Autorenvita:

 

Waluszek, Christian,

geboren 1952, studierte zuerst Jura, wechselte dann aber zur Germanistik, Slawistik und den Musikwissenschaften. Außerdem hat er jahrelang Theater mit Jugendlichen gemacht. Heute ist er Lehrer und unterrichtet Deutsch und Musik. Er schreibt hauptsächlich für junge Erwachsene, seine Themen sind vielfältig. Waluszeks Romane sind auch in Dänemark, Belgien, den Niederlanden, Spanien, Frankreich, China und Japan erschienen.

Buchinfo:

 

In den Adventure-Halls von Allgames bekommt Adrian den Kick, den er in seinem sonstigen Leben vermisst. Die Schule und das Internat öden ihn an. Am liebsten würde er alles hinter sich lassen – schon wegen seiner Spielschulden bei Allgames, die ihm bis zum Hals stehen. Doch mit einem Mal wendet sich das Blatt: Er gewinnt einen Programmierer-Wettbewerb und wird von Kain Marverick, dem reichsten Mann der Welt und Besitzer von Allgames, entdeckt. Geld spielt jetzt keine Rolle mehr. Doch nach und nach stellt Adrian fest, dass er Teil eines monströsen Plans ist, aus dem er aussteigen muss, bevor es zu spät ist ...

Action- und temporeich spielt Christian Waluszeks Thriller mit der Möglichkeit, Menschen zu manipulieren, indem man ihr Sehen beeinflusst und ihre Erinnerung an die Vergangenheit auslöscht.

Cover

1

 

Cover

Wenn ich mit der Zunge schnalze oder mit den Fingern schnippe, muss ich nur auf die leisen Echos achten, die die Wände, Türen, Möbel und andere Gegenstände zurückwerfen. Das ist zwar anstrengend, aber inzwischen höre ich ziemlich genau, wo sich mir was in den Weg stellt. Auf jeden Fall brauche ich das verdammte WAPE, das Way-Pilot-Earset, nicht mehr. Das mich bei der kleinsten Bewegung mit Ansagen genervt hat, woran ich als Blinder anecken oder worüber ich stolpern könnte.

Die Sache ist – ich will nicht von einem WAPE gesagt bekommen, was ich sehen könnte.

Und sehen will ich es erst recht nicht.

Ich bin froh, dass das IVIS endlich seinen Geist aufgegeben hat. Ich meine damit das Implanted-Video-System, also eine Mini-Kamera in meinen Augen, die man mir nach einem Unfall mit einer neu entwickelten Game-Laserbrille verpasst hat. Weil ich das dazugehörige Stirnband nicht dabeihabe, konnte ich den Akku nicht mehr aufladen. Aber auch wenn ich es dabeihätte, hätte ich es nicht getan. Auf keinen Fall!

Ich will nämlich über alles als ich nachdenken. Sozusagen Adrian pur und nicht ein vom IVIS gesteuerter Computer-Robo-Adrian. Bloß keine Filme mehr im Kopf! Keine Zooms! Keine Zeitlupen! Auch keine Speicherabrufe und Superberechnungen mehr!

Nur ich und meine Erinnerungen.

Möglichst unverfälscht.

Was leider nicht so einfach ist. Weil ich noch zu oft das Gefühl habe, dass das Mini-Video-System was in meinem Kopf ziemlich durcheinandergebracht hat.

Feststeht auf jeden Fall – Kain Marverick, der reichste Mann der Welt, ist tot. Feststeht auch – ich lebe. Hier auf der Erde und nicht irgendwo da draußen im dunklen Universum ...

Dr. Orth hat mir jetzt endlich den Voice-Recorder besorgt, den ich mir gewünscht habe. Es ist ein kleines, sehr intelligent programmiertes Diktiergerät. Man kann nachträglich mit einem Signal Wörter markieren und durch andere ersetzen. Der Recorder bietet einem dann von selbst ähnliche an oder, wenn man will, gegensätzliche. Ich hätte es nicht gedacht, aber ich suche manchmal irre lange nach den richtigen Wörtern. Weil ich eben unbedingt ganz genau erklären muss, wie alles gekommen ist und warum Kain Marverick tot ist. Er, der glaubte, unsterblich zu werden. Wirklich unsterblich. Das erste auf ewig lebende Wesen des ganzen Universums . . .

Wie ich meinen Bericht anfangen müsste, damit auch wirklich alles klar wird, darüber habe ich mir ziemlich lange den Kopf zerbrochen. Zuerst wollte ich mit meiner Kindheit anfangen, vor allem damit, dass ich keine Eltern mehr habe und ein sogenanntes Stiftungskind bin. Dann wurde mir aber klar, dass das nur indirekt etwas mit dem zu tun hat, was ich erlebt habe, und dass ich es auch zwischendurch erzählen kann. Dann habe ich es mit dem Award versucht, den ich bei dem wohl bekanntesten internationalen Wettbewerb für Computer-Programmierer gewonnen habe, aber da fehlte die ganze Vorgeschichte. Bei der ging es wiederum um die Schule, auf die ich keine Lust hatte. Ausgenommen Informatik bei Big Joe. Das war immer eine echt spannende Veranstaltung. Und Big Joe war es auch, der mich zu dem Programmierer-Wettbewerb angemeldet hat. Wobei ich – und das ist das komplett Verrückte – auf den eigentlich auch keine Lust hatte . . . Vor zwei Nächten träumte ich dann, dass ich als Commander eines Raumschiffes im Weltall unterwegs bin. Ich bekam im Traum einen echten Panikanfall mit Herzrasen, bis sich herausstellte, dass sich das Ganze nur in einem Advegg abspielte. Als ich aufwachte, wusste ich dann endlich, wie ich anfangen muss. Mit dem Advegg von Allgames. Sozusagen mittendrin und doch am Anfang . . .

Dr. Orth ist übrigens der Meinung, dass ich mit meiner Blindheit übertreibe. Die von ihm benutzten Mini-Video-Systeme seien so sicher und arbeiteten derart unauffällig – es gebe zum Beispiel keine Abgleiche mit irgendwelchen Computern und darüber hinaus fast ewig haltende Akkus –, dass ich nach dem Eingriff alle meine Erinnerungen einfach aufschreiben könnte. Total unverfälscht.

Ich glaube ihm. Trotzdem ist es aber so, dass ich momentan den Gedanken nicht ertrage, einen aktiven Computer in meinem Kopf zu haben. Was das Mini-Video-System letztendlich ist. Allein die Vorstellung blockiert mich schon völlig.

Das ist das eine.

Und dann kommt noch das andere. Die Bombe, wie ich sie nenne. Die Bombe in meinem Kopf.

Eigentlich ist es mir gelungen, sie zu entschärfen. Dr. Orth ist überzeugt, dass er sie ohne große Probleme beseitigen kann. Alle Aufnahmen, die er von ihr gemacht hat, zeigen, dass sie nicht in meinem Gehirn verankert ist, sondern einfach nur darauf liegt. Je länger ich aber darüber nachdenke, desto unsicherer bin ich mir, ob Dr. Zhou, der geniale Dr. Zhou!, die Bombe wirklich so einfach konstruiert hat. Vielleicht geht sie ja in dem Moment los, in dem Dr. Orth versucht, an sie heranzukommen? Spätestens dann ist es mit meinem Bericht vorbei. Spätestens dann geht die Geheimmission Arche Noah weiter, als sei nichts passiert.

