
John Harvey
Splitterndes Glas
Kriminalroman
Deutsch von
Sophie Kreutzfeldt
Deutscher Taschenbuch Verlag
Deutsche Erstausgabe 2011
© 2011 der deutschsprachigen Ausgabe:
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
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eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 40834 - 9 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 21322 - 6
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|4|Auch wenn dieser Roman in einer realen Stadt spielt,
bleibt er dennoch Fiktion; sämtliche Ereignisse und
Charaktere entspringen der Fantasie des Autors.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Dank
|5|1. AUSSEN – KÜSTENSTRASSE – NACHT
Eine leere Leinwand. Dunkel. Zunächst erscheinen nur Pünktchen, man sieht zwei Lichter in der Dunkelheit, die allmählich näher kommen, und erkennt schließlich, dass es Autoscheinwerfer sind.
Als der Wagen – eine dunkle Limousine aus den Fünfzigerjahren – immer schneller herankommt und das Motorengeräusch zu hören ist, nimmt die Straße Gestalt an. Man kann sehen, dass sie eng und kurvenreich ist, dass an einer Seite dunkle Bäume stehen und sich auf der anderen offenbar der Rand einer Klippe befindet.
Die Scheinwerfer werden größer und heller, bis sie die Leinwand ausfüllen und den Zuschauer blenden, dann ist der Wagen verschwunden, und einige Sekunden lang blickt man auf die leere Straße. Das Geräusch des Wagens ist zu hören, der mit immer höherer Geschwindigkeit weiterfährt, bis plötzlich Bremsen quietschen und nur Sekunden später zu hören ist, wie der Wagen die Klippe hinunterstürzt.
Schnitt zum Wagen, von oben gesehen, als er ins Wasser stürzt und für einen Augenblick unter der Oberfläche zu verschwinden scheint.
Von unten ist zu sehen, wie der Wagen von den Wellen hin und her geworfen wird, dann Schnitt zu einer Nahaufnahme der Windschutzscheibe, die durch den Aufprall zersplittert ist.
Darüber folgt der Vorspann, zunächst der überlagerte Titel …
|6|SPLITTERNDES GLAS
Hinter dem Titel ist zu sehen, wie im Inneren des Wagens das Wasser immer höher steigt. Das Gesicht einer Frau erscheint an der zerbrochenen Windschutzscheibe. Sie hat ein merkwürdiges, fast triumphierendes Lächeln aufgesetzt.
Der nächste Teil des Vorspanns überlagert dieses Bild …
IN DER HAUPTROLLE
STELLA LEONARD
… dann überspült eine Welle den vorderen Teil des Wagens und er verschwindet wieder im Meer.
Will Grayson war seit kurz nach fünf wach, und das Licht drang durch die Vorhänge wie verdorbene Milch. Vor einer Stunde oder mehr hatte Jake im Traum aufgeschrien, und obwohl sich Lorraine neben ihm umgedreht hatte, war es Will gewesen, der die Decke zurückgeschoben hatte und barfuß ins Nebenzimmer gelaufen war. Das Schlafanzugoberteil des Vierjährigen war schweißgetränkt und seine Haut fühlte sich glitschig an, sein saurer Atem schlug Will ins Gesicht, als er ihn im Arm hielt. Ein Traum von Wölfen. Bestimmt hat er einen Zeichentrickfilm gesehen, dachte Will, mit Wölfen, die grau und glatt zwischen hohen silbernen Bäumen umherschleichen.
»Alles in Ordnung«, hatte Will gemurmelt. »Hab keine Angst. Es war nur ein Traum.«
Einen Augenblick lang schien der Junge Will ins Gesicht gesehen und die Worte aufgenommen zu haben, dann hatte Will seine feuchte Stirn geküsst und ihn wieder hingelegt.
»Es ist noch früh. Schlaf weiter.«
Er war neben dem Bett stehen geblieben, bis er hörte, wie der Atem des Jungen tiefer wurde.
An Lorraines warmen Rücken gekuschelt, war er beinahe sofort wieder eingeschlafen, nur um aufgeweckt zu werden, als das Baby zu schreien anfing und Lorraine es halb schlafend aus dem Bettchen hob und ins Ehebett nahm, wobei sie mit den Fingern schon das Nachthemd an der Brust aufknöpfte.
»Ich gehe nach unten«, sagte Will. »Und mache Tee.«
|8|Fünf Uhr neun.
