Udo Baer, Gabriele Frick-Baer
Gefühlslandschaft Angst
Bibliothek der Gefühle, Band 9

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© 2009 Beltz Verlag, Weinheim und Basel
Lektorat: Isabella Hemmann
Umschlaggestaltung: Schneider. Visuelle Kommunikation, Frankfurt
unter Verwendung eines Fotos von © Klaus Schneider
ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-22442-2
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Wir danken Käthe Frick und Martin Lenz für ihre Rückmeldungen zu den Manuskripten, Susanne Wolters für ihre Schreibarbeiten, Cosima und Klaus Schneider für die grafische Gestaltung des Umschlags, Isabella Hemmann für das Lektorat und unseren Kindern, FreundInnen, SchülerInnen und KlientInnen.
Angst ist eines der grundlegendsten Gefühle der Menschen, das wir mit vielen anderen Lebewesen teilen. Deshalb haben sich schon etliche Autorinnen und Autoren mit der Angst beschäftigt und ihre Erkenntnisse und Erfahrungen veröffentlicht. Kaum ein Roman, in dem nicht Angst zumindest am Rande eine Rolle spielt, wenn sie nicht sogar Kernthema ist. In jeder gut sortierten Bibliothek oder Buchhandlung findet man zudem etliche Fachbücher über Angst. Wir haben uns gefragt, ob es sinnvoll ist, den zahlreichen Büchern zum Thema Angst ein weiteres hinzuzufügen. Wie Sie sehen, wenn Sie dieses Buch in den Händen halten, haben wir diese Frage bejaht. In vielen Fachbüchern wird versucht, den unterschiedlichen Gesichtern und Aspekten der Angst Herr zu werden, indem unterschiedliche Ängste danach sortiert wurden, wovor Menschen Angst haben. Daraus wurden Systeme gebaut, nach denen sogar die Charaktere von Menschen »geordnet« wurden. Wir wollen dem nichts hinzufügen, sondern einen anderen Weg versuchen. Unsere Fragestellung ist: Wie ängstigen sich Menschen? Wie gehen Menschen mit ihrer Angst um? Insofern wollen wir mit diesem Buch Menschen darin unterstützen, ihrer Angst ins Gesicht zu schauen. Wer dies sorgfältig tut und dabei die verschiedenen Phänomene ernst nimmt, die mit dem Erleben der Angst verbunden sind, wird die Angst nicht nur als isoliertes Gefühl, sondern als Bestandteil ganzheitlichen Erlebens betrachten. Gerade weil die Angst das entwicklungsgeschichtlich älteste Gefühl ist, weil sie, wie wir sehen werden, alle anderen Gefühle beeinflussen oder gar überlagern kann, betrachten wir die Angst in ihren leiblichen Zusammenhängen und sprechen deshalb von der Gefühlslandschaft Angst. Leiblich heißt, dass wir unser Augenmerk auf all die Aspekte richten, die Menschen als erlebende Wesen auszeichnen: ihre Stimmungen und Gefühle, ihre Erregungen und Spannungen, ihr Körpererleben und ihr Selbstbild, ihr Denken und ihre sozialen Beziehungen.
Die meisten KlientInnen wollen ihre Ängste »loswerden«, was selten gelingt, oder verringern, was erfolgversprechender ist. So wichtig es ist und so heilend es sein kann, Ängste konkretisierend zu betrachten und in Verbindung zu den Mustern des eigenen Erlebens und des sozialen Lebens zu stellen – es reicht nicht.
