ERIKA PLUHAR
SPÄTES TAGEBUCH
Roman
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8. Auflage
© 2010 Residenz Verlag
im Niederösterreichischen Pressehaus
Druck- und Verlagsgesellschaft mbH
St. Pölten – Salzburg
Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.
Keine unerlaubte Vervielfältigung!
ISBN ePub:
978-3-7017-4208-0
ISBN Printausgabe:
978-3-7017-1537-4
Für Angela Praesent,
Belehrende und Freundin,
mein Schreiben und Leben begleitend,
in Trauer und Dankbarkeit.
Sonntag.
Dienstag.
Mittwoch.
Donnerstag.
Freitag.
Samstag.
Sonntag.
Montag.
Dienstag.
Mittwoch.
Donnerstag.
Freitag.
Samstag.
Montag.
Dienstag.
Donnerstag.
Samstag.
Sonntag.
ein Freitag.
Samstag.
Samstag.
Sonntag.
Montag.
Dienstag.
Mittwoch.
Donnerstag.
… ein Montag.
Samstag.
Sonntag.
Dienstag.
Mittwoch.
Freitag.
Daß jemand mit siebzig anfängt, ein Tagebuch zu führen, mag ungewöhnlich sein, aber ich fange heute damit an. Der Sommer neigt sich seinem Ende zu, ähnlich wie mein Leben. Ich scheine einigermaßen gesund zu sein, meine Eltern wurden beide sehr alt, also besteht die Möglichkeit, daß ich vielleicht noch an die zwanzig Jahre zu leben habe. Als ich zwanzig Jahre jung war, meinte ich schon ein volles Menschenleben lang gelebt zu haben, erschien mir meine Zeit auf Erden bereits reichlich bemessen. Das sind Gedanken der Jugend, für die Zeit ein anderes Ausmaß besitzt, die gegenwärtig lebt und nicht vorausdenkt, weil für sie Zukunft unendlich zu sein scheint. Was mit siebzig jedoch zu fehlen beginnt, ist genau das: Zukunft.
Also bedarf es einer intensiveren Wahrnehmung der Gegenwart, also der Tage und all ihrer Täglichkeit, um das Leben noch zu spüren, dachte ich mir. Und wo und wie kann ich dies besser bewerkstelligen, als im täglichen Aufschreiben, im täglichen Notieren der Vorgänge und Ereignisse auch augenscheinlich untätiger und ereignisloser Zeiten? Die Chronistin, die ich ab nun sein möchte, kann vielleicht aus Alltäglichkeiten Lebens-Sinn herausfiltern. Den Sinn dessen, sich immer noch, und alt geworden, hier auf Erden zu befinden. Ich wage also den Versuch, damit heute zu beginnen.
Ja, heute zum Beispiel.
Der Samstag eines Wochenendes im Spätsommer.
(Ich brauche kein Datum. Daten engen ein. Wozu datieren, was sich ohnehin dem Ende zuneigt.)
Aus den umliegenden Häusern dringt kein Laut, alle Bewohner scheinen verreist oder im Schwimmbad zu sein. Auch die Gasse liegt reglos unter der Sonne, kein Auto ist unterwegs. Die hohen Bäume, die mein Haus umgeben, flüstern leise im Wehen der heißen Luft, nur dieses Geräusch ist zu hören. Ich sitze vor dem geöffneten Fenster und habe den bläulichen Schirm meines Laptops vor mir. Wenn ich jedoch die Augen hebe, schaue ich in dichtes Ahornlaub, das sich sanft bewegt. Ja, ich schreibe per Computer, ich konnte das noch erlernen und es fiel mir nicht einmal schwer. Ich werde das Geschriebene täglich ausdrucken und die Papierblätter in eine Mappe legen, dann ähnelt das Ganze ein wenig einem herkömmlichen Tagebuch.