Als er die Vorhänge zurückzog, sah er keinen Wolf, aber den verschwommenen Umriss eines Fuchses. Mit erhobenem Kopf und in die Höhe ragendem Schwanz lief er anmutig am Rand des offenen Feldes hinter dem Garten entlang.
Als Will geduscht, sich rasiert, eine frische Kanne Tee und etwas Toast gemacht hatte, kam auch Lorraine in einem Sweatshirt und Jeans und mit locker nach hinten gebundenen Haaren nach unten.
»Sie ist wieder eingeschlafen.«
»Und Jake?«
»Schläft noch.«
Will schenkte den Tee aus.
»Ich habe einen Fuchs gesehen«, sagte er.
»Denselben wie schon mal?«
»Ich glaube, ja. Ist aber schwer zu sagen.«
Lorraine nickte geistesabwesend. »Ich habe mit Penny Travis gesprochen. Im Dorf. Sie ist Tagesmutter, weißt du noch? Ich hab dir schon von ihr erzählt.«
Will sah sie an, legte sein Messer zur Seite.
»Sie sagt, sie hat vielleicht im Lauf des Jahres einen freien Platz. Für Susie. Sobald Jake mit der Schule anfängt.«
»Das haben wir doch alles schon besprochen«, sagte Will.
»Ich weiß. Aber ich glaube immer noch …«
»Und ich dachte, wir wären uns einig.«
»Du warst dir einig.«
Will seufzte. »Ich denke, du solltest noch etwas länger zu Hause bleiben, das ist alles.«
»Wie viel länger?«
»Länger als bei Jake jedenfalls.«
|9|»Mit Jake ist alles in Ordnung. Der Kindergarten hat ihm gut getan, das hast du selbst gesagt.«
»Darum geht es doch gar nicht.«
»Ach, worum denn dann?«
»Ich halte es einfach nicht für gut, wenn Susie woanders betreut wird, nicht so früh. Es scheint mir nicht richtig.«
»Gut. Dann bleibst du zu Hause.«
»Wie soll ich das denn anstellen?«
»Lass dich beurlauben.«
»Das kann ich nicht.«
»Dann such dir eine andere Arbeit.«
»Jetzt bist du aber dumm.«
»Ach, wirklich?«
»Ja.«
»Na gut. Dann bin ich eben dumm.«
Wütend verließ Lorraine die Küche, knallte die Tür hinter sich zu und stieg mit schweren Schritten die Treppe hoch. Will schüttete den Rest seines Tees in den Ausguss. Minuten später saß er in seinem Wagen. Das Radio spielte in voller Lautstärke. Als Lorraine mit Jake schwanger gewesen war, hatten sie beschlossen, aufs Land zu ziehen – ein größeres Haus, ein größerer Garten, eine hübschere Umgebung, um Kinder großzuziehen. Für Will bedeutete das einen langen Weg zur Arbeit, vierzig Minuten, wenn der Verkehr mitspielte, oft mehr. Am Anfang war es eine Belastung gewesen, aber es lohnte sich.
Helen Walkers blauer VW stand vor ihm auf dem Parkplatz, aber sie saß nicht an ihrem Schreibtisch. Sie ist vor der Tür, dachte Will, eine rauchen. Er selbst hatte das Rauchen vor zwei Jahren aufgegeben; selbst Unmengen von Pfefferminzbonbons konnten den Zigarettengeruch in Helens Atem nicht vertreiben.
|10|Sie hatten fast drei Jahre im Morddezernat zusammengearbeitet, Helen und er, und den größten Teil dieser Zeit hatten sie in Histon ein paar Meilen nördlich von Cambridge verbracht. Das Revier dort war relativ neu – ein zweistöckiges Backsteingebäude, dessen Parkplatz den Erfordernissen nicht genügte, dessen Flure aber ausreichten, um halbwegs anständig Fußball zu spielen. Inzwischen jedoch waren sie in die Nähe des Stadtzentrums von Cambridge versetzt worden, in ein Gebäude, das die Hässlichkeit der Architektur der Sechzigerjahre im Allgemeinen und des Betons im Besonderen bezeugte.
Als Detective Inspector war Will ranghöher, aber meistens spielte dieser Umstand keine Rolle: Er und Helen arbeiteten sehr partnerschaftlich zusammen, mal führte der eine, mal der andere.
»Du siehst müde aus«, sagte Helen. Sie balancierte zwei Styroporbecher mit Kaffee, einen auf dem anderen.
»Mir geht’s gut«, antwortete Will.