Das muss ich verhindern. Und das werde ich auch.

2

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Damals, in dem Advegg, hatte ich nur noch eine Chance, einen einzigen Ballwurf. Ging der daneben, würde sich der Boden unter uns öffnen und wir alle würden in die Unterwelt stürzen, wo bereits Cum Ahau, der grausamste der wiederauferstandenen Mayagötter, auf uns wartete.

Ich nahm den Ball vorsichtig mit dem Wurfarm auf, die kleinste Erschütterung konnte ihn wegschleudern und unser Verderben besiegeln.

Ein blendend heller Lichtstrahl fuhr jetzt über die Steinmauer und erleuchtete die dort eingemeißelten Götterfratzen.

»Das Ziel bin ich!«, dröhnte Cup Capat, der Gott des erstickten Atems, und riss sein steinernes Maul auf.

»Nein, das Ziel bin ich!«, rief Ek Chuah, der Gott des Krieges, und riss gleichfalls sein Maul auf.

»Lass dich nicht beirren, das Ziel bin ich!«, kam es von Ek Uuayab, dem Gott des Todes.

Die Mauer rückte mit donnerndem Getöse näher.

»Schieß, schieß endlich!«, rief Yasin. »Die Zeit läuft ab!«

»Nein, erst muss ich den Geheimcode haben! Ohne den Code ist unsere Mission sinnlos!«

Die Mauer rollte auf uns zu. Der Boden bebte. Ich hatte Mühe, den Wurfarm ruhig zu halten.

»Schieß, verdammt, schieß!«, rief Jouri.

Ich sah aus dem Augenwinkel, wie er und die anderen sich duckten und zurückwichen.

Aus der Mauer brach ein großer Quader heraus und krachte runter. Ein paar Sekunden lang sah ich nur graue Staubfontänen hinabregnen und Blitze, die in alle Richtungen schossen. Dann hatte ich den SAS, den See-All-Screen, aktiviert. Ein billiges Ablenkungsmanöver. Cup Capat und Ek Chuah hatten in der Mauer ihre Plätze getauscht.

Nein, es war kein billiges Ablenkungsmanöver. Es war der Hinweis! Ek Uuayab war der Beständige. Ihn musste ich treffen. Den Gott des Todes! Das war nur logisch!

Der Staubnebel verschwand. Die Mauer war nur noch wenige Schritte entfernt. Da plötzlich flackerten in den Augen der Götter mehrere Zahlenreihen auf. Der Geheimcode! Ich wusste, dass sie ihn preisgeben würden, wenn ich nur den Mut aufbrachte, lange genug zu warten. Ich zielte auf Ek Uuayab und schleuderte den Ball in sein Maul.

Die Mauer hielt an. Ein tief schwingender Ton erfüllte den Tempel, es war, als blase jemand in ein riesiges Rohr.

»Worauf warten wir noch?«, zischte Yasin.

»Dass uns die Mauer durchlässt!«

Der tiefe Ton schwoll an. Die Mauer musste jetzt fallen! Ich hatte Ek Uuayab doch getroffen!

Der tiefe Ton wurde unerträglich laut. Seine mächtigen Schwingungen drangen auf mich ein, es war, als wollten sie mich zermalmen.

Dann hörte ich ein schrilles Lachen. Es war Ek Uuayab, der Gott des Todes, der da schadenfroh lachte. Gleichzeitig verblasste das Bild Cup Capats und verschwand. Die Götter hatten mich zum Narren gehalten.

»Du hast das falsche Bild getroffen!«, rief Yasin. »Wir sind verloren!«

»Alle Mann zurück zum Ausgang! Rette sich, wer kann!«

Schon brach der Boden unter unseren Füßen weg und gab die Flammen der Hölle preis. Ein paar aus unserer Mannschaft konnten sich nicht mehr halten und stürzten schreiend in das Inferno, wo sie als weiße Lichtpunkte verglühten. Ich warf mich herum und sprang um mein Leben. Von einem wegbrechenden Stein zum anderen, während die Flammen um mich schlugen und mir die Sicht raubten. Der Ionen-Scanner! Ich musste den Scanner aufsetzen! Nur mit seiner Hilfe konnte ich die Ionen-Marker sehen, die ich auf dem Weg durch das Labyrinth angebracht hatte. Yasin und Jouri tauchten neben mir auf. Sie hatten ihre Scanner-Brillen schon auf.

Jouri zerrte mich nach rechts. »Die Treppe! Da ist ein Marker!«

Ich erreichte die erste Stufe, aber sie gab sofort unter mir nach. Yasin packte mich am Ärmel und riss mich hoch. Auf seine unglaublichen Kräfte war immer Verlass. Die Treppe schwankte, rechts und links brachen langsam die Mauern weg. Wir erreichten einen schmalen Gang. Sein Boden war von der irren Hitze bereits rot angelaufen und qualmte. Meine Füße brannten. Der nächste Marker. Er wies uns den Weg nach links. Und wieder Stufen. Meine Kräfte ließen nach. Schlimmer noch – ich lief desto langsamer, je schneller ich es versuchte. Es war wie in einem Albtraum.

»Wir schaffen es, Adrian!«, spornte mich Jouri an. »Nicht aufgeben! Schneller, schneller!«

»Ich kann nicht mehr!«

»Da ist der nächste Marker! Wir sind nah am Ausgang!«

Ich gab mein Letztes. Wir erreichten den Marker. Der Boden brodelte wie flüssige Lava. Die Mauern schmolzen weg, als seien sie aus Wachs. Dann brach endgültig alles weg und wir fielen. In die Hölle der wiederauferstandenen Mayagötter. In die kochende Glut. Ich riss mir die Scanner-Brille aus dem Gesicht. Wenn es schon auf mein Ende zuging, dann wollte ich ihm offenen Auges begegnen. Mutig. Wie ein Held. Nicht wie ein Versager, der seine Mannschaft in den Tod geführt hatte ...

Ein heftiger Luftwirbel erfasste mich, mein Sturz verlangsamte sich. Yasin, Jouri und den anderen Jungs erging es genauso.

»Thorn hat uns gefunden!«, rief mir Yasin zu. »Er hat es geschafft! Wir sind gerettet!«

Ich sah nach oben und erblickte die Silhouette unseres Sky-Vehicles. Aus einer Luke in seinem Boden strahlte ein rasch pulsierendes Licht. Die Emergency-Air-Redirection! Sie diente normalerweise dazu, das Sky-Vehicle bei Ausfall der Triebwerke vor einem Absturz zu bewahren. Durch eine zielgenaue Umkehrung der Luftströmung unter den Tragflächen. Dass Thorn auf die Idee gekommen war, sie zu unserer Rettung einzusetzen, verblüffte mich. So viel Grips hatte ich ihm nicht zugetraut. Die Luftwirbel verstärkten sich und arteten bald in einen tornadoähnlichen Sog aus, der uns nach oben riss und durch die Luke in das Vehicle warf. Unter uns schmolz der Tempel zu einem Feuerball zusammen. Eine Explosion gigantischen Ausmaßes folgte, die sogar das Sky-Vehicle erschütterte. Aber Thorn hatte längst alles unter Kontrolle und brachte uns in eine turbulenzfreie Zone.

