Die Bibel verstehen –
Hinführung zum Buch der Bücher
      Anselm Grün, geboren 1945, Dr. theol., ist Benediktinermönch und Verwaltungsleiter der Abtei Münsterschwarzach, spiritueller Begleiter und Kursleiter. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Bibel, Spiritualität und Lebenskunst. Anselm Grün gehört weltweit zu den meistbeachteten christlichen Autoren unserer Zeit.
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Foto Anselm Grün:
© Micha Pawlitzki
Als deutsche Übersetzung der Bibel ist zugrunde gelegt:
Die Bibel. Die Heilige Schrift
des Alten und Neuen Bundes.
Vollständige deutschsprachige Ausgabe
      © Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2005
Innengestaltung und Vignetten:
Weiß-Freiburg GmbH – Graphik & Buchgestaltung
www.weiss-freiburg.de
Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book) 978-3-451-33627-0
ISBN (Buch) 978-3-451-34002-4
Die Bibel ist Gottes Wort an uns. Für die frommen Juden und für die frühen Christen waren die Worte der Bibel immer heilende Worte und wegweisende Worte. Die Worte Gottes in der Bibel öffneten ihnen die Augen, damit sie ihr Leben verstanden und einen Weg fanden, wie ihr Leben gelingt. Juden wie Christen haben die heilende Wirkung dieser Worte an sich erfahren. Sie gaben Hoffnung, spendeten Trost, heilten Wunden und ermutigten, wieder aufzustehen, wenn man darniederlag.
Heute tun sich viele Christen schwer, die Bibel zu lesen. Sie verstehen die Worte nicht. Es ist eine so andere Sprache. Vielleicht macht ihnen die Sprache Angst, weil da manchmal von Gericht die Rede ist. Oder sie ärgern sich über die kriegerischen Geschichten, in denen Gewalt herrscht. Wir brauchen die richtige Brille, um die Worte der Bibel so zu lesen, dass sie heilsam und wegweisend für uns sind, dass es Worte des Lebens und Worte zum Leben werden.
Die kurzen Einführungen, die ich in die verschiedenen Bücher der Bibel gebe, wollen eine kleine Hilfe sein, die Texte besser zu verstehen. Sie wollen uns die Augen öffnen, damit wir die Worte in einem andern Licht sehen. Aber sie können nur hinführen. Eigentlich müsste ich die einzelnen Texte so auslegen, dass sie uns verständlich werden. Aber das würde das Anliegen dieses Buches übersteigen. So hoffe und wünsche ich, dass die einführenden Worte in die einzelnen Bücher der Bibel ein erster Schritt sind, sich mit der Bibel neu zu befassen. Trauen Sie beim Lesen dem eigenen Gefühl. Assoziieren Sie einfach, was in Ihnen bei den einzelnen Worten aufsteigen will. Ihre Seele hat die Fähigkeit in sich, diese Worte zu verstehen. Doch oft ist diese Fähigkeit zugeschüttet, weil wir es nicht mehr gewohnt sind, in den tieferen Sinn von Worten einzudringen. Es genügt, wenn Sie die Bibel mit drei Haltungen lesen:
Die erste Haltung: Gott sagt mir diese Worte. Sie sind persönlich an mich geschrieben. Gott zeigt mir das Geheimnis meines Lebens. Und er zeigt mir in den Worten seine Liebe und sein Herz.
Die zweite Haltung: Ich versuche, die Worte als Bilder für mein Leben und als Bilder für Gottes Wirken an mir zu verstehen. Ich vergleiche die Bilder der Bibel mit den Bildern, die in meiner Seele aufsteigen, wenn ich die Bibel lese. All die Bilder wollen mir das Fenster öffnen, damit ich in das unbegreifliche Geheimnis Gottes schaue.
Die dritte Haltung: Die Worte der Bibel sind Worte des Lebens. Dort, wo sie Angst in mir auslösen, verstehe ich sie nicht. Die Worte wollen mich einladen, barmherzig und freundlich mit mir umzugehen.
