Moskau im Spätfrühling des Jahres 1977: Der junge Burjate Minganbajir begegnet der ungarischen Studentin Anni und verliebt sich unsterblich. Sie erleben wunderbare Tage, dann muß sie nach Budapest zurückkehren. Sein einziger Brief kommt zurück mit dem Vermerk: »Kein Empfänger. Bitte an diese Adresse nicht wieder schreiben!«.

Die Zeit vergeht, Minganbajir heiratet, gründet eine Familie und verdient seinen Lebensunterhalt als Dolmetscher. Die verlorene Liebe aber bleibt immer in seinem Herzen.

Jahre später lernt er erneut eine Anni kennen. Sie ist die Chefin einer ungarischen Zirkustruppe, die er als Dolmetscher in die mongolische Steppe begleitet. Er fühlt sich auf geheimnisvolle Weise zu dieser Frau hingezogen, mit ihr verbunden, obgleich sie seine Anni nicht sein kann, denn sie ist wesentlich älter. Bei einem Ausflug in die winterliche Steppe kommen sich die beiden näher. Kann es sein, daß sie die Mutter der einstigen Geliebten ist? Und kann es sein, daß die Liebe die Generationen überschreitet?

Galsan Tschinag (Irgit Schynykbai-oglu Dshurukuwaa) wurde 1943 in der Westmongolei geboren. Er ist Stammesoberhaupt der turksprachigen Tuwa. In den sechziger Jahren studierte er in Leipzig Germanistik; seitdem schreibt er in deutscher Sprache.

1995 führte Tschinag die Tuwa-Nomaden in einer beispiellosen Aktion über 2000 km in ihre Heimat im Altai-Gebirge zurück. Galsan Tschinag lebt als freier Schriftsteller in Ulan Bator, in Europa und mit seinem Stamm in der westmongolischen Steppe.

Galsan Tschinag

Das andere Dasein

Roman

Insel Verlag

eBook Insel Verlag Berlin 2011

© Insel Verlag Berlin 2011

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Umschlagfotos: James Morgan / Getty Images

Umschlaggestaltung: bürosüd, München

 

eISBN 978-3-458-74900-4

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Begleitbrief an den Verleger

My dear Brother – or – mein dheurer Brodh-Herr!

 

In the world language English

– oder –

in der Geistersprache Deutsch?

Du hast richtig geraten – das Manuskript ist beendet. Und so bin ich endlich einmal wieder guter Laune. Auch wirst du gleich verstanden haben, hoffe ich doch, was ich mit meinem bisschen Englisch bezweckte: Ich wollte dir ein Lächeln auf die Lippen locken, meinend, du wirst, wie jeder erfolgreiche Verleger, deinen Geist weiterhin schwer anstrengen, und dies hinter einem unnahbar und undurchdringlich ernsten Gesicht, wie der Durchschnittsmensch im heutigen Westeuropa. Das Lächeln, das ich, deinen angespannten Geist mit meinem armseligen Englisch düngend, aus deinen Lippen ernten will, darf ruhig ein mitleidiges sein, denn ich weiß doch, dass ihr Mitgewinner des Kalten Krieges jenseits des Eisernen Vorhangs die Weltsprache wirklich besser beherrscht, unvergleichbar besser als wir Mitverlierer auf der anderen Seite. Warum das so sei, darüber habe ich in den letzten Jahren immer wieder nachgedacht und herausgefunden: Diese Sprache, eigentlich aus lauter Schnipseln zusammengesetzt und daher recht ungelenk, verglichen mit vielen anderen aus einer Wurzel herausgeschossenen und einer Quellader hervorgesprudelten Sprachen, habt ihr mit der Muttermilch als Vitamin, als Magomin, eingesogen, an nichts oder höchstens an den zuckersüßen, kunterbunten Inhalt der Pakete aus Amerika oder an eure von Gott gewollte Wohlstandszukunft denkend, während wir sie alle erst in längst erwachsenen bis schon alternden Jahren als bittersüße Pille zum Überleben von den Siegern oder ihren Lakaien heruntergereicht bekamen und mit Widerwillen herunterschlucken mussten, nicht sehr daran glaubend, ob sie wirklich Not abwendet.

Und was mich betrifft, habe ich mein dürftiges Schrift-Englisch mir selber beigebracht. Wie ich mir eigentlich das allerallerallermeiste von dem, was in meinem Hirn eingespeichert liegt und ich Wissen nenne, mir im Selbststudium angeeignet habe. Bin also durch und durch ein Dilettant. Übrigens, ich wollte neulich ein anderes Wort dafür haben und erfragte meinen läppischen Topdiener Laptop danach. Und was bekam ich angeboten? Von Banause über Stümper bis Dummkopf, schamlos bewertende, ausnahmslos alles abtuende, abschätzige Ausdrücke. Sosehr ich wusste, dass dahinter die selbstgefällige Fachweltzunft steckte, drohte ich, einen Groll auf die deutsche Sprache zu empfinden, die ich ja sonst abgöttisch verehre und beinah erotisch liebe.

Von solchen, die sich selber nicht nur das Wissen beibringen, sondern auch das Geschick schmieden, wird im Folgenden die Rede sein – darum die Erläuterung. Dass diese Hirtennomaden aus der unwirtlichen mongolischen Wüstensteppe, meine Helden mit ihrer wurzelhaften Ausdauer und ihrem triebhaften Selbstvertrauen, alles andere sind als träge und stumpf oder gar mongoloid, dürfte jeder unvoreingenommene Leser erkennen. Doch das nur am Rand. Mein Anliegen, weshalb ich dem Manuskript einen Begleitbrief beistecke, ist ein anderes. Es betrifft ein weites Feld, die Kunst schlechthin, in welche die Literatur voll eingeschlossen ist.

Ja, die Kunst, diese heitere Göttin, hat das Leben der Menschheit nicht nur beschönt und bereichert, verfeinert und veredelt, sondern auch, wenn wir es so wollen, ihm einen solchen Sinn und ein solches Gewicht verliehen, weswegen es uns letztendlich so heilig-wichtig erscheint. Daher auch habe ich sie schon in sehr jungen Jahren zu meiner Religion gewählt, um ihr fortan zu dienen. Und ich habe ihr gedient, diene ihr noch und werde ihr immer dienen, solange es mir vergönnt sein wird, auf dieser wunderbar lichten Welt verweilen zu dürfen.

Bei all dieser Ehrfurcht habe ich in mir irgendwann einen leisen Zweifel gespürt, der die Kunst betraf. Ist es denn überhaupt Kunst, wenn ein Schamane stirbt und irgendwer von seinen Kindern irgendeins der von jenem zurückgelassenen Utensilien aufgreift und irgendwelche Stabreime dreht, sie in irgendeine Weise kleidet und damit vor das Volk tritt? Sorgen eines Anfängers in einer Sippengesellschaft. Später hat sich jener Zweifel gewandelt: Ist es, wenn nichts darin stimmt und es so stümperhaft erschaffen ist, immer noch Kunst, weil es einem guten Zweck dienen soll? Sorgen eines Geächteten in einem totalitären Staat. Heute bin ich, dem Himmel sei Dank, ein freier Weltenkünstler. Aber es gibt immer noch Sorgen, die mich bedrücken. Der Zweifel, den ich zu Anfang meines Lebens in mir leise gespürt habe, scheint mit mir zusammen gewachsen zu sein, hat sich vergrößert und verhärtet.

