Titel
Prolog
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Der neue Anfang
Impressum
Katie MacAlister
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Bettina Oder
Prolog
„Er ist hier.“
„Echt? Wo? Lass mich mal sehen!“
Ich spürte einen Luftzug hinter mir, als Magda herübereilte, um ebenfalls einen Blick zu erhaschen. „Bist du sicher, dass er das ist?“
Ich schob den schweren blauen Tweedvorhang vorsichtig beiseite, wodurch sich ein winzig kleiner Spalt zwischen Vorhang und Fenster auftat, durch den ich den Mann vor meiner Haustür beobachten konnte. „Er muss es sein. Sieh ihn dir doch nur an.“
„Das würde ich ja, wenn du mal deine Hand wegtust … Ah.“ Magda hatte, wie ich fand, die Stimme einer Opernsängerin, mit warmem Timbre und einem spanischen Akzent, der gleichzeitig charmant und sexy klang. „Na ja, er hat eine Sonnenbrille an, das stimmt schon, aber die tragen eine Menge Leute.“
„Abends?“, fragte ich.
Sie schürzte die Lippen. „Er hat aber nicht so lange Haare wie Alec.“
„Das nicht, aber sieh dir mal diesen spitzen Haaransatz an. Das schreit doch geradezu nach Vampir. Genau wie der Filzhut, den er da in der Hand hält.“
„Quatsch. Das ist doch nur ein Hut.“
Ich zeigte mit dem Finger darauf. „Das ist nicht nur ein Hut. Er ist aus Leder und total stylish, und sämtliche Vampire, die ich gesehen habe, haben so was Ähnliches getragen.“
„Hmpf. Viele Männer tragen so was. Und lange Staubmäntel auch.“
„Also, ich bitte dich! Kennst du sonst irgendwen, der angezogen ist wie jemand, den ein Agent in seine Kartei für männliche europäische Models aufnehmen würde und der zudem eine Sonnenbrille und einen Hut trägt und förmlich nach Sex und Gefahr riecht?“
„Äh …“ Sie verzog das Gesicht, während sie überlegte. „Ach, ich weiß auch nicht. Bist du sicher, dass das der Bote ist?“
„Absolut.“
„Hmm.“ Magdas Kinn ruhte auf meiner Schulter, während wir uns hinter dem Vorhang drängten. „Er könnte doch so ein religiöser Spinner sein, der dich bekehren will. Oder ihm ist das Benzin ausgegangen, und er muss mal dein Telefon benutzen. Oder vielleicht ist er ein Geist, der sich verirrt hat und jetzt deine Hilfe braucht, um den Ort zu finden, den die Geister Himmel nennen.“
„Die Isländer nennen ihn Ostri, und er ist kein Geist.“
„Woher weißt du das? Hast du dein Dingsbums an?“
Ich hob meine Hand. Ein kleiner ovaler Mondsteinanhänger baumelte sachte an einem silbernen Armband.
„Okay, dann ist er also kein Geist. Lass ihn doch einfach rein, und dann werden wir schon sehen, wer er ist.“
„Machst du Witze?“, fragte ich und sah sie mit scharfem Blick an. „Er ist ein Vampir! Hast du denn überhaupt keine Ahnung? Du darfst einen Vampir niemals in dein Haus bitten, denn wenn du das einmal gemacht hast, kann er jederzeit hereinkommen, wann immer er will.“
Ihre Lippen kräuselten sich. „Im Gegensatz zu, sagen wir mal, einem normalen Mann?“
„Du weißt schon, was ich meine.“
„Warum fragst du nicht einfach Kristoff?“, fragte sie desinteressiert und wandte sich ab.
Ich ließ den Vorhang fallen und starrte meine Freundin quer durch das kleine Wohnzimmer hinweg wütend an. „Du weißt ganz genau, dass ich von diesem speziellen Mann kein einziges Wort gehört habe, seit dieser grauenhaften Zeit in Island, als ich am Ende plötzlich seine Auserwählte war statt Alecs. Er hasst mich, weil ich an die Stelle seiner toten Freundin getreten bin. Ich könnte ihn auf gar keinen Fall fragen, selbst wenn ich wüsste, wo er sich gerade aufhält, aber das weiß ich sowieso nicht, und darum brauchen wir darüber auch gar nicht erst zu reden.“
„Mach dich doch nicht lächerlich!“, sagte Magda. Sie ließ sich auf meine Couch fallen und winkte mit der Hand in Richtung Bogengang, der in meine Küche führte. „Da ist er doch. Du kannst ihn alles fragen, was du willst.“
Mir klappte die Kinnlade herunter, als sich ein Schatten aus der Dunkelheit des angrenzenden Zimmers löste und ein Mann ins Licht trat. Ein Paar Augen von reinstem Türkis blickte mich durchdringend an, und mein Herz begann so heftig zu klopfen, dass ich fürchtete, es würde mir die Brust sprengen.
„Pia“, sagte Kristoff mit dieser wunderschönen Stimme mit dem italienischen Akzent, bei deren Klang ich mich stets fühlte, als ob er meine bloße Haut mit Samt streicheln würde.
„Wie … wie bist du denn hierhergekommen?“, stammelte ich. Mein Gehirn war von seinem Anblick und Duft und Klang vollkommen überwältigt, wie er da so vor mir stand, dicht genug, dass ich mich jederzeit auf ihn stürzen könnte.
