Edgar Rai, geboren 1967, wurde mehrerer Schulen verwiesen, ging ein Jahr nach Amerika und studierte Musikwissenschaften und Anglistik in Marburg und Berlin. Er arbeitete unter anderem als Drehbuchautor, Basketballtrainer, Chorleiter, Handwerker und Onlineredakteur. Seit 2001 ist er freier Schriftsteller. Bisher erschienen u. a. die Romane »Vaterliebe« und »Nächsten Sommer«. Zuletzt kam der Roman »Sonnenwende« bei Rütten & Loening heraus. Edgar Rai hat drei Kinder und lebt in Berlin.
Tom glaubt an die Liebe, und weil er seit Jahren mit Helen zusammen und ihr dabei auch noch treu ist, halten seine Freunde ihn für nicht ganz normal. Vor allem Wladimir, für den jede Frau ein Verfallsdatum trägt. Das Wort »Beziehung« hat auf ihn dieselbe Wirkung wie Knoblauch auf einen Vampir, und wenn man in seiner Gegenwart »heiraten« sagt, dann zerfällt er zu Staub. Doch in diesem heißen Berliner Sommer werden die Karten völlig neu gemischt: Ebenso verzweifelt wie vergeblich versucht Tom, den heiligen Gral seiner Liebe durch einen Seitensprung zu retten, und Wladimir verfängt sich im Netz einer rothaarigen Schönen.
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Sonnenwende
Roman
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Über Edgar Rai
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Die Fahrt
Helen
Wladimir
Roswita & Heinz
Elsa
Ada
Lara
Franziska
Helen
Ada
Charlotte
Henriette
Sandra
Franziska
Johanna
Die Finsternis
Ada
Zwillinge
Ada
Unter Wasser
Desdemona
Ada
Desdemona
Abwärts
Ada
Alles auf Anfang
Wash Up
Over and out
Impressum
Im Allgemeinen verhalten sich Systeme, welche aus mehr als zwei Massen bestehen, instabil. Ein solches System wird in einzelne Massen oder 2-Massen-Systeme zerfallen.
Wolfgang Neundorf, Chaos (I), Wissenschaftstheorie
»Ist nicht dein Ernst«, sagte Wladimir.
Paul: »Was?«
»Wir müssen jetzt nicht die ganze Fahrt über deine Depri-Mucke hören, oder?«
Paul hatte seinen MP3-Player angeschlossen und einen seiner Songs aus dem Hades freigelassen. Düstere E-Gitarren waberten durch das Führerhaus und mischten sich mit Stimmen aus dem Jenseits.
Paul: »Das war unser Lieblings-Song.«
Wladimir: »Du meinst wohl, deshalb hat Charlotte Schluss gemacht.«
»Da hätte ich ja gleich zu Hause bleiben können«, mischte sich Tom in das Gespräch, der sich von dem bevorstehenden Wochenende etwas Abwechslung erhofft hatte. So wie es in letzter Zeit mit Helen lief, hatte er die dringend nötig.
»Soll ich jetzt mitfahren oder nicht?«, maulte Paul. Wladimir: »Ist ja schon gut. Dann hören wir eben deine Suizid-Kollektion.«
Zufrieden legte Paul seine Füße auf die Ablage, entfernte die Folie von einer Schachtel Gauloises und gab jedem eine Zigarette. Wladimir saß am Steuer, Tom in der Mitte, er rechts. Genüsslich blies er den Rauch aus dem Fenster und blinzelte in die Sonne: »Worauf wartest du? Fahr los!«
Wladimirs Vater war gestorben. Otto. König Otto. Der König des Wissens. So nannte ihn Tom. Sie waren auf dem Weg nach Bonn, um seine Bücher abzuholen. Für ihre Fahrt hatte Wladimir sich den 7,5-Tonner eines Freundes geliehen, mit dem der jede Woche einmal nach Polen fuhr, um von einem Tischler in Krakau Plagiate mitzubringen, die dann in Berlin als Originale verkauft wurden. Dock1, ein Sprayer mit bundesweiter Reputation, hatte ihn für viel Geld künstlerisch veredelt. Vorgaben hatten sie ihm nicht gemacht, er sollte sich einfach etwas Cooles einfallen lassen. Als Dock1 fertig war, gab es an dem LKW keine unbesprühte Stelle mehr, und eine der Seiten zierte auf fünf mal zwei Metern der Schriftzug »NO FUCK«. Das verstand zwar niemand, aber cool war es, auf jeden Fall.
Tom hatte sich gewundert, dass Wladimir ihn um seine Hilfe gebeten hatte. Sie kannten sich noch nicht lange. Entweder war es eine Auszeichnung, oder Wladimir hatte keine Freunde, die er hätte fragen können. Tom hatte nicht lange überlegen müssen. Er mochte Wladimir und Paul. Und er mochte das Gefühl, zu verreisen, auch wenn es, wie in diesem Fall, nur bedeutete, ein Wochenende lang gemütlich über die Autobahn zu zuckeln.