Wir gehen mit KlientInnen den Weg, ihren Ängsten ins Gesicht zu schauen und sie in Beziehung zu setzen zu anderen Gefühlen, um sie so, wenn möglich, zu verwandeln, z. B. in Gefühle der Sehnsucht, des Zorns oder der Liebe, Gefühle, die sich häufig in oder hinter oder unter der Angst verbergen. Dabei hat es sich als äußerst hilfreich herausgestellt, über Ängste nicht nur zu reden, sondern ihnen auch mit den verschiedenen Möglichkeiten der Musik und des Tanzes, der Poesie und der Gestaltung »zu Leibe zu rücken«. Von unseren Erfahrungen mit der Angst in solchen therapeutischen Veränderungsprozessen wollen wir berichten, und wir hoffen, Ihnen als Fachleuten oder persönlich an diesem Gefühl interessierten Menschen Anregungen und Hilfestellungen zu geben. Dies ist ein weiterer Grund, warum wir dieses Buch geschrieben haben. Ob unsere Hoffnungen berechtigt sind, können nur Sie entscheiden.
Wenn ich als Autofahrer quietschende Bremsen oder ein Hupen höre, macht mir das Angst. Meine Aufmerksamkeit erhöht sich. Ich versuche herauszubekommen, ob mich etwas bedroht und von woher sich die Bedrohung nähern könnte. Diese Angst ist nützlich. Sie hilft, meine Achtsamkeit zu erhöhen und die Energie zu mobilisieren, die ich benötige, um mit einer Situation fertig zu werden, die möglicherweise bedrohlich ist. Die Angst ist das Initialgefühl einer Stresssituation. Ihr Sinn besteht darin, mich dem Stress zu stellen.
In der Geschichte des Menschseins hat die Angst eine lange Tradition. Sie gehört zu den archaischen Gefühlen, also zu den Gefühlen, die sowohl in der Entwicklung eines einzelnen Menschen als auch in der Entwicklung der Menschheit zu den frühesten gehören. Als unsere Vorfahren, die Urmenschen, durch die Savannen und Wälder streiften, war die Angst überlebenswichtig. Wenn einer dieser Urmenschen plötzlich ein Geräusch hörte, das ihm fremd war, eine Bewegung im Gras sah, einen ihm fremden Duft roch, dann riefen diese Signale Angst und damit Stress hervor. Es hätte schließlich ein Säbelzahntiger sein können, der sein Leben bedrohte. Ähnlich wie im modernen Autoverkehr mobilisierte die Angst die Kräfte des Urmenschen und erhöhte seine Aufmerksamkeit. Angst war auch hier das Gefühl, das den beginnenden Stress begleitete und ihn anregte, sich einer potenziell bedrohlichen Situation zu stellen. In und für solche Situationen, in denen keine Zeit für langes Überlegen oder die Entwicklung kluger Strategien bestand, haben Menschen (und viele Tiere) ein limbisches System im Gehirn entwickelt, das gleichzeitig der Sitz aller Gefühle ist.
Stress hat für die meisten Menschen keinen hohen Sympathiewert. Wir kennen ihn vor allem als Dauerstress, leiden unter ihm, stöhnen und schimpfen. Doch ursprünglich ist der Stress eine großartige Erfindung. In der Geschichte der Erde entstanden schon bei den ersten Wirbeltieren Programme, »... die dazu führten, dass das Gehirn bei Gefahr bestimmte Signalstoffe produzierte, die in das Blut abgegeben werden und die Produktion und die Abgabe von Hormonen durch die Nebennieren anregen. Diese hormonelle Reaktion diente zunächst dem Zweck, die letzten Reserven des Körpers zu mobilisieren, damit er eine bedrohliche Situation übersteht. Es war eine Reaktion für den Notfall. Sie heißt Stressreaktion und hat schon unendlich vielen Lebewesen geholfen, kritische Phasen zu überstehen« (Hüther 1998, S. 22).