„Du bist meine Auserwählte“, sagte er und machte einen Schritt auf mich zu. Das Licht einer in der Nähe stehenden Lampe warf einen goldenen Schein auf ihn, die kantigen Flächen seines Gesichts und die kleine Kerbe in seinem Kinn lagen im Schatten, doch die kurzen schokoladenbraunen Locken, die gerade noch die Spitzen seiner Ohren berührten, glänzten – diese Locken, ich wusste es nur zu genau, waren so weich wie Satin. Und sein Mund … oh, dieser Mund mit den üppigen, sensiblen Lippen, die mich vor Verlangen glatt in den Wahnsinn treiben könnten, die mir auf der Stelle seinen Geschmack wieder ins Gedächtnis riefen: diesen teils süßen, teils würzigen Geschmack, der so unverwechselbar zu Kristoff gehörte. Meine Knie drohten sich auf der Stelle in Pudding zu verwandeln. Ich umklammerte eine Stuhllehne, um zu verhindern, dass ich mich augenblicklich zu seinen Füßen in eine riesige Pfütze auflöste. „Wir sind für alle Ewigkeit aneinander gebunden, Pia. Ich kann getrennt von dir nicht existieren.“
„Aber …“ Zu diesem Zeitpunkt hatte mein Gehirn auch den letzten Rest von Nützlichkeit verloren und konzentrierte sich ausschließlich darauf, mir eine Million kleiner, intimer Momente mit ihm in Erinnerung zu rufen. Ich zwang es mühsam, sich von diesen äußerst angenehmen Bildern zu trennen und sich zumindest den Anschein zu geben, es sei ein funktionstüchtiges Organ. „Aber wir waren doch getrennt. Fast zwei Monate lang.“
„Kristoff hatte nicht damit gerechnet, dass du die Schritte der Vereinigung mit ihm vollziehen würdest“, sagte eine männliche Stimme hinter mir.
Der Bote, der vor meiner Tür gestanden hatte, befand sich jetzt in der Türöffnung. Ich musste ein paarmal blinzeln, als mir klar wurde, dass ich ihn schon einmal gesehen hatte. „Du bist Andreas. Du bist Kristoffs Bruder.“
„Er hatte nicht damit gerechnet, seine Auserwählte zu finden“, fuhr Andreas fort. Sein Gesicht ähnelte nur entfernt den Zügen des Mannes, der mich in meinen Träumen heimsuchte.
„Da ging’s ihm genau wie mir, aber ich bin nicht weggelaufen“, sagte ich. Ich wandte mich wieder Kristoff zu, um ihn zu fragen, wieso er nicht ein einziges Mal in den zwei Monaten, seit ich ihm das Leben gerettet und ihm dabei unbeabsichtigterweise auch noch seine Seele zurückgegeben hatte, Kontakt mit mir aufgenommen hatte. Aber noch bevor ich den Mund aufmachen konnte, zog er sich wieder in die Schatten zurück.
„Du bist meine Auserwählte“, wiederholte er, als ihn die Dunkelheit verschluckte. Der tief bewegte Klang seiner Stimme lag noch in der Luft, als er vollständig verschwand. „Wir sind miteinander verbunden.“
„Warte …“ Ich machte einen Schritt auf ihn zu.
Andreas ergriff meinen Arm und sagte mit eindringlicher Stimme: „Er hatte nicht erwartet, von dir gerettet zu werden.“
„Aber ich konnte nicht anders“, versuchte ich zu erklären. Doch Andreas schüttelte einfach nur den Kopf und verschwand durch die Tür.
„Ich hatte keine Wahl.“ Ich sah mich mit ausgestreckten Armen nach irgendjemandem um, dem ich meine Lage erklären könnte. Magda seufzte, legte ihre Zeitschrift hin und stand auf.
„Ray ruft nach mir. Ich muss jetzt gehen. Aber wir sind bald wieder hier, und dann können wir über alles reden, okay?“
„Du verlässt mich?“, fragte ich, mit einem Mal von Panik erfüllt, als sie auf die dunkle Küche zuging. „Du lässt mich hier allein?“
Sie blieb kurz stehen und schüttelte den Kopf; ihre Lippen waren zu einem sanften Lächeln verzogen. „Ich bin in Wirklichkeit gar nicht hier, Pia. Das ist bloß ein Traum, sonst nichts.“
„Aber Kristoff war hier.“ Ich zeigte auf die Tür zu meinem Schlafzimmer. „Er stand genau da. Ich hab ihn doch gesehen.“
Sie sagte nichts, sondern schenkte mir nur noch einmal ein kurzes Lächeln. Und dann löste auch sie sich in nichts auf.
„Ich habe ihn gesehen!“, sagte ich trotzig in das nunmehr leere Zimmer hinein. „Kristoff, ich habe dich gesehen. Kristoff?“
Das Echo meiner Stimme war alles, was ich hörte.
Ich schlang die Arme um meinen Körper und sank mit einem herzzerreißenden Schluchzen zu Boden, während mein Herz seinen Namen hinausschrie. Kristoff!
Pia?