Sie waren Kompagnons – Wladimir und er. Ein schönes Wort, weil es nach erwachsen gewordenen Kumpels klang. Als Erwachsener hatte man keine »Kumpels« mehr, aber mit etwas Glück hatte man einen Kompagnon. Das war ein Kumpel, mit dem man Geld machte. Wladimir und er waren seit vier Wochen Geldmachkumpels.
Ihre größte Gemeinsamkeit war ihr Mangel an Zielstrebigkeit; das verbindende Element etwas, das beiden fehlte. In Arbeitsdingen hatten sie nicht viel Ehrgeiz entwickeln können. Eine Karriere anstreben konnte schließlich nur, wer wusste, wo er hinwollte. Wladimir fand, die Frage des Jobs war wie die der Religion – völlig überbewertet. Etwas für Menschen, die einen Halt brauchten.
Sie hatten sich im Epikur kennengelernt, als sich ihre Wege zufällig an Pauls Tisch kreuzten, der einfach nur seine Ruhe haben wollte.
»Na wunderbar«, sagte Paul und bestellte bei Charlotte missmutig noch einen Kaffee. »Kennt ihr euch eigentlich schon?«
Beide verneinten.
»Dann setzt euch doch und unterhaltet euch ein bisschen, aber leise, wenn’s geht. Vielleicht nehmt ihr den Tisch da drüben. Tom, Wladimir redet am liebsten über Titten und Ärsche, Wladimir, Tom liest gerne verweste Bücher und steht auf impressionistische Klaviermusik. Ihr werdet euch lieben.«
Um das Schweigen zu brechen, berichtete Wladimir von einem eben geführten Telefonat mit einem Kunden, der angefragt hatte, ob er ihm Parkett verlegen könne. Konnte er nicht, hatte aber trotzdem zugesagt. Tom erfuhr, dass Wladimir sich bereits zu Beginn seines Studiums mit Renovierungsarbeiten über Wasser gehalten hatte. Das Studium war gegangen, die Renovierungsarbeiten waren geblieben. Tom selbst hatte gerade sein Studium beendet und kaute auf den Alternativen einer möglichen beruflichen Zukunft. Das Nächstliegende wäre gewesen, sein Hobby, das Klavierspiel, zum Beruf zu machen, aber dann hätte er für immer den Spaß daran verloren.
Wladimir: »Wenn du willst, können wir den Job ja zusammen durchziehen. Viertausend Euro, schwarz, fifty-fifty.«
Es wurden vier Wochen Arbeit und nur 2100 Euro. Tom hatte beim Abschleifen unter dem Lärmschutz kleine Kopfhörer getragen, um sich mit Bach-Inventionen bei Laune zu halten, was sich als folgenschwerer Fehler erwies. Ohne es zu bemerken, hatte er ein Wellenmuster in den Flur geschliffen, das ihm zunächst nicht auffiel. Nicht einmal, als er anfing, zu lackieren, hegte er einen Verdacht, obwohl die Lackierwalze so seltsam hoppelte.
»Ist was?«, kam es von Wladimir.
»Die Rolle scheint nicht in Ordnung zu sein. Hat irgendwie … eine Unwucht.«
Eine Unwucht, klar. Nachdem der Flur eine glänzende Lackfläche war, wurde das Ausmaß des Schadens offenbar.
»Wladimir, kannst du mal kommen?«
Sie standen in der Tür wie zwei Autohändler beim Blick unter die Motorhaube. Wladimir rieb sich das Kinn, legte den Kopf schief, als betrachte er ein Kunstwerk, und schwieg. Das hielt Tom nicht lange aus: »Sieht aus wie …«
»… ein Tiger.«
»Besser hätte ich es auch nicht sagen können.«
Die Wohnung lag im Hinterhaus. Erdgeschoss. Lichtverhältnisse wie in einem Verlies. Sie drehten kurzerhand vor der Übergabe die Birne heraus, in der Hoffnung, der Auftraggeber würde in der Dunkelheit den Tiger nicht erkennen. Konnte er aber doch. Wladimir erklärte ihm, dass sie so etwas auch noch nicht erlebt hätten. Schuld daran sei die schwingende Balkenkonstruktion, auf der man den Unterboden verkehrt vernagelt hätte; die dadurch entstandenen Vibrationen hätten einen glatten Schliff unmöglich gemacht.
Er war barmherzig genug, Wladimirs Gestammel durchgehen zu lassen, und zahlte 3200. Zusätzlich mussten sie elfhundert Euro für nicht einkalkuliertes Material abziehen. Ein Hungerlohn also, wenn man ihre fragmentierten Knie in Betracht zog. Tom war heilfroh, als sie endlich aus der Wohnung waren.
Nachdem sie das Werkzeug verstaut hatten, sagte Wladimir: »Was für ein Idiot. Wie kann der so eine Arbeit abnehmen?«
Später lernte Tom, dass diese Reaktion für Wladimir typisch war: Statt sich über das Entgegenkommen des Kunden zu freuen, beschimpfte er ihn noch.