Seit Jahren lebe ich allein. Mein einziges Kind, eine Tochter, starb. Ich möchte darüber nicht mehr sagen, auch hier und jetzt nicht. Jedenfalls sind die lebhaften Stimmen, das Kommen und Gehen, die Geselligkeiten erloschen. Meine Tochter lebte mit mir hier in diesem großen Haus, in dem ich nach wie vor wohne. Obwohl man mir wiederholt sagte, ein alter Mensch, der alleine lebe, benötige eigentlich kein so großes Haus, widersetzte ich mich dieser Belehrung stets auf das entschiedenste. Was heißt benötigt, regte ich mich auf, leben wir, alt geworden, denn nur noch im Hinblick auf Notlösungen? Ich möchte alt und allein in einem großen Haus wohnen, basta. Auch wenn ich uralt werden sollte, möchte ich das. Sofern meine Gesundheit und mein Verstand mitspielen, wohlgemerkt. Aber ich hoffe, daß beide im Hinblick auf meine ererbten Gene das auch tun werden.
Zur Zeit jedenfalls funktioniert alles noch leidlich. Meine alten und vom Tanzen geschundenen Knochen schmerzen zwar oft höllisch, vor allem am Morgen, und Namen kann ich mir immer schlechter merken.
Aber wenn ich Spaziergänge mache, kann ich noch recht elastisch dahingehen, und im gedanklichen Aufnehmen und Begreifen gibt es, glaube ich, keinerlei Einschränkungen, mein Kopf spurt noch.
Mein Kopf hat mich mein Leben lang zuverlässig begleitet, muß ich sagen, stets war ich in der Lage, alles um mich herum klug einzuschätzen. Warum ich dennoch so blöde sein konnte, so überaus unklug, wenn es um Liebe und Nähe ging, weiß der Teufel. Aber auch dieses Thema berührt allzu viel Vergangenheit, ich lasse es lieber unangetastet.
Was also ist zum heutigen Tag zu sagen.
Er ist also sommerlich schön. Ich schlief lange am Morgen, da ich nachts mit Schlaflosigkeit zu kämpfen hatte. Ein seltsamer Traum weckte mich, und danach blieb ich lange Zeit wach. Ich hatte geträumt, in einem Flugzeug zu sitzen, das abstürzt. Es fiel und fiel, unauf haltsam. Ich saß aber ganz ruhig da und dachte nur: Aha, jetzt stirbst du also. Hoffentlich tut der Aufprall nicht allzu weh. Ehe die Maschine jedoch den Boden erreichte und zerschellte, wachte ich auf und starrte in die nächtliche Dunkelheit. Zarte Lichtbahnen fielen durch die Fensterläden, und Grillen zirpten ungewöhnlich laut. Im heurigen Sommer mit seiner beständigen Hitze klingt es manchmal, als befände man sich im Süden. Früher kannte ich dieses nächtliche Lärmen eigentlich nur von den Zikaden im portugiesischen Alentejo oder auf kroatischen Inseln.
Nun, wie auch immer, ich lag und lauschte und hatte weder Herzklopfen noch einen beschleunigten Atem nach diesem Traum. Und genau das bestürzte mich so, daß ich nicht mehr einschlafen konnte. Daß ich ohne Angst gewesen war, bestürzte mich. Früher war das Flugzeug im Traum immer Symbol all meiner Ängste gewesen, und plötzlich diese Gelassenheit. Wünsche ich mir vielleicht den Tod? Diese Frage beunruhigte mich. Denn ich möchte noch nicht sterben. Eigenartigerweise und trotz allem möchte ich noch nicht sterben.
Ich dachte also nachts über den Tod und das Sterben nach, und diese Gedanken waren es wohl, die mich wach hielten. Aber als ich dann schließlich wieder einschlief, war dieser Schlaf köstlich. Ja, köstlich. Bewußt gebrauche ich dieses Wort, es übertreibt nicht. Nichts kann mich zur Zeit mehr beglücken, als tief und entspannt zu schlafen, ich empfinde das als unbeschreibliche Köstlichkeit, als ein Geschenk des Lebens.