Ich möchte es dem christlichen Propheten gleichtun, der verkündet hat: GOTT IST ANDERS! Möchte aufschreien: »Kunst ist doch anders!« Denn ich, den Lawinen, die uns von allen Seiten tagtäglich rund um die Uhr überfluten, mit ausgeliefert, spüre mit allen meinen Sinnen, dass die Kunst, die ich meinte, tödlich gefährdet ist. Es gibt zu viel an Leichen, Scherben, Schmutz. Das Verbrecherische daran ist, dass sich die Göttin, die unser himmlisch-irdisches Haus und unser Dasein darin einst so beschönt und bereichert, verfeinert und veredelt hat, seit geraumer Weile daran werkt und harkt, es zu beschmutzen und zu besudeln, ja, zu verseuchen und zu zerstören. Es scheint mitunter in der heutigen Zeit zur Berufung der Kunst geworden zu sein, die Wirklichkeit zu verleumden und das Leben zu entheiligen, wo und wann und wie es nur geht.

Die Göttin Kunst kann selber nichts dafür, dass sie zu einer Hexe verunstaltet worden ist, ich weiß. Die Menschen sind es gewesen, die, grob im Gewebe, verfallen dem Gelüst und schielend nach Vorteil, sie dazu verstümmelt haben. Ja, die wollüstigen, habsüchtigen und gewalttätigen Menschen haben die Kunst in eine Handelsware verwandelt und teuflische Kanäle erfunden, ihr nachzuschleichen, sie abzuklatschen und als Massenbedarfsramsch jedem vor die Füße zu schmeißen.

Glück ist zwar das sehnlichste Ziel eines jeden, ist aber so in seiner gegebenen lupenreinen Gestalt schwer zu vermarkten. So mit Güte, so mit Leben, so auch mit Frieden. Leicht vermarktbar sind dagegen immer ihre Gegenteile: Pech, Bosheit, Tod, Krieg. Hierin scheint mir der Grund zu liegen, weshalb die Künstler in der heutigen Zeit des Triumphs des vielfachen G: Geknatter und Geschnatter, Gekeife und Gejaule, Gemetzel und Gemengsel den Gierschürenden und Gewalterzeugenden den Gefallen tun, indem sie vor deren gottgleichem Geld auf die Knie fallen und daraufhin den gespenstergleichen Genüssen selber verfallen.

Falls du noch fernsiehst oder ins Kino gehst, wirst du wissen, was ich meine. Diese Medien sind längst zu Schauplätzen von Gewalt und Grausamkeit, Krieg und Katastrophe geworden, wobei die alltäglichen Familien- und Betriebskriege mit ihren Folgen, den Katastrophen auf den unsichtbaren Innenlandschaften des Menschen, mitgemeint sind. Die Zeitungen sorgen dafür, dass möglichst schon das Frühstück in jeder Familienküche mit den Horrormeldungen gewürzt ist. Und welche hässlichen Unterstellungen, Verleumdungen und Klatschgeschichten die meisten der übrigen Flächen füllen! Und die Bücher, unser Gebiet – wie grau und gruselig da das Leben dargestellt wird, wie viel Gift und Galle, Blut und Tränen, wie viel Grausamkeiten und Gemeinheiten! Hin und wieder kommt es mir so vor, als wären die Medien, die Kunst als Ganzes eingeschlossen, heutzutage die eigentlichen Lehrstoffe und Übungsfelder für künftige Gewalt und Niedrigkeit. Denn sie stecken die Sinne der Leser, Zuschauer und Zuhörer, kurz: der Verbraucher, an. Doch ist damit noch nicht alles getan. Auch die Nichtleser, Nichtzuhörer, Nichtzuschauer sind mitgefährdet, mitverseucht. Denn der ganze Raum des Universums ist mitverpestet. Es entstehen morphologische Felder, nach Rupert Sheldrake. Viele der Quantenphysiker, Genforscher und Psychologen werden mir recht geben, ganz zu schweigen von Philosophen, Pädagogen und Schamanen.

Diese neuzeitige Katastrophenkultur und -kunst und die neuzeitige katastrophale Art und Weise, das Erbe aus vergangenen Jahrhunderten und -tausenden zu interpretieren, haben einen entsprechenden Geschmack bei den Menschen erzielt und sind dabei, ihn noch zu einer regelrechten Sucht nach Gewalt, Zerstörung und Mord zu vergröbern und zu verschlimmern.

Kein Wunder, dass Happyend längst zu einem abschätzigen Begriff beim Beurteilen eines Kunstwerks geworden ist. Aber, Himmel, unser Planet Erde ist trotz der Salzmeere und Sandwüsten, der Hitze und Kälte doch ein ganz wohnliches Zuhause und wir ertragen unser Leben darauf trotz aller Fährnisse und Kümmernisse doch ganz gut. Die Welt ist trotz der vielmaligen Voraussagen der Schwarzseher bis auf den heutigen Tag noch nicht untergegangen, auch ist der Kernkrieg der geltungssüchtigen Großmächte noch nicht ausgebrochen. Und wenn das kein Happyend-Ereignis ist! Ja, das Leben ist schöner und die Menschen leben glücklicher, als die profitorientierten Meinungereien dieser Welt in breitester Front es uns glauben machen wollen.

Wenn du, edler Freund und lieber Bruder, mir das alles abzunehmen bereit bist, dann wirst du dich dem nachfolgenden Manuskript gegenüber auch nicht abgeneigt zeigen, nehme ich an. Denn es ist die Geschichte einer Liebe, die bei ihrer ersten Blüte einen vernichtenden Schlag erlebt und verheerende Folgen auf beiden Seiten hat, aber dann in Gestalt eines Zufalls oder eines Geschenks vom Himmel, jenem spiellustigen und gutmütigen Wesen, eine Gelegenheit angeboten bekommt, sie aufgreift, es zu einer zweiten Blüte bringt, der ein Neubeginn und diesem ein Happyend-Schluss logischerweise folgen.

Und zum Schluss. Solltest du wissen wollen, wie ich als Autor zu meinem Werk stehe, so sage ich, ohne zu erröten, dass ich es in der Nähe der Eroica des großen Tondichters und mächtigen Tonschamanen Ludwig van Beethoven verortet glaube. Bei dieser pausbackigen Selbstgefälligkeit geziemt es mir wohl dennoch, eins zu gestehen: Ich bin hier nicht der Schöpfer gewesen – darum benutzte ich oben ein anderes Wort. Die Vorlage gibt es im Leben, in meiner greifbaren Nähe. Ich habe die Geschichte einfach niedergeschrieben, bin also lediglich ihr Schriftführer gewesen.