So wünsche ich Ihnen, dass Sie mit neuer Freude und Offenheit die Bibel lesen und sich von der Liebe Gottes treffen lassen, die in den Worten für Sie erfahrbar wird und immer tiefer Ihr Herz durchdringen möchte.
Anselm Grün
Wohl in keinem Buch wird in der gesamten Welt häufiger gelesen als in der Bibel. Die Bibel ist das Buch aller Bücher. Die Juden sehen in den biblischen Büchern des Alten Testamentes das Wort, das Gott nur zu ihnen gesprochen hat. Christen teilen mit den Juden das Alte Testament. In ihm hören Christen Gottes Wort, das auch für sie bleibende Gültigkeit hat. Doch Christen lesen auch das Neue Testament, in dem ihnen die vier Evangelisten und zahlreiche Briefe der Apostel und anderer biblischer Schriftsteller überliefert sind. Für sie kommt das Alte Testament durch Jesus Christus zur Erfüllung und Vollendung.
Was damals geschrieben wurde, verstehen Christen im Licht Jesu auf neue Weise. Wie sie das Alte Testament (oder besser das Erste Testament, wie die frühen Kirchenväter es nannten) lesen sollen, sagt der Apostel Paulus: «Denn was immer geschrieben wurde, ist zu unserer Belehrung geschrieben, damit wir durch die Geduld und durch den Trost der Schrift Hoffnung haben» (Röm 15,4). Das Lesen der Heiligen Schrift will also erschließen, wer Gott und wer der Mensch ist, was das Geheimnis der Schöpfung ist und wie menschliches Leben gelingt.
Und Christen lesen die Schrift, um Trost zu erfahren in Haltlosigkeit und Orientierungslosigkeit, in Dunkelheit und Niedergeschlagenheit. Trost meint, dass wir festen Halt bekommen, Standfestigkeit. Trost kommt von Treue, das heißt Festigkeit. Und Trost meint, dass wir nicht allein gelassen sind mit unseren Fragen, sondern dass Gott mit uns geht in unsere Not. Das lateinische Wort für Trost, consolatio, bedeutet: mit dem Einsamen sein. Jedes Wort der Heiligen Schrift will Hoffnung schenken, damit wir voll Zuversicht und innerer Freiheit in dieser Welt leben, vertrauensvoll Ausschau haltend nach dem, der unsere Hoffnung allein zu erfüllen vermag.
In der Bibel findet sich viel Poesie. Es sind wunderbare Erzählungen, Gedichte, Lieder, Mythen und Märchen, die die biblischen Schriftsteller berichten. Es sind unübertroffene Dichtungen, die da überliefert sind. In ihrer Einfachheit bringen sie das Leben des Menschen in seiner Beziehung zu Gott zum Ausdruck. Doch die Bibel ist noch mehr als Menschenwort. Sie ist Gotteswort. Das Wort Gottes fällt allerdings nicht vom Himmel. Es wird durch Menschen aufgeschrieben, die ihre Erfahrungen mit Gott ins Wort bringen. Doch in diesem menschlichen Wort – das glauben Christen – spricht Gott selbst. Da zeigt er authentisch, wie es um den Menschen steht, wer der Mensch und wer Gott ist, wie Gott am Menschen handelt.
Gott hat zu uns gesprochen. Wir haben sein Wort im Alten und im Neuen Testament. Es sind heilige Schriften, die heilsam sind für unser Leben. Aber ich erlebe immer wieder Menschen, die Angst haben, die Bibel zu lesen. Sie stoßen in ihr ständig auf die Stellen, in denen von Hölle und Verdammung die Rede ist. Anstatt sich zu fragen, was diese Stellen wirklich bedeuten, sind sie so fixiert auf ihre Angst, dass sie meinen, sie würden auf jeden Fall verdammt. Andere lesen die Schrift mit einer Brille, durch die sie in jedem Wort einen Vorwurf an sich selbst sehen.
