Es war kurz nach Einbruch der Dunkelheit, als eine einzelne vermummte Gestalt durch die dunklen Straßen Andarils schlich, der Burg entgegen, deren trutzige Türme sich inmitten der hohen Fachwerkhäuser und verwinkelten Gassen erhoben.
Dass in Andaril überhaupt noch ein Stein auf dem anderen lag, war im Grunde nur einem günstigen Schicksal zu verdanken, das es dem Elfenkönig bislang verwehrt hatte, eine seiner Lektionen gen Nordosten zu schicken, um die als Unruheherd berüchtigte Menschenstadt zu zerstören. Schon zweimal war Andaril der Ausgangspunkt dunkler Verschwörungen gewesen, deren Ziel letztlich die Vernichtung des Elfenreichs gewesen war.
Das erste Mal unter Fürst Erwein von Andaril, der für den Tod seines Sohnes Iwein blutige Rache hatte nehmen wollen und sich deshalb mit den Anhängern des Dunkelelfen verbündet hatte. Das zweite Mal unter seinem Sohn Ortwein, der die Herrschaft über Andaril übernommen hatte und unter dessen Führung sich zahlreiche Städte des Ostens und nicht zuletzt die Clans der Hügellande dem Bündnis Margoks angeschlossen und Krieg gegen das Elfenreich geführt hatte.
In beiden Fällen war die Bedrohung abgewendet worden, aber der mörderische Konflikt ging weiter, und so war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis der Elfenkönig sich des Verrats entsinnen würde, den Andaril begangen hatte, und die Menschen dafür bestrafen.
Ohnehin hatte die Stadt, die zusammen mit ihrer Rivalin Sundaril die Pforte zu den Ostlanden bildete, schon bessere Zeiten gesehen; das Handelsembargo, das Tirgas Lan verhängt hatte und das seit fünf Jahren andauerte, hatte deutliche Wirkung gezeigt. Der sagenhafte Reichtum, den die Kaufleute Andarils angehäuft hatten, war vielerorts bitterer Armut gewichen; von den hohen, aus Stein gemauerten Herrschaftshäusern, in deren unteren Stockwerken sich die Handelskontore befanden, waren nicht wenige aufgelassen und dem Verfall preisgegeben worden. Und in den Straßen herrschte der Pöbel, Mord und Totschlag waren an der Tagesordnung. Die Stadt stand am Abgrund, und der Schatten, der nun den Marktplatz überquerte und sich dem Burgtor näherte, wusste dies nur zu genau. Es war der Grund für seine Anwesenheit …
Er hatte sich den beiden Posten am Tor noch nicht bis auf zwanzig Schritte genähert, als diese bereits die Hellebarden senkten. »Losung?«, verlangte einer der beiden zu wissen, deren Gesichter im Fackelschein und unter den mit Nasenschutz versehenen Helmen kaum zu erkennen waren.
»Lionwar«, nannte der Vermummte den Namen des Helden aus grauer Vorzeit, den die Sterblichen in ihren Liedern so gerne besangen – dabei hatte er kaum mehr geleistet, als einen Unhold zu erschlagen. Wie wenig es doch brauchte, um bei den Menschen als Held zu gelten …
Als die Waffen wieder aufgehoben wurden und das Torgitter sich mit metallischem Rasseln öffnete, wurde dem fremden Besucher klar, dass das Losungswort die zwanzig Goldstücke und den mit Edelsteinen besetzten Dolch wert gewesen war, die er dafür bezahlt hatte.
Er vermied es, den Torposten in die Augen zu sehen. Gesenkten Hauptes huschte er an ihnen vorüber, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Sollten sie ihn ruhig für unterwürfig halten, das war immer noch besser, als wenn sie erkannten, wer er tatsächlich war. Elfen waren in den Ostlanden noch nie willkommen gewesen, seit Beginn des Krieges jedoch schlug ihnen offener Hass entgegen. Und auch die Tatsache, dass sich Andaril bereits seit geraumer Zeit im Kriegsgeschehen neutral verhielt, änderte nichts daran, dass das Leben eines Elfen in diesen Tagen nicht mehr wert war als das eines streunenden Hundes.