Mich scheint zu reizen, fällt mir auf, am Computer Kursivschrift zu verwenden. Entspricht sie doch dem handschriftlichen Unterstreichen von Worten, und früher habe ich in meinen hingeworfenen Briefen und Aufzeichnungen immer vieles unterstrichen. War wohl auch Ausdruck meiner ständigen, brennenden Ungeduld und der stets rasch zu entzündenden Empörung. Bei allem und jedem wurde ich früher so schnell ungeduldig, alles und jedes hat mich früher so rasch empört. Früher. Auch ein Wort, das es zu unterstreichen gälte. Wann eigentlich hat dieses Früher sich in ein Jetzt verwandelt, frage ich mich. Vielleicht, nachdem ich den Tod meiner Tochter überlebt habe. Aber auch davor schon, als mein Mann starb, als wir beide im Autowrack eingeklemmt waren und er vor meinen Augen starb, hat mich das stark verändert. Jedenfalls sagte man es. Alle in der Tanz-Company sahen mich immer wieder prüfend an, sie schienen ehrlich besorgt zu sein. Du bist nicht mehr dieselbe, wurde mir gesagt, ist ja verständlich, aber paß auf dich auf, Paulina, wir brauchen dich schließlich. Und ich habe versucht, auf mich aufzupassen. So lange und so gut es ging. Letztendlich mußte ich dann doch das Handtuch werfen und die Company verlassen.
Aber was soll das, ich schweife schon wieder ins Vergangene zurück, Schluß damit.
Also, heute. Die Stille des Hauses erfreut mich. Manchmal durchwandere ich es, setze mich dann irgendwo hin und lasse auch meinen Blick wandern. Es ist ein altes Haus, war ehemals das Landhaus begüterter Städter. Die alte Besitzerin, von der ich es erstand, verbrachte als Kind nur einen Teil des Jahres in dieser damals noch dörflichen Gegend. Noch per Kutsche und mit Sack und Pack fuhr die ganze Familie aus der Stadt hierher, um die Sommermonate auf dem Lande zu verbringen. Es gab einen Park, ein Pförtnerhaus, Tennisplätze, Weingärten und einen Weinkeller, und eine Allee führte auf das Haus zu. Jetzt ist es von Villen und Appartementhäusern eingekreist, nur mein eigener wilder Garten und die Bäume rundum, die ich nie beschneide, lassen ein Gefühl des Verborgenseins zu. Ich fühle mich in diesem Haus verborgen und geborgen, beides. Nach wie vor fühle ich mich so. Und die heutige Samstagsstille fördert dieses Gefühl.
Am Wochenende kommt meine Zugehfrau meist nicht.
Zugehfrau.
Wie komme ich zu diesem Wort? Noch nie habe ich Hortensia so genannt, auch in Gedanken nicht. Bringt es das Aufschreiben mit sich, alles distanziert zu betrachten und umständlich Worte zu benutzen, die im Gelebten nicht vorkommen? Ich habe diese Portugiesin, die um einiges jünger ist als ich, immer nur Hortensia genannt. Nur so, und das durch Jahre. Nicht einmal der Begriff Haushälterin fiel je zwischen uns, außer vielleicht in ihrer Lohnabrechnung. Hortensia kam in jungen Jahren aus Fayal, einer Azoreninsel, hierher, und bald danach auch in mein Haus. Ihre Mutter hatte sie Hortensia genannt, weil sie die Blüten der Hortensien, die im Sommer ganze Hecken leuchtend blau färben und wie Blumenkränze die Insel zu umwinden scheinen, so sehr liebte. Ich war selbst einmal dort und sah diese Schönheit mit eigenen Augen. Hortensia nickte, als ich davon schwärmte. Aber sie flog nach dem Tod ihrer Eltern nie mehr auf die Insel, nie mehr nach Portugal. Ihr Ehemann ist von hier, also kein Ausländer, und er und die Kinder und Enkelkinder reisen lieber in die Karibik oder nach Thailand, wie alle Menschen heutzutage, und hatten nie Lust, Hortensias Heimat zu besuchen. Sie ist eine stille Frau, immer war sie still. Mir scheint, sie lebte immer, ohne aufzubegehren, und so, wie man es von ihr verlangte. Aber in meinem Haus fühlt sie sich wohl, glaube ich. Auch heute noch schließt sie, wenn sie am Vormittag kommt, das Gartentor und dann die Haustür mit dem Lächeln einer Verliebten auf. Ja, sie liebt mein Haus. Und diese Liebe verbindet uns, denn auch ich liebe es.
