Es war eine jener Nächte, in denen der Nebel, der sich allabendlich über dem Fluss sammelte, in zähen Schwaden die Böschung heraufkroch – ein träges Monstrum, das im Mondlicht leuchtete und seine Gestalt fortwährend zu verändern schien, während es sich über Büsche und Felsen wälzte, den elfischen Linien entgegen.
Hauptmann Alurys hatte den wollenen Umhang eng um die Schultern gezogen. Mit zu schmalen Schlitzen verengten Augen spähte er in das milchige Grau, durch das die andere Flussseite und die Ausläufer des Schwarzgebirges nur noch zu erahnen waren. Die Luft war kalt und feucht. Es hatte viel geregnet in den letzten Tagen, sodass sich der Erdboden zu beiden Seiten des Flusses in zähen Morast verwandelt hatte. Die Nässe drang durch die Stiefel und tränkte die Beinkleider, sorgte dafür, dass Waffen und Rüstungen beständig gepflegt werden mussten, um keinen Rost anzusetzen. Und sie nagte an der Moral der Krieger, die entlang des Flusses Wache hielten.
Auch Alurys, dem es als Offizier oblag, den Mut der Legionäre zu stärken, spürte die Ermüdung. Karge Verpflegung, nicht enden wollende Wachschichten, das sich zunehmend verschlechternde Wetter und unablässige Angriffe der Orks hatten den Hauptmann und seine Leute ausgezehrt. Dennoch taten sie, was von ihnen verlangt wurde, und behielten von vorgeschobenem Posten aus den ihnen zugewiesenen Frontabschnitt im Auge.
Seit vier Jahren herrschte nun Krieg zwischen dem Elfenreich und den Unholden – aber wie hatte sich dieser Krieg im Lauf dieser Zeit verändert! Mit einer großen Schlacht und einem glanzvollen Sieg hatte er begonnen – inzwischen war ein zähes Ringen um Land daraus geworden, ein ständiges Warten und gegenseitiges Belauern.
Wie sehnte sich Alurys danach, dem Feind in offenem Kampf gegenüberzutreten! Wie befreiend wäre es gewesen, ihm am helllichten Tage und auf freiem Feld zu begegnen! Aber die Unholde hatten aus ihrer Niederlage gelernt und seither ein großes Aufeinandertreffen vermieden. Stattdessen begnügten sie sich damit, fortwährend überraschende Ausfälle zu unternehmen. Im Schutz der Dunkelheit pflegten sie über den Fluss zu setzen, vornehmlich in nebligen Nächten wie dieser …
Alurys zuckte zusammen, als er zu seiner Linken ein Geräusch vernahm. Sein wachsamer Blick streifte durch die trüben Schwaden, konnte jedoch nichts ausmachen.
Wieder Geräusche – das Plätschern von Wasser, gefolgt vom Schmatzen großer Füße im Morast.
Sie kamen!
Alurys fühlte, wie sich sein Pulsschlag beschleunigte. Seine Hand fuhr an den Griff der Elfenklinge und zückte sie, während er lautlos aus seiner Stellung trat und die behelfsmäßige Palisadenwand hinabschlich, die entlang des Flusses errichtet worden war.
Seine Leute, die sich hinter den Palisaden verschanzten, hatten die Geräusche ebenfalls gehört und waren vorbereitet. Pfeile lagen auf den Sehnen der Bogen, die Klingen blank polierter Glaiven blitzten im Mondlicht, bereit, sich in die Gedärme angreifender Orks zu wühlen. Ihr Befehl lautete, die Palisaden um jeden Preis zu halten und den Feind keinesfalls durchbrechen zu lassen – und diesen Befehl würden sie bis zum letzten Atemzug ausführen.
Der Hauptmann und seine Männer verständigten sich mit Blicken. Er war immer der Ansicht gewesen, dass der Platz eines Offiziers bei seinen Soldaten war und man ihnen nur abverlangen durfte, was man auch selbst zu geben bereit war. So hatte er sie ausgebildet. Doch auf das, was im nächsten Moment aus den Nebelschleiern brach, hatte auch Alurys seine Männer nicht vorbereiten können.
Es begann mit wütendem Gebrüll, das ein Stück flussabwärts zu hören war.
»Bogenschützen!«, befahl Alurys – aber noch gab es nichts, worauf zu zielen sich gelohnt hätte. Wie eine undurchdringliche Wand stand der Nebel über dem Fluss, während von der linken Flanke bereits Schwerterklirren zu vernehmen war. Dann, plötzlich, waren schemenhafte Umrisse zu erkennen. Die Schützen entließen die Pfeile, die sirrend im milchigen Grau verschwanden.