»Beim nächsten Auftrag müssen wir aber besser kalkulieren«, meinte er, und das war der Startschuss für ihre Zusammenarbeit.
Seitdem war Tom »Der Dompteur«, oder auch »Il Domatore«. Inzwischen war es ein Running Gag. Wenn sie mit Paul unterwegs waren und Wladimir mal wieder einen Grund gefunden hatte, Tom als Idioten oder Ähnliches zu beschimpfen, dann kam es von Paul: »Pass auf, Wladimir, sonst holt Tom seine Peitsche raus«, oder auch: »Vorsicht, gleich macht er den Käfig auf.«
Sie fuhren schläfrig an leuchtend gelben Rapsfeldern und glücklichen Kühen vorbei und hielten an jeder zweiten Autobahnraststätte, weil Paul entweder pinkeln, essen, trinken, sich die Beine vertreten oder auch nur mal sein Gesicht in die Sonne halten musste. Zwischen Braunschweig und Hannover war es so eintönig, dass Wladimir anfing, von seinem Vater zu erzählen. Tom fand, er klang merkwürdig teilnahmslos, als spreche er von einem alten Bekannten. Den Tod seines Vaters hatte er »zur Kenntnis genommen«, das genügte.
König Otto war Leiter der Bibliothek der Vereinten Nationen gewesen, und zeitlebens hatte ihn nur eine Sache wirklich begeistern können: Wissen. Er hatte sich als Gefäß gesehen und sein Leben damit verbracht, dieses Gefäß zu füllen. Er las. Bei etwas anderem war er praktisch nie beobachtet worden. Mittelalterliche Traktate, Abhandlungen über exotische Vögel aus dem 19. Jahrhundert, französische Existentialisten, einfach alles. Eine ganze Woche hatte er in gebeugter Haltung über einem Brockhaus-Band zubringen können – PAS-RIM.
Seine Angestellten hatten ihn wie einen Heiligen verehrt. Bei besonders schwierigen Buch-Patienten, denen weder Computer noch Bibliothekar weiterhelfen konnten, hatte man ihn aufsuchen müssen, um ihm den Fall vorzutragen – in seinem Elfenbeinturm gab es kein Telefon. Er hatte dann Flügel, Raum, Reihe und Regal auf eine Karteikarte gekritzelt und sie über den Tisch geschoben, als handele es sich um einen konspirativen Treffpunkt. Zum Glück hatte seine junge Freundin die Lästigkeiten des Alltags von ihm ferngehalten.
Was Frauen anging, war er nicht gerade zimperlich gewesen. Wladimir hatte eine Kopie seines Testaments dabei:
(…) Liebe Alexandra, du weißt, wie sehr ich dich schätze und wie dankbar ich dafür bin, dass du mir meine letzten Jahre so sehr versüßt hast. Deshalb sehe ich auch keine Notwendigkeit, die Dinge nicht beim Namen zu nennen: Es lohnt sich nicht, dir meine Bücher zu vererben. Du wüsstest doch nichts mit ihnen anzufangen. Gleiches gilt für den Flügel im Wohnzimmer. Was könntest du schon damit tun, außer Nippes darauf abzuladen? Eine Eigenschaft, die Gott den Frauen als Geduldsübung für die Männer eingepflanzt hat. Aus diesem Grund habe ich mich entschlossen – und ich bin sicher, du hast Verständnis dafür –, alle in meinem Privatbesitz befindlichen Bücher sowie den Bechstein-Flügel meinem Sohn Wladimir zu vererben. Mögen sie ihm helfen, sein Studium eines fernen Tages doch noch zu beenden. (…)
»Nicht gerade diplomatisch«, sagte Tom, als er die Kopie wieder zusammenfaltete.
»Wenn der wüsste«, sagte Paul.
Wladimir: »Ich weiß gar nicht, was du hast. Ich hab’ mein Studium doch beendet – wenigstens so gut wie.«
»Nach vierunddreißig Semestern«, warf Tom ein.
»Na und?«
Paul: »Ohne Abschluss.«
»Ein paar Scheißfreunde hab’ ich da.«
Tom versuchte sich vorzustellen, wie der Tod seines Vaters für ihn sein würde. Für Tom war sein Vater ein Platzhalter: die Verkörperung einer Sehnsucht, die nie gestillt worden war – der Sehnsucht nach Geborgenheit. Was würde sich ändern, wenn er nicht mehr da wäre? Tom wusste es nicht. Nicht viel, wahrscheinlich. Er hatte mal gehört, ein Mann würde erst durch den Tod seines Vaters richtig erwachsen werden. Bedeutete das, dass man den letzten Rest Unbekümmertheit dann auch noch verlor? Er kam sich doch so schon furchtbar erwachsen vor.