Habe ich mit diesem Geständnis wieder an das Misstrauen in manchem wachen Geist gerührt? Habe ich mich des Naturalismus verdächtig gemacht? Dazu meine Meinung: Lieber entscheide ich mich für den prallbackigen, voll pulsierenden Naturalismus als für das hohlwangige Gespinst eines Hirns, umstrickt von verkalkenden Leitungen!

Gedankt sei

Lutbajir,

Dem Auserwählten vom Himmel,

Ein solches Geschick

Ertragen zu müssen,

Erleben zu dürfen.

Und gewidmet sei

Die sanfte Frucht meiner heißen Bemühungen

Dem treu und trotzig und mächtig Liebenden –

So auch seiner unsterblichen Geliebten.

Vorspruch

Im Folgenden wird wieder einmal von der Liebe erzählt werden. Es wird die sanftmütige, behutsame Beschreibung der Wonnen und Schmerzen zweier Menschen des anderen wegen sein, zuerst auf gewohnten Wegen des Lichts zustande gekommen und später auf ebenso gewohnten Stegen des Schattens gestolpert, zum Schluss jedoch, dem Verlauf aller Dinge trotzend, sich fangend und fortgesetzt. So ist es eine schwere, mehr noch, eine merkwürdige: bemitleidens- wie auch bewundernswerte Liebe.

Die Geschichte wird auf so manchen Widerstand stoßen. Das weiß ich, noch bevor ich sie der Öffentlichkeit vorgelegt habe. Doch ich muss sie unbedingt niederschreiben, auch auf die Gefahr hin, mein guter Wille und meine heißen Bemühungen werden mir auf dem verschlungenen, dornenbesäten Pfad meines Lebens, ohnehin beschwerlich genug, weitere Steine bescheren. Denn die Liebe ist nicht nur gewesen, sie dauert mit ihrer irrewirren Feuersbrunst noch an. Und das ist das Allerwesentlichste an der Sache. Und dies, weil ich meine, die Dichtung ist mündig genug, um die Widerspiegelung des wenigstens schon einmal Geschehenen im Leben zu sein. Und die Leser möchten sich wieder von den Verstrickungen einer Kunst, die mord- und zerstörungssüchtig und letzten Endes von sich aus sterbenskrank wie auch von außen her überwindungswürdig geworden ist, zu befreien und endlich wieder zu erkennen: Die lichte Welt, in der wir alle leben, ist sanfter beseelt, klarer begeistet und einfacher bestellt, als die Gespenster aus den Büchern, auf den Bühnen und über den Bildschirmen, alles dem Oberteufel Geld unterstellt und miteinander verwandt, wie die Krallen einer Fangpfote, uns einreden wollen.

 

Es war Ende Januar. Die Erdkugel schien in ihrer Abgeschiedenheit inmitten der kosmischen Fülle noch einsamer, trostloser und zerbrechlicher geworden zu sein. Denn das Leben, das sich in ihren Falten und Spalten eingenistet hat, wurde unaufhaltsam fragwürdiger: Fische und Vögel, Goldmäuse und Silberfüchse, Widder und Pinguine, weit und unabhängig voneinander beheimatet, fingen an, schwärme- und herden- und rudelweise einzugehen; die Bäume neigten dazu, ihre gewohnte Stärke, und die Gräser ihre gewohnte Länge zu verfehlen – beiden war neuerdings gemeinsam, dass ihre Wurzeln immer mickriger gerieten und brüchiger ausfielen, und der Mensch, dieses rundschädlige, stelzbeinige Wesen, war unermüdlich damit beschäftigt, die bereits angehäuften, himmelstarrenden und erderdrückenden Waffenberge jeden Tag um weitere Hügel zu vermehren, um seine Artgenossen, das hieß im Endergebnis sich selber, auszurotten.

Zu solchem düsteren Schluss kam der sechsunddreißigjährige Minganbajir, der sich in Gedanken spöttisch einen selbstgeschliffenen Denker und selbstgemeißelten Forscher nannte, bevor er nach ganzen drei Monaten das Krankenhaus verließ und zu seiner Familie und seinem Broterwerb zurückkehrte. Der Dauerpatient, wie diesen das medizinische Personal genannt hat, wäre wesentlich früher entlassen worden, hätte er, allen anderen gleich, es gewollt und sich darum bemüht. Doch er hat nichts in der Hinsicht getan. Im Gegenteil, er hat sich sehr bald an den Krankenhausalltag gewöhnt, sich mit seinem Patientenschicksal versöhnt und irgendwann angefangen, dieses bescheidene, aber süßmüßige Schlemmerdasein unter staatlichem Dach und in ärztlicher Obhut zu genießen. Und es ist sogar so weit gegangen, dass er ein- oder andermal ernsthaft überlegt hat, ob es nicht besser wäre, wenn er zeitlebens hier bliebe. Was durchaus machbar wäre – man brauchte nur jeden Tag ein wenig, immer zu ungelegenen Stunden, zu schwatzen oder zu lachen oder zu zappeln, und recht bald hätten einem die Ärzte die unheilbare Gemütskrankheit zugeschrieben, und daraufhin wäre man in die Anstalt hinter der Mauer nebenan oder auch ganz woanders hingebracht worden, und der Fall wäre fürs Erste oder für immer erledigt gewesen. Wie bei der Exdiplomatin mit den grauen Schläfen, aber noch glatten Wangen vor einigen Tagen.

Sie hat, wie so manche der neuen Patienten, die ersten Tage in einem Winkel des Kulturraums eine Bleibe gefunden. Minganbajir, der von den dort ausgelegten Zeitungen, Zeitschriften und Büchern auch zuvor regen Gebrauch gemacht, um die Zeit zu vertreiben, kam während seiner weiteren Besuche dort mit der Notuntergebrachten in ein immer längeres und tieferes Gespräch, bis er eines Tages begriff, dass er von einer in seinem Alter selten glückenden, näheren Bekanntschaft umgarnt war. Und diese schien, wie man anfangs geglaubt hat, auf eine Freundschaft, und wie man dann feststellte, auf eine merkwürdige, schwindelerregende Beziehung zuzustreben, ließ aber zu guter Letzt einen wissen, woran man war: Wohl auf dem Weg, zu einem ihrer Verbündeten zu werden!

Dieses so erschreckende und lähmende wie auch beglückende und ermunternde Wissen wurde ihm durch einen anderen, den bejahrten Arzt, vermittelt, der sie wie auch ihn behandelte. Dieser flüsterte ihm, während er mitten im Gang an ihm vorbeiging: »Seien Sie bitte vorsichtig im Umgang mit der Frau im Kulturraum – sie ist eine Politische und steht unter Beobachtung!« Und erst später erfuhr er aus derselben Quelle, was jene verbrochen hatte: Als Konsulin der Botschaft in einem Freundesland hat sie sich geweigert, einen Vertrag zu unterschreiben, obwohl dieser von oben zur Unterzeichnung freigegeben war. Denn sie hat die Vertragsbedingungen für unser Land als nachteilig empfunden und die offensichtliche Strafe dem versteckten Verrat vorgezogen. Und somit hat sie die Stellung verloren und die glänzende Karriere, die sie durch den verschlungenen Dschungel, aus der klebrig-zähen Masse des Auswärtigen Amtes heraus- und von Hauptstadt zu Hauptstadt anderer Länder immer weitergeführt hat, jäh abreißen und ihr Leben in der Sonne der Diplomatie und im Windschutz des Wohlstandes in Scherben gehen lassen. Und jetzt erfuhr man noch Folgendes: Ihr drohte eine Strafe, und der ärztliche Befund erst würde über ihr weiteres Schicksal entscheiden.