»Hat das Baby dich wach gehalten?«
»Ich hab doch gesagt, dass es mir gut geht.« Scharf und eisig.
Helen stellte einen der Kaffeebecher auf seinen Schreibtisch und musterte prüfend sein Gesicht. »Hattest du Streit mit Lorraine?«
»Mein Gott!«, rief Will.
»Verstanden«, sagte Helen grinsend. »Ich soll mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Ist es das?«
»Genau. Kümmere dich verdammt noch mal um deine eigenen Angelegenheiten.«
Helen lachte. Das Telefon auf Wills Schreibtisch läutete und sie ging dran. Nachdem sie ein paar Sekunden lang zugehört hatte, griff sie nach einem Stift und notierte auf ihrem Handgelenk einen Namen und eine Adresse.
|11|»Gut«, sagte sie, als sie auflegte. »Du brauchst was, das dich von deinem Ärger ablenkt? Damit müsste es eigentlich hinhauen.«
Wills erster Gedanke, als er das Gesicht des Mannes sah: wie ein umgestülpter Handschuh.
Besonders die obere Gesichtshälfte war bis zur Unkenntlichkeit eingeschlagen worden.
Auf dem geriffelten Boden der Duschkabine klebte geronnenes Blut, und Blut bildete ein dunkler werdendes Bogenmuster an den Wänden; der Abfluss war mit Haaren und Haut verstopft, so zumindest Wills Eindruck. Der Duschvorhang war von der Stange gerissen worden und hatte sich um den nackten Körper des Mannes gewickelt, er lag über seine Brust gebreitet wie ein Leichentuch aus Plastik. Eine Hand hatte er schützend über sein Geschlecht gelegt.
In der Tür stand Helen und sprach mit dem Leiter der Spurensicherung, während ein Beamter im Nebenzimmer eine Videokamera vorbereitete. Der Fotograf, der sein Stativ direkt neben der Leiche aufgestellt hatte, war zurückgetreten, als Will eintraf, und wartete jetzt geduldig darauf, weitermachen zu können. Weitere Beamte, die von Kopf bis Fuß in weißen Overalls steckten und Handschuhe trugen, begannen mit der Durchsuchung des Hauses.
Die Putzfrau hatte die Leiche entdeckt, als sie morgens mit der Arbeit begonnen hatte; jetzt saß sie in Begleitung eines Polizisten bei einer Nachbarin und trank stark gesüßten Tee. Sie war erst zum zweiten Mal im Haus gewesen, und es war das erste Mal, dass sie den Schlüssel benutzt hatte. Die sprichwörtlichen zehn Pferde hätten sie nicht dazu bewegen können, das Haus noch einmal zu betreten.
Helen trat zu Will, stellte sich neben ihn und blickte auf die Leiche hinunter. »Ehekrach?«, sagte sie.
|12|Will sah sie zweifelnd an. »Könnte sein.«
Trotz seiner Zweifel schossen ihm die Worte durch den Kopf: Wenn du das tust, will ich dein Gesicht nicht mehr sehen. Nie wieder.
Es war ein zweistöckiges Reihenhaus, das nicht weit vom Stadtzentrum in einer Straße mit identischen Häusern stand. Die Fassaden waren in unterschiedlichen Pastelltönen gestrichen, in diesem Fall ein blasses Grau. Hausmakler, überlegte Will, würden es als »Cottage« bezeichnen, um dem Objekt eine gemütliche, fast ländliche Note zu geben. Die meisten Colleges waren so nahe, dass Nachwuchsdozenten leicht mit dem Fahrrad dorthin gelangen oder sogar laufen konnten, wenn ihnen der Sinn danach stand. Also nicht billig, dachte er, nicht dass irgendetwas in Cambridge billig war. Nicht mehr.
In der Küche hatte die Modernisierung um sich gegriffen: Der angebaute Trakt war ausgestattet mit einem mannshohen Kühlschrank, einem weißen Keramikspülstein, Fronten aus gebürstetem Aluminium und einem Küchenwagen, der groß genug war, um eine Rinderhälfte auszubeinen.
Die Möbel im Wohnzimmer erinnerten Will an das Zeugs, das seine Eltern geerbt und dann weggeworfen hatten: lauter Armlehnen aus Sperrholz und Beine aus Metall. War vermutlich inzwischen ein Vermögen wert.