Sieh an, einige Seiten sind bereits geschrieben. Der Wind hat sich verstärkt, das Laub rauscht, aber wolkenlos blau ist der Himmel. Ich werde aufhören zu schreiben und mich ein wenig in die Sonne legen. Früher konnte ich das stundenlang, ich konnte stundenlang fast bewegungslos in der Sonne liegen und dabei in einen Zustand des Entrücktseins geraten. Jetzt ertrage ich es nur noch ganz kurze Zeit. Ich weiß nicht, ob das an meinem Alter liegt, oder an der Sonne, die in den letzten Jahren aggressiver geworden zu sein scheint. Aber wie auch immer, jetzt werde ich auf die Dachterrasse hochsteigen, die über der gartenseitigen Veranda liegt, und mich eine Weile auf die hölzerne Liege hinstrecken. Ich werde mich trotz meines Alters ausziehen und den warmen Wind über meinen nackten Körper streichen lassen. Diese Berührungen, die des Windes, der Sonne, eines Regenschauers, schenken auch einer alten Haut jugendliche Empfindungen. Mit Menschenhänden, in meinem Fall waren es Männerhände, läßt sich solches wohl nie mehr bewerkstelligen, also besser, es für dieses Leben zu vergessen.
Auch heute ist es heiß. Mittags aß ich im Garten des Gasthauses Knöfler, es liegt nicht weit von hier, ist zu Fuß zu erreichen, und traf dort eine der Tänzerinnen der Company, Florinda Bell, die von uns immer Flory genannt wurde. Eine der ehemaligen Tänzerinnen, muß ich da wohl schreiben, da es die Dancing-Company Paulina Neblo ja nicht mehr gibt. Mit meinem, also Paulina Neblos Zusammenbruch, zerbrach auch sie. Flory war damals noch jung, aber sie hatte schon vor der Auflösung der Truppe zu tanzen aufgehört. Um die Plackerei des Balletts los zu sein und sich ganz ihrer großen Liebe widmen zu können, hat sie geheiratet, und führt jetzt eine unglückliche Ehe, über die sie sich gern bei mir ausweint. Auch heute wieder. Ihr Mann betrügt sie offensichtlich derart unverhohlen und schamlos, daß sie gestern vor Wut einen Teller nach ihm warf, der ihn am Auge verletzte. Er mußte ins Krankenhaus, und jetzt macht sie sich Vorwürfe. Sie heulte, wir saßen im Schatten der Nußbäume und schwitzten. Mit feuchtem Gesicht saß sie mir gegenüber und ihre Tränen zogen Linien durch das Make-up, das sie trotz der Hitze aufgelegt hatte. Ich wußte nicht recht, was ich zu der Sache sagen sollte, ist es doch meist unmöglich, Beziehungsjammer auf tröstende Weise zu kommentieren. »Bitte, Flory, laß dich endlich scheiden«, sagte ich schließlich. Was ich erntete, war ein so entsetzter Blick, daß ich rasch wieder abschwächte. »Oder ihr trennt euch für eine Weile«, schlug ich vor. Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß ja nicht, wohin«, sagte sie, holte ihr Taschentuch hervor und schnäuzte sich. Dann sah sie mich mit verweinten Augen plötzlich sehr eindringlich an. »Außer, ich könnte eine Weile bei dir wohnen. Ginge das?«