Einige der Schemen warfen die Arme nach oben und brachen zusammen, die anderen huschten weiter. Alurys hob das Schwert und stellte sich dem ersten Schatten entgegen, der sich aus dem Nebel löste, bereit, jeden Handbreit Boden so teuer wie möglich zu verkaufen – doch wie erschrak der Hauptmann, als er das Antlitz des Orks erblickte!
Alurys war darauf gefasst gewesen, in eine grässliche grüne Fratze zu sehen, die mit mörderischen Hauern bewehrt war und aus deren gelben Augen ihm blanker Hass entgegenschlug. Doch dieses spezielle Haupt ruhte auf einem Körper, zu dem es nicht gehörte! Eine grobe Naht umlief den dicken grünen Hals, auf den der Kopf gesetzt worden war!
Dass Alurys den Frevel, der an der Natur verübt worden war, sofort durchschaute, hatte einen Grund – denn kein anderer als er selbst war es gewesen, der das Haupt des Orks erst vor wenigen Tagen von seinem alten Rumpf getrennt hatte!
Einen Augenblick lang war der Hauptmann wie erstarrt vor Entsetzen. Dann riss er seine Klinge empor, um den Angriff des Unholds abzuwehren – zu spät.
Das Letzte, was er sah, war die schartige Klinge des Ork, die mit Urgewalt herabsauste.
Eine Versammlung war einberufen worden, wie so oft in den letzten Monaten.
Früher, als noch Friede geherrscht hatte unter Erdwelts Völkern, hatte sich die große Halle, in der die Ratsmitglieder zusammentrafen, nur selten gefüllt. In diesen dunklen Zeiten jedoch gab es stets einen neuen Anlass dafür: Die Beobachter, die man ausgesandt hatte, berichteten über den Kriegsverlauf und über die Geschehnisse an den Fronten; Strategien wurden erörtert und Beschlüsse gefasst; und umrahmt von betretenem Schweigen wurden die Namen derjenigen Ordensmitglieder verlesen, die im Kampf gegen die Mächte der Finsternis das letzte Opfer gebracht hatten.
Es war kein anderer als Farawyn, dem diese undankbare Aufgabe zufiel. Zu gern hätte er sie einem anderen überlassen, aber ihm war klar, dass es seine Pflicht war als Ältester des Ordens, und er hasste sich selbst dafür.
»Bevor wir diese Versammlung eröffnen«, begann er mit tonloser Stimme, die von der hohen Decke des Ratssaales widerhallte, »wollen wir zuvorderst die Namen derer hören, die in der vergangenen Woche ihr Leben gegeben haben, um diese unsere Welt vor der Vernichtung zu bewahren. Erweisen wir ihren Namen Respekt und Dankbarkeit, auf dass sie Eingang finden mögen in die Chroniken unseres Ordens und dort Unsterblichkeit erlangen, wenn ihnen ein Dasein in ewiger Freude versagt blieb. Bitte erhebt Euch, Schwestern und Brüder.«
Es hätte der Aufforderung nicht bedurft. Die meisten Mitglieder des Rates waren von Ihren Sitzen aufgestanden, noch während Farawyn gesprochen hatte; dadurch wurde offensichtlich, wie wenige sie geworden waren.
Früher, wenn eine Vollversammlung einberufen worden war, waren die Sitzreihen, die sich zu beiden Seiten des schmalen Mittelgangs erhoben, nahezu vollständig besetzt gewesen. Inzwischen klafften beträchtliche Lücken: Die einen Ratsmitglieder waren im Auftrag des Ordens an weit entfernte Orte geschickt worden, um die Truppen des Königs dort zu unterstützen. Die anderen würden niemals wieder nach Shakara zurückkehren, und ihre Zahl wurde immer größer …
Auf ein Zeichen Farawyns hin, der am Kopfende der Halle auf dem Rednerpodest stand, hoben die Räte ihre Zauberstäbe und ließen die darin eingearbeiteten Kristalle leuchten. Bunter Schein in allen Regenbogenfarben erfüllte daraufhin die Halle und schien ein wenig Mut und Hoffnung zu spenden – bis Farawyn daranging, mit, wie es schien, unendlicher Langsamkeit die Namen der Gefallenen zu verlesen.