Später entwickelten sich die Stressfähigkeiten der unterschiedlichen Lebewesen weiter. Bei Bedrohung wurde nicht nur der Körper mobilisiert, sondern auch das Gehirn, das sich dadurch nach und nach differenzierter ausbilden konnte. Irgendwann in der Entwicklung unseres Planeten entstand bei der Herausbildung der Säugetiere die Fähigkeit, auf neue Herausforderungen auch neue Wege der Reaktionen zu finden. Die Stressreaktion ist offenbar »... nicht nur der große Lenker, der immer wieder dafür gesorgt hat, dass im Laufe der stammesgeschichtlichen Entwicklung genetische Programme stabilisiert wurden, die das Gehirn immer größer und lernfähiger werden ließen. Die Stressreaktion ist auch der große Modellierer, der sogar noch im Laufe unseres Lebens immer wieder dafür sorgt, dass zunächst zwar richtige, sich später aber als Sackgassen erweisende Verschaltungen aufgelöst und neue Wege eingeschlagen werden können. Und in beiden Fällen ist der Auslöser dieser Reaktionen die Angst« (a. a. O., S. 27).
Das Krokodil z. B. verfügt über diese differenzierten Fähigkeiten nicht. In einer potenziell bedrohlichen Situation kennt es nur eines: Maul auf und zuschnappen. Dabei können sogar der eigene Nachkömmling zwischen die Zähne geraten. Ein Pferd, ein Hund, ein Mensch können differenziertere Wege einschlagen. Das ihnen gemeinsame limbische System ermöglicht unterschiedliche Gefühle, die unterschiedliches Verhalten beinhalten. Nun verfügt der Mensch über eine Besonderheit, die ihn von allen anderen Säugetieren hervorhebt: den Neocortex im Gehirn und damit die besondere Fähigkeit des Verstandes. Der Verstand befähigte den Urmenschen dazu, Gegenden, in denen er Säbelzahntigern begegnete, auszuweichen, Waffen zu erfinden, mit denen er sich gegen den Säbelzahntiger wehren und ihn sogar ausrotten konnte, und Möglichkeiten der Ernährung zu entwickeln, die ihn nicht mehr dazu zwangen, sich den Gefahren der Jagd auszusetzen. Doch in der konkreten Situation, wenn er ein Geräusch hörte, das von einem Säbelzahntiger stammen konnte, half ihm der Verstand nicht, da begann der Stress, da war spontane Reaktion erforderlich, da begann die Zeit der Emotionen, da regierte die Angst. Auch in der heutigen Zeit mag eine vernünftige Politik dazu beitragen, die Gefahren z. B. terroristischer Anschläge oder von Bedrohungen im Autoverkehr zu verringern, doch wenn wir quietschende Bremsen hören oder sehen, wie ein Flugzeug in ein Hochhaus fliegt, reagieren wir genauso wie unsere Vorfahren auf den Säbelzahntiger: mit Angst.
Die Angst begleitet den Anfang des Stresses und dient dazu, der stresshaften Situation gemäß zu reagieren. Das heißt: Die Angst unterstützt Handlungen, die uns aus der bedrohlichen Situation heraushelfen. Welche Handlungen es sind, kann unendlich vielfältig sein. Doch innerhalb dieser Vielfalt sind drei Haupthandlungsstränge auszumachen, deren Verlauf schon in den Erfahrungen unserer Vorfahren wurzelt: Die erste Möglichkeit ist, zu kämpfen, sich dem Säbelzahntiger zu stellen. Auch für viele Menschen der heutigen Zeit ist der Kampf, oft der ständige Kampf, ein Impuls, der aus der Angst heraus entsteht. Für viele und in vielen Situationen ist es (lebens)notwendig und hilfreich, sich mit Angst machenden, bedrohlichen Situationen auseinanderzusetzen, gegen Bedrohung zu kämpfen, sich zur Wehr zu setzen. Viele beginnen zu kämpfen, wenn auch nur der Hauch einer Angst droht, und viele können nicht mehr aufhören zu kämpfen, ob als Workaholic oder Power-Frau; für manche wird das ganze Leben ein Kampf und viele Mitmenschen werden schon vorbeugend als potenzielle Säbelzahntiger niedergemacht.