Dies steigerte im Bewusstsein Minganbajirs den Wert der nicht mehr jungen, aber immer noch knackigen Frau, der auffallend geschliffenen und belesenen Mitpatientin nun sehr. Bewunderung für ihren Mut war das Erste, was er für sie empfand. Denn sie hatte es fertiggebracht, Nein zu sagen, und dies in einer Zeit der tiefsten, allgemeinen Entmutigung, wo ganze Völker es zur Weise ihres Überlebens haben auserwählen müssen, fleißig Bücklinge vor ihren Obrigkeiten auszuführen und zu jeder ihrer selbstgefälligen, mehr schlechten als rechten Entscheidungen Ja zu blöken und Hurra zu schnattern, schlimmer und schändlicher als Schafherden und Gänseschwärme! Nun, nachdem man von ihrer beherzten Tat erfahren hatte, kam man sich in seinen Überlegungen nicht ganz so falsch und mit seinen Niederlagen nicht ganz so einsam vor wie bisher.

Ab da ließ der selbstgebackene Forscher, Denker und der Dauerpatient die Vorsicht, die in einem ohnehin wachte, als der sechste Sinn vielleicht, zwar immer noch schalten und walten, gewiss. Aber jetzt suchte er die Nähe der berühmt-berüchtigten Bekannten erst recht, ging mit ihr bewusst um und stellte nur noch gezieltere Fragen und steuerte von sich aus durchdachte und gebündelte Aussagen bei, und dies nur dann, wenn er sicher war, dass man nicht beobachtet wurde.

Und sie durchschaute ihn sehr bald. Denn gleich gegen Ende des ersten Tages sagte sie: »Also weißt du Bescheid über meine Person und bist dir der Folgen eines Verkehrs mit mir bewusst!« Er begann zu stottern, sichtlich auf der Suche. Nur, sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. Griff hastig nach seiner Hand und sprach behutsam: »Du hast mir schon geantwortet. Mehr braucht es auch nicht zu sein. Altersmäßig wirst du wohl in der Mitte zwischen mir und meinen Kindern stehen, also hast du noch manches vor. Darum schon bewundere ich deinen Mut, meine Nähe zu suchen, wissentlich …«

Die Rede wurde jäh unterbrochen – Schritte wurden im Gang hörbar, und einen Pulsschlag später ging die Tür auf. Schon wechselte die Verdächtige das Gesprächsthema, nun war die Rede von einem bestimmten Sirup. Der Wechsel geschah nahtlos, sie musste darin geübt sein. Wer hereintrat, war eine junge Frau im Schwesternkittel. Und sie beteiligte sich sogleich lebhaft am Gespräch, indem sie erzählte, dass ihre Mutter, die an Erschöpfung litt, davon auch gehört hätte, aber nur nicht wüsste, wie das Wundermittel herstellen, von dem neuerdings fast ein jeder redete. So bat sie die Patientin, alles noch einmal zu wiederholen. Und diese nannte das genaue Rezept: Einer Handvoll zerquetschter Aloe ebenso viel Bienenhonig zusetzen, dieses mit einer Flasche Portwein Nummer zwölf übergießen – das Gemisch gut verrühren, anwärmen, in der Dunkelheit zehn Tage lang stehen lassen und täglich dreimal aus einem Esslöffel einnehmen.

Dann, als die Schwester den Raum verließ, ging er auch. Und am nächsten Tag, zu einer günstigen Stunde, wurde das unterbrochene Gespräch fortgesetzt. Da stellte er ihr die Fragen, die in der Nacht durch sein Hirn gezuckt und ihm den Schlaf genommen haben: Wie viele werden es sein, die so denken wie wir beide? Tausende? Oder nur Hunderte? Oder noch weniger? Wie viele Menschen können nach all den Hinrichtungen, Gefängnisstrafen und sonstigen Demütigungen, nach all den verheerenden Säuberungswellen und der Gehirnwäsche jahraus, jahrein, rund um die Uhr, den Mut, sich irgendetwas, das ihnen nicht behagte, zu widersetzen und gelegentlich auch Nein zu sagen, noch haben? Und vor allem, kann der gewöhnliche zweibeinige und kahlhäutige Sterbliche, der wir sind, unter all dem Druck überhaupt noch seine naturgegebene Fähigkeit, selbständig zu denken, unversehrt behalten haben?

Sie meinte, Andersdenkende würden den Sternen am nächtlichen Himmel gleichen. Andershandelnde dagegen seien nicht mehr als die Sterne am Tage. Sie nannte als Grund die Angst, die auf keinen Fall gleich zu verurteilen sei, da sie als etwas dem Menschen bei seiner Erschaffung durch den Schöpfer Mitgegebenes sei, wie Hand und Fuß, Schlaf und Traum, Schmerz und Träne, als Wächter zur Selbsterhaltung. Unser Pech läge lediglich darin, dass dieser natürliche Helfer unter übermäßigem Druck zu sehr gewuchert sei und zu viel Raum in uns genommen habe.

Bei aller Erwähnung und Erörterung der menschlichen Angst fiel aus ihrem Mund keine Bemerkung zur Verdammung der Verängstigten, nein, vielmehr waren es Worte zum Verständnis der Mundtotgemachten: kein Wunder nach Jahrhunderte währender Verbrennung oder Steinigung aller Andersdenkenden unter dem Sammelnamen Hexen im Westen, darauf der Verbannungen, Erschießungen und Entlassungen derselben unter dem Sammelnamen Konterrevolutionäre im Osten – längst habe der Wächter einen Sprung auf seinem evolutionären Weg gemacht und sich zum Häuptling über alle Bewohner unseres menschlichen Innenraumes ernannt.