Erst jetzt löste sich unter der Mannschaft die Anspannung. Manche ließen sich einfach fallen, wo sie standen. Sie waren zu erschöpft. Diejenigen, die noch Kraft hatten, berührten den Touchscreen, der Thorns Bild aus der Steuerkanzel in das Unterdeck übertrug. Er lächelte ermutigend und hielt zum Zeichen des Sieges den Daumen hoch. Ich schaltete inzwischen unauffällig meinen Event-Recorder an und ließ mir das Ergebnis ansagen. Es war schlimmer, als ich vermutet hatte – glatte 8.000 Eudos hatte mich das verdammte Maya-Abenteuer gekostet, mit höchstens 1.500 hatte ich gerechnet. So wie es aussah, hatte mich das Einschalten der Emergency-Air-Redirection in diese Wahnsinnsmiesen gebracht. Aber darüber weiter nachzudenken machte jetzt keinen Sinn. Wichtig war, dass ich den Code hatte! Abgerechnet wurde erst am Schluss.

Ich befahl Jouri und Yasin mitzukommen, wir bestiegen den Bordaufzug und fuhren in die Kanzel. Thorn freute sich wie ein kleines Kind. Er umarmte uns, klopfte uns auf die Schultern und wiederholte immer wieder: »Ich dachte schon, ich komme zu spät! O Mann, das war mehr als knapp!«

»Wie hast du uns überhaupt gefunden?«, fragte ich ihn. »Ich meine, wir haben uns in der vierten Dimension getrennt, und wie man in die sechste kommt, haben Jouri, Yasin und ich erst erfahren, als wir die fünfte überstanden hatten.«

Thorn grinste. »Du hast das hier vergessen«, sagte er und hielt mir einen kleinen Stick entgegen, »deinen Identifyer! Der wusste immer, wo du dich herumtreibst.«

Ich tastete meinen Brustgürtel ab. Der Port, in dem sonst der Identifyer steckte, war tatsächlich leer. Dabei war ich mir ziemlich sicher, dass ich ihn in der fünften Dimension noch dabeigehabt hatte. Und wie sollte er die ganze Zeit meine Position an das Vehicle gefunkt haben, wenn er nicht im Port gesteckt hatte?

Thorn wollte mir das gerade erklären – sein Mund stand schon halb offen –, erstarrte dann aber mit einem Schlag zu einem Eisblock. Der übliche Shock-Frozen-Effect. Der trat immer dann auf, wenn ein Programmierfehler die Logik der Abenteuer durcheinanderbrachte und das Programm neu ausgerichtet werden musste.

Wenn ich jetzt drei Minuten wartete, konnte ich 400 Eudos verdienen. Aber das war mir die Sache nicht wert.

»Aktion fortsetzen!«, gab ich durch.

Das Programm übersprang den Fehler.

»Ihr habt den Code, oder?«, wollte Thorn von uns wissen.

Mein Identifyer steckte inzwischen wieder im Port. Ich nickte. »Die nächste Dimension gehört uns!«

»Dann her damit!«

Ich schaltete den Sit-Corder an, der sich gleich neben dem Identifyer befand und alle wichtigen Situationen aufzeichnete, und gab den Befehl, die Aufzeichnung in den Computer zu übertragen.

Ein Laserstrahl zuckte durch die Kanzel und zeichnete vor uns die Fratzen der drei Mayagötter in die Luft. In ihren Augen flackerten die Zahlenreihen auf.

»Na wunderbar«, freute sich Thorn, »jetzt muss der Computer nur noch mit dem Zahlensalat gefüttert werden, dann geht’s sofort weiter!«

Er aktivierte den Grafik-Filter, die Fratzen verschwanden, übrig blieben nur die Zahlen.

»Commander Adrian, den Befehl bitte!«, tat Thorn ganz offiziell.

»Code ausführen!«, sagte ich.

Die Zahlen verblassten.

»Und nun?«, fragte Yasin.

»Der Computer rechnet«, sagte Jouri.

»So lange?«, wunderte sich Yasin.

Die Zahlen erschienen in voller Intensität wieder.

»Sorry, ein Interpreter wird benötigt! Sorry, ein Interpreter wird benötigt!«, wiederholte der Computer.

»Was soll das? Wofür braucht der einen Interpreter?«, fragte Yasin.

»Was ist überhaupt ein ›Interpreter‹?«, fragte Jouri.

Mir schwante etwas. »Leute, wir wollen doch in die siebte Dimension, oder?«

Die drei sahen mich verständnislos an.

»Ich meine, wir wollen in die letzte Dimension.«

Die drei sahen mich immer noch verständnislos an.

»Was ich sagen will: In die letzte Dimension kommt man nicht, indem man den Computer einfach mit ein paar Zahlen füttert. Man muss ihm schon sagen, was er damit anfangen soll.«

»So eine Art Lösungswort, oder was?«, fragte Yasin.

Ich betrachtete die Zahlen. »Genau. In diesem Fall wird es wohl ein Algorithmus sein.«

»Was ist denn das nun wieder?«, jammerte Jouri.

»Ein Algorithmus ist ein Rechenvorgang, der nach einem bestimmten Schema abläuft«, erklärte ich geduldig. »Also meinetwegen zehnmal Zahlen addieren und dann dreimal teilen.«

»Und das Schema sollen wir hier finden?!« Jouri stand die Panik ins Gesicht geschrieben. »Das sind mindestens vierhundert oder fünfhundert Zahlen!«

»Wenn es einen gibt, dann finden wir ihn unter den ersten dreißig.«

»Lasst uns die Zahlen ausdrucken, dann sehen wir es vielleicht besser«, schlug Thorn vor.

Er sandte die Daten vom Computer in den Drucker, der gleich danach acht Paper-Screens voller Zahlen ausspuckte.

»Hab ich gerade fünfhundert gesagt?!«, rief Jouri. »Es sind mindestens fünftausend!«

Wir starrten die Zahlenreihen an. Ich versuchte, sinnvolle Gruppen zu bilden, aber es gelang mir nicht. Es war das reinste Chaos. Oder ein Giga-Bug, ein Programmierfehler der schlimmsten Sorte. Erst neulich hatte sich in der Adventure-Community wie ein Lauffeuer die Nachricht von einem Spieler verbreitet, der in so einen Bug geraten war und sich aus Verzweiflung gleich zehn Lucky-Pillen verpasst hatte. Er lag immer noch auf der Intensivstation des Medi-Centre im Koma, mit angeblich schlimmsten Gehirnschäden. Es war besser, wenn ich die Lage checkte, bevor ich mich hier verrannte. Ich drückte auf meinem Brustgürtel die Freeze-In-Taste, die die Aktion einfror, und gab den Check-Befehl durch. »Check ausgeführt, keinen Bug gefunden. Weiterhin viel Erfolg!«, kam es zurück.

»Was war los?«, fragte Thorn, als die Aktion wieder lief.

»Ich wollte nur wissen, ob wir in einem Giga-Bug gelandet sind. Sind wir aber nicht.«

»Und nun?«

»Lasst uns einfach das Beste geben. Alles andere wäre nicht so günstig . . .«

Wir beugten uns über die Paper-Screens. Zehn Minuten später waren wir immer noch nicht weiter. Yasin hatte zwar ab und zu eine Idee und auch mir fiel etwas ein, wenn wir die Lösung aber in den Computer eingaben, kam sofort die Meldung, der Interpreter sei falsch.