Das vordere Zimmer im oberen Stockwerk war mit deckenhohen Bücherregalen praktisch in eine Bibliothek verwandelt worden, wobei in einem der Regale keine Bücher, sondern Videos und DVDs standen; auf dem Boden lagen Stapel mit Zeitschriften – ›Cineaste‹, ›Film Comment‹, ›Sight and Sound‹. Ein Exemplar von ›Shepperton Babylon‹ lag aufgeschlagen und umgedreht auf einer Sessellehne, und |13|auf dem Einband sah der junge Dirk Bogarde in glänzenden schwarzen Lederhosen und einem ungewöhnlichen schwarzen Hut dem Betrachter entgegen. Vielleicht hatte das Opfer darin gelesen, als es gestört wurde, als jemand zu Besuch kam.
Ein Flachbildfernseher stand in einer Ecke des Raumes, eine Digibox und anderes Zubehör gleich daneben. Eingerahmte Filmplakate auf dem Flur und auf der Treppe.
Das mittlere Zimmer, dessen Fenster auf den seitlichen Weg sah, der zum Garten führte, diente als Arbeitszimmer. Will bezweifelte, dass dort normalerweise eine solche Unordnung herrschte. Die untere Schublade eines hohen dreiteiligen Aktenschrankes war aufgezogen worden, eine Reihe von Ordnern lag davor auf dem Boden; zwei der Schreibtischschubladen waren ausgekippt worden und ihr Inhalt lag im ganzen Raum verstreut; der Fußboden war mit Papieren übersät.
Hatte das jemand gemacht, der nach Wertsachen suchte, die er stehlen wollte, überlegte Will, oder war es ein willkürlicher Akt der Zerstörung gewesen?
Links auf dem Schreibtisch ein Laserdrucker von Hewlett-Packard, und eine leere Stelle, wo vielleicht ein Computer gestanden hatte. Ein Anschlusskabel hing lose auf den Boden herab. Am Rand des Schreibtisches lehnten mehrere dünne Computerhandbücher an der Seitenwand, darunter der ›User’s Guide to an Apple iBook G4 laptop‹.
Ganz sicher einen Diebstahl wert.
Aber auch einen Mord?
Über ein kleines Ankleidezimmer hatte das Schlafzimmer im hinteren Teil des ersten Stocks Zugang zum Badezimmer, wo die Leiche gefunden worden war. Auch hier herrschte ein großes Durcheinander. Cremefarbene Laken waren vom Bett gezerrt, der Inhalt sowohl des Schranks |14|als auch der Kommode wild durch den Raum geschleudert worden. Hemden, Jacken, Boxershorts, Jeans. Einige der Hemden waren fast in zwei Teile zerrissen. Eine Fotografie, die vermutlich auf dem Nachttisch gestanden hatte, war aus dem Rahmen gezogen worden. Das Glas war gesprungen und zersplittert, das Foto war einmal und dann noch einmal in zwei Teile gerissen worden.
Sorgfältig hob Will die Teile auf und legte sie auf dem Bett zusammen.
Zwei Männer in Hemdsärmeln hatten einander die Arme um die Schultern gelegt und lächelten. Sie blinzelten ein wenig wegen der Sonne. Einer von ihnen war etwas älter, aber nicht viel – Mitte dreißig, mehr nicht. Er war stämmig und dunkelhaarig; dem jüngeren Mann, der größer war und schlank, fiel das blonde Haar ins Gesicht; er erinnerte Will an eines der Plakate auf der Treppe: Montgomery Clift oder James Dean – er konnte die beiden nie auseinanderhalten.
Will betrachtete die Fotografie noch einmal: das glückliche Lächeln des Paares.
Was hatte Helen gesagt? Ein Ehekrach?
Als er nach draußen kam, seine Handschuhe auszog, in die Tasche griff und nach einem Pfefferminzbonbon suchte, stand Helen auf der anderen Straßenseite und rauchte eine Zigarette. Es war kalt, kalt genug, um ihren Atem sehen zu können.
»Meine Lungen und deine Zähne geben sich nicht viel«, sagte sie, als er sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund steckte.
»Ohne Zähne kann man leben«, sagte Will.
»Schlaues Kerlchen«, sagte Helen und streckte ihm die Zunge heraus.
