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© 2008, 2011 Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-13181-7

Satz: DOPPELPUNKT, Stuttgart

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Blume

Kakao Spezial und kein neuer Fall

»Wenn das so weitergeht, können wir unseren Detektivclub bald einmotten.« Kim sah ernst in die Runde. »Unser letzter richtiger Fall ist schon eine halbe Ewigkeit her.«

Die drei !!! hatten es sich in der gemütlichen Sofaecke des Café Lomo bequem gemacht. Vor ihnen auf dem niedrigen Couchtisch standen drei dampfende Becher mit Kakao Spezial, dem absoluten Lieblingsgetränk der Detektivinnen. Marie nahm ihren Becher in die Hand und atmete genießerisch das leichte Vanillearoma ein.

Franzi nickte. »Stimmt. Aber ich bekomme immer noch eine Gänsehaut, wenn ich an die alte Hexe denke. Wisst ihr noch, wie wir sie nachts im Wald beobachtet haben? Mann, war das unheimlich …«

»Als wenn ich das vergessen könnte.« Kim schaudete. »Manchmal träume ich sogar von der Hexe und der Quelle im Wald. Das war eindeutig einer unserer gruseligsten Fälle. Und vorläufig auch unser letzter. Seitdem hat sich leider nicht mehr viel getan.«

»Abgesehen von den Ermittlungen im Februar«, sagte Franzi. »Die sollten wir nicht unter den Tisch fallen lassen. Immerhin ging es dabei um Maries Mutter.«

Marie bemerkte, wie Kim ihr einen besorgten Seitenblick zuwarf und Franzi unauffällig mit dem Ellbogen in die Seite stieß. Franzi runzelte die Stirn. »Was denn? Hab ich was Falsches gesagt?«

Kim seufzte. »Du weißt doch ganz genau, dass …«, begann sie, aber Marie unterbrach ihre Freundin.

»Ist schon in Ordnung. Es macht mir nichts aus, wenn ihr Mama erwähnt.« Marie lächelte traurig. »Ich denke sowieso jeden Tag an sie. Und das ist auch gut so. Schließlich ist sie ein Teil von mir – auch wenn ich sie leider nicht mehr richtig kennenlernen konnte.«

Anne Grevenbroich war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als Marie noch sehr klein war. Die Umstände ihres Todes waren nicht ganz eindeutig gewesen, und die drei !!! hatten den Fall vor einigen Wochen neu aufgerollt. Marie hatte endlich Klarheit gewollt, auch wenn die Ermittlungen für sie manchmal sehr schmerzhaft gewesen waren. Doch es hatte sich gelohnt. Jetzt konnte sie endlich mit der Vergangenheit abschließen. Aber in ihrem Herzen würde ihre Mutter immer weiterleben.

»Ich finde es toll, wie du mit dem Tod deiner Mutter umgehst.« Kims Augen waren voller Mitgefühl. »Ich weiß nicht, ob ich das könnte.«

Marie nahm einen Schluck von ihrem Kakao. »Dafür habe ich den besten Vater der Welt. Ich wüsste nicht, was ich ohne Papa machen würde.«

Marie wurde es warm ums Herz, als sie an ihren Vater dachte. Der frühe Tod ihrer Mutter hatte die beiden eng zusammengeschweißt. Herr Grevenbroich ließ keinen Zweifel daran, dass seine Tochter für ihn das Wichtigste auf der Welt war. Er trug Marie auf Händen und las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Gleichzeitig vertraute er ihr völlig und ließ ihr viele Freiheiten. Durch seinen Beruf als Schauspieler war er oft unterwegs. Die Rolle als Kommissar Brockmeier in der Vorabendserie Vorstadtwache hatte ihm nicht nur jede Menge Geld und internationalen Erfolg eingebracht, sie führte ihn auch an die unterschiedlichsten Drehorte. Zurzeit drehte er allerdings in der Stadt, und Marie genoss es, die Abende mit ihrem Vater zu verbringen. Er kochte all ihre Lieblingsgerichte und erzählte während des Essens lustige Anekdoten vom Set.