»Erwarten die eigentlich, dass wir kleine Einsteins sind?«, regte Jouri sich auf.

»Wie es aussieht, eher große«, bemerkte Thorn trocken.

»Na toll, dann können wir ja einpacken!«, knurrte Yasin gereizt.

»Und wenn der Interpreter eine Funktion ist?«, fiel mir ein. »Immerhin steigen die Zahlen an, mehr oder minder . . .«

»Eher minder«, fand Jouri.

»Wir sollten uns das Ganze trotzdem mal als einen Graphen anzeigen lassen«, entschied Thorn. »Angucken schadet nicht.«

Er rief im Computer das Funktionenmodul auf, gleich danach zeichnete der Laserstrahl den Graphen vor uns auf.

»Sieht aus wie die Aufzeichnung eines Erdbebens«, sagte Yasin.

»Oder eines Vulkanausbruchs«, sagte Jouri.

»Es sind die Gehirnströme eines Irren«, spottete Thorn. »Eines Irren, der sich gerade einen Code ausden…«

Ein lauter Glockenton unterbrach ihn. Der Graph verschwand, an seiner Stelle erschien ein Bild aus der Kommandozentrale. »Achtung! Soeben neuen extraterrestrischen Angriff mit schweren Antigravitonen verzeichnet!«, bekamen wir gemeldet. »Ursprung immer noch nicht lokalisierbar. Gravitationskraft der Erde um Faktor zwei verringert. Schlingerungen des Mondes auf der Umlaufbahn erwartet. Folgen noch unabsehbar. Welche Dimension zur Lösung des Problems habt ihr erreicht, Commander Adrian?«

»Die sechste.«

»Ihr kennt also die Angreifer?«

»Wir kennen sie.«

»Berichtet, Commander! Wir haben keine Zeit zu verlieren!«

»Es sind unbekannte Wesen vom Planeten Oerfugg aus dem Planetennebel NGC6826 im Sternbild Schwan. Ein Schaden ihres Raumschiffes zwang sie vor mehreren tausend Jahren, auf der Erde zu landen. Etwa zweihundert ihrer Genossen blieben freiwillig hier und wurden von den Mayas als Götter verehrt. Ein blühendes Reich entstand. Doch dann verweigerten die Mayafürsten den Außerirdischen die Gefolgschaft. Sie wurden umgebracht, das Reich zerfiel und ging unter. Nun sind die Oerfuggs zurückgekehrt. Sie haben ihre toten Genossen durch Materialisierung von Vergangenheitsschwingungen zu einer Art Geisterleben wiedererweckt und wollen sie zusammen mit unserem Planeten in den Planetennebel NGC6826 überführen.«

»Indem sie uns so lange mit schweren Antigravitonen beschießen, bis die Schwerkraft der Erde aufgehoben ist, nicht wahr?«

»Nicht nur die Schwerkraft, sondern auch die Zeit. Die Zeitdimension wird gleichfalls die Ausdehnung null haben.«

»Und was bedeutet das?«

»Ich fürchte, das Schlimmste. Bei der Ankunft im Planetennebel NGC6826 wird man die Schwerkraft reaktivieren, um die Erde unter all den anderen Planeten zu positionieren. Im selben Augenblick wird auch die Zeit größer null werden. Oder anders gesagt: Wir Menschen werden innerhalb des Bruchteils einer Sekunde in einem anderen Planetensystem ›erwachen‹. Was dann geschehen wird, kann man sich leicht ausmalen: Die Oerfuggs werden uns versklaven und so den Mord an ihren Genossen rächen.«

In der Zentrale herrschte eine Weile betretenes Schweigen.

»Haben wir eine Chance, Commander Adrian?«, wollte man schließlich von mir wissen.

»Wenn es uns gelingt, die Oerfuggs zu orten, ja. Wir haben genug schwere Materie an Bord, um ihren Schutzschild aus Antimaterie, der sie für uns unsichtbar macht, zu zerstören. Dann wären wir sie ein für alle Mal los.«

»Euch bleibt nicht viel Zeit. Der nächste Angriff wird schätzungsweise in zwanzig Minuten erfolgen. Vielleicht sogar früher. Die Abstände sind immer kürzer geworden.«

»Wir tun, was wir können.«

»Okay, viel Erfolg! Das Schicksal der Erde liegt jetzt allein in euren Händen! Ende der Übertragung.«

Das Bild verschwand, wir standen wieder vor dem seltsamen Graphen.

Auf Thorns Stirn perlten Schweißtropfen. »Noch zwanzig Minuten oder weniger, das schaffen wir nie«, sagte er. »Wir sollten lieber zusehen, dass wir hier wegkommen. Bevor uns die verdammten Oerfuggs hochnehmen!«

»Du meinst: mitnehmen«, sagte Yasin.

»Ich find’s jetzt nicht mehr witzig!«, giftete ihn Thorn an.

»Was heißt hier ›nicht mehr witzig‹?«, schoss Yasin zurück. »Wir sind in einem Sky-Vehicle, Mann, nicht in einem Space-Vehicle! Unser Aktionsradius ist nur auf das Sonnensystem begrenzt. Ins Weltall können wir damit nicht abhauen. Zu wenig Energie. Zu wenig Vorräte!«

»Ganz zu schweigen von der Navigation«, fügte Jouri resigniert hinzu. »Nach dem Verlassen des Sonnensystems wären wir verloren. Wir brauchen den Kontakt zu den Leitstellen.«

»Navigation? Wartet mal . . .«, fiel mir ein. »Thorn, du hast doch für den Graphen eine zweidimensionale Darstellung gewählt, oder?«

»Na klar, welche sonst?«

»Versuch doch mal eine dreidimensionale.«

»Du meinst, ich soll eine Z-Achse hinzufügen?«

»Tu’s einfach!«

Thorn stürzte zum Computer. Der ›Erdbeben‹-Graph verschwand, an seiner Stelle erschien ein neuer, der sich wie ein Korkenzieher durch den Raum nach oben wand.

»Na also, bitte!«, sagte ich. »Da haben wir’s!«

»Was haben wir?«, fragten Thorn, Yasin und Jouri wie aus einem Mund.

»Das ist unser Weg zu den Oerfuggs! Die komplette Navigation unter Umgehung ihrer Abwehr! Seht euch den Endpunkt an! Dort stecken sie, hinter ihrem Schutzschild aus Antimaterie!«

»Also lautet der Interpreter ›Navigation‹«, schlussfolgerte Thorn. »Darauf hätten wir eigentlich gleich kommen können, oder?«

»Nicht als Genies«, sagte ich. »Die denken nämlich grundsätzlich um zehn Ecken. Und jetzt aktiviere den Interpreter!«

Thorn bediente den Computer.

»Interpreter akzeptiert«, verkündete dieser. »Sichere Navigation zu den Oerfuggs vollständig realisiert. Erwarte Zündung der Tachyonenaggregate.«

Ich kontaktierte die Männer im Unterdeck und forderte sie auf, sich für den Flug abzusichern. Thorn, Jouri, Yasin und ich gingen gleichfalls in Stellung.

Ich machte den üblichen Instrumentencheck. Der Antrieb und das gesamte Angriffs- und Verteidigungssystem waren okay.