An einem anderen Tag, bei einer weiteren Predigt, wie sie ihre Schilderungen spöttisch nannte, sagte sie ihm: »Ich werde es dir gar nicht übel nehmen, solltest du im Umgang mit mir irgendwann ängstlich werden …« Er versuchte, ihr zu beteuern, dass solches nimmer der Fall sein würde. Fein lächelnd unterbrach sie ihn: »Ach, Junge. Du brauchst keinen Helden spielen. Brauchst ebenso wenig es mir gleichtun. Nein, ich verbiete dir sogar, es tun zu wollen! Denn ich habe vom Leben ziemlich alles gekostet, soweit es unsereinem möglich ist. Habe eine schöne Kindheit, eine gute Jugend gehabt. Habe gelernt, studiert, gearbeitet und dabei mehr Lob als Tadel gehört. Habe dann einen lieben Mann erwischt, der leider zu früh aus dem Leben gehen musste. Aber bevor es dazu kam, hat er mir zwei prächtige Kinder geschenkt. Beide sind mittlerweile erwachsen, verfügen über ihren eigenen Broterwerb: Wie der Junge, so hat auch das Mädchen einen technischen, immer und überall gefragten Beruf aufzuweisen – so habe ich es bewusst eingeleitet. Nun ich selber. Brauche nichts weiter als zusätzliche Gründe zu neuem Mut und Trotz. Ja, mein Schicksal ist längst besiegelt. Ich habe beschlossen, das bisschen Leben in mir dem Kampf um die Göttin Wahrheit zu opfern. Dabei ist mir selbst ziemlich einerlei, ob es im Gefängnis oder in der Verbannung oder in einer Heilanstalt inmitten geistig Beschädigter verglüht!«

Hier musste sie ihre Rede abbrechen und zu etwas ganz anderem wechseln. Denn es kam jemand. Und jetzt redete sie von dem sowjetisch-russischen Schriftsteller Nikolai Ostrowski, der in einem hoffnungslosen Zustand – erblindet und gelähmt – vermocht hat, die Geschichte seines erlöschenden Lebens aus dem sterbenden Körper herauszureißen und sie dann in den Kultroman Wie der Stahl gehärtet wurde zu verwandeln. Und zwar sagte sie seinen berühmten – diktierten – Brief auswendig auf, in dem es heißt: »Solange auch nur in einem Glied meines Körpers Leben ist, werde ich nicht sterben …«

In der darauffolgenden Nacht lag ihr Zuhörer lange wach und grübelte über sie und ihre Worte nach. Ein Adlerweibchen, entschlossen, im Flug zu sterben, dachte er erschüttert und spürte dabei Stolz für sie, vermischt mit Trauer. Übrigens, ging sein Gedanke weiter, tragen die Worte des Schöpfers von Pawel Kortschagin, dem millionenmal geliebten und verehrten, stahlgleichen Helden des Kommunismus, nun aus ihrem Mund gesprochen, eine doppelte Bedeutung. Denn da war kein Gefühl geheuchelt. Ja, sie nannte sich eine Kommunistin, der die Orthodoxen das Parteibuch geraubt. Genauso wie Masch, sein bester Freund in Moskau, dessen Vater, ein einfacher Viehzüchter zwar, aber überzeugter und eifriger Kämpfer für das Wohl des Volkes und des Vaterlands, immer wieder verleumdet und am Ende erschossen von Neidern und Niederträchtigen, in schweren Stunden Ähnliches auch von sich zu behaupten gepflegt und mit eben dem Gedanken seine und seiner Nächsten seelischen Schmerzen gegenüber bevorzugten Schlauköpfen zu lindern versucht hat: ein Kommunist ohne Parteibuch!

Ja, die Frau, die über eine höhere und weitere Bildung verfügte und vor allem welt- und kampferfahrener war als er, sprach von einem Machtklüngel aus lauter kleinbürgerlichen Spießern, ständig bedacht auf den eigenen Vorteil und aufgestachelt von der Angst, Fähigere und Gebildetere könnten sie um das erkämpfte, erträgliche Pöstchen bringen! Der Gedanke, dass es wenigstens einen Menschen gab, der den Scharfsinn und den Mut besaß, die Erbärmlichkeit einer sich längst unfehlbar wähnenden Meute zu durchschauen und sich dagegen aufzulehnen, erhellte seinen Geist und erfrischte seine Seele. Und dass dieser Mensch eine Frau war und diese Frau über einen zwar verblühenden, aber immer noch machtvollen, durch und durch weiblichen Leib verfügte, war wohl auch von einem gewissen Belang. Denn er verspürte an manchen Ecken und Enden, mit manchen Fädchen und Fäserchen seines Wesens einen Sog, der ihn zu ihr zog. Anscheinend musste in jener Nacht auch sie an ihn gedacht haben, denn sie sagte, sobald sie mit ihm endlich wieder allein war: »Damit du dir von mir keine allzu hochtrabende Meinung bildest, habe ich beschlossen, mich vor dir zu entblößen: Meine selbstmörderische Kampflust ist durchaus nicht frei von menschlicher Eigenliebe und Eitelkeit. Während ich die Bockige spiele, liebäugele ich wohl mit dem Ruhm, der mir zu einer späteren Zeit zufallen könnte. Ja, warum sollte ich es vor dir, mein lieber, junger Freund, verheimlichen, dass mir hin und wieder wie ein Ausgleich für die Bitternisse ein honigsüßer Gedanke durch das Hirn zuckt: Wie sehr du in eigener Galle erstickst und so dein höchstes Gut, dein Leben, vergeht, werden die, die dich meucheln und hänseln, im Fett ihrer erheuchelten Vorteile ebenso ersticken und vergehen – halte also nur durch, Frau, denn eines Tages wird dein heute verschmähter Name als der einer unbeugsamen Kämpferin in einer finsteren Epoche aus dem Buch der Geschichte herausleuchten wie ein Stern am Himmel der Wahrheit!«

Endlich verstummte und senkte sie den Blick. Und atmete dabei tief, wie erleichtert, als wenn ihr eine schwere Last von der Schulter gewälzt. Wenig später jedoch blickte sie wieder auf, blickte ihn aufmerksam an und drückte ihm das kleine Kofferradio in die Hand, das ständig an ihrem Busen gehangen, meistens stumm für andere, lediglich durch ein Schnürchen mit ihrem Ohr verbunden. »Weltempfänger«, sagte sie leise, »und damit kannst du an viele Sender heran. Vorsicht aber, fremdsprachige Nachrichten nur durch den Kopfhörer empfangen! Und sobald du spürst, fremde Aufmerksamkeit ist auf dich gerichtet, schnell auf Musik oder den einheimischen Sender gehen und es abnabeln, damit man weiß, was das ist, wonach du gehorcht!«

Anfangs hat Minganbajir gedacht, sie hätte ihm ihr Radio nur geliehen, doch später, als er, nachdem er eine gute Weile an verschiedenen Sendern genascht hatte, es ihr zurückgeben wollte, begriff er, es war als ein Geschenk gedacht. Und das machte ihn verlegen. Aber sie winkte lässig ab: Das Gerät sei uralt und auch habe sie sich an den gegenseitigen Enthüllungen zweier streitender Seiten und an den Horrormeldungen dieser Welt ein wenig überfressen – sollte sie irgendwann wieder Hunger danach spüren, könne sie sich, als gewesene Diplomatin versehen, im Gegensatz zu gewöhnlichen Sterblichen, mit dem Zugang zur harten Währung, jederzeit ein neues leisten.