Als Wladimir erfuhr, dass er die Bücher seines Vaters geerbt hatte, suchte er sich als Erstes eine größere Wohnung. Er hatte Glück, die Wohnung kam zu ihm. Tom und er zogen Dielen ab in einem Haus in der Kyffhäuserstraße, das einem Konsortium schwuler Architekten gehörte, von Wladimir »das Kartell« genannt. Zwei von ihnen kamen jeden Mittag mit ihrem silbergrauen Jaguar vorgefahren, um nach dem Rechten zu sehen, sich ihre Kaschmirsakkos staubig zu machen und ihnen Pizza und Cola zu bringen. Eine von den Vierzimmerwohnungen war noch unvermietet, und als Wladimir so tat, als müsse er es sich überlegen, erlagen sie seinem schweißglänzenden Oberkörper und kamen ihm sogar noch mit der Miete entgegen.
»Was willst du denn mit 135 Quadratmetern?«, fragte Tom.
»Du wirst dich wundern.«
Es war ein nicht ganz gewöhnliches Haus. Im Erdgeschoss wohnte ein schwules Pärchen, dem Tom die Namen »Husch« und »Knack« gegeben hatte. Nie sah man einen von ihnen alleine. Sie kamen zusammen, gingen zusammen und kauften gemeinsam ein, aber wenn Tom ihnen begegnete, taten sie immer so, als wüssten sie nichts voneinander. Das ging so weit, dass sie bei Reichelt mit zwei Einkaufswagen unterwegs waren. Der Größere trug eine verkehrt herum aufgesetzte Baseballmütze, der Kleinere einen schwarzen Rolli, selbst bei dreißig Grad. Auch sie hatten ihre Wohnung dem »Kartell« zu verdanken.
Im ersten Stock residierte ein in die Jahre gekommener ehemaliger Schauspieler, der seinen weißen Flokati-Hund gerne im seidenen Morgenmantel um den Block führte, dabei Spitze rauchte und an bessere Zeiten zurückdachte; ihm gegenüber wohnte ein Kellner aus dem »Rasenden Roland«, der gerne erzählte, dass er der glücklichste Mensch der Welt wäre, wenn er nur Kinder bekommen könnte. Wie die beiden zu ihren Wohnungen gekommen waren, wussten Wladimir und Tom nicht, konnten es sich aber denken.
Im zweiten Stock rechts lebte zurückgezogen und still ein Krankenpfleger und links, unter der Wohnung von Wladimir, eine Frau, die Tom und er nie richtig zu sehen bekamen, weil sie wie ein Phantom durchs Treppenhaus huschte. Wie die zu ihrer Wohnung gekommen war, konnten sie sich nicht erklären. Auf ihrem Klingelschild stand in geschwungener Schrift »Gschwind«.
Tom: »Ihr Name scheint Programm zu sein.«
Die Wohnung neben Wladimirs sollte im Verlauf des Sommers noch renoviert werden, und oben, im vierten, hatte man die beiden Wohnungen für eine Männer-WG zusammengelegt.
Wladimir: »Hoffentlich bin ich nie so betrunken, dass ich mich in der Wohnungstür irre.«
Alexandra, König Ottos Hofdame, war wirklich jung, vielleicht sogar jünger als Paul, und er war der Jüngste von ihnen. Als sie die Tür öffnete, fragte Paul als Erstes in seiner unverblümten Art: »Du bist Alexandra? Sag mal, wie ist das denn so, wenn ihr euch seht? Sagt Wladimir dann Mutti zu dir?«
Paul sagte oft Dinge, die der Situation nicht angemessen waren. Manchmal beneidete Tom ihn dafür. Er wäre auch gerne mal nicht nett und einfühlsam gewesen.
Weshalb Wladimir sich einen LKW geliehen hatte, um die Bücher seines Vaters abzuholen, klärte sich von selbst, als sie die Wohnung betraten. König Otto hatte nicht nur in einer Bibliothek gearbeitet, er hatte in einer gelebt. Es war bedrückend. Kaum ein Quadratzentimeter Wandfläche, der nicht von Büchern bedeckt war. Selbst Handtücher und Teller in Bad und Küche mussten sich ihren Platz von Büchern streitig machen lassen. Im Schlafzimmer standen die Regale in Reihen und hielten das Bett in der letzten freien Ecke gefangen.
Die Wand hinter dem Konzertflügel im Wohnzimmer war Noten vorbehalten, Hunderten von Einzelausgaben und kleinen Heftchen. Tom stand wie vor einem Monument. Zuerst konnte er kein System erkennen, weil die Ausgaben nicht nach Komponisten geordnet waren. Als er sich zu vertiefen begann, erkannte er jedoch, dass sie nach Erscheinungsdatum angeordnet waren – aufgeschnürt wie Perlen auf dem Faden der Zeit. Als sei sie das einzig unumstößliche Kriterium, dem sich alles andere zu beugen habe. Daher auch keine Sammlungen: die hätten Stücke unterschiedlicher Entstehungsdaten enthalten. Wahllos zog Tom einen Band heraus – Scarlatti-Sonaten. Das Papier war alt, aber auffällig unbefleckt. Die Bindung knackte, als er die Seiten auseinanderdrückte.