»Wie viel Zeit haben wir noch?«, wollte ich wissen.

»Fünfzehn, sechzehn Minuten«, antwortete Thorn.

»Wie weit ist es laut Navigation zu den Oerfuggs?«

»Sie sind in der Nähe des Mars, es sind etwa 87 Millionen Kilometer.«

»Sie lauern also praktisch um die Ecke!«, stellte ich gut gelaunt fest.

»Wenn wir nach Verlassen der Erdatmosphäre die Tachyonenaggregate voll aktivieren, sind wir in etwa sechs bis sieben Minuten da!«

»Na wunderbar! Da können wir uns noch in aller Ruhe umsehen, bevor es zur Sache geht!«

Thorn und die anderen lachten.

Ich erteilte dem Bordcomputer den Startbefehl.

»Diese Aktion erfordert 12.000 Eudos! Diese Aktion erfordert 12.000 Eudos!«, kam es wie üblich nervend zweimal aus den Lautsprechern.

Ich bestätigte den Einsatz. Damit war mein Spielkapital zwar um 26.000 Eudos geschrumpft, aber was war das schon gegen die 100.000, die mir am Ende als Belohnung winkten?!

Die Tachyonenaggregate zündeten, das Sky-Vehicle erzitterte und zog an. Nach etwa einer Minute hatten wir die Höhe von 650 Kilometern erreicht und die äußerste Hülle der Atmosphäre, die Thermosphäre, endgültig hinter uns gelassen.

»Aggregate auf volle Schubkraft bringen!«, erteilte ich das Kommando.

»Wird gemacht!«, antwortete Thorn.

Die Aggregate brüllten los. Ihr Schub presste mich so gewaltig in den Sitz, dass mir schwindelig wurde. Dann – der Mond schoss gerade auf der linken Seite an uns vorbei – hatte ich mich wieder unter Kontrolle. Die Oerfuggs hatten uns inzwischen geortet und ballerten mit Megatonnen von Antimaterie auf uns ein. Dank des Navigationscodes hatte das Sky-Vehicle jedoch keine Probleme damit. Das automatische Steuersystem wich allen Geschossen aus, wegen der rasend hohen Geschwindigkeit immer im letzten Augenblick. Schon nach kurzer Zeit war ich im wunderschönsten Speed-Rausch. Mein Herz raste, durch meinen Körper jagten bei jedem Ausweichmanöver Stromstöße und mein Gehirn fühlte sich an, als würde es in Milliarden von glückssprühenden Lichtteilchen zerspringen. Dann signalisierte das Navigationssystem, die Entfernung zum Raumschiff der Oerfuggs betrage lediglich 120.000 Kilometer. Wir waren am Ziel. Die Tachyonenaggregate wurden automatisch abgeschaltet.

»Kanonen mit schwerer Materie aktivieren!«

»Aktiviert!«, meldete Thorn.

»Peilung aktivieren!«

»Aktiviert und okay!«

Ich drückte den Feuerungsknopf.

Der Rückstoß warf das Sky-Vehicle ein paar Tausend Kilometer zurück. Zum Glück, sonst wären wir in dem gewaltigen Feuerball, der vor uns explodierte, zu Asche verbrannt.

Der Schutzschild der Oerfuggs war vernichtet.

Mir stockte der Atem! Ich hatte irgendein fantastisches, intergalaktisches Raumschiff erwartet, das aus einer unbekannten Welt kam. Doch was ich sah, war eine Unzahl frei im All schwebender, bunt schillernder Blasen. Sie mussten gigantisch sein und schienen so nah, als befänden sie sich direkt vor unserem Sky-Vehicle.

»Das kann doch nicht sein!«, flüsterte ich.

»Kann es auch nicht«, meinte Yasin, der irgendetwas mit seinem Computer anstellte.

»Was heißt das?«

»Sie lassen sich nicht vermessen. Als wären sie keine wirklichen Objekte.«

»Was dann?«

»Es muss eine optische Täuschung sein. Eine vom Feinsten!«

Jetzt, wo er es sagte, sah ich es auch: Die Blasen wechselten ständig den Standort. Langsam und unmerklich schoben sie sich nach vorne, nach hinten, nach rechts und links. Es war unmöglich auszumachen, wo sich eine Blase gerade befand, zumal manche von ihnen ineinander verschmolzen und sich dann wieder teilten.

»Das Peilsystem meldet eine Verschiebung des Lichtspektrums nach blau!«, signalisierte Jouri. »Sie kommen näher!«

»Wie schnell?«

»Wenn die Werte stimmen, rasend schnell!«

»Aber sie werden doch kleiner!«

»Sie werden kleiner und kommen näher ... Mal sehen, was daraus wird . . .«

»Schätze, ein Überraschungsangriff, der sich gewaschen hat«, sagte Thorn auf seine trockene Art.

»Ein Angriff mit Blasen???«

»Warten wir’s ab.«

Die Blasen schrumpften weiter. Bald sah es aus, als hätte jemand ins Universum Perlen gestreut, die sich um einen tiefschwarzen Kern verdichteten.

Ich wollte gerade fragen, wo eigentlich die Oerfuggs stecken, als Yasin sagte: »Moment mal, ich kriege hier gerade ein paar Messergebnisse geliefert . . . Verdammt, die Blasen sind isolierte Schwarze Mini-Löcher . . . Umgeben von . . . von Antigravitonen, die sie im Zaum halten! Wenn uns eine dieser Blasen berührt und platzt, sind wir geliefert! Komprimiert auf die Größe eines einzigen Atoms, ach was, eines Quarks!«

»Was meldet unser Abwehrsystem, Thorn?«

»Draufballern mit Gravitonen! Und ausweichen!«

»Automatische Steuerung?«

»Nein, manuelle!«

Darauf hatte ich die ganze Zeit gewartet. Nur ich als Commander durfte das Sky-Vehicle in Notsituationen manuell fliegen. Endlich war ich Herr des Geschehens!

Und da war auch schon das Raumschiff der Oerfuggs. Ganz plötzlich tauchte es aus der Dunkelheit auf, ein grauer, metallischer Fischkörper mit dem Gesicht des Gottes Cum Ahau, der aus seinem Maul immer mehr Blasen hervorstieß.

Das Abwehrsystem schaltete jetzt auf Alarm – alle Lampen blinkten rot – und fragte, ob ich für die manuelle Steuerung des Sky-Vehicles bereit sei.

»Bereit!«

Mein Sitz wurde mit einem zischenden Geräusch nach vorne in die abgekapselte Spitze des Sky-Vehicles geschoben, aus dem Boden schnellte der Navigations- und gleichzeitig Feuerungsknüppel hervor. Ich packte ihn, nahm eine Blase, die auf uns zuraste, ins Visier und drückte ab.

Nichts geschah. Stattdessen wurde die Aktion eingefroren und das System meldete: »Diese Aktion erfordert 24.000 Eudos! Diese Aktion erfordert 24.000 Eudos!«

Ich schlug mit der Faust auf den Knüppel. Das war Abzocke pur! Erpressung! Brutale Nötigung! Wenn ich hier Ja sagte, war der Gewinn aus den letzten Spielen wieder einmal aufgebraucht und ich mit etwa 10.000 in den Miesen!

Als hätte das System meine Gedanken erraten, verlangte es von mir, mich zu entscheiden, die Zeit laufe ab.

