinen Adern fließt, hättest du dir bereits das Recht erworben, hier zu sein und in die Reihen der Weisen aufgenommen zu werden? Ist es das, was du mir damit sagen willst, Nimon, des Nydians Sohn?«

»Nein, Meister.« Der junge Elf schüttelte den Kopf. »Ich meinte nur, dass auch Ihr mich nicht davon abhalten werdet, jenes Schicksal zu erfüllen, das mir von der Vorsehung geschenkt wurde, zusammen mit meiner Gabe.«

»Deine Gabe.« Granock schnaubte verächtlich. »Glaubst du, du wärst deshalb etwas Besonderes? Hältst du es für so bedeutend, mit den Tieren sprechen zu können? Sieh dich um, Nimon – alle hier wurden vom Schicksal mit einer Gabe bedacht, und jede davon ist einzigartig.«

»Es kommt aber nicht nur auf die Gabe an, sondern auf die Geisteskraft desjenigen, der sie nutzt«, entgegnete der Aspirant, entschieden zu schneidig für Granocks Geschmack.

»So«, fragte er lauernd, »das bedeutet also, dass du dich deinen Mitschülern überlegen fühlst, richtig?«

»Ich bin, was ich bin«, antwortete der Elf, als erkläre das alles – und Granock spürte unbändige Wut in sich emporbrodeln.

Ein Teil von ihm hätte dem vorlauten Jüngling am liebsten einen tarthan versetzt, um ihn von einer Ecke des Saales in die andere zu befördern, während ein anderer ihn erstarren und in den Gärten des Miron ausstellen lassen wollte, um ihn zum Gespött der Novizen zu machen. Nur ein leises, kaum hörbares Flüstern in seinem Kopf plädierte für Vergebung – zweifellos Ariel, der vom Nebenraum aus alles mitverfolgt hatte.

Granocks linke Hand ballte sich zur Faust, während seine Rechte den Zauberstab umklammerte. Er war entschlossen, ein Exempel zu statuieren, hier und jetzt, um den Hochmut des jungen Elfen auszurotten wie ein wucherndes Unkraut.

Was, bei Sigwyns Krone, bildete er sich ein?

Wie kam er dazu, sich wegen seiner Herkunft Dinge anzumaßen, die ihm aufgrund seiner Leistungen noch längst nicht zukamen? Wieso, verdammt, pflegten sich Kerle wie er einfach zu nehmen, was sie haben wollten, und scherten sich einen Dreck darum, was andere dachten oder fühlten?

Dass es in Wahrheit ein anderer war, auf den sein Zorn sich richtete, merkte Granock nicht, und wenn, dann wäre es ihm wohl gleichgültig gewesen. Er hob den Zauberstab, um den vorlauten Jüngling zu bestrafen, und er genoss es, das wachsende Entsetzen in den Augen seiner Schüler zu sehen. Selbst Nimons Selbstsicherheit schien gebrochen, sein Stolz schmolz dahin wie Eis in der Sonne. Dennoch würde es keine Gnade geben.

Nicht dieses Mal …

Granock atmete tief ein und fokussierte sich innerlich, um einen Zeitzauber zu wirken – aber es kam nicht dazu.

Meister Lhurian! Meister Lhurian!

Die Nennung seines Zaubernamens riss ihn aus seiner Konzentration. Ungläubig riss er die Augen auf, um zu sehen, wer so dreist gewesen war. Es war ein ältlich aussehender Kobold, der einen grauen Bart hatte und dessen Kleidung aus Laub zu welken schien. Dennoch kam er in Windeseile auf Granock zu, seiner gebrechlichen Erscheinung zum Trotz.

»Argyll«, sagte Granock, der Farawyns Diener sofort erkannte. »Was gibt es?«

Mein Herr verlangt Euch in der Kanzlei zu sehen, Meister Lhurian. Auf der Stelle!

Granock biss sich auf die Lippen. Er wusste, dass der Ordensälteste nur nach ihm schickte, wenn es wirklich dringend war. Andererseits wollte er die Sache mit Nimon nicht unbereinigt lassen.

»Wir sprechen uns noch«, prophezeite er dem jungen Elfen deshalb düster, dann folgte er dem Kobold, der ihm mit tapsenden Schritten vorausging.