Die zweite Möglichkeit besteht darin, zu fliehen. Im Autoverkehr einem Fahrer auszuweichen, der bedrohliche Situationen schafft, kann genauso lebensrettend sein, wie es früher die Flucht vor dem Säbelzahntiger war. Fliehen wird oft als feige abgestempelt, ist aber genauso wie der Kampf eine sinnvolle und notwendige Bewältigungsstrategie bedrohlicher Situationen. Auch hier kann sich die Fluchtreaktion verselbstständigen, kann sie schon vorbeugend geschehen, indem sich Menschen gar keinen potenziell Angst machenden Situationen mehr aussetzen (z. B. öffentlichen Auftritten oder intensiven Liebesbeziehungen).
Die dritte Möglichkeit ist das Verstecken. Vor dem Säbelzahntiger ein Versteck zu suchen kann unseren Vorfahren genauso geholfen haben, wie dem Kind das Sichverstecken hilft, wenn der alkoholisierte Vater oder die cholerische Mutter die Wohnung betritt. Sich zu verstecken ist nützlich und sinnvoll, ein Impuls, der sich oft aus der Angst heraus entwickelt. Auch hier liegt das Problem vieler KlientInnen darin, dass das Sichverstecken zur Gewohnheit wurde, zur einzigen Strategie, oft verbunden mit dem Versuch, unsichtbar zu werden oder zu bleiben und dabei zu erstarren.
Kämpfen, Fliehen und Sichverstecken sind drei Handlungswege, die aus der Angst geboren werden und die bedrohliche Situationen bewältigen können. Wenn aus der Angst eine Handlung entsteht, dann verwandelt sie sich dabei. Wenn die Angst den Anfang setzt für einen Kampf, dann wird aus der Angst in der aggressiven Auseinandersetzung vielleicht Zorn oder Wut. Die Flucht kann von Panik und Furcht oder Schutzbedürftigkeit begleitet werden. Das Verstecken kann zum Erstarren werden und innerlich zum Gefühl der Gefühllosigkeit. Sie kann sich auch in Trost verwandeln, wenn ein Mensch sich bei einem anderen Menschen versteckt, der ihm hilft.
Der idealtypische Verlauf beinhaltet die Phasen: Signal einer Bedrohung als konkreter Auslöser, Angst als Initialgefühl des Stresses, der Stress mündet in bewältigendes Handeln, dabei verwandelt sich die Angst. Hier hat die Angst einen konkreten Sinn, nämlich den Schutz und die Mobilisierung von Kräften gegen Bedrohungen und den Charakter eines Übergangsgefühls. Die Angst ist das Gefühl des Übergangs zwischen einer bedrohlichen Situation und dem Handeln, das die Bedrohung beseitigen soll. Nun gibt es zwei Besonderheiten, die den Menschen befähigen, die Angst besonders intensiv und differenziert zu nutzen. Zum einen ist es Menschen möglich, nicht nur ängstlich zu sein, um sich zu schützen, sondern auch, um andere Menschen vor Bedrohungen zu bewahren. In der Biologie des Menschen ist angelegt, dass Kinder, insbesondere Kleinkinder, eine längere Phase des Behütetwerdens und des Schutzes brauchen. Allein hier ist es schon biologisch notwendig, die Angst nicht nur als Gefühl des Schutzes vor Bedrohungen der eigenen Person, sondern auch der Nachkommen zu nutzen. Diese Fähigkeit kann von uns Menschen auch über den Personenkreis der Kinder hinaus auf andere Menschen, auf andere Lebewesen, auf die unterschiedlichen Bereiche unserer Lebenssituation, auf die Natur, auf die Umwelt und viele andere Aspekte unseres Lebens erstreckt werden.