Der Vermummte ging am Torhaus vorbei und gelangte in den Innenhof. Indem er so tat, als wüsste er genau, wohin er sich zu wenden hatte, passierte er einige weitere Wachen, die jedoch keine Notiz von ihm nahmen. Wahrscheinlich, dachte er verächtlich, hatten sie billigen Wein getrunken, um sich über das traurige Schicksal hinwegzutrösten, dem nicht nur ihre Stadt, sondern ihr ganzes Volk entgegenging.
Sein Ziel war der große Burgfried, der sich inmitten der Anlage erhob und in dem er den Sitz der Herrin von Andaril vermutete. Genau wie die Umgrenzungsmauern und die Wachtürme war der Burgfried aus grob zurechtgehauenen Steinen gemauert und nicht mit einer Elfenfestung zu vergleichen. Es kam dem fremden Besucher wie bitterer Hohn vor, dass ausgerechnet er sich in an einen solch primitiven Ort schleichen musste, nächtens und vermummt wie ein Dieb.
Eilig huschte er die Stufen zum Tor hinauf und klopfte an die Pforte. Es dauerte einen Moment, bis auf der anderen Seite Schritte zu vernehmen waren und der Sichtschlitz geöffnet wurde. Ein kaltes, von buschigen Brauen überwölbtes Augenpaar erschien, das das Dunkel der Kapuze forschend zu durchdringen suchte.
»Was willst du?«
»Ich muss Fürstin Yrena sprechen«, gab der Besucher bekannt.
»Heute noch?« Die Augen des Hausmeiers funkelten belustigt.
»Allerdings. Die Angelegenheit ist dringend.«
»Was du nicht sagst, Fremder«, knurrte der andere und gähnte demonstrativ. »Die Fürstin hat sich bereits zur Ruhe gelegt. Komm morgen wieder und trag ihr dein Anliegen vor. Und jetzt scher dich weg, hörst du?«
Er schickte sich an, den Schlitz wieder zu verschließen, und der Besucher wusste, dass er seinen letzten Trumpf ausspielen musste. »Warte«, verlangte er und schlug rasch die Kapuze zurück. Die schmalen Augen und spitzen Ohren, die darunter zum Vorschein kamen, genügten, um den Hausmeier zumindest innehalten zu lassen.
»Was, zum Henker …?«, brummte der Alte verblüfft.
»Mein Name ist Ardghal«, stellte der Fremde sich vor. »Ich bin Fürst von elfischem Geblüt und verlange augenblicklich deine Herrin zu sprechen.«
»A-aber sie schläft …«
»Dann wecke sie«, forderte der Elf unnachgiebig. »Denn es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Zukunft und das Überleben ihres Volkes.«
»Da bist du ja.«
Farawyn, der wie im Licht eines Kristalls über Berichten gebrütet hatte, die auf dem Tisch vor ihm ausgebreitet lagen, blickte auf. Einmal mehr kam es Granock vor, als wäre der Oberste des Zauberordens in den letzten Monaten gealtert. Natürlich nicht in dem Sinne, wie Menschen älter wurden, sondern einfach dadurch, dass sein lu , seine Lebensenergie, sich gemindert hatte infolge der schweren Entscheidungen, die er hatte treffen müssen, und der großen Verantwortung, die auf seinen Schultern lag.
Spontane Sorge um seinen ehemaligen Meister überkam Granock, die jedoch sogleich verflog, als Farawyn ihn aufforderte näher zu treten. Die dunklen Augen des Zauberers musterten ihn streng – sie zumindest schienen seit ihrer ersten Begegnung in Andaril keinen einzigen Tag gealtert zu sein. Sein grauschwarzes Haar und den Bart trug der Älteste anders als früher kurz geschnitten und streng getrimmt, was ihn noch respektgebietender wirken ließ.
»Ihr habt mich gerufen?«
»In der Tat.« Farawyn nickte bedächtig. Es war unmöglich festzustellen, was in seinem Kopf vor sich ging, und Granock hatte es längst aufgegeben, es erraten zu wollen.