Wenn wir mit der falschen Brille die Bibel lesen, wird uns das Studium der Schrift nicht weiterhelfen auf unserem Weg. Im Gegenteil, wir werden die Bibel dazu missbrauchen, unsere unaufgearbeiteten Probleme in die Bibel hineinzuprojizieren. Wir werden dann ständig die Bibel zitieren. Aber wir werden damit nicht den Geist Jesu wiedergeben, sondern den eigenen Ungeist, den wir mit Bibelzitaten rechtfertigen.
Das Wort Gottes ist der Gegner deines Willens, bis es der Urheber deines Heiles wird. Solange du dein eigener Feind bist, ist auch das Wort Gottes dein Feind. Sei dein eigener Freund, dann ist auch das Wort Gottes mit dir im Einklang.
AUGUSTINUS
Der heilige Augustinus hat uns mit diesen Worten schon vor über 1600 Jahren gezeigt, mit welcher Brille wir die Bibel lesen sollen. Wenn mich ein Wort der Bibel ärgert, dann zeigt es immer, dass ich hier eine falsche Sicht von mir und von Gott habe. Der Ärger ist aber auch eine Herausforderung, an meiner Sichtweise zu arbeiten und mir von der Bibel ein anderes Selbstverständnis schenken zu lassen.
In Gesprächen höre ich immer wieder, dass sich Menschen mit der Bibel schwer tun. Sie versuchen, sie zu lesen. Aber sie verstehen die Bibel nicht. Es ist für sie eine fremde Welt. Sie brauchen eine Anleitung, wie sie mit der Bibel umgehen sollen. Es kann ihnen helfen, wenn jemand ihnen inhaltliche Anregungen gibt und die Texte auf seine Weise deutet. Aber der Bibelleser soll nicht einfach nachbeten, was andere Ausleger ihm vorsagen. Er soll sich selbst mit den Texten auseinandersetzen. Dabei geht es darum, den Text mit dem eigenen Leben in Verbindung zu bringen
Was sagt der Text zu mir in meiner konkreten Situation?
Finde ich eine Antwort auf meine Fragen, die mich gerade bewegen?
Jesus provoziert uns gerade in vielen Gleichnissen immer wieder. Er provoziert uns, damit wir genauer hinschauen, worum es wirklich geht in unserem Leben und ob unser Bild von Gott nicht zu eng gefasst ist. Wenn ich mich über Worte Jesu ärgere, kann ich mich fragen, welche Lebensmuster da in mir auftauchen oder an welche Kränkungen aus meiner Kindheit mich diese Worte erinnern oder welche dämonischen Gottesbilder in mir da berührt werden. Dann ist der Ärger ein Anlass, an meinem Selbstbild und Gottesbild zu arbeiten. Das Wort Gottes zu verstehen heißt: sich selbst neu verstehen. Und es heißt: sein eigener Freund werden. Wenn ich mit mir freundlich umgehe, dann ist auch das Wort Gottes mein Freund. Und umgekehrt: Das Wort Gottes will mich dazu einladen, gut mit mir umzugehen, mir selbst zum Freund zu werden. Dann komme ich in Einklang mit dem Wort Gottes, mit mir selbst und mit Gott.
Gegenüber «fundamentalistischen» Lesern, die die Bibel als Waffe benutzen, gibt es auch «liberale» Leser und Leserinnen, die die Stellen der Bibel, die ihnen nicht passen, am liebsten streichen möchten. Sie stellen sich letztlich über die Bibel. Und sie sind nicht bereit, sich selbst von der Bibel in Frage stellen zu lassen. Wenn mich ein Bibeltext verletzt oder ärgert, dann wäre es wichtig, bei mir selbst nachzuforschen, welche alten Verletzungen in mir da angesprochen werden. So könnte der Bibeltext mich einladen, meine früheren Kränkungen anzuschauen und sie zu bearbeiten, so dass sie heilen können. Wenn ich sie nicht in die heilende Liebe Gottes halten, werden sie mir den klaren Blick auf die Worte Gottes in der Bibel verstellen. Dann werde ich immer mehr Bibelstellen als nicht mehr zeitgemäß abtun. Doch das ist ein Irrweg und kein heilender und befreiender Weg, mit der Bibel umzugehen.