Franzi warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Sorry, aber ich muss gleich los. Bin noch mit Benni in der Stadt verabredet. Er will sich neue Skates kaufen, und ich soll ihn beraten.«

»Wie läuft’s denn so zwischen euch?«, erkundigte sich Marie. »Überhäuft dich Benni immer noch mit Geschenken?«

Vor einigen Wochen war Franzi mit ihrem Skaterkumpel Benni zusammengekommen. Benni himmelte sie hemmungslos an und hatte ihr ein Geschenk nach dem anderen gemacht, was Franzi nach einer Weile ziemlich auf die Nerven gegangen war. »Er versucht, sich zu bessern«, berichtete Franzi. »Leider hat er hin und wieder noch kleine Rückfälle. Gestern zum Beispiel hat er mir einen riesigen Strauß rote Rosen mitgebracht.«

Marie grinste. »Also, ich könnte mit solchen Rückfällen gut leben.« Sie sah zu Kim. »Was meinst du, sollen wir uns noch einen Kakao Spezial gönnen, während Franzi zu ihrem Romeo eilt?«

»Ich muss leider auch eher weg.« Kim klappte das abgegriffene Heft zu, das vor ihr auf dem Tisch lag. Es war das Detektivtagebuch der drei !!!. Als Kopf des Detektivclubs war Kim dafür zuständig, jedes Detail der Ermittlungen zu notieren, wenn die drei !!! einen neuen Fall übernommen hatten. Normalerweise tat sie das auch sehr akribisch. Diesmal hatte sie allerdings kein einziges Wort in das Heft geschrieben. »Ich treffe mich gleich mit Michi. Wir haben heute unser vierwöchiges Jubiläum und wollen ein bisschen feiern …«

»Ihr seid schon vier Wochen zusammen? Das ist ja toll!« Franzi strahlte ihre Freundin an. »Schenkst du ihm was?«

Kim wurde rot. »Na ja … also … ich hab tatsächlich eine Kleinigkeit besorgt.« Sie zog eine mit dunkelblauem Samt bezogene Schachtel aus ihrer Tasche und klappte sie auf. »Findet ihr das übertrieben?«

Neugierig beugten sich Franzi und Marie über das Kästchen. Auf einem Samtkissen lag ein silbernes Herz. Es war blank poliert und glänzte im Schein der Kerze, die neben den Kakaobechern auf dem Couchtisch stand.

»Das ist ein Schlüsselanhänger«, erklärte Kim. »Man kann ihn öffnen.«

Erst jetzt erkannte Marie, dass es sich bei dem Herz um ein Medaillon handelte. Als Kim es aufklappte, kam ein kleines Foto von ihr und Michi zum Vorschein. Beide lächelten verliebt in die Kamera.

Marie schluckte. »Es ist wunderschön. Michi wird sich bestimmt total darüber freuen.«

»Ehrlich?« Kim sah unsicher zu Franzi.

Franzi nickte. »Auf jeden Fall. Und wenn nicht, ist er ein Idiot.« Kims Augen strahlten, während sie die Schachtel wieder zuklappte und wegsteckte. Es war nicht zu übersehen, wie sehr sie sich auf die Verabredung mit Michi freute. Und darauf, ihn mit ihrem Geschenk zu überraschen. Marie seufzte. Sie beneidete Kim und Franzi darum, dass sie ihre Freunde jeden Tag treffen konnten, wenn sie Lust dazu hatten. Holgers Gesicht tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Sie sah ihn ganz deutlich vor sich: seine schwarzen Haare, die grünen Augen und sein wahnsinnig liebes Lächeln. Die plötzliche Sehnsucht nach ihm schnürte Marie einen Moment lang die Kehle zusammen. Normalerweise kam sie gut damit zurecht, dass sie und Holger eine Fernbeziehung führten. Er wohnte in Billershausen, einem kleinen Dorf in ungefähr fünfundzwanzig Kilometern Entfernung. Die Woche über war Marie mit der Schule und ihren zahlreichen Hobbys sowieso gut ausgelastet. Neben dem Detektivclub machte sie regelmäßig Aerobic, nahm Gesangsstunden und spielte in einer Theatergruppe mit. Für einen Freund blieb da kaum Zeit. Aber die Wochenenden mit Holger waren dafür umso schöner. Doch heute vermisste sie ihn furchtbar. Wie gerne hätte sie jetzt neben ihm gesessen, seine Hand gehalten und seine Wärme gespürt …

»Sag mal, bist du heute nicht auch einen Monat mit Holger zusammen?«, fragte Kim. Sie sah Marie aufmerksam an.