»Ich war gerade dabei, einige Schüler zu unterrichten …«
»Ich weiß. Genau darüber wollte ich mit dir sprechen, Junge.«
Junge …
So hatte Farawyn ihn früher oft genannt, und Granock hatte sich eigentlich nie daran gestört. In letzter Zeit jedoch kam es ihm zunehmend unpassend vor. Nicht nur, weil er schon vor geraumer Zeit den Meistergrad erlangt hatte und dem Jugendalter längst entwachsen war, sondern auch, weil das Wort eine Vertrautheit zwischen ihnen vorgaukelte, die nicht länger Bestand hatte …
»Was gibt es?« Granock wappnete sich innerlich. Er ahnte, dass er wenig Schmeichelhaftes zu hören bekommen würde.
»Es gab erneut Beschwerden.«
»Worüber?«
»Über die Methoden deines Unterrichts«, erklärte Farawyn, ohne lange um den heißen Brei herumzureden. »Bruder Sunan hält dich für wenig geeignet, seinen Novizen Baldrick zu unterrichten, obwohl er wie du ein Mensch ist.«
»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun«, stellte Granock klar. »Ob Mensch oder Elf spielt in meinen Augen keine Rolle. Meine Aufgabe ist es, die Schüler auf das vorzubereiten, was sie dort draußen erwartet – und das ist Krieg. Mein Fach ist Kampfkunst, nicht Philosophie.«
»Das behauptet niemand«, konterte Farawyn. »Dennoch ist Sunan der Ansicht, väterliche Güte würde größere Erfolge zeitigen als unnachgiebige Härte.«
»Das anzunehmen steht ihm frei«, hielt Granock dagegen. »Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Bruder Sunan den Tod seines Novizen Haiwyl niemals wirklich verwunden hat und deshalb zu notwendiger Strenge einem Schüler gegenüber nicht mehr fähig ist. Habt Ihr darüber schon einmal nachgedacht?«
»Der Gedanke ist mir gekommen.« Farawyn nickte, ohne dass zu erkennen gewesen wäre, was er tatsächlich dachte. »Allerdings ist Sunan nicht der Einzige, der an deinen Methoden zweifelt. Auch Meisterin Awyra hat Bedenken angemeldet. Vor allem, was dein Verhalten gegenüber einem gewissen Aspiranten angeht …«
Granock wusste sofort, wer gemeint war. Bevor er den prayf abgelegt und den safailuthan beendet hatte, war Nimon Awyras Novize gewesen, und natürlich herrschte zwischen beiden eine enge Verbundenheit. Dass der junge Elf nicht davor zurückschreckte, zu seiner alten Meisterin zu rennen, um sich bei ihr zu beschweren, ließ ihn in Granocks Ansehen nur noch weiter sinken. Er beschloss, ihm bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit eine Lektion zu erteilen.
»Schwester Awyras Sorge ist unbegründet«, versicherte er, seine Wut nur mühsam unterdrückend.
»So? Ist sie das?« Farawyn sah ihn herausfordernd an. »Ich würde dir nur zu gern glauben, Junge. Aber die Beschwerden über dich häufen sich, und je mehr es werden, desto deutlicher habe ich das Gefühl, in deinem Verhalten ein gewisses Muster zu erkennen, eine Methode.«
»Meister?« Granock hob fragend die Brauen. Es war schon immer eine Spezialität Farawyns gewesen, die Dinge so zu formulieren, dass er kein Wort verstand.
»Die Schüler fürchten dich«, eröffnete ihm der Älteste. »Sie haben Angst vor dir.«
»Und das ist gut so«, bestätigte Granock, ohne mit der Wimper zu zucken. »Denn das, was ich ihnen beibringe, bereitet sie auf die Wirklichkeit vor, die außerhalb dieser Mauern herrscht – und das ist Krieg, Meister, ein grausames Gemetzel.«
»Und darum geht es dir?«
»Natürlich.« Granock schnaubte. »Worum sollte es mir denn wohl sonst gehen?«
»Nun, möglicherweise darum, deinen unterdrückten Hass auszuleben, deine namenlose Wut auf dich selbst und deinen Neid auf all jene, denen es besser ergangen ist als dir.«
Granock zuckte zusammen. Er schickte Farawyn einen warnenden Blick, der an den Augen des Ältesten jedoch zerschellte wie ein morscher Pfeil an einer eisernen Brünne.