Wenn wir in der Bibel lesen, geht es nicht darum, genau zu erforschen, was die Autoren sich damals gedacht haben oder welche Theologie dahinter steckt. Papst Gregor der Große meint, in Gottes Wort sollten wir Gottes Herz entdecken. Es geht beim Bibellesen also immer darum, Gottes Herz zu begegnen und in Gott mir selbst auf neue Weise zu begegnen. Bibel lesen ist immer etwas Subjektives. Ich führe einen Dialog zwischen dem Wort, das ich lese, und meinem konkreten Leben. Mein Leben legt die Schrift aus, und die Schrift legt mein Leben aus. Wenn ich den Text verstehe, verstehe ich mich selber besser. Wenn ich die Bibel lese, frage ich mich daher immer:
Was will Gott mir jetzt in diesem
Augenblick durch dieses Wort sagen?
Welche Bilder steigen in mir hoch?
Welche Assoziationen kommen mir?
Was ist der Impuls heute für mich?
Oft ist es besser, gar nicht viel zu «denken», sondern das Wort einfach ins Herz fallen zu lassen. Ich sage mir dann vor: «Dieses Wort beschreibt die eigentliche Wirklichkeit. Wenn dieses Wort stimmt, wie fühle ich mich dann, wie nehme ich die Welt und mich wahr?» Wenn ich das Wort Gottes in mein Herz fallen lasse, erzeugt es in mir Frieden und Freiheit, Weite und Liebe.
Es ist gut, allein die Bibel zu lesen. Am besten fangen Sie in den Evangelien an. Beginnen Sie mit dem Markusevangelium, und lesen Sie es vom Anfang bis zum Ende durch. Versuchen Sie, sich Jesus vorzustellen, wie er mit den Pharisäern diskutiert, wie er mit Ihnen selbst diskutiert. Stellen Sie sich die Szenen der Heilungsgeschichten vor. Sie selbst sind der Aussätzige, der sich nicht ausstehen kann, der unfähig ist, sich selbst anzunehmen und sich daher von andern abgelehnt fühlt. Sie selbst sind der Gelähmte: Angst lähmt, blockiert, hemmt Sie, aus sich herauszugehen. Sie sind der Blinde: Sie haben Ihre Augen vor sich selbst verschlossen. Und dann stellen Sie sich vor, was Jesus mit dem Kranken damals macht und was er Ihnen heute sagen und wie er Sie heute berühren möchte. Es geht immer um Gleichzeitigkeit, nie um das Bedenken eines längst vergangenen Textes. Heute soll an uns geschehen, was damals mit den Menschen geschehen ist. Lukas sagt das deutlich, wenn er siebenmal vom «heute» spricht. Dem Zachäus, dem Oberzöllner, der voller Minderwertigkeitskomplexe ist und daher andere klein machen und seinen Wert durch seinen Reichtum beweisen muss, sagt er: «Heute muss ich in deinem Haus bleiben» (Lk 19,5). Heute will Jesus bei uns zu Gast sein. Wenn wir Jesus in unser Haus einlassen, dann werden wir jetzt die Zusage Jesu vernehmen: «Heute ist diesem Haus Heil widerfahren» (Lk 19,9).
Das Ziel des Bibellesens ist, dass wir heil werden und ganz, dass unsere Wunden geheilt werden, dass wir uns aussöhnen können mit unserem Leben und unsere Augen öffnen für den Gott, den Jesus uns verkündet hat, ganz anders als die Schriftgelehrten. Dann lesen wir die Bibel richtig, wenn für uns die Bemerkung des Markus zutrifft: «Da staunten sie über seine Lehre, denn er lehrte sie wie einer, der (göttliche) Vollmacht hat, und nicht wie die Schriftgelehrten» (Mk 1,22). Sie können die Bibel nicht lesen, indem Sie sich ruhig zurücklehnen. Sie müssen sich auf sie einlassen, sich von ihr provozieren lassen. Dann werden Ihnen die Augen aufgehen, und Sie werden sich selbst und Gott neu entdecken.