In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Ich war in der letzten Dimension. Noch nie war ich so weit gekommen! 100.000 Eudos winkten als Belohnung. Was sollte hier noch schiefgehen? Im Ballern war ich der Beste. Eigentlich hatte ich nur darauf gewartet. Jetzt Nein zu sagen, war idiotisch. Dann hätte ich erst gar nicht anfangen dürfen.

Ich ergriff den Knüppel. »Zurück zur Aktion!«

Schon wieder geschah nichts. Stattdessen hieß es aus den Lautsprechern, ich hätte das Limit meines Spielekontos bereits zum dritten Mal in den letzten sechs Monaten überschritten. Aus diesem Grund könne man mir nur einen Kredit von 2.000 Eudos einräumen.

Ich wechselte in den Realmodus und fragte Yasin, ob er mir das Geld leihen könnte. Yasin habe nur noch virtuell mitgespielt, bekam ich zu hören, er sei schon in der fünften Dimension ausgestiegen. Dann also Jouri. Auch der war weg, schon vor Yasin ausgestiegen. Blieb also, wenn überhaupt, Thorn übrig. Ausgerechnet!

Ich checkte, ob er noch dabei war. Er war es.

»Thorn, ich brauche 8.000 oder wir können einpacken.«

»Wieso wir? Ich bin nicht der Commander«, widersprach Thorn heftig, wobei ich jetzt seine echte, heisere Fistelstimme hören konnte, die nur erahnen ließ, was für ein riesiger Fettkloß er in Wirklichkeit war.

»Also gut, dann kann ich einpacken.«

»Was ist mit Yasin und Jouri?«

»Ausgestiegen.«

»8.000 sind viel.«

»Für dich doch nicht. Bei deinem dicken Konto!«

»Du schuldest mir schon 34.000, Bruder

Ich hasste es, wenn Thorn darauf anspielte, dass auch er bis zu seiner Adoption durch den stinkreichen de Veit ein Stiftungskind gewesen war, aber ich ließ es mir nicht anmerken. Das Spiel war mir wichtiger.

»Wenn ich 100.000 habe, sind die 34.000 und die 8.000 dazu ein Klacks!«

»Und wenn du verlierst?«

»Ich verliere nicht, Mann!«

»Hast du schon öfter behauptet …«

»Okay, aber jetzt hab ich den Bogen raus! Heute wird es klappen!«

»Ich weiß nicht …«

»Thorn, demnächst steht die Informatikklausur an! Wenn ich verliere, mache ich die Sache für dich diesmal besonders gut!«

»Ich denke, das machst du für mich immer, Bruder?«, spielte Thorn den Beleidigten.

»Na klar, aber diesmal mach ich es besonders genial, ohne dass es Big Joe auffällt! Du weiß doch, dass du in Info nicht gerade der Beste bist!«

Thorn schwieg.

»Thorn, verdammt! Die Zeit läuft ab! Leihst du mir jetzt das Geld, ja oder nein?!«

»Die Infoklausur ist mir egal …«, quengelte Thorn.

Das also war es!

»Okay, dann sage ich dir noch etwas«, legte ich einen drauf, obwohl mir dabei fast übel wurde. «Egal, ob ich gewinne oder nicht, in vier Wochen bin ich bei deiner Geburtstagsparty dabei.«

»Das versprichst du mir immer wieder, alle versprechen es! Letztes Mal hat mein Vater extra einen Skip-Jet gechartert, für zwanzig Leute. Mitgeflogen ist nur Jouri. Als Einziger!«

»Diesmal bin ich dabei. Ich schwöre!«

»Und die anderen? Was ist mit den anderen?«

»Das kann ich dir nicht sagen. Ich weiß doch nicht, was die anderen in vier Wochen vorhaben!«

»Ich habe alle eingeladen! Sie müssen alle kommen.«

»Thorn!!!«, brüllte ich in mein Mikro. »In exakt vierzig Sekunden ist alles vorbei! Dann kann ich einpacken! Dann ist es endgültig aus. Mit allem

»Okay, gib mir deine Kontonummer.«

Wenig später meldete Thorn, dass er das Geld überwiesen hatte. Das System registrierte das sofort und gab die Aktion nach einem Okay von mir frei.

Ich packte den Knüppel und begann auf die Blasen mit schweren Gravitonen zu feuern. Vor mir erblühte ein wahres Feuerwerk. Die Hüllen der Blasen explodierten, als seien sie von rasenden Kometen getroffen, die freigeschossenen Schwarzen Löcher saugten sich gegenseitig auf und explodierten gleichfalls. Stoßwellen erfassten das Sky-Vehicle und warfen es hin und her. Der wilde Ritt gefiel mir. Er machte mir richtig Spaß! Ich aktivierte die Tachyonen-Aggregate, was meine Manöver noch schneller machte. Eine Blase nach der anderen verschwand, das System signalisierte, die Gefahr durch die Schwarzen Löcher nehme ab.

Wie es passieren konnte, dass ich das Raumschiff der Oerfuggs dabei aus dem Blick verlor, konnte ich später nicht mehr nachvollziehen. Jedenfalls war es urplötzlich ganz dicht vor mir. Das Maul des Cum Ahau klappte auf – mir schien, er strecke mir grinsend die Zunge heraus, in Wirklichkeit war es wohl eine Startrampe – und spuckte ein längliches Objekt aus. Ich konnte es noch ins Visier nehmen, aber zum Feuern kam ich nicht mehr. Wohl mit Lichtgeschwindigkeit schoss das Objekt ein Schwarzes Mini-Loch auf mich ab, das mich rammte. Innerhalb eines Sekundenbruchteils war alles vorbei.

Das System verkündete zu einer sanft erklingenden sphärischen Musik, es werde 50.000 Eudos von meinem Konto abbuchen. Da ich aber die allerletzte Stufe der letzten Dimension erreicht hätte, werde mir das System für das nächste Adventure 10.000 Eudos gutschreiben. Mein Startkapital betrage dann 8.000 Eudos. Dieser Gewinn könne nicht bar ausgezahlt werden.

Mein Sitz fuhr zurück. Die farbaktiven Laser-Projektionswände des Adventure-Eggs oder des Adveggs – so nannten wir die Abenteuerkapseln, die tatsächlich wie überdimensionale Eier aussahen – hellten sich auf und wurden schließlich durchsichtig wie gewöhnliches Fensterglas. Ich war wieder zurück. Auf der Erde. In der riesigen Adventure-Hall von Allgames. Neben mir, unter mir und über mir schaukelten in den zehn Etagen der unterirdischen Halle auf hydraulischen Stelzen Hunderte von weiteren Adveggs. Ein Ameisenhaufen, ging es mir durch den Sinn. Einer von Tausenden über die ganze Welt verstreuten Ameisenhaufen, in denen unzählige von spielberauschten Arbeiterameisen die Milliarden von Eudos anschafften, die Allgames immer reicher machten. Und damit Kain Marverick. Den genialen Programmierer. Den größten Unternehmer aller Zeiten. Und den reichsten Menschen, der je auf der Erde gelebt hat.