So durfte er das Geschenk behalten und konnte sich ab da eines sehr molligen Gefühls nicht erwehren: Sobald er den weichgepolsterten Knopf des Kopfhörers ins Ohr steckte und die Sendung aufnahm, war ihm, als wenn er mit ihr geistig-seelisch-körperlich verbunden wäre und das, was in ihn hineinrann, nicht aus dem Kästchen, sondern von ihr käme. Und das schürte das Gefühl, das in ihm bereits erwacht war und schon glimmte, unaufhörlich weiter. Das Merkwürdige dabei war, dass das, was von ihr zu ihm hervorzusprudeln schien, wie sie bereits beim Namen genannt und damit ihn auch wohl vorgewarnt hatte, zum größten Teil tatsächlich gegenseitige Enthüllungen zweier Streitender und Horrormeldungen waren.

Ab da schlief er wesentlich weniger. Lag nachts stundenlang wach und lauschte dem, was alles in der Welt passierte und womit die Teilnehmer des Kalten Krieges einander beschuldigten. Wobei er immer wieder in einen Dämmerzustand verfiel, und da kam es ihm zwischendurch vor, als wäre er mit ihr verbunden, durch und durch, mit vielen Kanälen der Seele, des Geistes und des Leibes auch.

Einmal erzählte sie ihm, dass sich ihr Verdacht, man könnte sie in die Anstalt stecken, von Tag zu Tag festigte. Da meinte er, dann würde er auch mitkommen. Worauf sie ihm zuerst lange und tief in die Augen blickte und dann kopfschüttelnd sagte: »Mit so was spaßt man doch nicht!«

Er aber entgegnete mit einer festen Stimme: »Ich spaße nicht. Es ist mein Ehrenwort!«

Nun schaute sie ihn verwundert an und fragte: »Und wozu das?«

Er antwortete mit derselben Festigkeit in der Stimme wie vorhin: »Es ist schön für mich, bei dir zu sein …«

Sie wollte ihm ins Wort fallen. Aber er ließ sich nicht unterbrechen und sprach aus, was ihm bereits auf die Zunge gestiegen war: »Ich träume jede Nacht von dir!«

Sie zeigte sich erschrocken, zunächst von der Form seiner Rede, von dem plötzlichen, brutalen Du – er hatte sie, die eindeutig Ältere, bisher gesiezt, wie es sich gehörte –, noch bevor sie den Inhalt der Aussage mit ihrem Verstand aufzunehmen vermochte. Dann aber, als sie begriff, was da ausgesprochen war, brach sie in ein gekünsteltes, kurzes Gelächter aus und sprach daraufhin spöttisch: »Was für eine merkwürdige Liebeserklärung – ein junger Mann ist auf den Gedanken gekommen, mit einer alten Frau Techtelmechtelchen zu spielen, lieber Himmel!«

Er ließ sich davon nicht einschüchtern, sagte sachlich: »Alte Frau, von wegen! Saftig und kräftig genug, das bevölkerungsarme Land noch um weitere zwei Kinder zu bereichern!«

Sie versuchte, Entrüstung zu zeigen. Was ihr aber nur halbwegs gelang, denn die glatten Wangen ihres ebenmäßigen Gesichts liefen rosig an, während sie stotterte wie auf der Suche nach den richtigen Worten: »Bin ich denn eine Kuh, von der man erwartet, sie könnte noch zweimal trächtig werden? Und wo soll man auch den Bullen hernehmen?«

»Der Bulle«, sagte er, versucht, ihren spöttischen Ton möglichst nachzuahmen, »der steht hier.« Aber daraufhin verfiel er in einen völlig anderen, eher kläglichen als spöttischen Ton und sagte mit zittriger Stimme: »Der ist bis in sein Innerstes erwacht und erschüttert und kann nachts zwischen den Träumen nicht mehr schlafen …«

»Ich dächte außerdem«, sagte sie hastig, »du hast Frau und Kinder?«

Er setzte an: »Das und vieles andere.« Kam aber nicht weiter, begann zu stottern und hatte einen Hustenanfall. Er hatte sagen wollen, alles sei gewesen, in seinem Vorleben. Das, abgeschlossen, hinter ihm läge. Und was hier und jetzt wäre und er in seelischer Ruhe weiterzuführen gedächte, solange es eben ginge, wäre ein neues.

Am Ende war sein Gesicht bis über beide Ohren knallrot angelaufen. Das war wie bei einem Kind, das etwas verbrochen hat und nun mit einer Strafe rechnen muss. Denn ihm wurde erst dann, nachdem die Worte bereits ausgesprochen waren, bewusst, dass solches auf keinen Fall hätte geschehen dürfen. Und sie reagierte entsprechend: Errötete am ganzen Gesicht und Hals noch tiefer und sprach mit weinerlicher Stimme: »Muss ich denn zum Ende eines solchen Lebens mir noch antun, im Irrenhaus, umringt von Irrsinnigen und bewacht von Züchtern des Irrsinns, Kinder auf die Welt zu setzen, die gleich in ein Waisenhaus überführt werden?« Darauf begann sie wirklich zu weinen, so heftig, dass er gar nicht erst versuchte, sie zu trösten.

Am anderen Tag war sie nicht mehr da. Zunächst ließen sich weder die Ärzte noch die Schwestern abklopfen, doch nach und nach lüftete sich es: Sie war von einem amtlich aussehenden Mann in einem Amtauto weggeholt worden. Sollte das heißen, die Späher und Horcher haben so gut gearbeitet, dass sie neue Beweise fanden, die sie belasteten? Oder hat sie sich freiwillig zu Geständnissen gemeldet und damit das Gefängnis oder die Verbannung der Anstalt vorgezogen? Wie auch immer, die Beziehungen, die zwischen zwei Menschen geknüpft und dabei waren, verschlungene Züge anzunehmen, kamen ins Erliegen und Erkalten.

Es vergingen noch Wochen, bis er entlassen wurde. Aber vorher ereigneten sich manche anderen Dinge. Zuerst kam ein Unbekannter in seinem Alter. Er kam in einem Amtauto gefahren und fragte ihn, wie es da hieß, in amtlichen Angelegenheiten aus. Die Fragen betrafen die Exdiplomatin. Was für einen Eindruck er von ihr gehabt hätte? Einen guten, ließ er jenen wissen: Gebildet, ehrlich, patriotisch und fest überzeugt von der Sache des Sozialismus und Kommunismus. Das schien dem Fragenden gar nicht zu schmecken, denn seine Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln und dabei verwandelten sich die Blicke seiner leicht schielenden Augen in zwei Ahlen und spitzten sich immer weiter, je länger das Verhör dauerte.