Es ist aber auch gut, die Bibel in Gemeinschaft zu lesen. Dabei geht es nicht darum, sein Bibelwissen auszubreiten. Vielmehr soll jeder sagen, was ihn berührt und anspricht und welche Assoziationen in ihm aufsteigen. Die vielen Augen werden den Bibeltext von verschiedenen Seiten aus betrachten und Neues ans Licht bringen. Die Sichtweisen der andern regen mich an, selbst Neues im Text zu entdecken. Gemeinsam erzeugen wir dann eine Atmosphäre des Berührtwerdens. Auf einmal erschließt sich der Text. Und wir erfahren uns als von Gott Angesprochene und Aufgerichtete, als von Gott Geliebte und Geheilte.
Was sind Ihre Lieblingsstellen in der Bibel?
Wenn Sie diese Worte in sich einlassen, was bewirken sie?
Welche Bibel stellen ärgern Sie?
Warum steigt da Ärger hoch?
Was möchten gerade diese ärgerlichen Stellen in Ihnen verändern?
Wie sollten sich Ihr Gottesbild und Ihr Selbstbild wandeln, damit sie diesem Wort der Bibel entsprechen?
Es gibt in der Theologie zwei Richtungen, die sich mit der Auslegung der Texte befassen. Das eine ist die Exegese. Sie studiert die Texte und das historische Umfeld. Sie liefert uns viele Informationen, die uns helfen können, den Text zu verstehen. Die andere Richtung nennt man Hermeneutik. Es ist die Lehre von der Auslegung. Sie ist eigentlich eine philosophische Disziplin. Schon die alten Griechen haben sich mit der Frage beschäftigt, wie man überlieferte alte Texte auslegen könne. Und sie kommen zum Ergebnis: Einen Text auslegen heißt: sein eigenes Leben deuten. Es geht nicht darum, sich zu überlegen, was der Autor sich beim Abfassen des Textes genau gedacht habe. Vielmehr steht mir der Text heute gegenüber. Und es geht darum, mein Leben im Licht des Textes neu zu verstehen:
Jeder biblische Text hat ein ganz bestimmtes Verständnis vom Menschen, von Gott und von der Welt. Wenn ich einen Text lese, gehe ich mit der persönlichen Sicht meiner selbst und meiner Welt an den Text heran. Der große deutsche Philosoph Hans-Georg Gadamer spricht von Horizontverschmelzung bei der Auslegung eines Textes. Wenn ich einen Text lese und ihn zu verstehen suche, dann verschmilzt der Horizont meines Selbstverständnisses mit dem Horizont, den der Text mir über mich, über Gott und über die Welt eröffnet.
Den Text verstehen heißt immer auch, sich selbst besser zu verstehen.
Verstehen heißt immer auch: einen neuen Stand bekommen, sich klarer werden über sich selbst und den Mut finden, zu sich selbst zu stehen.
Es geht nicht darum, beim Bibellesen alle historischen Fakten zu studieren oder sich genau in die Theologie des jeweiligen Autors hineinzudenken. Vielmehr geht es darum, den Text im Licht des eigenen Lebens zu lesen und sich zu fragen: Was bedeuten diese Worte für mich? Was bringen sie in mir in Bewegung? Wo berühren sie mich? Was stellen sie in meinem Selbstverständnis in Frage? Wo eröffnen sie mir einen neuen Horizont? Ich führe einen Dialog mit dem Text. Im Gespräch mit dem Text geht mir auf, wer ich bin und wie ich mein Leben verstehen soll. Und oft genug entdecke ich, wo ich mein Leben ändern muss, weil ich mich innerlich verrannt habe.