Seine Stimme erklang sanft in meinem Kopf; sanft und vertraut und warm. Alle meine Sinne wurden mit einem Schlag von der Erinnerung an ihn überflutet. Das reichte, um mich aus meinem Traum zu reißen. Heiße Tränen rannen mir aus den Augenwinkeln, während mein Bewusstsein zurückkehrte und zugleich jenes tief gehende Gefühl des Verlusts, das inzwischen mein ständiger Gefährte zu sein schien.
Während mein Verstand noch darum kämpfte, sich von der Benommenheit des Traums zu befreien, wurde mir klar, was passiert war. Ich hatte aus den Tiefen meines Traums heraus nach Kristoff gerufen, und er hatte geantwortet. Obwohl ich wusste, dass Auserwählte und ihre Dunklen häufig die Fähigkeit besaßen, sich mit Gedanken zu verständigen, war unser Abschied doch so dramatisch gewesen, dass ich es gar nicht erst versucht hatte.
Pia?
Das Wort hallte noch in meinem Kopf nach; ein Gefühl widerwilliger Besorgnis schien darin zu liegen, das nicht verflog, als das Echo schon längst verklungen war.
Ja, ich bin’s. Tut mir leid. Ich hab geschlafen. Ich wollte dich nicht stören. Das Schweigen, das meinen Kopf erfüllte, war letztendlich gar kein Schweigen. Ich spürte, dass es von Gefühlen durchströmt war, aber er war wachsam und verhinderte, dass ich sie ebenfalls fühlen konnte. Trotzdem würde ich mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Ich … ich hab mir deinetwegen Sorgen gemacht, Kristoff. Geht es dir gut?
Schlaf wieder ein.
Ich vergrub mein Gesicht im Kissen und bemühte mich, die Endgültigkeit seiner Worte zu ignorieren und mir einzureden, dass ich nicht gespürt hätte, wie sein Geist sich aus meinem zurückzog, aber das nützte überhaupt nichts. Trotz meines allabendlichen Gelübdes, nicht an ihn zu denken, nicht von ihm zu träumen und nicht weinend aufzuwachen, passierte genau das jedes Mal wieder.
Irgendwann einmal hatte ich auf eine gemeinsame Zukunft mit Kristoff gehofft. Dieses winzige Fünkchen Hoffnung schrumpfte zu einem Nichts zusammen und wurde davongeweht, während ich wieder die Knie an den Leib zog und mit den Armen umklammerte. Der Schmerz über Kristoffs Zurückweisung ließ mich in tiefster Verzweiflung schluchzen, während die langen Stunden der Nacht zögerlich einer freudlosen Dämmerung wichen.
1
Krach!
„Tut mir leid! An meinem Wagen ist ein Rad lose“, sagte ich entschuldigend zu der Frau, deren Einkaufswagen ich gerade gerammt hatte, während ich versuchte, meinen eigenen durch die Tür des Supermarkts zu manövrieren.
Mein Opfer hob das Paket Klopapier auf, das bei dem Zusammenstoß aus seinem Wagen gefallen war, und winkte mir beschwichtigend zu. „So was kommt vor. Möge das Licht mit Ihnen sein“, sagte es mit sanfter Stimme.
„Du hast mich angerufen, um mir zu sagen, dass an deinem Einkaufswagen ein Rad eiert?“ Eine belustigte Stimme lachte leise in mein Ohr, während ich vor mich hinfluchte und versuchte, den Wagen einhändig dazu zu bringen, meinem Willen zu folgen.
„Nein, ich hab dich angerufen, weil du mir eine Nachricht hinterlassen hast, dass ich dich anrufen soll. Verdammt! Tut mir wirklich leid, aber er macht einfach, was er will. Haben Sie sich wehgetan? Oh, gut. Ich zieh ihn dann mal ein Stück zurück, damit Sie Ihren Schuh aus dem Maul dieses gefräßigen Monsters befreien können.“
Ein junger Mann mit freundlichem Gesicht lächelte mir wenig überzeugend zu, während er sich hinkniete, um seinen Schuh aus dessen misslicher Lage unter dem Rad des Wagens zu befreien. Seine Stimme wurde von seiner Position und dem Lärm auf dem belebten Parkplatz leicht gedämpft. „Halb so schlimm. Möge das Licht mit Ihnen sein.“
„Oh, Pia.“ Magda lachte noch lauter. Ihre Stimme drang deutlich aus dem Handy, das ich mir zwischen Wange und Schulter geklemmt hatte, während ich meinen Kampf mit dem Wagen auf den letzten Metern zu meinem Auto fortsetzte. „So was Komisches kann aber auch nur dir in einem Supermarkt passieren.“