»Bruder Egnias, Zaubermeister … Bruder Cymlog, Zaubermeister … Schwester Rhinwyd, Zaubermeisterin … Canolf, Eingeweihter … Elur, Aspirant …«
Während er las, verlosch ein Elfenkristall nach dem anderen. Ihre Farbe verblasste, und ihr Licht verlor sich, bis nichts mehr davon übrig war und nur noch der Schein des großen Kristalls den Ratssaal beleuchtete, der hoch über dem Rednerpult schwebte. Aber es schien, als hätte auch er von seinem Glanz eingebüßt, und selbst die Statuen der alten Könige, die den Saal säumten und das Gewölbe trugen, schienen plötzlich finsterer dreinzublicken als zuvor.
»… Lytha, Novizin … und schließlich Bruder Suiban, Zaubermeister und Mitglied dieses Rates«, schloss Farawyn seinen Bericht, und die Stille, die daraufhin eintrat, war so schwer und drückend, dass sie fast körperlich zu spüren war.
Es dauerte lange, bis Farawyn das Schweigen aufhob und die Räte sich wieder setzten. Die Tatsache, dass einer aus ihrer Mitte gefallen war, erschütterte die Zauberer besonders, denn eines gewaltsamen Todes zu sterben, bedeutete nicht nur, dass das lu eines Elfen unwiederbringlich verlosch, sondern auch, dass sein gesammeltes Wissen und seine Weisheit niemals die Fernen Gestade erreichen und dort für die Ewigkeit bewahrt würden. Schon bei einem Novizen bedeutete dies einen unersetzlichen Verlust – bei einem Zauberer des Rates jedoch war er so stark, dass jeder den Schmerz fühlte, unabhängig davon, welche persönlichen Bande er zu Bruder Suiban unterhalten hatte.
Die Namen waren verlesen und von Bruder Syolan ein letztes Mal in die Ordenschronik eingetragen worden. Nun begann die eigentliche Sitzung, und Farawyn erteilte Gervan das Wort, dem stellvertretenden Ältesten, der soeben von einer Reise an die Westfront zurückgekehrt war.
»Trotz aller Verluste und Rückschläge, die wir hinzunehmen hatten, bringe ich aus dem Grenzland gute Nachrichten, Schwestern und Brüder«, begann Gervan seinen Bericht, nachdem er sich aus seinem Sessel erhoben hatte und an das Rednerpult getreten war. »Der Fluss Glanduin, der seit Urzeiten das Elfenreich von den Dunkellanden scheidet, wird auch weiterhin erfolgreich gehalten. Zwar tragen die Unholde immer wieder Angriffe gegen die Legionen vor, die vom Scharfgebirge bis hinab in die Ebenen die Grenze bewachen, aber es ist ihnen bislang nicht gelungen, ihre Reihen zu durchbrechen. Nicht unerheblichen Anteil daran«, fuhr der Zauberer fort, der sein langes Haar im Nacken zusammengebunden trug und dessen schmale Augen einen Einschlag von Purpur aufwiesen, »haben unsere Schwestern und Brüder, die Seite an Seite mit Elidors Recken kämpfen und die Horden der Finsternis ein um das andere Mal zurückschlagen – wenn auch unter hohen Verlusten.«
»Schön und gut, Bruder Gervan«, erhob sich auf der linken Seite die Stimme Cysgurans. Seit dem Tod von Meisterin Maeve, die vor vier Jahren bei der Schlacht im Flusstal gefallen war, bekleidete er das Amt des Sprechers des linken Flügels. Er war bekanntermaßen ein erbitterter Rivale Gervans, und nicht einmal der Krieg hatte daran etwas ändern können … »Aber wenn Ihr schon dabei seid, von den Vorgängen an der westlichen Front zu berichten, so solltet Ihr nicht unerwähnt lassen, dass auch die Gegenseite Verstärkung erhalten hat.«
»Das ist richtig«, gab Gervan unumwunden zu. »Von unseren Spähern wissen wir, dass der Feind neue Truppen aus den Tiefen der Modermark herangeführt hat – nicht nur Orks, die an Wildheit und Brutalität alle bisherigen Schrecken verblassen lassen, sondern auch Trolle, Gnome und anderes Gesindel aus den finstersten Pfründen dieser Welt.«
»Und das ist noch längst nicht alles«, versetzte Cysguran mit einer Genugtuung, die Farawyn erboste. Auch er hatte dem linken Flügel angehört, ehe er zum Ältesten bestimmt worden war, aber mit dem Beginn des Krieges hatten zumindest aus seiner Sicht alle inneren Streitigkeiten des Ordens geendet. Was für einen Sinn hatte es, über philosophische Fragen zu streiten oder die zukünftige Gestaltung des Ordens zu erörtern, wenn es zweifelhaft war, ob es überhaupt eine solche Zukunft gab?