Alexandra stand plötzlich hinter ihm. Irgendwie glitt sie lautlos durch die Wohnung, als hätte sie Luftkissen unter ihrem Rock. Er wollte etwas sagen.
»Die sehen alle so unbenutzt aus.«
»Er konnte nicht spielen.«
»Er konnte nicht spielen?«
»Nein.«
»Wozu dann die ganzen Noten?«
»Wenn er nicht las, hörte er Klaviermusik. Die Dinge, die er hörte, wollte er in gedruckter Form – als Buch, wenn du so willst.«
»Konnte er denn Noten lesen?«
»Auf seine Art schon, denke ich.«
»Auf seine Art?«
»Er hätte wohl gesagt, er sieht etwas in ihnen.«
»Und er hat nie gespielt?«
»Nein.«
Tom stellte sich König Otto vor, wie er über einem Band mit Beethoven-Sonaten saß wie ein Kaffeesatzleser, und schwankte zwischen Hochmut und Hochachtung.
»Darf ich?«, fragte er und deutete auf den Flügel.
»Er gehört Wladimir«, sagte Alexandra.
Da Tom nicht wusste, wie er ihre Antwort zu deuten hatte, blieb er stehen, mit den Noten in der Hand. Er erwartete, dass sie etwas Erklärendes anfügen würde, aber sie lächelte nur entfernt und schwebte leise aus dem Zimmer. Genauso verschroben wie ihr König, dachte Tom.
Sie fuhren nachts zurück. Bereits am Nachmittag hatte sich unbemerkt ein Nieselregen eingestellt, der sie bis nach Berlin begleitete. Die Wischblätter waren zerschlissen, die Nacht verschwamm zu einem Kinderbild, dessen Farben ineinanderliefen. Tom wusste nicht, warum, aber er saß schon wieder in der Mitte. Die Sitzbank bot nur Platz für eine Hälfte seines Hinterns, die andere musste mit der Konsole vorliebnehmen und wurde langsam von der Hitze des Motors gegart. Wenn Wladimir schalten wollte, musste Tom zur Seite rücken. Sie fuhren mit offenen Fenstern. Die Heizung war kaputt, das hieß, man konnte sie nicht abstellen. Die Luft, die zu beiden Fenstern hereindrang, vereinigte sich über seinem Sitzplatz zu einer Windhose, in deren Auge er saß. Einmal wirbelte minutenlang ein Kaugummipapier um ihn herum. Versuchte er sich zu bewegen, wurde ihm entweder der Arm oder der Kopf weggerissen.
Paul und Wladimir unterhielten sich an ihm vorbei, während er in Gedanken versunken war, die ihn umkreisten wie das Kaugummipapier. Irgendwann fragte Paul, ob Wladimir sich vorstellen könne, mit Alexandra ins Bett zu gehen. Da hakte Tom ein: »Tut mir leid, aber bevor ihr beiden darüber philosophiert, ob die Freundin von Wladimirs verstorbenem Vater zum Abschuss freigegeben ist, muss ich mal was loswerden: Ich fand es unmöglich, wie du bei Alexandra mit der Tür ins Haus gefallen bist! Sie zu fragen, ob Wladimir Mutti zu ihr sagt … Die hat gerade ihren Mann verloren!«
Paul: »Du meinst, ich hätte das lieber nicht sagen sollen?«
Tom: »Natürlich nicht. Das war völlig – entschuldige das Wort – pietätlos.«
Paul: »Wladimir?«
Wladimir zog die Schultern hoch: »Keine Ahnung. Schon möglich.«
Tom war müde. Morgen würden sie die mühsam eingeladenen Bücherkisten in Wladimirs Wohnung tragen müssen, eine schwerer als die andere. Er dachte an Helen, die er in Gedanken in Berlin gelassen hatte, und daran, dass er morgen auch nicht wissen würde, wie es mit ihnen weitergehen sollte.
Tom wusste noch immer, was Helen an jenem Tag vor acht Jahren getragen hatte, und konnte sich an den Stand der Sonne und die langen Schatten auf ihrem müden Gesicht erinnern.
Er hatte Bekannte besucht, die auf der Suche nach dem kleinen Glück einen Kredit aufgenommen hatten, um sich in Lichtenrade eine Doppelhaushälfte zu kaufen. Ihr Teil des Gartens war gerade groß genug, um im Winter zwei Kisten Bier kalt zu stellen. Bereits auf der Hinfahrt war Tom komisch zumute gewesen. In diese Gegend hatte es ihn noch nie verschlagen. Die Straße war so weit vom Zentrum entfernt, dass man sie im Stadtplan wie zur Strafe auf einer Anschlusskarte in die Ecke verbannt hatte.