»Und vielleicht«, fuhr Farawyn unbarmherzig fort, »ist der junge Nimon ja auch nur deshalb zur Zielscheibe deines Zorns geworden, weil er dich an jemanden erinnert, den du einst gut kanntest und der dein Freund gewesen ist. Ein Elf, der ebenfalls von vornehmem Blute war …«
»Schweigt!«, fuhr Granock seinen ehemaligen Meister an, lauter und wütender, als er es je für möglich gehalten hätte. »Was wisst Ihr schon von …«
»Von Aldur?«, hakte Farawyn nach.
»Von Freundschaft«, verbesserte Granock.
»Mehr als du ahnst«, gab der Älteste zur Antwort, »und ich weiß auch, was aus ihr werden kann, wenn sie vertrocknet wie ein Baum, dessen Wurzeln durchsägt wurden.« Er unterbrach sich für einen Moment, und als er endlich fortfuhr, schien es nicht der Ordensälteste zu sein, der sprach, sondern Granocks väterlicher Mentor. »Du hast mir niemals erzählt, was damals geschehen ist«, stellte er fest.
»Das stimmt.« Granock nickte.
»Möchtest du es nachholen?«
»Wozu?« Granock zuckte mit den Schultern. »Es bringt die Vergangenheit nicht zurück.«
»Das nicht«, gab Farawyn zu. »Aber möglicherweise könnte es dich zurückbringen, mein Junge. Ich kann sehen, dass dich etwas quält. Willst du dich mir nicht anvertrauen, so wie du es früher stets getan hast?«
»Früher ist lange her. Ihr vergesst, dass ich nicht mehr Euer Schüler bin.«
»Keineswegs.« Der Älteste schüttelte den Kopf. »Ich verlange von dir nicht, dass du vor mir Rechenschaft ablegst wie ein Novize vor seinem Meister. Was ich dir anbiete, ist meine Freundschaft, Granock.«
»Dafür bin ich Euch dankbar.«
»Aber du willst sie nicht.« Farawyn seufzte. »Du schlägst sie aus und weist mich ab, so wie du jeden abweist, seit Alannah und Aldur Shakara verlassen haben.«
»Das ist nicht wahr!«, widersprach Granock. Bei jedem der genannten Namen war er zusammengezuckt wie unter einem Peitschenhieb. »Ihr wisst, dass das nicht wahr ist …«
»So? Warum, frage ich dich, hast du dann in den vier langen Jahren, die seither vergangen sind, keine neuen Freunde gefunden? Warum meidest du die Gesellschaft deiner Schwestern und Brüdern, wann immer du kannst?«
Granock war verblüfft. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass Farawyn ihn derart aufmerksam beobachtete. Auch in Zeiten wie diesen schien dem Auge seines alten Meisters kaum etwas zu entgehen …
»Du widersprichst nicht, das nehme ich als Zeichen der Zustimmung«, fuhr Farawyn fort. »Aus diesem Grund habe ich beschlossen, deine selbstgewählte Einsamkeit zu beenden und dir einen Schüler zur Seite zu stellen, der …«
»Nein!«, sagte Granock so laut und entschieden, dass es von der gewölbten Decke der Kanzlei widerhallte. »Bitte nicht«, fügte er ein wenig leiser hinzu.