3

Cover

Als ich im Internat auf mein Zimmer kam, sprang wie immer der Laser-Bildschirm von selbst an und mein E-Guard, den ich Adrian 2 oder kurz Adi nannte, begrüßte mich vom Schreibtisch her mit einem lauten »Hallo!«. Ich hatte die im Original stinklangweilige Ich-erinnere-dich-an-alles-Figur des internateigenen Netzes seit meinem Einzug immer wieder umprogrammiert, sodass sie mit der Zeit zu einer intelligenten Action-Figur mutiert war, die mich und meine Laune schon an den Schritten oder daran, wie ich die Tür öffnete, erkannte und mich meistens mit einem Spaß überraschte. An dem Tag zum Beispiel verkündete mir Adi nölend, ich habe ihn zu lange allein gelassen, sodass er aus Langeweile mein Tiefseeaquarium leer gefressen habe. Ich sah nach, es war tatsächlich nicht ein einziger Fisch mehr drin. Sogar die Korallen und der Sand fehlten. Gewöhnlich forderte ich Adi nach einer solchen Frechheit zu einem Boxkampf heraus, aber heute hatte ich auf solche Spielereien keine Lust.

»Adrian 2«, sagte ich deshalb, »stell den ursprünglichen Zustand des Aquariums wieder her, und zwar auf der Stelle!«

Allein die Tatsache, dass ich Adi bei seinem vollen Namen genannt hatte, ließ ihn den Ernst der Lage sofort begreifen. Er latschte ohne Widerspruch zum Aquarium und spuckte den Sand, die Korallen und alle Fische wieder aus.

»Heute wohl ziemlich schlecht gelaunt«, bekam ich danach zu hören.

»Total frustriert«, bestätigte ich.

»Dann fahren wir wohl besser sachlich fort«, schlug Adi vor.

»Gute Idee.«

Adi setzte ein ernstes Gesicht auf und fragte: »Tarnung aktivieren?«

»Aktivieren!«

»Identifizierung erforderlich!«

Ich sah in die Identity-Cam, die meine Gesichtsmerkmale checkte. Danach verwandelte Adi sich in einen maskierten Geheimagenten.

Diese Verwandlung war nicht nur das Signal dafür, dass die von mir programmierte Tarnung aktiviert war, sondern dass sie auch einwandfrei funktionierte. War das der Fall, dann erfüllte sie zwei Aufgaben: Zum einen simulierte sie nach außen hin, also für die Studienverwaltung der IES, der International Economy School, dass ich an meinen Lernprojekten arbeitete. Zum anderen verhinderte sie als Firewall zuverlässig, dass irgendjemand Zugriff auf das bekam, was ich wirklich am Computer veranstaltete. Offiziell hieß es zwar im Internat, die Privatsphäre der Schüler werde durch das persönliche EGuard-System nicht berührt, mehr noch, sie werde vor Angriffen jeder Art geschützt. In Wirklichkeit wussten alle, dass der Leiter des Internats Braun und vor allem sein Stellvertreter Manrow nach allen Kräften im Netz schnüffelten und alles sammelten, was sie im Falle eine Falles gegen einen verwenden konnten. Zum Beispiel, wann man das Zimmer betreten und wieder verlassen hatte. Oder wie viel Zeit man in Play-Grounds und wie viel beim Lernen verbracht hatte. Oder sogar die Inhalte der Mails, die man erhielt oder selbst schrieb. Gerade an die Informationen durften Braun und Manrow bei mir nicht herankommen. Nicht auszudenken, wenn die Stiftung etwas von meiner Master-Player-Card bei Allgames erfuhr oder, noch schlimmer, von meinen Schulden, die ich bei allen möglichen Leuten hatte.

»Anstehende Aufgaben jetzt auflisten?«, fragte Adi.

»Auflisten!«

»Die Aufgabe mit der höchsten Priorität lautet: Übersetzungsübungen Wirtschaftsenglisch-Wirtschaftschinesisch, Lektion 43 bis 45. Die Aufgabe mit der zweiten Priorität lautet: Statistikübungen, Lektion 18 bis 22. Die Aufgabe mit der dritten Priorität lautet: Text 1 und 2 in Kommunikationswissenschaften lesen, wichtige Thesen und Argumente bestimmen und eigene Position formulieren.«

Die Übersetzungsübungen waren ein Fall für das Simulationsprogramm. Das dolmetschte für mich die Übungstexte mithilfe eines der gängigen Übersetzungsprogramme, die es glücklicherweise wie Sand am Meer gab. Dass dabei meistens nur Schwachsinn herauskam, war egal. Ich hatte den Kurs das ganze Semester über derart schleifen lassen, dass ich die mündliche Prüfung eh nicht mehr schaffen konnte. Wenn ich aber für den Übungsteil drei, vier Punkte bekam, und die waren auf jeden Fall drin, dann hatte ich zumindest »erfolgreich« teilgenommen. Für die Stiftung sollte das reichen. Die Statistikübungen waren ein Klacks. Hier hatte ich schon längst den Code geknackt, mit dem man an die Lösungen herankam. Es reichte, wenn ich mir die einen Tag vor der Klausur ansah. Blieben die Kommunikationswissenschaften. Die waren eine harte Nuss. Einmal, weil die Texte verdammt lang waren und dazu noch aus lauter Fremdwörtern bestanden. Zum anderen, weil Hawkins, der neue Fachlehrer für Kowi, mit eigenen Texten arbeitete, die es sonst nirgendwo gab. Folglich existierten die Lösungen nur in seinem Kopf, und dessen Code war mit keinem Computer zu knacken. Leider.

Ich holte mir den ersten Text auf die Bildfläche und las. Am Ende war mir, als hätte ich eine meiner eigenen Übersetzungen ins Chinesische gelesen. Will heißen – ich hatte nichts verstanden. Ich versuchte es noch einmal, aber es wurde nicht besser. Eher schlimmer. Wenn ich es recht bedachte, dann hatte ich auch den Kowi-Kurs das ganze Semester über gnadenlos schleifen lassen und irgendwie alles verpasst. Yasin fiel mir ein. Der war in Kowi fit, ein echter Spezialist. Blöd war nur, dass ich ihm schon seit Monaten 15.000 Eudos schuldete. Wenn ich ihn jetzt in den Chat holte, wäre er bestimmt nur am Jammern.

Ich las den Text noch einmal. Langsam und Satz für Satz. Es brachte nichts. Ich konnte mich einfach nicht konzentrieren. Um mich wenigstens ein wenig zu beruhigen, befahl ich Adi, die Prioritäten zu ändern. Die Kommunikationswissenschaften rückten ganz nach oben. Morgen, in der ersten großen Pause, wollte ich Yasin ansprechen. Von Angesicht zu Angesicht. Er war seit Neuestem schwer verliebt und schwebte auf Wolke sieben. Das ließ mich ein wenig hoffen.

»Jetzt die Post lesen?«, fragte Adi, als er merkte, dass ich einfach dasaß und nichts machte.

»Gute Idee!«

Adi verließ die Bildfläche, ich hörte das Geräusch einer knarrenden Tür und das Quietschen des Schlüssels, mit dem er meinen virtuellen Briefkasten öffnete. Am Klang seiner Schritte merkte ich, dass er schwer zu schleppen hatte.

»Gut 950 Mails heute«, keuchte Adi, als er wieder auf der Bildfläche erschien, »und dann noch ein paar Pakete mit insgesamt 400 Gigabyte Inhalt.«

»Die neuesten Programm-Module zum Hacken, schätze ich.«

»Ich schätze, eher der übliche Müll, den die Community verschickt, du solltest lieber lernen«, wurde Adi frech.