Und sehr bald betrafen die Fragen ihn, Minganbajir, allein. Dieser begriff, sie waren gegen ihn gerichtet. Und er spürte, wie empfindlich seine Seele sie aufnahm, die, gleich Pfeilen, auf ihn zukamen und in sein unbeschütztes Leben immer tiefer eindrangen. Da bekam er es plötzlich mit der Angst zu tun. Und das musste der andere gewusst haben. Denn er sprach, bevor er von ihm endlich abließ, gewichtig: »Noch gesünder können Sie nicht werden. Wie wär’s darum, wenn Sie Ihre Krankenhausburg, in der Sie sich so wohl zu fühlen scheinen, endlich verließen? Denn dann brauchte ich nicht Staatsbenzin zu vergeuden, um hierherzufahren. Stattdessen verständige ich Sie lediglich durch einen Anruf, und Sie kommen sofort über drei Straßen gelaufen, um mir die entsprechende Auskunft zu geben. Verstanden, Genosse?«

Was sollte man da machen? Nichts. Ein jeder, der an der Macht irgendwie beteiligt ist, will deren süßherben Geist, so oft und so viel es nur geht, auskosten und sich davon berauschen lassen. Und für so einen Machtberauschten ist wohl einfach selbstverständlich, dass jeder Mensch in der Partei ist und darum auch Genosse. Während Minganbajir die soeben gehörten Worte in Gedanken erwog, fand er, dass die Anrede, bezogen besonders auf einen Parteilosen, auch einen weiteren, drohenden Sinn enthielt. Also, die versteckte Drohung aus dem Mund eines Mitarbeiters der Staatssicherheit, das war schon ein verdächtiges Zeichen. Die Folge von dieser Überlegung war: Die Angst, noch nicht ganz vergangen, meldete sich erneut, mit neuer Macht, drückte gegen Nieren und Leber, füllte den Brustkorb und verschnürte den Hals.

Am Ende beschloss Minganbajir, die schutzbietende Burg, von welcher der Mensch gesprochen, vorerst nicht zu verlassen – vielleicht würde ihn jener auch bald vergessen? Nun wandte er sich seinem Steckenpferd gänzlich zu, begab sich noch tiefer in die eingeschlagene Richtung und betrieb die angefangene Forschung noch eifriger, indem er jede Stunde mit Lesen und Lauschen verbrachte und dabei und dahinaus mit aller Macht seines Geistes grübelte. Und er kam auf Schlüsse, die er vorher so nicht gekannt hatte.

Die fieberhafte Sehnsucht des Menschengeschlechts nach den kosmischen Weiten, den fernen Gestirnen und ihren Geheimnissen und möglichen Reichtümern dauerte zwar noch an, aber seine irdischen Sorgen hatten mit einem Mal zugenommen: Von verheerenden Naturkatastrophen in immer gewaltigeren Ausmaßen: Erdbeben, Schneefällen, Stürmen, Überschwemmungen; von Kälte, Erkältung und Erfrierung auf der einen Seite, von Hitze, Brand und Dürre auf der anderen des Erdballs berichteten die Medien rund um die Uhr mit einer unstillbaren Lust, die einen unverhohlenen Jubel zu enthalten schien. Lauschend all den Horrormeldungen, emsig aufgestochert in fernen Ecken der Welt und haarspalterisch herübergetragen und kühl und kühn aufgetischt von bezahlten Lakaien, fragte man sich, welchen Sinn diese Art Dienst auf einen ausstrahlte. Trost – anderen geht es so dreckig, und du hast es immer noch besser? Dann sollte Folgendes gesagt sein: Fremdes Leid hat längst aufgehört, den Brand der eigenen Seelenlandschaft zu löschen. Angst – die Massen in den Niederungen des Lebens sollen immer in Duckstellung gehalten werden? Dann dieses darauf: Die Gemeinten sind mit dem Höllenfraß überfüttert, und sie können nichts mehr aufnehmen, denn ihre vollen Gefäße laufen längst über!

Es wurde weltweit aufgerüstet, und folglich begann die Menschheit wieder ärmer zu leben. Die Erdkugel schien zu schrumpfen, denn die Fernbomber und Trägerraketen erreichten immer größere Fernen, und die Völker unter deren betäubendem Lärm und irrlichterndem Schatten zersplitterten sich innerlich und klumpten sich äußerlich zu zwei riesigen Keulen, gegeneinander geschwungen. Die Häuptlinge beschuldigten einander. In jeder Nische des Welthauses wurde auf eigene Rechte und Vorrechte gepocht. Und sie wurden anderen verweigert. Man redete noch mehr von Gott auf der einen Seite und vom Vaterland auf der anderen. Und hier wie dort redete man wieder und erst recht von Frieden. Dabei nahm die Lautstärke der Stimmen zu. Die Medien sattelten von Kultur auf Verteidigung um. Verbündete begannen, Freunde zu verdrängen. Die Tage des Friedens schienen gezählt. Das geschah schleichend, versteckt, aber es geschah.

An einem Freitag wurde Minganbajir entlassen. Den Samstag hätte er gut zu Hause verbringen können. Aber er tat es nicht, da die Frau zur Arbeit und die Kinder zur Schule mussten. Er ging zu seiner Dienststelle. Und wurde von der Belegschaft mit Freude und Wohlwollen aufgenommen. Was schon nett war, aber irgendwie auch erniedrigend, denn aus mancher Stimme hörte er Mitleid heraus und sah in manchem Blick Neugier, die zu sagen schien: Na, du bist ja doch zurück!

Und gleich an diesem ersten Arbeitstag nach langem Fehlen bekam er einen Keulenschlag auf den Schädel, auch wenn es nur von wenigen bemerkt wurde. Denn ihm wurde mitgeteilt, dass einer aus der Staatssicherheit wiederholt nach ihm gefragt und jedes Mal gesagt hätte, er möge sich dringend bei ihm melden. Die bekannte Angst erwachte augenblicklich und breitete sich nach und nach in ihm aus, so dass ihn irgendwann ein Gefühl peinigte, sein Körper könnte platzen. Dieser Zustand wurde noch unerträglicher dadurch, dass ihm zu Beginn, unter dem ersten Schreck eine Lüge hat entgleiten müssen. Seinen Lippen sind Worte entschlüpft, an die er vorher gar nicht gedacht hat: Eine merkwürdige Frau – merkwürdig deshalb, weil sie sich bald so scharfsinnig und bald so stumpfsinnig zeigte – sei mit ihm wochenlang auf einer Station gelegen, und einmal hätte ein Mann mit einem amtlichen Aussehen und vor allem einem befehlenden Ton in der Stimme sie besucht, von dem man später erfuhr, wer er war – ihr Bruder, und auch noch, wo er arbeitete; gewiss würde es dieser Mann sein und er würde Näheres über das Befinden seiner Schwester und möglicherweise auch über die Qualität der Behandlung wissen wollen …

Zu der Angst noch die Scham, nun ja, es war schier unerträglich. Da musste man sehen, dass man so schnell wie nur möglich dort wegkam. Dann kam er auch weg. Und ging mit seiner Angst, seiner Scham und später auch mit dem Hass, den er gegen eben die Angst und die Scham in seiner finsteren Tiefe weckte, ja, bewusst jenen schlafenden, bissigen Hund weckte und vorließ, auf das Ungeheuer zu.