„Zum Teil ist das aber auch deine Schuld“, grummelte ich, während es mir in letzter Sekunde gelang zu verhindern, dass der Wagen plötzlich seitlich ausbrach und einen schnittigen knallroten Porsche rammte, der gleich neben meinem von diversen Blessuren gezeichneten Hyundai parkte. „In der Sekunde, wo du angerufen hast, ist der Wagen ausgerastet, und es ist echt unmöglich, so ein Ding mit nur einer Hand zu lenken. Aber es ist schön, dich zu hören.“
„Gleichfalls. Und nur so am Rande: Ich habe mit meinem Anruf lediglich auf deine Nachricht reagiert. Füllst du deine Vorräte wegen mir auf?“
„Jepp. Auf deinen ausdrücklichen Wunsch hin habe ich größere Mengen von Tierfleisch und Meeresfrüchten für meinen neuen Grill gekauft. Eins kann ich dir versprechen: Du wirst ausflippen, wenn du meine Jakobsmuscheln mit Ingwer und Knoblauch probierst.“
„Oh, Pia, also, was das betrifft …“
„Entschuldigung?“ Ich drehte mich um, um zu sehen, wer mich da am Ärmel zupfte. Der Mann, dessen Schuh mein Wagen eben hatte verschlingen wollen, hielt mir ein leuchtend blaues Päckchen vor die Nase. „Ich glaube, das ist Ihnen eben aus dem Wagen gefallen. Ich kaufe diese Marke jedenfalls nicht.“
„Ursprünglich hatte ich vor, eine Woche bei dir zu bleiben und dann für eine Woche zu meiner Schwester nach Vancouver zu fahren, aber …“
Ich verzog das Gesicht, als ich die extragroße Vorratspackung Monatsbinden entgegennahm, die er mir hinhielt. „Das Leben scheint es heute darauf abgesehen zu haben, mich in Verlegenheit zu bringen. Danke schön.“
Er lachte. „Machen Sie sich nichts draus. Ich bin verheiratet und kenne mich mit allen Arten von weiblichen Produkten bestens aus. Obwohl ich glaube, dass ich diese spezielle Sorte noch nie gesehen habe. Bedeutet ‚stärkere Tage‘ das, was ich glaube, dass es bedeutet?“
„… und dann hat sich Ray doch noch freinehmen können, und ich dachte, ich mach lieber zwei Wochen draus, wenn es dir nichts ausmacht …“
Ich warf die Binden schnell in den Kofferraum und bemühte mich, die tiefe Röte, die meinen Körper gerade in Richtung Gesicht hinaufstieg, kraft meines Willens zu unterdrücken. „Vielen Dank. Ich glaube, ich sterbe gleich wegen akuter Beschämung.“
Er lachte erneut und schlenderte davon, wobei er mir noch einmal freundlich zuwinkte. „Auf gar keinen Fall würde ich irgendein Licht auf der ganzen Welt schwächen wollen, und ganz besonders nicht Ihres, also gehe ich jetzt lieber.“
„Pia? Pia, hörst du mir überhaupt zu?“
„’tschuldigung. Ich hab mir nur gerade gewünscht, ein Loch würde sich vor mir auftun und mich mit Haut und Haaren verschlucken …“ Ich verstummte und blickte dem jungen Mann hinterher, der jetzt einen blauen Minivan bestieg. „Hat er gerade gesagt, was ich glaube, gehört zu haben?“
„Das weiß ich nicht, ich konnte ihn nicht hören. Ich war nämlich zu beschäftigt damit, dir von der Änderung in meinen unbedeutenden Plänen zu erzählen. Oh Mann, das ist aber wirklich nicht dein Tag, oder?“ Magdas Stimme war vor Lachen kaum zu verstehen.
„Wenn du wüsstest …“ Ich überlegte einen Moment lang und schüttelte dann den Kopf. „Ich muss mich wohl verhört haben. Wie du schon ganz richtig vermutest, hatte ich einen überaus interessanten Tag.“ Ich schleuderte die restlichen Einkäufe ebenfalls in mein Auto, schob den Einkaufswagen dahin zurück, wo er hingehörte, und ließ mich in meinem Wagen auf den glühend heißen Sitz fallen, wo ich gleich die Klimaanlage bis zum Anschlag aufdrehte. „Warte mal kurz, ich stöpsel nur das Headset ein … Schon viel besser. Also, wo waren wir? Oh! Du hast was von Änderungen in deinen Plänen gesagt? Sag mir jetzt bloß nicht, dass du mich doch nicht besuchen kommst!“
„Würde ich meiner Lieblings-Zorya denn so was antun?“
Ich zog eine Grimasse, als ich dieses Wort hörte. „Du weißt doch ganz genau, dass ich eine Ex-Zorya bin. Die nächstgelegene Abteilung der Bruderschaft befindet sich in Südkalifornien, und ich habe ganz bestimmt nicht vor, ihnen meine Dienste anzubieten.“
„Wir können über deine Zukunft sprechen, wenn wir da sind.“
„Wir?“ Ich setzte zurück und fuhr langsam über den Parkplatz und durch das kleine Städtchen hoch oben in den Bergen, ungefähr eine Stunde Fahrzeit von Seattle entfernt. Mein bescheidenes Haus befand sich am Rande der Stadt, eingebettet zwischen hohen Tannen und einer nahezu senkrechten Felswand.