Stefanie begrüßte ihn mit Wangenkuss und einer Küchenschürze um den Bauch, Lars saß vorm Fernseher. Als Tom das Wohnzimmer betrat, schaltete er ihn widerstrebend aus. Er hatte zugenommen, ein Doppelkinn kündigte sich an. Durch die Terrassentür konnte Tom ihren dreijährigen Sohn Pascal sehen, der wie ein Hamster im Laufrad mit seinem Bobbycar Rillen in den Rasen fuhr, das Steuer am Anschlag. Über dem dritten Stück selbstgemachtem Pflaumenkuchen mit Sahne hielt es Tom nicht länger aus: »Meint ihr nicht, er sollte auch mal in die andere Richtung fahren?«
Lars: »Hab’ ich auch schon überlegt, aber er mag es so.«
Kurz darauf erfand Tom einen Vorwand und verabschiedete sich. Als er seinen Wagen aufschloss, wagte er nicht aufzublicken. Er war sicher, dass Stefanie mit dem winkenden Pascal auf dem Arm am Küchenfenster stand, und wollte ihnen sein trauriges Gesicht ersparen.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er Helen, die vor dem Jägerzaun des Nachbarhauses einen Stadtplan studierte. Sie stand neben einem Koffer, der größer war als sie selbst, und sah genauso aus, wie Tom sich gerade fühlte. Wenn er sie hier alleine zurückließe, wäre sie verloren. Ihre schlanken Schultern zeichneten sich scharf durch die weiße Bluse ab, und ihre Handgelenke waren so schmal, dass er sich fragte, wie sie den Koffer ohne fremde Hilfe bis hierher hatte bewegen können. Ihr verletzliches Gesicht war von Sommersprossen bedeckt, und überall hatte sie kleine Leberflecken. Ihr Schwanenhals lief in ihre Schultern wie Honig. Er ging zögerlich auf sie zu, als könne sie jeden Moment davonspringen.
»Äh … Hallo.«
Sie war neu in Berlin, frisch eingetroffen. Sie hatte sechs Stunden Zugfahrt hinter sich, eine falsche U-Bahn, zwei S-Bahnen und einen Bus. Zum Monatsanfang sollte sie ihren ersten Job als Krankenschwester antreten, bis dahin hoffte sie, eine Wohnung gefunden zu haben. In der Zwischenzeit würde sie bei Freunden ihrer Eltern wohnen, die hatten ein Haus in der Mozartstraße, nur leider nicht in dieser.
»Wo musst du hin?«
Sie schaute angestrengt auf ihren Stadtplan.
»Ich weiß nicht genau, es gibt mehrere … Zwei kommen in Frage, die hier und … die.«
»Hast du eine Telefonnummer?«
»Ja, hier auf dem Zettel. Aber nur Festnetz.«
»Wie fängt sie an?«
»Sieben, neun, drei …«
»Eine Sieben am Anfang könnte Steglizt sein. Müsste die hier sein.«
Tom zeigte ihr die Stelle auf der Karte. Es lag nicht gerade auf seiner Strecke, war aber auch kein großer Umweg. Vierzig Minuten, höchstens.
»Dann fahre ich am besten mit der S-Bahn zurück bis … Anhalter Bahnhof, und dann mit der S1 …«
»Ich kann dich vorbeifahren, liegt auf meinem Weg.«
»Wirklich?!«
»Klar, ist kein Problem. Wirklich.«
»Das fängt ja gut an.«
Zwei Tage später schliefen sie zum ersten Mal miteinander. Es fing wirklich gut an. Tom hatte sie in ein thailändisches Restaurant eingeladen und sie ihn während des Nachtischs mit ihrer Philosophie überrascht, dass, wenn zwei miteinander Sex haben sollten, sich das spätestens bei ihrem dritten Treffen entschied. Da sie sich am Vortag bereits zum Kaffee getroffen hatten, hieß das: »Du musst dich also heute entscheiden.«
Hinter ihrem Rücken drehten zwei verliebte Buntfische in einem Aquarium ihre Runden. Aus Toms Perspektive sah es aus, als würden sie auf der einen Seite in Helens Kopf hinein- und auf der anderen wieder herausschwimmen.
Tom: »Was ist mit dir?«
»Ich hab’ mich schon gestern entschieden.«
»Ich habe nichts außer Kaffee, keine zweite Bettdecke und nur eine Zahnbürste.«
»Brauchen wir mehr?«
Das hatte Tom mächtig imponiert; sonst war sie gar nicht mutig.
»Möchtest du was trinken?«, fragte er, nachdem er ihre Jacke aufgehängt hatte.
»Ich dachte, du hast nichts da.«
»Stimmt.«
Sie ging ins Schlafzimmer.
»Hast du keine Kerzen?«
Tom fand eine angestaubte Packung mit Teelichtern, die Helen im Zimmer verteilte und anzündete. Etwas zu sakral für Toms Geschmack, aber nicht ohne Wirkung: Das Bett trieb auf einem See aus Licht. Von hinten schlang er seine Arme um sie und küsste ihren Hals. Sie führte einen Arm über ihre Schulter und streichelte zärtlich seinen Kopf.