Das Verhör selbst war bei weitem nicht so schlimm, wie seine überwache, voreilige Vorstellung ihm vorgegaukelt hat. Denn es blieb in dem Rahmen, in dem es sich schon vorher abgespielt hatte. Und es dauerte heute auch nicht viel länger als damals, obwohl der Mensch es diesmal viel bequemer hatte: sich in dem dafür geschaffenen Raum, seinem Büro, befand, hinter dem dafür geschaffenen Gerät, seinem Bürotisch, thronte und wohl auch weitere dafür geschaffene Geräte in seiner greifbaren Nähe wusste. Schlimmer war das Warten vorher, es dauerte endlos lange, obwohl man sich gleich gemeldet und es darauf geheißen hat, man sollte einen Augenblick warten. Doch es war ein endlos langer Augenblick, denn man wartete und wartete in dem halbdunklen, langlangen Gang ohne eine Sitzmöglichkeit, dafür mit einer hellwachen Diele aus knarrenden, schreienden Brettern und mit vielen geschäftig tuenden, müßigen Menschen, die hinüber und herüber hasteten und dabei verstohlen und gerade deswegen so unverschämt genau nach einem schauten.

Am schlimmsten jedoch war die Tatsache, dass man dorthin geladen worden war und solches sich von nun an immer wiederholen könnte, sooft der Stasibüttel, dieser Staatskater, Lust in sich verspürte, ein wenig mit einer der Menschenmäuse draußen in Fallen und Schlingen zu spielen und sich so in deren Augen und im eigenen Bewusstsein von der Macht, über die er nun einmal verfügte, von neuem bestätigt zu wissen.

Vielleicht war der Grund, weshalb ein Mensch den anderen immer wieder verhören durfte, ein anderer. Aber das wusste man nicht so genau. Was man genau, lebens- und sterbensgenau wusste, war, dass man als gewöhnlicher Sterblicher jeden Gang dorthin möglichst vermeiden sollte, solange man noch am Leben war.

Gewiss spürte Minganbajir Erleichterung, als er, das gefürchtete und hässliche, einer erstickenden Harmonika gleich in die Länge gezerrte Gebäude mit dem blutfarbenen Anstrich und den raureifblinden Fenstern über den tränenhell glitzernden Simsen im Lichte der untergehenden Sonne endlich im Rücken, den Nachhauseweg einschlug. Dennoch fühlte er sich weit entfernt von dem, was man Lebensglück nannte. Denn er kam sich tief erschöpft und vor allem beschmutzt und gefährdet vor. Und das war der Grund, weshalb er dann, zwei Blöcke vor dem Haus, wo er wohnte, in eine Seitenstraße einbog, was ein Umweg war. Er wollte zur Ruhe kommen, bevor er sich seinen Kindern stellte, die mit gestauter, unverbrauchter Freude auf den Vater seine Heimkehr herbeisehnen mussten. Die Frau konnte noch nicht zurück sein. So wollte er noch eine Strecke durch die Stadt laufen und eine Weile in der frischen Kälte des hereinbrechenden Abends bleiben, auf dass die unliebsamen Ausdünstungen des schrecklichen Gebäudes von Haar und Kleidung, die erniedrigenden Gedanken daran aus Herz und Hirn wichen.

Jetzt stellte Minganbajir fest, dass es trotz des kalendermäßigen Winters gar nicht so kalt war und die Luft inmitten der Häuser und Autos sogar immer noch nach einem Hauch Steppe roch wie im Spätherbst unter den lange nicht erloschenen Wogen von Farben und dem lange nicht gebändigten Meer von Düften. Hier fiel ihm wieder ein, wie er am Vormittag die Wärme der Sonne an seiner Gesichtshaut gespürt und sich darüber gewundert hatte. Da hat er es augenblicklich nur zur Kenntnis genommen und sich darüber eben gewundert, lediglich. Denn dort, auf dem Wege zum Henker, hat er alle seine Sinne gebündelt und auf die einzige Frage gerichtet: Was tun, um schadlos davonzukommen? Nun aber nahm er sich bewusst vor, jenen nur flüchtig wahrgenommenen, also vernachlässigten und verpassten Lebensaugenblick in Gedanken zurückzuholen und wenigstens dessen Nachgeschmack schmecken zu dürfen.

So verlangsamte er den Schritt, blieb schließlich stehen und richtete seinen Blick auf den rötlichen Schein der soeben untergegangenen Sonne. Dann versenkte er sich in seine Gedanken. Zuerst sah er durch den erlöschenden, verblassenden Abendhimmel einen anderen: tiefblauen und morgenfrischen. Dann nahm er davor den Feuerball wahr, von dem lange, lanzengleiche Funken herüberstrahlten. Und glaubte schließlich, an der Haut des Gesichts und der Hände, bis in ihre Poren hinein eine prickelnde Wärme zu spüren.

Wie lange es dauerte, wusste Minganbajir nicht. Vielleicht nur einen kurzen Augenblick, vielleicht aber auch eine kleine Ewigkeit. Dann war es nicht mehr. Aber anstatt solches zu bedauern, freute er sich doch sehr. Denn er war von einer bohrenden Frage besetzt und darüber von einem feierlichen Gefühl erfüllt: Will das denn heißen, dass eine verpasste Gelegenheit sich unter Umständen doch zurückholen lässt? Und da war die Erniedrigung, die ihm wieder einmal zugefügt worden war, vergessen und die Angst von ihm gewichen.

Zu Hause erwartete ihn eine Überraschung, die, in d e r Art zumindest, keine für ihn war. Seine Frau, augenscheinlich noch nicht allzu lange wieder zu Hause, berichtete ihm, noch bevor er die Tür hinter sich hat zumachen können: Soeben hätte er einen Anruf aus dem Zentralkomitee verpasst, und nun sollte er sich dringend melden. Darauf erfuhr er von den Kindern, dass einer auch vorher mehrmals, und zwar alle fünf oder zehn Minuten angerufen und nach ihm verlangt habe. So wählte er, ohne sich des Mantels und der Mütze entledigt zu haben, stehend, die Nummer und erfuhr, worum es ging: Er wurde als Dolmetscher gebraucht, und zwar sofort.

Wenig später bestieg er ein herbeigeeiltes Auto und erfuhr während der Fahrt Folgendes: Der Dolmetscher und Betreuer der ungarischen Delegation, die an dem internationalen Zirkusfestival Freundschaft teilnahm, war plötzlich erkrankt, was einer kleinen Katastrophe glich, für die Magyaren, unkundig des Russischen, so aber auch für die Organisatoren des Festivals, ehrgeizig bestrebt, für die Gäste alles so zu gestalten, wie sie es sich besser nicht hätten wünschen können. Die Sache wog umso schwerer, da es sich heute um die krönende Abschlussvorstellung handelte, bei der das Politbüro erwartet wurde und an die sich leicht auch eine Pressekonferenz anschließen konnte, ebenso standen noch der traditionelle Ausflug und der ebenso traditionelle Empfang des Ministers für Kultur aus. Also wurde, sobald die Nachricht über den Ausfall des Dolmetschers den Führungsstab des Festivals erreichte, der demokratische Zentralismus eingeschaltet und dieser hat, wie immer, funktioniert. Der Ersatz war da.