„Ray kommt mit. Natürlich nur, wenn es dir nichts ausmacht.“
„Ausmachen? Nö, ich finde ihn nett.“ Ich musste mich schon anstrengen, um mir ein Bild von dem Mann ins Gedächtnis zurückzurufen, den Magda auf der Single-Reise kennengelernt hatte, die wir vor zwei Monaten gemacht hatten. Das Einzige, woran ich mich noch erinnern konnte, war, dass er groß und sehr schlank war, mit dünner werdendem Haar und sanften Augen, und dass er insgesamt ziemlich harmlos wirkte. Um ehrlich zu sein, schien er nahezu unsichtbar zu werden, wenn Magda in der Nähe war, aber diesen Effekt hatte sie bei vielen Leuten. Sie war so voller Leben und Farbe, mit blitzenden schwarzen Augen, und ihre Lebensfreude war ansteckend. „Dann läuft’s also immer noch gut mit euch beiden, was?“
„Besser als je zuvor“, schnurrte sie. „Er hat seinen Terminplan umgestellt, damit er einen ganzen Monat mit mir verbringen kann, bevor er nach Denver zurückmuss. Ist das nicht süß? Und darum hatte ich gehofft, dass es dir nichts ausmacht, wenn er mit zu Besuch kommt. Ich schwöre dir, er ist absolut stubenrein und er hat versprochen, still und zufrieden in der Ecke zu sitzen und zu lesen oder sich einen Film anzusehen, wenn wir Mädels ein bisschen Zeit für uns haben wollen.“
„Klingt perfekt“, sagte ich. Ich parkte mein Auto in dem winzigen Carport, der zu meinem genauso winzigen Haus gehörte. Als ich anschließend meine Einkäufe nach drinnen trug, geriet ich etwas außer Atem.
„Alles okay mit dir?“, erkundigte sich Magda, als ich die schweren Taschen mit einem erleichterten Stöhnen auf dem Küchentisch ablud.
„Ja, ich bin nur nicht in Form. Und bevor du fragst – nein, ich hatte noch keine Zeit, um mich in diesem Fitnessstudio für Frauen anzumelden, wie ich eigentlich gesagt hatte.“
Magda kicherte. „Mollig ist in, Süße. Das sage ich dir doch schon die ganze Zeit.“
„Na klar doch. In deinem Fall mag das ja zutreffen, aber ich gehe einfach nur auf wie ein Hefekloß. Wer auch immer behauptet, dass eine Frau, die sich nach einem Mann verzehrt, dahinsiecht und verkümmert, erzählt komplette Scheiße. Ich hab zehn Pfund zugenommen, seit ich aus Island zurück bin.“
„So wie Kristoff und du euch auf Island aufgeführt habt, würde ich sagen, er ist ein Mann, der eine Frau mit üppigen Kurven durchaus zu schätzen weiß, also musst du dir deswegen wohl keine Sorgen machen.“
Die Vision unseres mitternächtlichen Stelldicheins in einer Scheune erschien wieder vor meinem inneren Auge. Brennende Hitze strömte durch meinen Körper, als ich mich an das Gefühl erinnerte, wie Kristoffs Mund meinen Hals und meine Brüste liebkoste. Aber mit dieser Erinnerung kam zugleich auch noch eine weitere: die, wie Kristoff seinen Geist wortlos aus meinem zurückzog.
Ich bezweifelte ja gar nicht, dass er mich körperlich begehrte, trotz all meiner Mängel … aber eine Auserwählte sollte so viel mehr sein.
Wie konnte ich einem Mann etwas bedeuten, der mich gar nicht wollte?
„Pia? Bist du noch dran?“
„Ja.“ Ich räusperte mich und versuchte nicht so zu klingen, als ob ich jeden Moment in Tränen ausbrechen würde.
Ihre Stimme war augenblicklich von Mitgefühl erfüllt. „Oh, Schätzchen, es tut mir so leid. Ich hätte das Thema Kristoff gar nicht erst anschneiden sollen.“
„Nein, ist schon gut. Es ist nur so, dass ich heute Morgen diesen komischen Traum hatte. Deshalb hab ich dich auch angerufen. Erinnerst du dich noch daran, dass ich dir von diesem Boten erzählt habe, den die Vampire mir schicken wollten? Ich hab geträumt, dass er hier war und irgendwie warst du auch hier, genau wie Kristoff und sein Bruder, und alles kam mir so real vor, bis ich dann aufgewacht bin.“
„Das haben Träume nun mal so an sich.“
„Ich weiß, aber das war … also, irgendwie anders. Ach, Mist, da ist irgendwer an der Tür. Ich will eigentlich gar keinen sehen.“ Ich schnappte mir ein Papiertaschentuch und betupfte meine Augen, während ich ins Wohnzimmer ging. An der Haustür zögerte ich kurz, dann flitzte ich rasch zum Fenster, um einen Blick auf die Veranda hinaus zu werfen.
„Dann mach ich am besten Schluss.“
„Nein, ist schon okay. Das sind nur so ein paar religiöse Spinner oder so.“ Ich beobachtete einen Mann und eine Frau, die eine kleine Broschüre hinter das Fliegengitter steckten, bevor sie wieder gingen.
„Oh nein. Ich erzähle denen immer, ich wäre Kannibalin, und schon hab ich Ruhe.“
„Das hab ich auch schon versucht. Ich hab gesagt, ich wäre Anarchistin, und dann haben sie mich jede Woche besucht, um mich zu retten.“ Ich öffnete die Haustür gerade weit genug, dass ich mir die Broschüre schnappen konnte, und schloss sie rasch wieder, um mich auf die Couch neben dem Fenster fallen zu lassen. „Und wie lange wollt ihr beiden bei mir bleiben? Die ganze Woche, wie geplant, oder wollt ihr lieber noch ein bisschen Zeit für euch haben und rumknutschen?“
Ich wollte nicht zugeben, wie sehr ich mich auf Magdas Besuch gefreut hatte. Auch wenn mein Job in einem Tierheim, das sich auf ältere Tiere spezialisiert hatte, die in einem anderen Heim vermutlich eingeschläfert worden wären, mich wirklich ausfüllte, schien mir mein Leben seit meiner Rückkehr aus Island so … leer. Es war, als ob ein Teil von mir fehlte. Etwas, das ich früher besaß, war jetzt weg, und ich war nur noch eine leere Hülle. Ich erwartete ja nicht, dass Magda das ändern würde, aber sie war eine sehr gute Freundin geworden, und die Aussicht auf ihren Besuch hatte mich unendlich aufgeheitert.