»Sag das noch einmal und ich programmiere dir den Moralischen wieder weg!«, drohte ich ihm.

»Du bist mein Herr und Schöpfer!«, sagte Adi und verneigte sich vor mir. Dann fragte er kleinlaut: »Was wünschst du als Erstes? Module installieren und checken oder die Mails lesen?«

»Keine Module heute, nur die Mails!«

»Sortiert nach Absendern oder nach Eingangsdatum?«

»Nach Absendern!«

Adi nahm die Mails auf, mischte sie wie ein Kartenspiel, warf sie hoch und fing sie gleich einem Zauberkünstler alphabetisch sortiert wieder auf.

»Erster Absender: Allgames.«

»Allgames?!«

»Allgames!«, bestätigte Adi.

»Her damit!«

Adi öffnete die Mail, um sie mir vorzulesen.

So viel Geduld hatte ich nicht. Ich drückte die Escape-Taste. Adi verschwand. An seiner Stelle erschien die Mail.

Es war Werbung. Schön animierte, bunte Werbung mit den tollsten 3-D-Effekten. Irgendwo auf der Welt, an irgendeinem Ort, den ich nicht kannte, wurde wieder eine neue Adventure-Hall eröffnet. Mit der neuesten Computertechnologie und noch raffinierter ausgestatteten Adveggs. Wenn ich wollte, konnte ich an einem Gewinnspiel teilnehmen und eine Reise zur Eröffnung gewinnen. Ich holte den virtuellen Flammenwerfer auf die Bildfläche und verbrannte die Mail zu Asche.

Es war schon ein gutes halbes Jahr her, dass ich Allgames ein von mir programmiertes Adventure-Spiel gemailt hatte, an dem ich tage- und nächtelang gebastelt hatte. Zusammen mit einer ausführlichen Beschreibung, wie man daraus eine richtig große Sache für eine Adventure-Hall programmieren könnte. Ich hatte es mitten aus einer Bio-Klausur gemacht, von der klar war, dass ich sie sowieso nicht schaffen würde. Irgendwie hatte ich da in meiner Verzweiflung gehofft, Allgames würde mir sofort antworten, so nach dem Motto: Ja, Sie sind unser Mann! Lassen Sie alles stehen und liegen und kommen Sie zu uns! Ich sah mich schon unter den erstaunten Blicken des Biolehrers und meiner Leidensgenossen den Klausursaal verlassen. Mit der coolen Bemerkung: »Lasst euch nicht stören. Ich mache jetzt woanders weiter. Nämlich bei Allgames . . .«

Als nach drei Tagen immer noch keine Antwort da war, fragte ich nach, ob mein Programm angekommen sei. Statt einer Antwort bekam ich eine Mail, in der mir für 600 Eudos Lizenzen für zehn Spiele angeboten wurden. Es waren allesamt PC-Spiele, deren Freischaltcode sich noch nicht einmal zu knacken lohnte, weil sie im Grunde Abfall waren. Abfall, der automatisch beim Programmieren der echten Adventures entstand. Und den Kain Marverick wie alles, was er anfasste, zu Geld machte. Seitdem kamen regelmäßig entweder solche »Sonderangebote« oder Werbung für neue Adventure-Halls. Mein Spiel war wohl durchgefallen. Falls es sich überhaupt jemand angesehen hatte. Allgames war ein Imperium der Programmiergenies, das war allgemein bekannt. Wer wollte sich da schon mit der Idee irgendeines Schülers und Hobby-Programmierers beschäftigen . . .

»Bereit für die nächste Mail?«, riss mich Adi aus meinen trüben Gedanken. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er sich wieder auf die Bildfläche gemogelt hatte.

»Gibt es noch was von Allgames?«

»Nein.«

»Sonst was Wichtiges?«

»Zwei Mails von der Stiftung.«

»Löschen.«

»Beide Mails sind zertifiziert. Beim Lesen wird der Empfang bestätigt. Beim Löschen geht automatisch eine Benachrichtigung an den Absender.«

Es war immer das gleiche Spielchen. Ich löschte die Mails und nahm mir das Löschprotokoll vor, das meine Firewall selbstverständlich abgefangen hatte. Es war nur billig verschlüsselt, sodass ich den Originaltext in wenigen Augenblicken vor mir hatte. Ich fälschte alle Stationen der Versendung, setzte als letzten Router den eines Providers in Sydney ein und schickte es über einen Anonymizer ab. Mochte die Stiftung darüber rätseln, wie sich die Mails nach Australien verirrt hatten. Ich für mich konnte reinen Gewissens behaupten, sie nie gelesen zu haben.

Nachdem ich damit fertig war, überlegte ich, vielleicht doch in die Allgames-Community einzusteigen und zu sehen, was sich dort Neues tat. Nein, es hatte keinen Sinn. Ich war entnervt. Hoffnungslos entnervt. Plötzlich war es mir, als würden mich die Wände meines Zimmer erdrücken. Oder als müsste ich explodieren.

Ich befahl Adi, das Übersetzungsprogramm eine Stunde laufen zu lassen und danach die Kowi-Texte zu bearbeiten, indem er einfach irgendwelche Wörter markierte. Ein paar Minuten später war ich dann in der Tiefgarage und schob mein Pedalo-Bike nach draußen. Ich schwang mich auf den Sattel und strampelte los. Auf den um diese Zeit menschenleeren Gehwegen der Oberen City Richtung Fluss, oder vielmehr in Richtung der Stelle, wo er mal vor 150 Jahren geflossen war. Jetzt gab es nur noch das trockene Flussbett, voller Staub und grauer Steine. Entlang des Betts führte über viele Kilometer hinweg ein asphaltierter Weg. Vor Urzeiten sollen hier mal Pferde auf einem gepflasterten Pfad flussaufwärts Schiffe geschleppt haben. Die Sonne berührte schon den Horizont. Eine blutrote, flirrende, riesige Scheibe, die aussah, als könnte sie umkippen und die Erde unter ihrer Glut begraben. Der Abendwind kam wie immer von Westen. Erleichterung brachte er nicht. Er war so heiß, dass er sich wie ein auf die höchste Stufe geschalteter Föhn anfühlte, den man sich zu nah an die Haut hält.

Es war eigentlich Wahnsinn, bei dieser Hitze auf einem Pedalo-Bike durch die Gegend zu fahren. Aber ich konnte es nicht in irgendeinem der Biker-Studios tun. Was dort herumstand, waren keine echten Pedalo-Bikes. Es waren fest montierte, klobige Geräte voller Elektronik, auf denen man nicht wirklich die Balance halten musste, weil sie beim kleinsten Wackler sofort gegensteuerten. Dazu der künstliche blaue Himmel und der künstliche Wind, angereichert mit Sauerstoff und einer angenehmen Feuchtigkeit. Ich brauchte das Gefühl, in einer echten Landschaft zu fahren. Gegen einen echten Wind. Der aus mir das Letzte herausholte. Der mich fertigmachte. Der mir zeigte, dass ich wirklich lebte.

Ich stellte mich auf die Pedale. Der Wind kam jetzt in Böen. In ein paar Kilometern machte das Flussbett eine Kehre. Dann würde er mich schieben.