Mir wurde noch heißer, als mir schon war. »Ich denke – ich meine – weißt du –«, stotterte ich. Flory senkte mit einem Seufzer den Blick, sah auf ihr Taschentuch und murmelte: »Ist schon gut, lassen wir das.« Ihre Enttäuschung war mir unangenehm, aber ich fügte diesem trüben Satz nichts mehr hinzu. Ich möchte niemanden in meinem Haus beherbergen, obwohl es groß genug wäre, Gäste aufzunehmen. Ich weiß, wie egoistisch und eigenbrötlerisch sich das ausnimmt, aber schon mein Wissen, daß jemand ein paar Zimmer weiter atmet, schläft, sich wäscht, raubt mir alle Ruhe. Als Antonio Neblo, mein Ehemann, starb, zog ich mich endgültig aus jeder Form intimer Gemeinsamkeit zurück. Er war der Mann gewesen, der mir nach mehreren qualvoll verworrenen Liebesbeziehungen eine gleichmäßige und mich auch erotisch besänftigende Liebe geschenkt hat. Als wohlhabender Industrieller, Besitzer eines Konzerns in Spanien, mit weltweit boomenden Niederlassungen, konnte er mir an seiner Seite trotz meiner ständigen finanziellen Mühen mit der Company ein sorgenfreies Leben ermöglichen. So berechnend es klingen mag, aber auch dieser Aspekt fördert das Gelingen einer Liebesgemeinschaft. Wir hatten einige sehr schöne Jahre, bis er starb. Für mich gab es danach keine körperliche Liebe mehr. Und der Tod meiner Tochter ließ mich vollends von allem abrücken, was mit menschlicher Nähe zu tun hat.
Glücklicherweise ertrage ich Hortensias Anwesenheit im Haus gut, ich habe es sogar gern, wenn sie kommt und ich ihre Schritte auf den Gangfliesen höre. Aber immer weiß ich, daß sie nach einigen Stunden wieder gehen wird. Außerdem ist sie eine appetitliche Frau und riecht gut.
Was schreibe ich da eigentlich. Wollte ich doch Gegenwart, nur Gegenwart notieren. Aber vielleicht kann man im Jetzt nur als Resultat seiner Vergangenheit bestehen, vielleicht ist man in jedem Augenblick nichts anderes als der vorläufige und vorübergehende Schlußpunkt all dessen, was war.
Ich werde also nicht umhin können, immer wieder in Rückblicke zu geraten, besser, ich verbiete sie mir nicht. Soll dieses Tagebuch mich doch nicht anstrengen, sondern mir freien Lauf lassen. Angestrengt habe ich mich ein langes Leben lang zur Genüge. Und frei gelaufen bin ich viel zu selten.