„Nein! Das ist die gute Nachricht. Nachdem Ray jetzt einen ganzen Monat hat, hab ich meinen Chef dazu überredet, mir noch eine Woche zusätzlich freizugeben, und das heißt, ich habe jetzt zwei Wochen Zeit für dich und dann noch eine bei meiner Schwester, bevor wir wieder nach San Francisco zurückmüssen. Aber natürlich nur, wenn du uns so lange ertragen kannst. Ray, gibst du mir mal bitte das Basilikum? Nein, von dem frischen. Und könntest du mal eben diese Zwiebel klein hacken? Entschuldige, Pia, wir machen gerade Spaghetti.“
„Klingt lecker. Und von wegen ertragen …“ Ich lachte, aber mit einem grimmigen Unterton. „Es könnte passieren, dass ich euch gar nicht wieder weglasse.“
„Na ja, wir werden sehen, wie lange du noch so denkst, wenn dann erst mal Kristoff auftaucht und sich lang und breit dafür entschuldigt, dass er sich wie ein Obertrottel aufgeführt hat.“ Ihre Stimme wurde auf einmal ganz leise. „Wo wir gerade davon reden … Soll ich es Ray eigentlich erzählen? Ich meine, dass du eine Zorya bist und über Kristoff und die Du-weißt-schon-wer und das ganze Zeug?“
Ich massierte mir die Stirn. In letzter Zeit schien ich diese leichten bohrenden Kopfschmerzen überhaupt nicht mehr loszuwerden. „Ich glaube nicht, dass das nötig ist. Ich bin ja keine Zorya mehr, und nach diesem Morgen muss ich wohl der Tatsache endgültig ins Auge sehen, dass Kristoff nie mehr … Ach, Scheiße. Da ist schon wieder jemand an der Tür.“
„Versuch’s diesmal mit dem Kannibalentrick. Ich garantiere dir, das funktioniert.“
„Tut mir leid, aber ich bin nicht interessiert“, sagte ich, noch bevor ich die Tür vollständig geöffnet hatte. Doch angesichts des Mannes, der auf der Schwelle stand, blieben mir die Worte im Hals stecken. „Arrk.“
„Was ist?“, fragte Magda. „Was ist mit dem Park?“
Der Mann blickte mir in die Augen und hob eine Augenbraue. „Sind Sie Pia Thomason?“
„Äh!“, sagte ich und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. „Oh mein Gott, Magda, er ist es!“
„Er? Wer denn?“
Ein Gefühl von Déjà-vu ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen, als ich mit einem Satz zur Couch hechtete und den Vorhang am Fenster beiseiteschob, um einen weiteren Blick auf den Mann zu erhaschen. Er klopfte noch einmal.
„Na, der Bote. Du liebe Güte, das haben wir doch alles schon durchgemacht!“
„Was haben wir gemacht?“ Magda klang verwirrt.
„Das hier, das haben wir alles schon erlebt! Das war der Traum, den ich heute Morgen hatte.“
Einen Augenblick hörte ich nur leises, unverständliches Gemurmel aus dem Hörer, bis Magda ihre Hand wieder von der Sprechmuschel nahm und sagte: „Schatzi, würdest du mir bitte diese Flasche Olivenöl aus dem Keller holen? Das italienische. Pia hat gerade eine kleine Krise, und das kann ein paar Minuten dauern.“
Ich hörte Ray noch etwas sagen, bevor er sich auf den Weg machte, um zu tun, worum Magda ihn gebeten hatte.
„Ich habe keine Krise“, zischte ich, ohne den Blick von dem Mann auf meiner Veranda zu wenden. „Vor meiner Haustür steht nur gerade der Bote, das ist alles. Nur ein Vampir, der gekommen ist, um mir Gott weiß was anzutun.“
„Ray lässt dich übrigens ganz lieb grüßen, und er hofft, dass deine Krise nicht zu schlimm ist“, sagte sie schnell noch, bevor sie fortfuhr: „Woher weißt du denn, dass der Mann der Bote ist? Vielleicht ist es ja jemand ganz anderes. Vielleicht noch so ein Religions-Fuzzi? Oder vielleicht will er dir ein Abo andrehen?“
Ich beäugte den Fremden noch einmal, der gerade erneut die Hand hob, um zu klopfen. „Er ist über einen Meter achtzig groß und trägt ein maßgeschneidertes schwarzes Sakko mit passender Hose, ein scharlachrotes Hemd, das aussieht, als ob es aus Rohseide wäre, und Schuhe, die vermutlich teurer sind als mein Auto.“
„Das könnte doch wirklich praktisch jeder sein“, behauptete Magda. Der Klang von Gemüse, das klein gehackt wurde, begleitete ihre Worte.