»Ja.« Marie schlug die Augen nieder und versuchte, sich ihre Sehnsucht nicht anmerken zu lassen. Sie wollte auf keinen Fall von ihren Freundinnen bemitleidet werden. »Ist schon witzig, dass wir genau am selben Tag zusammengekommen sind wie Michi und du.«

Aber Kim ließ sich von Maries aufgesetzter Munterkeit nicht täuschen. »Echt blöd, dass Holger so weit weg wohnt. Du würdest jetzt bestimmt auch gerne mit ihm feiern, oder? Fehlt er dir sehr?«

Marie winkte ab. »Ach was, halb so wild. Wir holen das am Wochenende nach. Holger kommt wahrscheinlich am Sonntag vorbei. Vielleicht machen wir dann wieder eine Moun- tainbike-Tour, so wie letztes Wochenende. Das war echt toll! Holger ist wirklich wahnsinnig sportlich. Stellt euch vor, einmal hätte er mich beinahe abgehängt …« Das Klingeln ihres Handys beendete Maries etwas hektischen Redefluss. Dankbar für die Unterbrechung angelte sie das Telefon aus ihrer Umhängetasche, warf einen Blick auf das Display und lächelte Kim und Franzi entschuldigend zu. »Sorry, ich muss mal eben rangehen.« Sie hielt sich das Handy ans Ohr. »Hallo, Papa, was gibt’s?« Während sie ihrem Vater zuhörte, wurden ihre Augen immer größer. Ihr Gesicht wurde erst blass, dann erschienen hektische rote Flecken auf ihren Wangen. »Wie bitte?«, quiekte sie. »Das ist nicht dein Ernst, oder? Warum hast du mir denn nichts davon erzählt?« Sie lauschte gebannt. »Heute Abend? Moment mal, nicht so schnell … Hallo? Bist du noch dran?« Sie ließ das Handy sinken und sah Kim und Franzi fassungslos an. »Er hat einfach aufgelegt!«

»Was ist denn los?« Kim machte ein besorgtes Gesicht. »Ist etwas passiert?«

»Ja … nein …« Marie fuhr sich nervös mit der Hand durch ihre langen, blonden Haare. »Ihr werdet es nicht glauben! Ich kann’s ja selbst kaum glauben. Es ist aber auch wirklich absolut unglaublich …«

»Was denn?«, fragte Franzi ungeduldig. »Jetzt sag schon!«

Marie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dann platzte sie heraus: »Papa hat Nick eingeladen. Er kommt heute zum Abendessen.«

Kim runzelte verständnislos die Stirn. »Nick? Welcher Nick?« »Nick Voss natürlich!« Marie sah Kim erwartungsvoll an, aber sie schien immer noch nicht zu verstehen.

Dafür stieß Franzi einen spitzen Schrei aus. »Was? Dein Vater hat Nick Voss eingeladen? Den Sänger der Boyzzzz? Das ist meine absolute Lieblingsband!«

»Meine auch. Die Boyzzzz hatten heute einen Gastauftritt in der Vorstadtwache. Und mein Vater fand Nick so nett, dass er ihn zum Abendessen eingeladen hat.« Maries Augen nahmen einen schwärmerischen Ausdruck an. »Nick ist einfach supersüß. Er sieht umwerfend aus und hat eine phänomenale Stimme. Wenn er anfängt zu singen, bekomme ich jedes Mal eine Gänsehaut. Ein absoluter Traumtyp.«

»Allerdings.« Franzi seufzte. »Eigentlich müsste es verboten werden, dass so jemand frei herumläuft. Vermutlich verdreht er den Mädels reihenweise die Köpfe. Er sieht nämlich nicht nur gut aus, sondern ist auch noch total witzig. Ich hab mal ein Interview mit ihm gelesen – der Typ hat einen super Humor.« Sie warf Kim einen ungläubigen Blick zu. »Hast du wirklich noch nie etwas von Nick Voss gehört? Er ist doch zurzeit der neue Stern am Boygroup-Himmel.«

Kim zuckte mit den Schultern. »Schon möglich, aber ich inte- ressiere mich nun mal nicht besonders für Musik. Kann sein, dass ich einen Song dieser Boyzzzz aus dem Radio kenne. Ist nicht mein Geschmack.«

»Also, Nick ist bestimmt dein Geschmack«, behauptete Marie. Sie kramte in ihrer Tasche. »Warte mal kurz … da ist sie ja!« Sie förderte die neuste Ausgabe der Mädchenzeitschrift Sweet zutage. Da Marie später selbst einmal eine berühmte Sängerin oder Schauspielerin werden wollte, war es für sie selbstverständlich, sich regelmäßig über die neuesten Entwicklungen im Showgeschäft zu informieren. Aus diesem Grund gehörte die Sweet zu ihrer Pflichtlektüre. »Hier ist ein Poster von Nick drin. Das wird dich garantiert umhauen!« Sie blätterte in der Zeitschrift und klappte das großformatige Poster auf, das in der Mitte eingeheftet war. »Und? Was sagst du? Hab ich zu viel versprochen?«

Marie verschlang das Poster mit den Augen. Es zeigte eine Großaufnahme von Nicks Gesicht. Seine blonden Haare waren fransig geschnitten und sahen ein wenig strubbelig aus. Als wären sie gerade von einem Windstoß zerzaust worden. Seine Augen waren von einem so intensiven Blau, dass man fast das Meer rauschen hörte. Und sein Lächeln haute einen einfach um. Nick strahlte direkt in die Kamera. Seine weißen Zähne blitzten, und Marie musste automatisch ebenfalls lächeln.