»Warum nicht?«, hakte Farawyn nach. »Du bist längst so weit. Viele Ordensmitglieder, die erst nach dir den Meistergrad erlangten, haben sich bereits Novizen gewählt.«
»Aber ich nicht«, widersprach Granock ruhig, aber entschieden. »Es wäre nicht gut.«
»Für wen, mein Junge? Für den Novizen? Oder für dich? Sprechen wir hier in Wahrheit über ein Problem, das nur dich allein betrifft?«
»Ich … ich …« Granock rang nach passenden Worten, aber er fand sie nicht. Er ertrug Farawyns fragenden Blick nicht länger und wandte sich ab. Dies war eine grobe Unhöflichkeit, und er erwartete, dass Farawyn ihn dafür zurechtweisen würde, aber die Rüge blieb aus. Stattdessen erhob sich der Älteste, kam hinter seinem Tisch hervor und trat bedächtig auf Granock zu.
»Hm«, machte er, als er in die erblassten Züge seines ehemaligen Schülers blickte, »wie gut, dass kein anderer sehen kann, was ich in diesem Augenblick sehe. Ich bin sicher, Schwester Awyra und Bruder Sunan würden ihre Schlüsse ziehen.«
»Sollen sie«, murmelte Granock trotzig. »Wenn Ihr der Ansicht seid, dass ich nicht gut genug bin für das Amt, mit dem Ihr mich betraut habt, so nehmt es mir und schickt mich woanders hin.«
»Wie könnte ich das? Deine Aufgabe ist es, diese jungen, unschuldigen Seelen auf den Krieg vorzubereiten, auf das Grauen, das sie dort erwartet – und dieser Aufgabe wirst du in vollem Umfang gerecht. Vielleicht erfüllst du sie sogar besser, als irgendjemand sonst es könnte.«
»Aber sagtet Ihr nicht …?«
»Es geht mir nicht um die Schüler, Lhurian, und auch nicht um das, was andere Ordensmitglieder vielleicht denken. Es geht mir einzig und allein um dich, denn ich fürchte, dass du selbst dabei verkümmerst. Schon jetzt hat deine Seele Schaden genommen. Von dem unbeschwerten Jüngling, der einst über die Schwelle dieser Festung trat, ist kaum noch etwas übrig.«
»Und das wundert Euch?«
»Glaub mir, mein Junge, ich weiß, wie sehr du leidest.«
»Bei allem Respekt, Meister – ich glaube nicht, dass Ihr nachvollziehen könnt, was ich empfinde.«
»Dennoch möchte ich dir helfen.«
»Wenn Ihr mir helfen wollt, dann lasst mich gehen«, verlangte Granock wie schon unzählige Male zuvor. »Ihr habt recht, wenn Ihr sagt, dass mein Innerstes Schaden genommen hat. Aber Ihr wisst auch, wie es wieder geheilt werden könnte, nicht wahr?«
»Womöglich«, gab Farawyn zu. »Dieser Weg ist dir jedoch verschlossen.«
»Natürlich.« Granock lächelte freudlos. Er hatte keine andere Antwort erwartet. »Weil ich nur ein Mensch bin, nicht wahr? Deshalb darf ich nicht zu den Fernen Gestaden reisen.«
»Die Gestade sind den Söhnen und Töchtern Sigwyns vorbehalten«, bestätigte Farawyn. »Es ist ihr Ursprung und ihre Bestimmung. Alles Leben kommt von dort und mündet eines Tages wieder dorthin, so ist es zu allen Zeiten gewesen.«
»Ja«, räumte Granock schnaubend ein, »erfülltes Leben, das viele Menschenalter in Erdwelt verbracht hat. Aber Alannah und Aldur waren weder alt noch lag ein erfülltes Leben hinter ihnen. Sie waren jung, genau wie ich.«
»Dennoch haben sie sich für die Fernen Gestade entschieden, und es steht dir nicht zu, diesen Schritt in Zweifel zu ziehen. Du solltest dich allmählich an den Gedanken gewöhnen, dass du sie niemals wiedersehen wirst. Keinen von beiden.«
»Aber ich … ich …« Granock rang nach Atem, er hatte das Gefühl, dass ihm etwas die Kehle zuschnürte. Mit wenigen Worten hatte Farawyn ihm den Grund seiner tiefen Verbitterung vor Augen geführt, so deutlich, dass es ihn schauderte. Einmal mehr wurde ihm klar, wie aussichtslos sein Hoffen war – und wie endlos sein Schmerz. Er schloss die Augen, um die Tränen zu ersticken, und spürte, wie sich Farawyns Hand sanft und beruhigend auf seine Schulter legte.