Wie herrlich dieser heiße Sommertag sich wölbt. Wie köstlich Sonntagsstille ihn erfüllt. Ich war, ehrlich gesagt, froh gewesen, Florys verweintem Gesicht und ihren anklagenden Augen zu entrinnen. Als ich das kühle Haus betrat, senkte sich sofort der Friede des Einsamseins über mich. Einsamkeit, die nicht mit Verlustgefühlen oder körperlichen Schmerzen verknüpft ist, die Gelassenheit und schlichten Lebensgenuß zuläßt, kann unendlich friedvoll sein. Und ich habe diesen Zustand in Ansätzen erreicht, will mir scheinen. Dunkle, endlos scheinende Wälder der Trauer mußte ich durchschreiten, immer wieder die Hürde des Aufgebenwollens überwinden. Eine Zeit lang wäre ich gerne zu Nichts geworden, aufgelöst, davongeweht. Ich dachte nicht über das Sterben nach, lag mit der Zeit jedoch auch tagsüber halb bewußtlos im Bett, nachdem ich reichlich Beruhigungsmittel geschluckt hatte. Nie zu viel, aber sehr, sehr viel. Nur nichts denken müssen, bitte nichts, nichts empfinden! war mein sehnlichstes Verlangen. Das ging durch Monate so, und in dieser Zeit zerfiel die Company. Ich hatte sie gegründet, ihr meinen Stempel aufgedrückt, sie zu internationaler Anerkennung geführt. Sie war, nachdem ich selbst nicht mehr tanzen konnte, neben der Liebe zu meiner Tochter durch Jahre, wie man so schön sagt, »mein Ein und Alles« gewesen. Natürlich fehlte, als ich die Truppe fallen ließ, jeder Antrieb, mein Konzept weiterzuführen. Ich hatte mich nie um eine Nachfolge gekümmert, und niemand folgte mir nach. All die Tänzer und Tänzerinnen, die auf mich eingeschworen zu sein schienen, gingen rasch andere Wege, keiner wollte die Mühen des Managements, Organisierens und vor allem der künstlerischen Verantwortung auf sich nehmen. Und mir war mit einem Schlag gleichgültig geworden, was mit der Company geschah. Als Neblo starb und ich den Unfall nahezu unverletzt überlebt hatte, zwang ich mich noch zum Weiterarbeiten. Aber der plötzliche Tod meiner Tochter schlug mich endgültig nieder, begrub alles andere unter sich, war auch mein Lebensende.
Erstaunlich also, daß ich lebe, wieder einen Sommer erlebe, die späte Sonne durch das Laub leuchten sehe, die warme Luft spüre, die durch das Zimmer streicht, und mich sogar auf ein Glas Rotwein und Käsebrote freuen kann, auf meinen geruhsamen Abendimbiß vor dem Fernsehschirm, wenn ich die Abendnachrichten verfolge. Ja, daß mich Nachrichten und Ereignisse des Weltgeschehens überhaupt noch interessieren. Daß ich siebzig Jahre alt werden konnte, ohne zu verblöden und von physischen Altersbeschwerden arg geplagt zu sein. Sicher, mein seit Kindertagen vom Ballett geschundener Körper jammert manchmal ein wenig vor sich hin, andererseits bin ich durchtrainiert genug gewesen, zu keiner fetten alten Frau zu werden, nicht zu hinken oder mich schwer zu bewegen. Ich habe ein paar Freunde, die ich ab und zu treffe und die bei meinem Anblick behaupten, ich sähe gut aus. Ich sähe immer noch gut aus. Ohne diese Beifügung wird man ab einem gewissen Alter ja nicht mehr beurteilt, alles, was ist, ist noch. Mir soll es recht sein. Habe ich mich doch eines Tages selbst dazu entschlossen, noch zu leben. Noch weiterzuleben.
Ich glaube, das Mittagessen mit Flory hat mich dazu gebracht, meine Gedanken vermehrt in die Vergangenheit schweifen zu lassen. War sie doch ehemals, in meiner tätigen Zeit, mehr als die anderen Companymitglieder Bestandteil meines täglichen Arbeitspensums. Da sie keine besonders gute Tänzerin war, ich sie aber irgendwie mochte, zwang ich sie oft zum Einzeltraining, um sie »bei der Stange« zu halten. Viele Stunden arbeiteten wir nur zu zweit. Ich tat das auch deshalb, muß ich gestehen, weil sie damals besonders hübsch aussah, was dem Gesamtbild der Company guttat, ich wollte sie nicht fallen lassen.