»Zumindest hat er ein prima Gebiss«, sagte Kim trocken. »Sein Zahnarzt ist bestimmt stolz auf ihn.«

»Also bitte!« Etwas beleidigt klappte Marie das Poster zusammen. »Ist das alles, was dir dazu einfällt? Nicks Zähne sind natürlich klasse, aber hast du seine Augen gesehen? Dieses strahlende Blau?«

»Kontaktlinsen«, behauptete Kim.

»Quatsch!« Franzi schüttelte energisch den Kopf. »Die Augenfarbe ist echt, jede Wette.«

Kim lächelte abgeklärt. »Ihr seid wirklich leicht zu beeindrucken. Der Typ hat einen geschickten Stylisten, das ist alles. Ein bisschen Schminke hier, ein bisschen Haargel da, blaue Kontaktlinsen und eine optimale Beleuchtung – so wird jeder zum Star.« Kim sprach aus Erfahrung. Sie hatte vor einiger Zeit beim Shooting für eine Foto-Love-Story mitgemacht und am eigenen Leib erfahren, wie anders man plötzlich wirkte, wenn man richtig gestylt von einem Profi fotografiert wurde. »In Wirklichkeit sieht dieser Nick bestimmt auch nicht besser aus als jeder andere Junge.«

»Das werden wir ja sehen.« Marie steckte die Zeitung weg.

»Wir? Wieso wir?«, fragte Franzi.

»Weil ihr heute Abend auch eingeladen seid«, sagte Marie, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. »Natürlich nur, wenn ihr Lust habt.«

»Da fragst du noch?«, kreischte Franzi. »Und ob ich Lust habe! Nick Voss persönlich kennenzulernen ist der absolute Wahnsinn!«

»Ich bin auch dabei.« Kim grinste. »Einer muss euch schließlich auffangen, wenn ihr bei Nicks Anblick vor lauter Begeisterung in Ohnmacht fallt.«

»Sehr freundlich von dir. Dann erwarte ich euch also um acht.« Marie legte ein paar Münzen für ihren Kakao auf den Tisch und erhob sich. »Jetzt muss ich aber wirklich los, sonst werde ich bis heute Abend nicht fertig.«

»Du Arme! Musst du deinem Vater beim Kochen helfen?« Franzi wusste, dass sich Marie nur äußerst ungern in der Küche aufhielt. Zumindest dann, wenn sie Gemüse schnippeln oder Kartoffeln schälen sollte.

»Kochen? Quatsch!« Marie sah Franzi an, als wäre sie völlig verrückt geworden. »Ich muss mich noch stylen.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Oh Gott! In drei Stunden steht Nick vor der Tür – das schaffe ich nie!« Ohne auf die belustigten Blicke ihrer Freundinnen zu achten, rauschte Marie aus dem Café. Es gab noch viel zu tun, und die Zeit war knapp. Jetzt zählte jede Sekunde.

Blume

Ein Star hautnah

»Marie! Telefon für dich!« Herr Grevenbroich öffnete die Badezimmertür. Dichte Dampfschwaden schlugen ihm entgegen. Der Spiegel war beschlagen, und von den Kacheln tropfte das Kondenswasser.

»Muss das jetzt sein?«, fragte Marie ungnädig. »Ich hab gerade überhaupt keine Zeit.« Sie hatte ausgiebig geduscht, ein Ganzkörperpeeling mit Meersalz gemacht und sich die Haare mit duftendem Zitronenshampoo gewaschen. Jetzt stand sie in ein großes Handtuch gehüllt mitten im Badezimmer und cremte sich mit ihrer Lieblingsbodylotion ein: Sanddorn-Orange, ein sündhaft teures Zeug, das selbst Marie nur zu besonderen Gelegenheiten benutzte. Dabei versorgte ihr Vater sie wirklich sehr großzügig mit Taschengeld.

»Es ist Holger.« Herr Grevenbroich hielt seiner Tochter das tragbare Telefon hin.