Der Burgfrieden, den Farawyn in Shakara ausgerufen hatte, hatte auch bedingt, dass nicht Cysguran, der als aussichtsreicher Kandidat auf den Posten gegolten hatte, sondern sein Gegner Gervan zum stellvertretenden Ältesten gekürt worden war. Farawyn war überzeugt davon, dass der Orden nur eine Aussicht auf Erfolg hatte, wenn beide Flügel Hand in Hand arbeiteten, statt sich in kleingeistigem Zwist gegenseitig zu erschöpfen. Doch nicht alle Mitglieder des Hohen Rates teilten diese Meinung …
»Wovon genau sprecht Ihr?«, fragte Farawyn deshalb und stellte sich an die Seite seines Amtsbruders, so als müsste er ihn vor Cysgurans Attacken auch körperlich beschützen.
»Ich spreche von der Wahrheit«, erwiderte der andere und strich sich durch das streng zurückgekämmte graue Haar, ehe er in einer effektheischenden Geste die Arme hob. »Wenn Ihr schon von Unholden sprecht und von immer neuen Ungeheuern, die aus den Tiefen der Westmark herangeführt werden, so habt auch den Mut auszusprechen, dass kein anderer als Rurak ihr Anführer ist, Margoks ergebener Diener und einst Mitglied dieser ehrwürdigen Einrichtung!«
Man konnte sehen, dass die Erwähnung des abtrünnigen Zauberers, der sich einst Palgyr genannt und tatsächlich dem Hohen Rat angehört hatte, in den Mienen einiger Ordensbrüder und -schwestern für Entsetzen sorgte. Farawyn wusste nicht, worauf Cysguran hinauswollte, aber ihm war daran gelegen, nicht noch mehr Angst und Schrecken zu verbreiten, als es ohnehin schon der Fall war. Die Rückkehr Margoks und der Ausbruch des Krieges hatten den Orden nicht zuletzt deshalb so unvorbereitet getroffen, weil die meisten Ratsmitglieder ihre Augen vor der wirklichen Welt verschlossen und sich lieber ihren Studien gewidmet hatten. Noch immer gab es unter ihnen welche, die seiner Politik ablehnend gegenüberstanden und nicht verstehen wollten, weshalb der Orden König Elidor im Kampf um das Reich unterstützte; und Farawyn wollte nicht, dass es noch mehr wurden …
»Rurak wird seit der Schlacht im Flusstal vermisst«, stellte er klar. »Niemand hat ihn seither gesehen.«
»Aber es gibt Gerüchte«, widersprach Cysguran, dessen Gewand das Emblem der Kristallgilde trug, der er vorstand, »und zwar in solcher Häufung, dass sie kaum unwahr sein können. Die Soldaten des Heeres jedenfalls hegen keinen Zweifel daran, dass Rurak noch lebt. Wisst Ihr, wie sie ihn inzwischen nennen? Gwantegar – den Todbringer! Und wie es heißt, haben selbst die Unholde ihm den Beinamen ›der Schlächter‹ verliehen, weil er nach der Niederlage im Flusstal Hunderte von ihnen pfählen ließ.«
»Gerüchte, wie Ihr schon sagtet«, wehrte Gervan ab. »Worauf wollt Ihr hinaus?«
»Ich will darauf hinaus, Bruder Gervan, dass Euer Bericht die wichtigsten Tatsachen verschweigt. Ihr sprecht von Hoffnung und militärischen Erfolgen, dabei ist es in Wahrheit so, dass unsere Verluste immer größer und die Übermacht des Feindes immer erdrückender wird! Wie viele von uns haben den Kampf gegen Margoks Horden bereits mit dem Leben bezahlt? Zweihundert? Wir erwähnen ihre Namen ein letztes Mal und erweisen ihnen Respekt, aber auch das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie alle ihre Existenz völlig vergeblich geopfert haben!«
»Bruder Cysguran, mäßigt Euch!«, rief Farawyn, und einige Ratsmitglieder wie Syolan und Atgyva protestierten entschieden gegen solch frevlerische Reden.