Bei der Auslegung kann es helfen, die Bildhaftigkeit der biblischen Sprache ernst zu nehmen. Jede Sprache ist in ihrem Wesen Ausdruck einer Erfahrung. Die Sprache der Bibel drückt in Bildern die Erfahrungen aus, die Menschen mit Gott und mit Jesus Christus gemacht haben. Daher ist es wichtig, dass wir beim Lesen die Worte der Bibel als Bilder anschauen.
Bilder öffnen ein Fenster, durch das wir auf das Geheimnis unseres Lebens und auf das Geheimnis Gottes schauen dürfen.
Wenn wir die biblischen Worte als Bilder nehmen, erliegen wir nicht der Gefahr, zu streiten, wer nun mit seiner Auslegung Recht habe. Es geht nicht um Rechthaben, sondern um die Begegnung mit dem Gott, der in den Worten der Bibel zu uns spricht und uns in den biblischen Bildern aufleuchtet, um unser Leben zu erhellen. Wir brauchen dann keine Angst zu haben, wir würden nicht genügend über die biblische Theologie Bescheid wissen. Die Bilder laden uns ein, durch sie hindurch auf Gott zu schauen, der uns zeigen möchte, wer wir eigentlich sind und wie unser Leben gelingen kann.
Schon die frühe Kirche hat sich darüber Gedanken gemacht, wie wir die Bibel lesen und meditieren sollen. Origenes hat die sogenannte spirituelle oder mystische Schriftauslegung entwickelt. Sie lässt sich nicht von der Frage leiten: «Was soll ich tun?», sondern vielmehr von der Frage: «Wer bin ich?» Alle biblischen Texte werden als Bilder verstanden, die mir das Geheimnis meines Weges zu Gott erschließen wollen. Sie zeigen mir, wie ich vor meinem Gott stehe und welche Schritte ich tun soll, um diesem Gott näher zu kommen.
Auf dem Hintergrund dieser spirituellen Schriftauslegung haben die Mönche schon im vierten Jahrhundert die sogenannte lectio divina («göttliche Lesung», das heißt Lesung der Heiligen Schrift) entwickelt. Die lectio divina kennt vier Schritte: lectio – meditatio – oratio – contemplatio. Diese vier Schritte könnten auch für uns heute ein guter Weg sein, Bibeltexte zu meditieren.
Die Lesung (lectio)
Der erste Schritt besteht in der lectio, in der Lesung. Ich lese den Text ganz langsam, als ob ich ihn zum ersten Mal lese. Ich möchte nicht meine theologischen Kenntnisse erweitern, sondern ich möchte mich vom Wort Gottes treffen lassen. Ich spüre genau hin, wo mich ein Wort berührt und was es in mir auslöst. Gregor der Große meint, es geht bei der Lesung darum, in Gottes Wort Gottes Herz zu entdecken. Ich lese also die Bibel, um Gott zu begegnen und um Jesus Christus zu begegnen, von dem vor allem das Neue Testament auf jeder Seite spricht.
Die Meditation (meditatio)
Die meditatio meint, dass ich das Wort der Schrift in mein Herz fallen lasse. Ich denke nicht darüber nach, sondern versuche das Wort zu kauen und zu schmecken. Ich wiederhole es immer wieder in meinem Herzen. Der Evangelist Lukas hat diese Methode am Beispiel von Maria, der Mutter Jesu, beschrieben. Er sagt von ihr, nachdem sie die Worte der Hirten gehört hatte: «Maria aber bewahrte alle diese Worte und erwog sie in ihrem Herzen» (Lk 2,19). Das griechische Wort symballousa, das hier mit «erwägen» übersetzt wird, heißt eigentlich: «sie fügt zusammen, sie wirft zusammen, sie wirft hin und her». Lukas sieht in Maria die kontemplative Frau, die das Wort Gottes im Herzen bewahrt und hin und her bewegt, damit sie es immer besser versteht. Damit beschreibt er das Wesen der Meditation.