»Wie weit sind wir mit der Identifizierung?«, fragte Will.
|15|»Noch zu früh.«
»Brieftasche? Führerschein? Ein Pass in irgendeiner Schublade?«
Helen schüttelte den Kopf. »Bislang nicht. Keine Spur von einer Brieftasche.«
»Was sagen die Nachbarn?«
»Der Vorname ist Stephen – glauben sie. Er hat noch nicht einmal ein Jahr hier gewohnt. Hat ziemlich zurückgezogen gelebt. So hat ihn offenbar die Putzfrau genannt: Mr Stephen.«
»Das ist alles? Kein Nachname?«
»Das ist alles.«
Ohne es zu wollen, zerbiss Will sein Pfefferminzbonbon mit den Zähnen. »Wie wollen wir vorgehen? Willst du hierbleiben und mit dem Pathologen reden oder soll ich?«
»Ist es Danebury?«
»Danebury.«
Helen zuckte die Achseln. »Ich kann bleiben.«
Edgar Danebury hatte einmal mit einem Nicken in Helens Richtung eine Bemerkung über Polizeibeamte gemacht, die mit schöner Fülle ausgestattet seien, wie er sich ausdrückte. Bei der ersten Gelegenheit, die sich ergab, hatte Helen ihren Stiefel mit solcher Kraft auf seinen Spann sausen lassen, dass Daneburys Augen zu tränen begannen, und seitdem hatte er alle irrelevanten Bemerkungen für sich behalten.
Will saß hinter seinem Schreibtisch, stellte den Computer an, öffnete zunächst das Wählerverzeichnis, dann die Akten über die Gemeindesteuer, die im Rathaus geführt wurden: Der Hauseigentümer war ein gewisser Stephen Bryan. Stephen Makepeace Bryan, um genau zu sein.
Etwa fünfundvierzig Minuten später fand einer der Spurensicherer |16|in einem der Bücher im oberen Zimmer des Hauses einen rosa Bibliotheksausweis der British Library mit dem Namen ›Bryan, Mr S. M.‹, und Helen ließ ihn per Fahrradkurier in Wills Büro bringen. Das Gesicht auf dem kleinen quadratischen Foto glich dem des dunkelhaarigen Mannes auf der Fotografie, die Will zerrissen im Schlafzimmer gefunden hatte. Es mit dem Gesicht des Opfers zu vergleichen, würde nicht so einfach sein. Ohne Identifizierung durch einen Verwandten und in Ermangelung leicht erkennbarer körperlicher Merkmale – Narben, Muttermale oder Tätowierungen – konnten sie nicht hundertprozentig sicher sein, dass Bryan und der Ermordete ein und derselbe waren.
Ein Vergleich mit der DNA der Mutter des Toten oder ansonsten von Geschwistern würde vielleicht zu dem gewünschten Resultat führen, obwohl Will der Meinung war, dass der Zustand der Zähne der schnellste und beste Weg sein könnte, da die untere Hälfte des Gesichts nicht so stark in Mitleidenschaft gezogen war wie der Rest. Eine rasch durchgeführte vorläufige Überprüfung der Zahnärzte in der Gegend wies Bryan jedoch nicht als deren Patienten aus, und das hieß, sie würden in größerer Entfernung suchen müssen.
All diese Bücher über Filme, dachte Will, Zeitschriften, DVDs – nur ein Hobby oder vielleicht mehr? Eine schnelle Suche bei Google verriet ihm, dass es mehr filmwissenschaftliche Kurse in der Gegend gab, als er für möglich gehalten hätte. Er hatte sich die Nummern der verschiedenen Institute notiert und begann zu telefonieren. Beim fünften Anruf wurde er fündig.
Im Herbst des vergangenen Jahres war Stephen Bryan an das Institut für Kommunikationswissenschaften an der Anglia Ruskin University berufen worden. Gegenwärtig |17|gab er Kurse zu folgenden Themen: britischer Film; Kultur und Klasse; Sexualität, Gender und Identität.
Nein, heute hatte er keinen Kurs.
Umso besser für die Studenten, dachte Will, dann verpassen sie keine Stunde ihrer lebenswichtigen Ausbildung. Außerdem können sie länger im Bett herumfläzen, die trüben Tassen.
Er rief die Verwaltungsleiterin an und erfuhr, dass Bryan Lehraufträge an der De Montfort University in Leicester gehabt hatte, bevor er auf diesen Posten berufen worden war. Ja, sagte die Frau mit dem angenehm nördlichen Dialekt, der überhaupt nicht nach East Anglia klang, sie glaube, Mr Bryan habe zuvor in Leicester gelebt. Was seine vorherige Adresse betreffe, nun, das sei eigentlich nicht das übliche Vorgehen der Universität, aber unter den Umständen, wenn sie zurückrufen könne …
Es dauerte nur zehn Minuten und Will kannte Bryans alte Adresse im Stadtteil Clarendon Park in Leicester und bald darauf den Namen des Zahnarztes, bei dem er Patient gewesen war. Oder nannte man das heutzutage Klient? Unerheblich. Eine Kopie der zahnärztlichen Aufzeichnungen von Stephen Bryan würde nachmittags in die Post gehen, bei garantierter Zustellung bis 9.00 Uhr am folgenden Tag.