Marie wischte sich die nach Sanddorn duftenden Finger am Handtuch ab und nahm das Telefon entgegen. Sie hatte komplett vergessen, dass sie und Holger heute Abend zum Telefonieren verabredet gewesen waren. Dabei zählte sie sonst immer die Minuten bis zu seinen Anrufen.

»Hallo, Marie!« Holgers tiefe Stimme drang an ihr Ohr. Sie klang so nah, als würde er im Nebenzimmer stehen. »Stör ich?« »Nein, natürlich nicht«, sagte Marie automatisch. Sie setzte sich auf den Rand der Badewanne und betrachtete ihre Nägel. Der Daumennagel war eingerissen, und der perlmuttfarbene Nagellack blätterte an einigen Stellen ab. Ob ihr noch Zeit für eine schnelle Maniküre blieb, bevor Nick kam? Sie sah zur Uhr über der Badezimmertür, aber das Glas war beschlagen. »Sag mal, weißt du zufällig, wie spät es ist?«

»Kurz nach halb acht«, antwortete Holger.

»Mist!«, entfuhr es Marie. Sie sprang auf. »So spät schon!«

»Was ist denn los mit dir?«, fragte Holger. Marie konnte sein Stirnrunzeln förmlich hören. »Du klingst total angespannt. Hab ich mich in der Uhrzeit vertan? Wir wollten doch um halb acht telefonieren, oder?«

»Ja, eigentlich schon, aber … mir ist etwas dazwischengekommen.« Marie biss sich auf die Lippe. Sollte sie Holger von Nicks Besuch erzählen? Nach kurzem Zögern entschloss sie sich dagegen. Das konnte sie morgen immer noch tun. Sie hatte jetzt keine Zeit für lange Erklärungen. »Wir kriegen gleich Besuch, und ich bin noch nicht angezogen.«

Holger lachte. »Schade, dass ich jetzt nicht bei dir bin. Du fehlst mir.«

»Du mir auch.« Marie wischte mit der freien Hand über den Spiegel und betrachtete prüfend ihr Gesicht. Zum Glück war kein Pickel zu sehen. Ihre Haut war makellos.

»Der letzte Monat mit dir war wunderschön. Am Wochenende feiern wir unser Jubiläum, okay?« Holgers Stimme klang sanft.

»Klar.« Marie griff nach dem Nagellackentferner und versuchte, ihn mit einer Hand zu öffnen.

»Was möchtest du gerne machen?«, fragte Holger. »Du kannst dir etwas wünschen.«

»Verflixt!« Das Plastikfläschchen war Marie aus der Hand gerutscht und ins Waschbecken gefallen. Der Nagellackentferner floss leise gluckernd in den Abfluss. Sofort breitete sich ein scharfer, ätzender Geruch im Badezimmer aus. »Sorry, aber ich muss jetzt wirklich Schluss machen. Wir reden morgen weiter, okay?«

»Klar, kein Problem. Einen schönen Abend noch.« Holger legte auf.

Einen Moment blieb Marie mit dem Telefon am Ohr vor dem Spiegel stehen. In Holgers Stimme hatte ein Hauch von Ärger mitgeschwungen. War er sauer, weil sie ihn abgewürgt hatte? Oder hatte sie sich das nur eingebildet? Marie legte das Telefon zur Seite. Sie würde das morgen mit ihm klären. Wenn sie Nick nicht im Handtuch empfangen wollte, musste sie zusehen, dass sie fertig wurde.

»Du bist also Marie.« Nick kam auf sie zu und schüttelte ihre Hand. Sein Händedruck war angenehm fest. »Dein Vater hat mir schon viel von dir erzählt.«

»Tatsächlich?« Marie musste sich zusammenreißen, um Nick nicht zu auffällig anzustarren. Er war größer, als sie erwartet hatte, und trug eine abgewetzte Jeans und einen einfachen blauen Wollpullover, der ihm unverschämt gut stand. Aber wahrscheinlich hätte er auch in einem Müllsack umwerfend ausgesehen. Seine blauen Augen harmonierten perfekt mit der Farbe seines Pullovers, und Marie überlegte kurz, ob das Absicht oder Zufall war. Dann erinnerte sie sich daran, dass sie und Nick nicht alleine im Wohnzimmer waren. »Das sind meine Freundinnen Franzi und Kim.«

»Hallo. Nett, dich kennenzulernen.« Kim schüttelte Nicks Hand. Marie warf ihr einen triumphierenden Blick zu. Von wegen Styling ist alles! In Wirklichkeit sah Nick noch besser aus als auf dem Poster.

Boyzzzz