„Und einen Hut, den er sich so aufgesetzt hat, dass sein Gesicht vor der Sonne geschützt ist. Das ist alles ganz genauso wie in meinem Traum. Obwohl … Wie sich herausstellte, war der Bote Andreas, und dieser Typ ist definitiv nicht Kristoffs Bruder.“
Wir schwiegen beide einen Moment lang.
„Okay, also, diese Beschreibung klingt wie ein Du-weißt-schon-wer.“
„Vampir.“
„Genau. Ray, mein engelsgleicher Ausbund an Hilfsbereitschaft, das ist in der Tat eine Flasche Olivenöl, allerdings griechisches und kein italienisches, und ich weigere mich, griechisches Olivenöl für Spaghetti zu verwenden. Würde es dir etwas ausmachen … Danke, Liebster.“ Magda schwieg, während das schwache Geräusch sich entfernender Schritte über das Telefon zu hören war. „Alles klar, er ist wieder weg. Pia, du wirst den Vampir hereinlassen müssen.“
„Will ich aber nicht“, erwiderte ich störrisch. Ich wandte dem Fenster den Rücken zu und stierte finster in mein Schlafzimmer. Ich wusste natürlich ganz genau, dass Kristoff keineswegs dort herausspaziert kommen würde, so wie er es in meinem Traum getan hatte, aber ich konnte es mir einfach nicht verkneifen hinzugucken. „Mein Leben läuft im Augenblick richtig gut. Irgendwie. Mehr oder weniger. Ach, zum Teufel, es ist der reinste Albtraum, aber das Ganze wird doch höchstens nur noch schlimmer, wenn sich jetzt auch noch der Mährische Rat, oder wie auch immer sich diese Vampire nennen mögen, einmischt.“
„Also, so wie ich mich an die erinnere, hast du wohl keine Wahl. Die schienen mir ziemlich hartnäckig zu sein.“
Das Klopfen an meiner Tür wurde immer lauter. Offensichtlich hatte der Bote das Warten langsam satt. „Ist mir egal. Ich muss den Kerl irgendwie loswerden. Was war das noch mal, was Vampire nicht ausstehen können? Knoblauch und Weihwasser? Mit Letzterem kann ich nicht dienen, aber ich habe Knoblauchbrot. Meinst du, das könnte funktionieren?“
„Pia, meine Süße …“ Magdas Stimme klang zunehmend frustriert, während ich in die Küche marschierte und eine Tüte durchwühlte, bis ich das Knoblauchbrot entdeckt hatte. „Ich glaube wirklich nicht, dass es die Lösung deiner Probleme ist, so zu tun, als ob sie nicht existieren.“
Der Vampir auf meiner Türschwelle hatte inzwischen aufgehört zu klopfen, sondern donnerte geradezu gegen die Tür. „Wünsch mir Glück“, sagte ich noch und legte das Telefon dann hin, um das Knoblauchbrot aus der Verpackung zu schälen. Ich schwang es wie eine Keule, als ich gleich darauf die Haustür aufriss.
Magdas Stimme drang schwach, aber verständlich aus dem Telefon. „Pia? Pia? Was machst du denn? Oh Mann, sie ist aber manchmal auch zu albern …“
„Das hier ist Knoblauch, und ich schrecke nicht davor zurück, ihn einzusetzen!“, brüllte ich den Vampir an und fuchtelte ihm mit dem Brot vor der Nase herum.
Er sah es kurz an, dann wanderte sein Blick zu mir, ein Ausdruck schierer Ungläubigkeit auf seinem Gesicht. „Brot?“, fragte er. In seiner Stimme lag der seidenweiche Ton irgendeines europäischen Akzents.
„Mit Knoblauch drauf.“ Ich klappte das Brot auf, um ihm die kleinen Knoblauchstücke zu zeigen, mit denen die Butter gesprenkelt war. „Also bleiben Sie zurück!“
Er streckte die Hand aus, berührte die Knoblauchbutter und leckte sich die Fingerspitze ab. „Wirklich lecker.“
„Sie sind kein … Knoblauch ist für Sie nicht giftig?“ Ich fiel aus allen Wolken.
Er schloss kurz die Augen, während sein Gesicht einen gemarterten Ausdruck annahm. „Nein, das ist nur ein von Menschen geschaffener Irrtum. Ich nehme an, dass Sie Pia Thomason sind? Ich bin …“
„Auf gar keinen Fall!“ Ich blickte mich verzweifelt um, als er Anstalten machte, mein Haus zu betreten. Ich schnappte mir die religiöse Broschüre und streckte sie ihm entgegen.
Er zuckte nicht zurück, er kreischte nicht und rannte auch nicht fluchtartig davon. Er nahm sie einfach und warf mir einen schwer geprüften Blick zu. „‚Der Wachturm‘?“
Ich sackte in mich zusammen und stützte mich an der Tür ab. Ich hätte wissen müssen, dass das nicht funktioniert – immerhin hat Kristoff mich in eine Kirche geschleift, um mich zu heiraten –, aber das war das Einzige, was ich hatte.