Will stand von seinem Schreibtisch auf und streckte sich, überlegte, ob er sich am Automaten einen Kaffee holen sollte, verwarf den Gedanken, setzte sich wieder hin und griff zum Telefon.
»Wissen Sie zufällig«, fragte er die Verwaltungsleiterin, »ob Mr Bryan verheiratet war oder etwas in der Art?«
»O nein«, sagte die Frau mit einem Anflug von Lächeln in der Stimme, »ich halte es für ausgeschlossen, dass er etwas in der Art war.«
|18|»Also ist er schwul«, sagte Helen. »Das denkst du doch?«
Sie standen auf dem Parkplatz des Reviers neben Helens VW. Ein langer Tag ging zu Ende. Inzwischen leuchteten bei den meisten vorbeikommenden Wagen hell die Scheinwerfer. Der Mond zeichnete sich schwach wie ein Daumenabdruck am Himmel ab.
»Du nicht?«, sagte Will.
»Auf welcher Grundlage? Wegen einer einzigen Fotografie? Einer kleinen Andeutung am Telefon?«
»Als du ihn zuerst gesehen hast … die Leiche … da hast du das doch gedacht.«
»Ja.«
»Und warum?«
Helen zuckte die Achseln. »Der Anblick … die Gewalt, mit der er zusammengeknüppelt wurde.«
»Zusammengeknüppelt?« Will zog eine Augenbraue in die Höhe. »Das ist ein schönes altmodisches Wort.«
»Du kennst mich, Will. Ich bin ein altmodisches Mädchen.«
Er grinste. »Um acht zu Hause, ein bisschen Sticken und dann eine Ovomaltine und früh zu Bett.«
»So in die Richtung.«
»Ich hab allerdings was anderes gehört.«
»Oh, Will«, sagte sie und klimperte mit den Wimpern, »das ist mein kleines Geheimnis.«
»Können wir vielleicht zur Sache kommen?«, sagte Will. Helen grinste. »Zur Sache, genau.«
»Ein Beziehungsstreit, das hast du gemeint.«
»Oder das Offensichtliche.«
»Und das ist?«
»Die harte Nummer. Bryan geht auf die Pirsch, reißt einen Kerl auf und nimmt ihn mit nach Hause. Und im vierten Akt wird die Sache dann unangenehm.«
|19|»Hältst du das nicht für ein Klischee?«
»Klischees sind meistens aus gutem Grund Klischees.«
Will nickte. Sexualität, Gender und Identität: Vielleicht hatte das etwas zu bedeuten. »Ist die Brieftasche aufgetaucht?«, fragte er.
»Bislang noch nicht.«
»Kreditkarten? Bargeld?«
Helen schüttelte den Kopf.
»Auf den Laptop brauchen wir uns gar keine Hoffnungen zu machen.«
»Leider.«
»Also meinst du, der Raub war das Motiv?«, sagte Will. »Oder kam das nur hinzu, nachdem die Dinge aus dem Ruder gelaufen sind?«
Helen zeigte auf den Rücksitz. »Vielleicht wissen wir mehr, wenn ich das alles durchgesehen habe. Briefe und Notizbücher aus dem Haus.«
»Soll ich die Hälfte übernehmen?«
»Nicht nötig. Geh nach Hause und sei nett zu Lorraine und den Kindern.«
Auf halbem Weg zu seinem Auto drehte Will sich um. »Wenn der Zahnstatus übereinstimmt, müssen wir morgen als Erstes die Familie ausfindig machen, die nächsten Angehörigen.«
»Ich weiß.«
Während er auf eine Lücke im Verkehr wartete, sah er sie hinter dem Steuer ihres VWs. Sie zündete sich noch eine Zigarette an.
Will setzte den Wagen langsam auf den Kiesweg, schloss ab und ging zum Haus, wo im unteren Stockwerk die Vorhänge bereits zugezogen waren. Lorraine saß im Halbdunkel, und der Sound der Cowboy Junkies, träge und ein bisschen |20|psychedelisch, kam leise aus der Stereoanlage; Jake hatte sich auf dem Sofa neben ihr zusammengerollt und den Kopf in ihren Schoß gelegt, das Baby schlief an ihrer Schulter.