»Ich soll mich mäßigen? Obschon ich nichts anderes als meine freie Meinung äußere? Ist das in diesem erlauchten Gremium nicht mehr gestattet?«
»Es ist gestattet, solange es nicht die Ehre und die Gefühle der anwesenden Ratsmitglieder verletzt«, schränkte Farawyn ein. »Ihr jedoch habt soeben das Lebenswerk verstorbener Mitbrüder und -schwestern in Zweifel gezogen und damit ihr Andenken gekränkt.«
»Ich kränke ihr Andenken, indem ich die Wahrheit sage? Was ist dann mit Euch, Ältester Farawyn? Eure Reden in Tirgas Lan und am Hofe Elidors haben jenen Ordensbrüdern und -schwestern nicht nur ihre Ehre, sondern das Leben gekostet!«
Farawyn holte tief Luft, während er sich mit dem Handrücken über die Stirn fuhr, um den Schweiß abzuwischen. Unruhe trat auf den Rängen ein, die Ratsmitglieder diskutierten miteinander wie in alten Zeiten – nur dass ihr Gemurmel die Halle längst nicht mehr erfüllte, sondern aufgrund ihrer geringeren Anzahl zu einem schwachen Wispern verkommen war, zum kläglichen Echo eines Zeitalters, das unwiderruflich zu Ende gegangen war.
»Wenn man Euch reden hört, Bruder Cysguran«, ergriff Farawyn wieder das Wort, »könnte man fast glauben, Ihr zieht die Entscheidung des Ordens, sich gegen die Aggressoren zur Wehr zu setzen, in Zweifel!«
»Muss man das nicht nach allem, was geschehen ist? Nach all den Verlusten, die wir erlitten haben? Keiner unserer Mitbrüder und -schwestern, die im Kampf gefallen sind und deren Namen Ihr hier verlesen habt, wird jemals wieder zurückkehren, ganz gleich, was wir beschließen – aber wir können verhindern, dass es zu weiteren Verlusten kommt.«
»Wie wollt Ihr das anstellen?«, erkundigte sich Bruder Simur, der seit Gervans Ernennung zum Ältesten für den rechten Flügel sprach. »Wollt Ihr aus dem Krieg austreten? Den Elfenkönig im Stich lassen, nachdem wir ihm Treue geschworen haben?«
»Der Eid, den wir geleistet haben«, brachte Cysguran in Erinnerung, »gilt zuvorderst dem Reich und erst dann seinen Dienern. Hätte Elidor sich in der Vergangenheit nicht als ein solch schwacher Herrscher erwiesen, müssten wir nicht so teuer dafür bezahlen. Er hat Erdwelt einen schlechten Dienst erwiesen, und es ist nicht einzusehen, weshalb ausgerechnet wir dafür bluten sollten.«
»Was genau schlagt Ihr vor?«, fragte Farawyn spitz. »Wollt Ihr mit Margok verhandeln?«
Das erneut aufbrandende Gemurmel verriet, wie abwegig den meisten Ratsmitgliedern dieser Gedanke erschien. Cysguran jedoch zuckte mit keiner Wimper. »Die ›Weisen‹ nennen wir uns, also sollten wir auch klug und besonnen handeln«, konterte er, »und in dem blutigen Morden der letzten Jahre kann ich weder Klugheit noch Besonnenheit erkennen.«
Nun gab es beipflichtendes Nicken, wenn auch nur vom linken Flügel, was Farawyn geradezu fassungslos machte. Obwohl die Mäßigung der eigenen Empfindungen als eine der Haupttugenden des Ordens galt, hatte er Schwierigkeiten, an sich zu halten. »Dieses Morden, Bruder Cysguran, wurde weder von uns begonnen, noch lag es je in unserer Absicht. Der Krieg wurde uns aufgezwungen, und wir tun lediglich das, was jede Kreatur tun würde, die am Leben bleiben will – wir setzen uns zur Wehr!«
»Aufgezwungen ist das richtige Wort«, stimmte Cysguran zu. »Aber von wem? War es tatsächlich Margok, der uns zu den Waffen gerufen hat? Nein! Ihr habt es getan, Bruder, nachdem Ihr in vorauseilendem Gehorsam dem Träumer auf dem Elfenthron unsere Unterstützung zugesagt habt!«
Wieder gab es Zustimmung, und jedes Händepaar, das beifällig aneinandergerieben wurde, brachte Farawyns Blut noch mehr in Wallung. »Wenn Ihr die Ereignisse der Vergangenheit schon bemühen wollt, Schwestern und Brüder, so solltet Ihr dabei Sorgfalt walten lassen«, schnaubte er. »Vielleicht habt Ihr ja schon vergessen, dass Margok ein Bündnis aus Menschen und Orks geschmiedet hatte und dass ihr vereintes Heer im Begriff war, gegen Tirgas Lan zu marschieren, die Hauptstadt unseres Reiches!«
»Gegen Tirgas Lan«, bestätigte der andere. »Aber hat sich Margok gegen uns gewandt? Hat er seine Horden nach Shakara geschickt?«
Ende der Leseprobe