Wie diese mißglückte Ehe ihrem Aussehen geschadet hat, mußte ich heute denken, als sie mir gegenübersaß. Auch sie ist klarerweise älter geworden, aber so prachtvoll, wie sie früher aussah, hätte daraus eine schöne, reife Frau hervorgehen müssen. Sie jedoch wirkt verbraucht, müde und schlaff, die ständige Eifersucht, das ständige Zurückgewiesenwerden ist es wohl, sie haben ihr Gesicht und ihren Körper gezeichnet. Das kann auch zu viel Schminke, eine auf jung gestylte Kleidung und ein mühsam hochgestütztes Dekolleté nicht verbergen. Im Gegenteil, der Anblick Florys trauriger Brüste ließ auch mich traurig werden. Nichts macht Menschen mehr kaputt als die Unfähigkeit, sich aus unhaltbaren Verbindungen zu lösen. Sich selbst zu erlösen. Diese Erlösung ist, meine ich, die einzige, die zählt. Zumindest, solange wir auf irdische Weise am Leben sind.
Aber genug für heute, ich werde müde.
Das Licht draußen ist um so vieles schöner als der bläuliche Schein des Bildschirms vor mir. Vielleicht schlendere ich jetzt noch eine wenig durch den Garten. An seinem Ende gibt es den alten Liegestuhl, bei Wind und Wetter bleibt der draußen, sein Leinen ist bereits völlig ausgeblichen. Vielleicht bleibe auch ich dann dort und schaue von diesem Liegestuhl aus in das Laub der Bäume hoch, bis es dämmert.
Laub. Schon dieses Wort liebe ich.
Ich kam einen Tag lang nicht dazu, den Computer zu öffnen. Sonntags blieb ich tatsächlich ziemlich lange im Garten, es war bereits dunkel, als ich mich zu meinem Abendbrot und vor das Fernsehen setzte. Und dann rief Flory an, sie schluchzte in das Telefon und war nicht zu beruhigen. In mir gab es keine Spur Bedauern, eher erfüllte mich Zorn, von ihr so spät noch aus meinem friedvollen Abend gerissen zu werden. Trotzdem schlug ich ihr vor, zu mir zu kommen. Und sie kam. Sie kam sehr bald und in völlig aufgelöstem Zustand, diesmal war sie von ihrem Gatten grün und blau geschlagen worden. Ich holte Eis aus dem Kühlschrank, tat es in einen Waschlappen, und preßte ihn gegen ihr geschwollenes Auge, während sie mir stammelnd und heulend berichten wollte, was geschehen war. »Laß gut sein, Flory«, unterbrach ich sie, »von solchen zwischenmenschlichen Exzessen kann keiner je vernünftig berichten, laß das bitte eure Sache bleiben, nämlich die von dir und deinem Mann.« Da stieß sie meine Hand von sich, die Eisstücke klirrten und kollerten über den Boden. Ich sei kalt wie ein Eisblock, schrie sie, und nur, weil ich selbst derart abgekapselt und beziehungslos leben würde, bräuchte ich nicht über die Beziehungen anderer herzuziehen. Das machte mich so wütend, daß ich sie ersuchte, wieder zu gehen. Daraufhin umschlang sie mich, bat um Verzeihung, sie sei schrecklich taktlos gewesen, sie wisse ja, warum ich mich zurückgezogen hätte und alleine sei, was für Schicksalsschläge ich zu erdulden gehabt hätte, ob sie trotzdem bei mir bleiben könne, wenigstens für diese eine Nacht, bitte, bitte. Also sagte ich ja. Dummerweise sagte ich ja. Seit jeher neige ich zu irrationaler Pflichterfüllung und völlig ungerechtfertigtem Verantwortungsgefühl im Umgang mit menschlichen Forderungen. Ich kann schlecht nein sagen und handle dabei oft gegen meine eigenen Wünsche und Bedürfnisse.
Ich servierte Flory sogar noch noch ein Glas Rotwein und fragte, ob sie Hunger habe. Den hatte sie nicht, aber die Rotweinflasche trank sie leer, während sie auf mich einredete. Schließlich lallte sie nur noch Unverständliches vor sich hin und ich schleppte sie ins ebenerdig gelegene Gästezimmer. Dort fiel sie auf das Bett, ehe ich ein Leintuch spannen oder Kissen überziehen konnte, sie fiel um wie tot. Ich breitete eine Wolldecke über sie und überließ sie mit all ihrem Elend der Wohltat eines ohnmächtigen Schlafes.