Einen Augenblick lang glaubte Will, sein Herz stünde still.
Lorraine drehte sich zögernd und überrascht zu ihm um, und als er sich hinunterbeugte, um ihr das Baby abzunehmen, streiften seine Finger ihren Nacken; dann lag das Gesicht der Kleinen an seinem, und er nahm den vertrauten Moschusgeruch ihres Atems und ihre verwirrend kleinen Knochen wahr.
Lorraine hob Jake in die Höhe. Der Junge war zu müde zum Laufen, und gemeinsam trugen sie die Kinder nach oben ins Bett.
»Weißt du, wie lange es her ist«, sagte Will, als er den Verschluss auf der Rückseite ihrer Bluse öffnete, »seit wir das letzte Mal miteinander geschlafen haben?«
»Lange?«
Will lachte. »Wenn man ein paar Ballvorlagen nicht mitzählt.«
Sie grub ihren Ellenbogen tief in seine Rippen, und er schrie lauter auf als notwendig, ließ sich auf das Bett fallen und zog sie mit. Ihr dunkles Haar fiel über ihr und sein Gesicht, als ihre Münder sich trafen.
Stephen Bryans Eltern waren von Chesterfield weggezogen und wohnten jetzt in einem neu erbauten Bungalow am Stadtrand von Kirkby Stephen. Sein Vater, der einen Posten bei der Bezirksverwaltung von Derbyshire gehabt hatte |21|und früh in den Ruhestand gegangen war, arbeitete jetzt hochzufrieden im Garten vor sich hin und brachte diesen langsam auf Vordermann; seine Mutter, eine ehemalige Hebamme, war ehrenamtlich drei Tage pro Woche in der Bürgerberatungsstelle tätig. Körperlich fit machten sie am Wochenende bei jedem Wetter eine Wanderung von zehn bis zwölf Meilen.
Das Gesuch war am Vormittag aus Cambridgeshire gekommen, und der örtliche Sergeant hatte gewartet, bis eine Polizistin frei war und ihn begleiten konnte. Schon im Normalfall war es keine angenehme Aufgabe, und das hier klang besonders schlimm.
Das Unausweichliche hinauszögernd parkte der Sergeant am Ende der Straße.
Ted Bryan grub gerade einen Graben; seine Frau Grace saß im Mantel in der schwachen Nachmittagssonne und las. Als die beiden Beamten durch die Seitenpforte traten, rutschte ihr unbemerkt das Buch vom Schoß und fiel auf den Boden.
»Ted, Ted …« Sie rief ihren Mann, und dieser stellte einen Fuß auf den Spaten und drehte sich um. »Oh, Ted …«
»Vielleicht sollten wir ins Haus gehen?«, schlug der Sergeant so behutsam wie möglich vor.
Grace Bryan streckte die Hand aus und ergriff den Ärmel seiner Uniform direkt über dem Handgelenk. »Es ist Lesley, habe ich recht? Ihr ist etwas passiert. Oder ist es Stephen? Nein, es ist Stephen. Unser Stephen. Er hat einen Unfall gehabt. Ted, ein Unfall!«
»Mrs Bryan«, sagte die Polizistin und machte einen Schritt nach vorn, »gehen wir doch ins Haus.«
»Sagen Sie mir nur, dass er lebt! Er lebt doch?«
Als sie die Antwort in den Augen der jungen Polizistin las, fiel das Gesicht der älteren Frau in sich zusammen wie |22|ein Ballon, aus dem die Luft entweicht. Ted Bryan sah dem Sergeant ins Gesicht, dann wandte er sich ab.
»Dreckskerl!«, sagte er. »Dreckskerl! Dreckskerl!« Er stieß den Spaten heftig in den Boden.
Helen Walker hatte am Abend zuvor damit begonnen, Stephen Bryans Notizbücher zu lesen, während sie ihr Abendessen verspeiste – eine Pizza mit Käse und Tomaten, die sie mit einem kräftigen Ruck aus dem Gefrierfach befreit und dann in die Mikrowelle gestellt hatte. In überschaubare Stücke geschnitten, spülte sie sie mit einem Glas Allerwelts-Chardonnay hinunter. Nachdem sie weder etwas Anzügliches noch etwas besonders Aufschlussreiches gefunden hatte, wandte sie ihre Aufmerksamkeit einem Stapel von etwa dreißig Briefen zu, die mehrere Jahre zurückgingen und vom rein Praktischen – ein Eingeständnis der Gasgesellschaft, dass ihm für das erste Quartal in seinem neuen Haus zu viel berechnet worden war – über das Akademische zum Privaten und Persönlichen reichten – Familie, Liebhaber, Freunde. Helen hatte diese bis zuletzt aufgespart; sie goss sich ein zweites Glas Wein ein.