Meditation meint: das Wort Gottes im Herzen zu wiederholen, damit es das Herz und die Tiefen der Seele immer mehr durchdringt. Es soll nicht nur im Kopf bleiben. Denn der Kopf ist immer unruhig. Worte, die nur im Kopf gehört werden, zerrinnen schnell. Doch wenn das Herz das Wort Gottes hin und her bewegt, dann dringt es immer mehr in das Unbewusste des Menschen ein und erleuchtet auch die Abgründe seiner Seele. Es bewirkt im Menschen einen guten Geschmack.
Die Mönchsväter nennen die «Meditation» auch ruminatio, das heißt wörtlich: «wiederkäuen». Sie sprechen davon, dass das Wort, das man wiederholt oder «wiederkäut», den ganzen Leib mit einem süßen Geschmack erfüllt. Es ist der göttliche Geschmack der Liebe, des Friedens und der Freude.
In der lateinischen Tradition heißt meditari: bei etwas verweilen, immer wieder üben. Man kann es auch deuten als: in die Mitte kommen. Das Wort soll in meine Mitte gelangen. Es soll für mich zur Mitte werden, aus der heraus ich lebe. Und es soll mich zur Mitte führen, zu meinem inneren Zentrum, aus dem heraus ich mein Leben gestalten möchte.
Das Gebet (oratio)
Der dritte Schritt der lectio divina ist die oratio. Oratio meint ein kurzes Gebet, ein Gebet, in dem ich meine Sehnsucht nach Gott mit allen meinen Gefühlen und Affekten ausdrücke. In der meditatio – so sagen die Mönche – wird die Sehnsucht nach Gott geweckt. In der oratio bitte ich Gott, dass er meine Sehnsucht erfüllen möge. Er möge sich selbst mir schenken, damit ich mit ihm eins werde. Das Wort möge mich immer tiefer in Gottes Liebe hineinführen, damit ich mich in seine liebenden Hände fallen lasse.
Die Kontemplation (Eins werden)
Der vierte Schritt ist die contemplatio. Die Mönche sagen, dass wir nur die ersten drei Schritte der lectio divina wirklich üben können. Der vierte Schritt ist Geschenk der Gnade Gottes. Wir haben die Worte der Schrift meditiert. Jetzt lassen wir die Worte los und versuchen in der Stille, mit Gott eins zu werden. Die Worte haben uns in die Stille geführt. In den Worten hat uns Gott selbst berührt. Jetzt versuchen wir, in der Kontemplation Gott zu berühren und mit ihm eins zu werden.
Für die frühen Mönche ist die Mystik immer Mystik der Heiligen Schrift. Indem wir die Bibel lesen und meditieren, machen wir die tiefsten mystischen Erfahrungen. Das Ziel aller Mystik ist, mit Gott eins zu werden, nicht mehr über ihn nachzudenken, sondern von ihm erfüllt zu werden und in ihm uns selbst zu vergessen. Gerade dort, wo wir uns selbst vergessen, sind wir ganz gegenwärtig, ganz eins mit dem Augenblick, ganz eins mit Gott.
Contemplari heißt eigentlich schauen. Ich sehe aber nicht etwas Bestimmtes. Ich habe keine Vision. Vielmehr schaue ich auf den Grund des Seins. Papst Gregor erzählt vom heiligen Benedikt, dass er in einem einzigen Sonnenstrahl die ganze Welt erblickt habe. Damit beschreibt er das Wesen der contemplatio. In einem einzigen Blick schaue ich alles auf einmal, nicht nacheinander, sondern ineinander. Ich erkenne nicht etwas Begrenztes, über das ich sprechen könnte. Vielmehr blicke ich durch. Alles ist mir auf einmal klar. Ich weiß nicht, wie ich mein Leben erklären kann. Aber in der Tiefe meines Herzens weiß ich: Es hat sich alles geklärt. Alles ist gut so, wie es ist. Kontemplation ist Zustimmung zum Sein, Zustimmung zu meinem Leben, Einverstandensein mit allem, was ist.
In der Kontemplation denken wir nicht über Gott nach. Denn solange wir noch über Gott nachdenken, sind wir von Gott getrennt. Die Kontemplation will uns in die Einheit mit Gott führen. Isaak von Ninive