Bei mir oben drehte ich den Fernsehapparat nochmals an, denn meine Müdigkeit hatte sich in eine Art vibrierenden Ekel verwandelt, den ich vor dem Schlafengehen wieder loswerden wollte. Ich fand es plötzlich so ekelhaft, was Menschen miteinander anstellen, wie sie einander im Namen einer längst getöteten Liebe niedermetzeln. Aber das Fernsehprogramm bot mir keinen gegenteiligen Eindruck, nichts an Tröstung erreichte mich, die Nachtfilme handelten ebenfalls von Beziehungsbrutalitäten und ödeten mich an. Ich ging also sehr spät und von Irritation erfüllt zu Bett. Und es gibt kaum etwas, das ich weniger mag. Mein Gemüt bedarf einer gewissen Reinigung, bedarf des Freiwerdens von Tagesüberlegungen, um mich einschlafen zu lassen. Im Altwerden habe ich gelernt, dies meist zu erreichen, indem ich Gedanken verweise. Also gewissen Gedanken verbiete, mich zu bewohnen, sobald sie beginnen, in mir ihr Unwesen zu treiben. Es gelingt, wenn ich mühelos in ein anderes Nachdenken einsteigen kann, in eines über erfundenes, fiktives Leben, also Leben fernab meiner eigenen Lebensrealität. Oft denke ich dann an Filme, die ich liebe. Oder an Tänze. Tänze, nicht getanzte theatralische Geschehnisse! Das sogenannte Tanztheater war nie meines gewesen, ich äußerte immer wieder, auch öffentlich, wer auf der Bühne Geschichten erzählen will, soll bitte sprechen. All die Tanztheater-Fans verdammten mich deshalb, aber ich denke, unsere Truppe hatte genau deshalb so großen Erfolg, weil das Gebotene eben nur vom Tanzen handelte. Vom Tanzen um des Tanzens willen. Alle Arten von Tanz boten wir dar, was jedoch hieß, gleichzeitig alle Aspekte von Leben zu enthüllen. Der Mensch muß tanzen. Es gehört ins Repertoire des Menschlichen, zu tanzen. Geburt, Atem, Liebe, Tod, Tanz. So sehe ich das.
Sofort ist sie da, diese unermüdliche Bereitschaft, über das Tanzen zu reflektieren. Ich mußte doch wahrlich eine Zeile freilassen, um mich wieder zu fangen! Mich einzufangen, wie man ein Tier einfängt, das den Zaun durchbrochen und seinen ihm zugeordneten Weideplatz verlassen hat. Zurück in die Grenzen deines jetzigen Lebens und deines Alters, mußte ich mir sagen, hübsch brav auf stiller Wiese grasen, die Zeiten des Tanzens sind vorbei.
Und eigentlich will ich doch notieren, weshalb ich gestern nicht zum Schreiben kam. Daß es an Florys Anwesenheit in meinem Haus lag.
Sie schien noch zu schlafen, als Hortensia am Vormittag kam, jedenfalls hörten wir nichts von ihr. Ich esse immer mit Hortensia, die übrigens vorzüglich kocht. Nur wenn Gäste kommen, bleibt sie lieber in der Küche. Als wir uns also gemeinsam zum Mittagessen setzten, drangen plötzlich Schreie aus dem Gästezimmer herauf. Diese Schreie aus der Tiefe des Hauses erschreckten Hortensia, sie starrte mich entsetzt an. »Das ist meine Freundin Florinda Bell«, sagte ich, »sie hat hier übernachtet.« Dann sprangen wir beide auf und stürzten hinunter. Flory stand im Gästebadezimmer vor dem Spiegel und kreischte haltlos.