Die zweite Erweiterung besteht darin, dass wir Menschen nicht erst eine bedrohliche Situation erfahren müssen, um Angst zu entwickeln, sondern sie vorwegnehmen können. Schon unsere Vorfahren konnten sich vorstellen, dass in bestimmten Gegenden Säbelzahntiger ihr Leben bedrohten. Diese Vorstellung machte ihnen Angst und bewog sie, diese Gegenden zu meiden. Auch wir heutigen Menschen entwickeln eine rege Vorstellungskraft Angst auslösender Situationen. Die weltweite Verbreitung von Nachrichten und Bildern von Unglücken, Katastrophen und anderen Bedrohungen durch Fernsehen und andere Medien unterstützt dies.
Die Fähigkeit, Angst machende Situationen vorwegzunehmen, sich Bedrohungen für uns selbst oder uns nahestehende Menschen vorzustellen, kann hilfreich sein, um sich vor Angst machenden Situationen zu schützen und Bedrohungen aus dem Weg zu gehen. Sie hat aber einen Pferdefuß: Wenn ich mir eine bedrohliche Situation nur vorstelle und diese in mir Angst hervorruft, kann ich aus der Angst heraus kein Handeln entwickeln, ich kann weder kämpfen noch fliehen noch erstarren. Ich kann nur darauf warten, dass diese bedrohliche Situation eintritt. Viele KlientInnen – und da wird dieses Problem besonders deutlich – leiden darunter, dass ihnen als Kindern Angst machende Bilder eingeimpft worden sind: »Wenn du nicht brav bist, holt dich der schwarze Mann.« »Wenn du zu nah ans Wasser gehst, holt dich der Wassermann.« In der Folge kann sich die Angst nicht in andere Gefühle verwandeln oder durch aktives Handeln verfliegen. Die konkrete Angst, die in konkretes Handeln mündet, wird so zu einer kontinuierlichen Angst, unter der Menschen leiden.
Wir möchten von drei Menschen erzählen, die vor Angst kaum noch ihre Wohnung verlassen haben. Ihre gegenwärtige Angst ist nicht in einer konkreten Situation entstanden und hat sich nicht in konkretes Handeln auflösen oder verwandeln können. Sie wurde vielmehr zu einer stetigen oder periodisch wiederkehrenden Angst, unter der sie litten und die sie in ihren Lebensmöglichkeiten stark einschränkte. Solche dauerhaften oder wiederkehrenden Ängste bringen KlientInnen häufig als Thema in die Therapie mit. Sie hoffen, sich von ihnen befreien zu können.
Um erste Schritte in diese Richtung zu gehen, um die unterschiedlichen Wege der Veränderung einschlagen zu können, müssen KlientInnen und TherapeutInnen gemeinsam auf die Suche gehen: die Suche nach einem Verständnis dafür, wie das Leiden an der Angst entstanden ist, welche Geschichte das Angstleiden hat und aus welchen Quellen die Angst gespeist wird.
Ein Mann verließ kaum noch seine Wohnung. Wenn man ihn fragte, warum das so sei, antwortete er zunächst einmal gar nicht. Als man beharrlich blieb und sein Vertrauen gewonnen hatte, erzählte er, dass er Angst habe. Die Frage »Wovor haben sie Angst?« half nicht weiter. Die Angst lag im Nebel, war verschwommen und diffus.
In der Therapiestunde erwähnte der Klient eher beiläufig, dass er im Winter häufiger die Wohnung verlasse als im Sommer. Auf die verwunderte Nachfrage, womit das denn zusammenhänge, erklärte er: »Im Winter ist es morgens länger und abends früher dunkel.« Auch das erstaunte, denn viele angstvolle Menschen meiden eher das Dunkel. Seine Erklärung führte zu einer ersten Konkretisierung seiner Ängste: »Wenn es dunkel ist, sehen mich die Leute nicht. Wenn es hell ist, sehen sie mich. Und dann reden sie über mich, und es fällt ihnen alles Mögliche auf, was an mir nicht stimmt und komisch ist. Und dann tuscheln sie und ziehen über mich her.« Die Angst davor, lächerlich gemacht und beschämt zu werden, war eine erste Spur auf dem Weg der Konkretisierung, auf dem es gelang, die allumfassende Gewalt der Angst zu brechen. In konkreten Ängsten kann ein Mensch konkretes Verhalten entwickeln und die nebulöse Angst erstickt.