»Mein Junge«, sagte der alte Zauberer leise, »ich weiß nur zu gut, was du empfindest, glaube mir. Auch ich habe einst von verbotenen Früchten gekostet und wurde bitter dafür bestraft. Deshalb weiß ich, dass der einzige Weg, sich nicht in der Vergangenheit zu verlieren, darin besteht, sie zu vergessen.«
Granock stutzte ob der eigenwilligen Betonung, die der Älteste dem Wörtchen »sie« zukommen ließ. Er war nicht sicher, ob sich Farawyns Empfehlung tatsächlich auf die Vergangenheit bezog oder ob er vielmehr längst ahnte, was Granock, Alannah und Aldur damals auseinandergebracht hatte.
Hatte Farawyn womöglich in einer seiner Visionen gesehen, wie es zum Zerwürfnis zwischen den Freunden gekommen war?
Die Möglichkeit, dass sein alter Meister ihn womöglich längst durchschaut hatte, war ihm unangenehm, und er straffte sich, um sich seine Bestürzung nicht anmerken zu lassen.
»Das kann ich nicht«, erklärte er steif.
»Dann, so fürchte ich, kann ich dir auch nicht helfen«, entgegnete Farawyn ruhig. Es lag kein Vorwurf in seiner Stimme, nur Bedauern.
»Bin ich damit entlassen?«
Der Älteste nickte, und Granock wandte sich zum Gehen. Dabei wurde ihm klar, dass er soeben Zeuge eines der seltenen Momente gewesen war, in denen Farawyn ihn für einen wenn auch nur kurzen Augenblick in sein Innerstes hatte blicken lassen.
»Junge?«
Granock hatte die versiegelte Tür noch nicht erreicht. Er blieb stehen und wandte sich um. »Ja, Meister?«, fragte er.
»Dir ist klar, dass nichts von dem, was hier gesprochen wurde, nach außen dringen darf? Würden Cysguran und meine anderen Gegner im Rat davon erfahren, würden sie ihr Wissen nutzen, um mir zu schaden.«
»Ich weiß, Meister«, versicherte Granock. »Seid unbesorgt, ich werde nichts verraten. Manchmal allerdings frage ich mich, warum Ihr mich eingeweiht habt. Vielleicht hättet Ihr auch mich über Alannahs und Aldurs Aufenthalt im Unklaren lassen sollen.«
»Vielleicht«, gab Farawyn zu. »Aber ich dachte, ich wäre dir die Wahrheit schuldig. Ich wollte nichts vor dir verheimlichen, da ich dir mehr vertraue als jedem anderen Mitglied dieses Ordens. Ich dachte, es würde es dir einfacher machen.«
Granock stand wie vom Donner gerührt. Es war das erste Mal, dass Farawyn seiner Zuneigung derart offen Ausdruck verlieh. Für gewöhnlich beschränkte sich der Älteste darauf, in Rätseln und Andeutungen zu sprechen und die Neutralität zu wahren, die sein Amt erforderte.
Einen quälenden Moment lang führte Granock einen inneren Kampf, überlegte, ob er Farawyn in sein Geheimnis einweihen und ihm seine Liebe zu Alannah gestehen, ob er ihm offenbaren sollte, dass es nur deshalb zum Bruch zwischen ihm und Aldur gekommen war und dass er allein die Schuld für ihre Entscheidung trug, Shakara zu verlassen.
Er entschied sich dagegen.
Teils aus Furcht vor dem, was sein Meister dann von ihm halten würde. Teils aus Scham.
»Das war ein Irrtum, Meister«, flüsterte er.
»Ja.« Farawyns Stimme klang müde. »Das war es wohl.«
Gesenkten Hauptes kehrte der Älteste hinter seinen Schreibtisch zurück.
Das Gespräch war beendet.