Helen: »Setz dich.«
Sie stand am Fußende des Bettes und entblätterte sich nach und nach. Schwarze Spitzenunterwäsche kam zum Vorschein, die trug sie sicher nicht jeden Tag. Sie schien Vertrauen in ihre Philosophie zu haben. Ihr Körper glänzte wie Seide und fühlte sich an wie warmes Leder. So etwas hatte Tom noch nie berührt; neben ihr kam er sich unförmig und spannungslos vor. Und überall diese kleinen Leberflecken, die ihn, er wusste es schon jetzt, immer faszinieren würden. Ihre spitzen Brüste reckten sich selbstbewusst, und unaufhörlich bewegten sich ihre Muskeln unter der Haut. Er musterte sie und begann zu lächeln.
»Was ist?«, fragte sie.
»Deine Brüste sind hochnäsig.«
»Dann musst du ihnen Manieren beibringen.«
Der Sex mit ihr war zärtlich, verhalten und vorsichtig, und als sie kam und die Anspannung in einem langgezogenen Stöhnen aus ihrem Körper entwich, fühlte Tom sich beschenkt. Es war so, wie ihre Beziehung werden sollte: innig und liebevoll, aber niemals leidenschaftlich.
Helen erzählte ihm, dass sie Turnerin gewesen war, es aber nie bis nach oben geschafft hatte, weil sie einfach ein paar Zentimeter zu groß war und sich mit fünfzehn die Wirbelsäule ruiniert hatte. Sie zeigte ihm Fotos von Meisterschaften. Auf einem Zeitungsausriss war sie in der Schlussposition einer Kür mit dem Band zu sehen. Sie stand auf einem Bein, das andere senkrecht in der Luft, ihr Oberkörper so weit nach hinten gebogen, dass sie mit der freien Hand die Fessel des Fußes umfassen konnte, auf dem sie stand. Die andere Hand hielt den Stab wie einen Taktstock, das blaue Band umrahmte sie wie eine schimmernde Girlande. Es war perfekt.
Tom half ihr, eine Wohnung zu suchen. Bis sie eine gefunden hatten, arbeitete Helen natürlich längst und hatte keine Zeit mehr, also renovierte er sie auch gleich. Ihre Dankbarkeit war der süßeste Lohn, den er sich denken konnte. Neun Monate lang waren sie keine Nacht voneinander getrennt. Die Vorstellung, einmal nicht in den Armen des anderen einzuschlafen, war beklemmend. Sie versuchten es gelegentlich, um ihre Selbständigkeit zu demonstrieren, scheiterten aber regelmäßig, weil einer dann doch zum Handy griff – meistens Helen – und eine SMS schrieb: »Willst du nicht noch vorbeikommen?«, während der andere schon auf die SMS gewartet hatte – meistens Tom. Zu zweit waren sie unschlagbar. Sie malten sich aus, wie es sein würde, gemeinsam alt und schließlich von den gleichen Würmern zerfressen zu werden.
Wenn Helen keinen Dienst hatte, gingen sie samstags zusammen auf den Markt und schlürften anschließend, von Tüten umringt, im »No. 8« zwei Milchkaffees. Danach eilten sie in Helens Wohnung, schliefen miteinander, um für Stunden nackt in Löffelstellung zu träumen, wieder miteinander zu schlafen und dann die Tüten auszupacken und das Abendessen vorzubereiten. Es fühlte sich unsterblich an.
Einmal jonglierte er vor dem Gemüsestand mit drei Avocados für sie. Als er versuchte, hinter dem Rücken zu jonglieren, flog eine der Avocados an seiner Hand vorbei und zerplatzte auf dem Fahrradlenker eines völlig konsterniert dreinblickenden kleinen Mädchens. Unter den Augen der Schlangestehenden beugte sich Tom zu ihr hinab: »Sag mal, was machst du denn für Sachen! Du kannst mir doch nicht einfach meine Avocado wegnehmen!«
Er hob die zermatschte Frucht vom Boden auf und ergänzte mit Blick auf die verschmierte Klingel: »Na gut, den Rest darfst du ablecken.«
Zwei Stände weiter warf ihm Helen ihre Arme um den Hals und küsste ihn.
»Du-u?«
»Ja-a?«
»Hast du gerade versucht, mich zu beeindrucken?«
»Ich? Niemals.«
»Ich liebe dich.«
»Wie recht du hast.«
»Ich glaube, heute ist mir nicht nach Kaffee.«
»Konnte ich noch nie leiden.«
Und dann reckte sie sich zu ihm empor und flüsterte ihm etwas ins Ohr, das er niemals vergessen würde: »Ich hätte dich nicht zu träumen gewagt.«
Da waren sie schon ein halbes Jahr zusammen.