Er nahm mir das Knoblauchbrot ab und legte es samt der Broschüre auf den Tisch neben der Tür. „Pia Thomason, ich bin hier auf Geheiß des Mährischen Rates. Wie Sie zweifellos wissen, wurde Ihnen die Anordnung erteilt, vor dem Rat zu erscheinen, um Fragen zu beantworten, die sich seit den Geschehnissen im Juni dieses Jahres ergeben haben. Um Ihnen maximale Sicherheit und Bequemlichkeit zu garantieren, werde ich Sie nach Wien begleiten, und ich bin autorisiert, für jegliche finanziellen Ausgaben aufzukommen – in einem vernünftigen Rahmen selbstverständlich –, die auf Sie im Zuge dieser Reise zukommen. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie noch nicht gepackt haben?“
Ich nahm das Handy wieder in die Hand und sagte: „Es ist doch der Bote und er ist sowohl gegen Knoblauch als auch gegen religiösen Kram immun. Er will, dass ich nach Wien komme.“
„Hab ich gehört. Wir können ja inzwischen auf dein Haus aufpassen, wenn du willst …“
„Das wird nicht nötig sein. Ich ruf dich später noch mal an.“ Ich beendete das Gespräch und wandte mich wieder dem Vampir zu. Genau wie die anderen Männer seiner Spezies hätte er sich auch auf dem Laufsteg einer Modenschau zu Hause gefühlt. Ich fragte mich, ob wohl irgendwo eine Regel existierte, nach der alle Vampire umwerfend sexy sein mussten. „Als der Rat mir diese E-Mail geschickt hat, in der angekündigt wurde, dass Sie kommen, hab ich denen doch geantwortet, dass ich nicht die Absicht habe, mich ihren mittelalterlichen Verhörmethoden auszuliefern. Christian Dante ist der Chef des Rats, oder?“
Der Vampir neigte zustimmend den Kopf. „Er ist der Geschäftsführer, richtig.“
„Er war doch da, in Island, als der ganze Mist passiert ist. Na ja, zumindest den größten Teil hat er mitgekriegt. Ich hab ihm damals alles erzählt, was ich wusste, also habe ich dem Rat weiter nichts zu sagen.“
„Sie sind eine Mitternachts-Zorya der Bruderschaft …“
„Bin ich nicht“, unterbrach ich ihn mit erhobener Hand.
Er blickte ostentativ auf den Mondsteinanhänger, der an meinem Handgelenk baumelte.
„Nicht mehr.“ Ich senkte meine Hand. „Ich hab diese Zorya-Sache aufgegeben. Wenn es irgendjemanden gäbe, dem ich den Stein geben könnte, würde ich es ja tun, aber hier gibt es keine Gruppe der Bruderschaft, wofür ich allerdings auch zutiefst dankbar bin, wenn ich ehrlich sein soll. Sie können also ruhig auf direktem Weg zu Ihrem heiligen Rat zurückgehen und denen mitteilen, dass ich Nein gesagt habe.“
Er schwieg einen Augenblick lang. Seine dunklen Augen maßen mich auf eine Weise, die mir ziemlich unangenehm war. In Gedanken ging ich sämtliche pflockähnlichen Gegenstände durch, die ich im Haus haben könnte. „Ich sollte Ihnen sagen, dass mein Befehl, Sie vor den Rat zu bringen, Ihre Wünsche nicht berücksichtigt.“
Ich hob das Kinn und entgegnete seinem durchdringenden Blick mit einem Blick meinerseits, der – wie ich hoffte – nichts von der Angst verriet, die sich auf einmal in meinem Bauch breitmachte. „Soll das eine Drohung sein?“
„Nein. Nur eine Feststellung der Tatsachen. Ich bin damit beauftragt, Sie vor den Rat zu bringen, und das werde ich tun.“
Seine arrogante Erklärung war glücklicherweise genau das, was ich brauchte. Meine Angst verwandelte sich in Wut. Wut darüber, dass diese Vampire derart selbstherrlich waren. Wut darüber, dass der Mann vor mir sich einbildete, mit mir machen zu können, was er wollte. Und Wut darüber, dass ich überhaupt in diese Lage geraten war. Wo war denn Kristoff, wenn ich ihn brauchte, um mich vor dem Zorn seiner Vampirbrüder zu beschützen? Warum war er nicht hier, wo er eigentlich sein sollte, zutiefst dankbar, dass ich ihm seine Seele wiederbeschafft hatte?
So langsam begann ich vor Wut zu kochen. Mein Zorn wuchs und wurde stärker, bis er drohte, mich zum Platzen zu bringen.
„Nein!“, schrie ich plötzlich und öffnete die Arme mit einem Ruck ganz weit. Aus meinen Händen drang ein hell leuchtendes, blendendes blau-silbrig-weißes Licht, das nach oben und unten einen Bogen beschrieb und mich in einer Sphäre strahlenden Lichts einschloss.
Der Vampir schrie auf, als ihn die Strahlen des Lichts berührten, und warf sich rücklings durch die offene Tür nach draußen.
„Ich lasse mich nicht so behandeln!“, brüllte ich ihn an. Das Licht nahm noch an Intensität zu. „Weder von dir noch von deinem Rat, noch von irgendjemandem! Hast du verstanden? Von niemandem!“
Der Vampir wollte etwas sagen, aber ich knallte die Tür zu und schloss ab, bevor ich wie ein Häufchen Elend auf dem Fußboden zusammensank. Mein Gesicht lehnte am kühlen Holz, während sich das Licht, das mich einhüllte, langsam wieder in nichts auflöste.