Davon können viele Menschen ein (Klage-)Lied singen. Sie haben Angst und wissen nicht, wovor. Wenn sie lange genug nachdenken oder wenn sie den Fernseher einschalten und Nachrichten schauen, finden sie vielleicht Ansatzpunkte für Bedrohungen. Jeder Krimi, jede Tagesschau bieten Stoff für Fantasien, wie einem der Himmel über dem Kopf zusammenbrechen kann. Doch eigentlich wissen diese Menschen nicht, wovor sie Angst haben oder woraus ihre Angst entspringt. Sie ist einfach da. Manchmal wird sie so erlebt, als käme sie »von außen« oder läge »in der Atmosphäre«. Die diffuse Angst hat eine gefährliche Eigenschaft: Sie wird zur Stimmung, die den ganzen Menschen in all seinem Erleben erfassen und bestimmen kann. Die Angst im Nebel wird immer größer; die Angst, die im Dunkeln liegt, wächst – und das maßlos.
Eine Klientin, eine arbeitslose Frau Mitte 50, konnte ebenso wie der Klient ihre Wohnung kaum verlassen, doch war ihre Angst eine andere. Fast immer, wenn sie die Wohnung verlassen wollte, bekam sie Angst, sie hätte den Herd nicht abgestellt. Sie ging zurück, überprüfte den Herd, ging wieder zur Tür – und nun »überfiel« sie die Angst davor, das Licht, eine Kerze, den Fernseher, das Bügeleisen angelassen zu haben, die Angst, dass dies zu einer Katastrophe führen könnte. Auch wenn es ihr gelang, nach wiederholten Kontrollen die Wohnung zu verlassen, kam sie gerade bis zum kleinen Laden zwei Straßenecken weiter, bis die Angst sie wieder einholte und sie zurückeilen musste. Die Klientin wusste vom Kopf her, dass ihr Verhalten »unvernünftig« war, dass ihre Angst konkret unbegründet war – und doch kehrte die Angst, gespeist aus unsichtbaren Quellen, immer wieder. Offenkundig reagierte die Klientin so, als wäre das Verlassen der Wohnung gleichbedeutend mit der Bedrohung durch einen Säbelzahntiger. Aber was war für diese Frau säbelzahntigerhaft? Ihr blieb es verborgen und sie begab sich in der Therapie auf die Suche.
Allmählich stellte sich heraus, dass ihre Angst um das Thema Kontrolle bzw. Kontrollverlust kreiste. Ihr Vater war in der Zeit ihrer Kindheit Alkoholiker. Immer wieder wechselten aggressive Ausbrüche mit Phasen weinerlichen Selbstmitleids ab. Die Klientin lebte als Kind mit ihrer Mutter in einer Atmosphäre ständiger Bedrohung. Der Vater, sein Alkoholismus, seine Wutausbrüche und Gewaltdrohungen waren ihr Säbelzahntiger. Ganz gleich, ob der Vater tobend aus der Kneipe kam und mit Stühlen um sich warf oder weinend am Küchentisch saß und sich vorwarf, ein Versager zu sein, immer fürchtete und verachtete sie ihren Vater für dessen Kontrollverlust. Wütend war sie auf ihn und – worüber sie überrascht war – sie liebte ihn auch. Doch das vorherrschende Gefühl war und blieb die Verachtung für seinen Kontrollverlust. Gleichzeitig wurden für das Kind Selbstbeherrschung und Kontrolle ein hohes Gut. In der Atmosphäre, in der sie aufwuchs, konnte sie sich ihrem Erleben nach »nicht gehenlassen«. Sie musste »auf der Hut« sein, um nicht unterzugehen. So überlebte sie und behielt ihr Leben unter Kontrolle. Sie fand einen Mann, der ihr Kontrollbestreben teilte, bekam ein Kind, baute ein Haus, organisierte ihr Leben wie ihren Haushalt: nahezu perfekt. Einen kleinen »Ausrutscher« gab es, ihre Liebe zur Kunst. Sie wurde erst passives, dann aktives Mitglied in einem Kunstverein, besuchte Ausstellungen und bekam losen Kontakt mit Künstlerinnen und Künstlern. Im Nachhinein kam es ihr vor, als hätte sie unbewusst eine Verbindung zu einem nicht kontrollierbaren Lebensbereich gesucht.