Zur gemeinsamen Wohnung war es nur ein kleiner Schritt. Sie bildeten sich ein, dass es keinen Unterschied machte, ob sie weiterhin jeder eine eigene Wohnung hatten, schließlich hielten sie sich doch nur immer bei dem einen oder anderen auf. Trotzdem machten sie eine große Sache aus der Entscheidung – als müssten sie sich gegenseitig davon überzeugen, das Richtige zu tun. Ein bisschen wie heiraten: ganz bewusst die drohende Gefahr vor Augen. Damit werden wir locker fertig. Nichts konnte sie schrecken. Wenn die Liebe nur groß genug war, nahm sie jede Hürde.
Einmal saß Tom in der Mensa und brütete über einem Aufsatz, während er lauwarme Nudeln mit ergrautem Broccoli in sich hineinstopfte, als plötzlich jemand sagte: »So also sieht Mensa-Essen aus. Na, da habe ich ja nicht viel verpasst.«
Es war Helen.
Tom: »Was machst du denn hier?«
»Ich hatte noch einen halben Urlaubstag – wegen des Umzugs. Den hab’ ich mir genommen.«
»Und jetzt?«
»Machst du blau.«
Die Stadt war träge. Wer nicht arbeiten musste, lag auf einer schattigen Wiese oder kämpfte im Schwimmbad um einen Kubikmeter Wasser. Aus Helen sprudelte das Leben nur so heraus; sie hüpfte mehr, als dass sie ging. Tom und sie liefen nach Hause. Zu Fuß. Quer durch die Stadt. Dafür hatte sie sich frei genommen! Ihr Rock wippte unaufhörlich, und ihre Bluse blähte sich wie ein Segel. Die ganze Zeit über waren ihre Hände ineinander verschränkt. Sie brauchten fast drei Stunden.
An einer Kreuzung mussten sie auf Grün warten, Helen war kurz davor, im Kreis zu laufen.
»Komm mit«, rief sie und riss ihn herum.
»Was …?«
Sie steuerte ein Geschäft an. Die Fassade war mit leblosen Steinfliesen verschalt. Tom konnte gerade noch das Schild im Fenster lesen: »Bestattungsinstitut«. Etwas für Akademiker, dachte er, und dann: »Was willst du denn …?«
Aber sie hatte bereits die Tür aufgedrückt.
Tom bekam Gänsehaut. Auf der Straße hatte er geschwitzt, hier drin war es wie in einem Kühlhaus. Die Räume waren airconditioned. Mussten Särge frisch gehalten werden? Am liebsten wäre er sofort wieder gegangen. Eine Frau Mitte fünfzig mit hennagetönten Haaren und eingefallenem Gesicht blickte überrascht auf und kam hinter ihrem Tisch hervor. In langen Regalen standen indirekt beleuchtete Urnen wie errungene Trophäen einer erfolgreichen Sportlerkarriere. Eine leuchtete in Pink und Türkis wie ein riesiges Bonbon, eine andere war quadratisch, mit flötenden Engeln an den Seiten, die den Deckel anzuheben versuchten. In angemessenem Abstand blieb die Frau stehen: »Guten Tag. Womit kann ich Ihnen helfen?«
Sie lächelte teilnahmsvoll, neigte den Kopf zur Seite und faltete die Hände. Ihr Kostüm war farblich auf die Fliesen an der Fassade abgestimmt. Mit Leib und Seele bei der Sache, dachte Tom und rügte sich; dies war kein Ort für Doppeldeutigkeiten. Ihr Anblick machte ihn traurig. Im Laufe der Zeit musste der Beruf von ihr Besitz ergriffen haben; irgendwann hatte sie eine Pose angenommen und war darin erstarrt. Tom fragte sich, ob sie giftgrüne Hosen mit grellgelben Blusen kombinierte, sobald sie nach Hause kam. Nein, tat sie nicht.
»Guten Tag«, sagte Helen freundlich. »Entschuldigen Sie bitte, wir haben eine Frage: Gibt es Doppelsärge?«
Tom wollte seine Hand aus ihrer lösen, aber Helen hielt ihn fest. Ein Kronleuchter hing von der Decke. Tom musste sich ducken, um nicht dagegenzustoßen. Verlegen blickte er um sich. Ungefähr ein Dutzend Särge wetteiferten um die besten Plätze vor dem Schaufenster. Es gab fancy stuff aus Metall und Kunststoff, aber die Klassiker waren in der Überzahl. Weiter hinten stand eine schrankhohe fahrbare Garderobe, die Leichentücher wie Dessous präsentierte – mindestens dreißig unterschiedliche. Von wegen »im Tod sind alle gleich«.
»Ich verstehe nicht«, sagte die Frau freundlich, und ihr Kopf neigte sich noch etwas weiter zur Seite. Jetzt sah sie wie ein Boot mit Schlagseite aus. Helen zeigte Toms Hand vor: »Sehen Sie, wir möchten gerne Hand in Hand begraben werden.«
Die Bestatterin hatte den Verdacht, die junge Frau mache sich über sie lustig, aber sie war sich nicht sicher. Tom auch nicht.
»Nein, so etwas gibt es nicht.«