Dann plötzlich brach ihr Lebensplan und damit die Strategie, mit der sie ihr Leben bis dahin gemeistert hatte, zusammen. Ihr Sohn zog aus und kurze Zeit später ihr Mann. Sie musste das Haus aufgeben. Sie hatte die Kontrolle über ihre Lebenswelt verloren, der Säbelzahntiger schlug zu. Zuerst wurde sie krank. Nach der körperlichen Genesung entstanden ihre Ängste, die wir oben beschrieben haben – ein verzweifelter Versuch, die Kontrolle, die ihr längst entglitten war, wiederzugewinnen. Dass ihre Angst immer dann explodierte, wenn sie die Wohnung verlassen wollte, hatte noch einen weiteren biografischen Hintergrund. Immer wenn sie als Kind die Wohnung verließ, hatte sie schreckliche Angst, was der Vater ihrer Mutter antun könnte. Wenn ihre Mutter die Wohnung verließ, fürchtete sie, selbst den Attacken des Vaters ausgesetzt zu sein. Die Wohnung zu verlassen war für sie in jedem Fall ein Horrortrip. Kein Wunder, dass der Säbelzahntiger immer gerade an der Schwelle des Verlassens der Wohnung zu brüllen begann.
Das Verhalten dieser Klientin wird oft als zwanghaft klassifiziert. Sein emotionaler Kern ist die Angst. Die Angst vor einer Bedrohung führt zu dem zwanghaften Verhalten, nicht umgekehrt.
Gemeinsam mit dem anfangs erwähnten Klienten hat die Frau, dass die Angst sich von ihrem Ursprung gelöst hat und mal hierhin und mal dorthin galoppiert. Sie ist zu einer galoppierenden Angst geworden.
Beide KlientInnen, von denen wir berichtet haben, litten in besonders starker Weise unter ihrer Angst. Bei vielen anderen Menschen ist diese Angst nicht so ausgeprägt, sind die Folgen nicht so gravierend. Und doch gibt es ähnliche Erfahrungen. Vielen Menschen ist die Angst nebulös geworden und hat sich vom konkreten Anlass gelöst. Bei vielen beginnt der Säbelzahntiger zu brüllen, scheinbar ohne gewichtigen Anlass, oft Jahre oder Jahrzehnte, nachdem er dem Menschen zum ersten Mal begegnete. Für all diese Menschen kann es notwendig sein, auf die Suche nach den persönlichen Quellen der Angst, nach dem individuellen Säbelzahntiger, zu gehen, um die Angst zu konkretisieren und individuelle Wege aus diesem Gefühl zu finden.
Dass wir Menschen unsere Ängste von ihrem konkreten Ursprung lösen können, dass sie uns dann erst viel später leiden lassen, hat die Forschung erwiesen. Eine Untersuchung des American Journal of Psychiatry über Veteranen des Zweiten Weltkrieges ergab, dass viele von dem Albtraum bis zu dreißig Jahre später wieder eingeholt wurden. Im Vietnamkrieg wurden sechzigtausend US-amerikanische Soldaten getötet. Fast ebenso viele, schätzungsweise fünfzigtausend Überlebende, begingen Jahre nach dem Krieg Selbstmord, fielen zumindest u.a. ihrer Angst zum Opfer (Die Zeit 17.9.2001, S.15).