Es gab lange unterhaltsame und redselige Briefe von einer Frau aus Neuseeland, die Helen zuerst für eine frühere Freundin hielt, aber dann als Stephens Schwester Lesley identifizierte; ein Brief seiner Mutter, in dem sie ihm zu seiner Berufung an die Universität gratulierte, wobei ihre Freude von Sorge überlagert war, die jedoch nicht deutlich ausgesprochen wurde; und schließlich ein halbes Dutzend Liebesbriefe, deren erotischer Inhalt an manchen Stellen so genau zur Sache kam, dass Helen das Gefühl hatte, mehr Einzelheiten über das Liebesspiel von Mann zu Mann zu erfahren, als sie je hatte wissen wollen.
Helen rauchte die letzte Zigarette des Abends, trank |23|Instantkaffee und ging noch einmal durch, was sie gelesen hatte. Sie notierte die Namen und Daten, die zu diesem frühen Zeitpunkt der Ermittlung wichtig zu sein schienen. Zwischen Mitternacht und Viertel nach zwölf merkte sie, dass ihr die Augen zufielen. Sie schob ihr Notizbuch beiseite, drehte den Schlüssel in der Haustür um, machte das Licht aus und ging zu Bett.
Am Morgen war Will laufen gegangen, nachdem er sich ein altes Simple-Minds-T-Shirt und ein Paar Shorts übergezogen und dann seine Laufschuhe unten in der dunklen Diele zugeschnürt hatte; als er durch die Haustür trat, schlüpfte er in eine reflektierende Weste mit Neonstreifen an der Schulter: Er hatte keine Lust, von einem noch halb schlafenden Autofahrer angefahren zu werden, der ihn im schwachen Licht des frühen Morgens nicht sah.
Die Luft war noch knackig kalt. Über dem schwärzlichen Wasser des Fenn hing Nebel und trieb gespenstisch über die durchfurchten Felder. Es würde noch etwa eine Viertelmeile dauern, bis die Knoten aus seinen Beinen verschwanden und er sich dem Rhythmus übergeben konnte, bis er nicht mehr daran denken würde, was er tat – die Notwendigkeit, einen Fuß nach dem anderen auf den Boden zu setzen –, bis er den leichten Schmerz in seiner Seite vergessen und seinen Gedanken erlauben würde, Purzelbäume zu schlagen. Die ersten Schläge, waren sie in der Dusche erteilt worden oder früher? Will sah einen Mann vor sich, der sich unter dem vollen Strahl des Wassers umdrehte, die Augen zusammengepresst, das Haar an den Kopf geklatscht. Er musste die Wucht des ersten Schlags gespürt haben, bevor er überhaupt verstand, was da passierte. Und dann noch einer, noch einer. Mehr als eine Faust. Etwas Hartes, aus Metall möglicherweise. Ein Hammer?
|24|Wie ein Leviathan erhob sich die Kathedrale von Ely aus dem Nebel.
Mark McKusick war guter Laune. An diesem Morgen war die Bestellung eines amerikanischen Ehepaares eingegangen, das sein Haus in der Chester Street für siebzehntausend Pfund ausstatten wollte. Beide waren Akademiker und hatten das Haus langfristig gemietet, jetzt wollten sie die beste Audio- und DVD-Technologie, die sie sich von ihren nicht unbeträchtlichen Gehältern leisten konnten. McKusick hatte sie zunächst davon überzeugt, dass es günstig wäre, in ein voll integriertes System zu investieren, unterstützt von einem Subwoofer und kompatiblen Lautsprechern in den Haupträumen. Alles mit einer einfachen Philips-Pronto-Universalfernbedienung mit Touchscreen zu bedienen. Sah großartig aus und klang großartig, und in neun Monaten würde er sich wieder bei ihnen melden und ihnen ein Upgrade mit einem besseren Surroundsound-Verstärker vorschlagen.
Er war noch dabei, die voraussichtliche Provision für das hübsche kleine Paket zu berechnen, als der Summer über dem Haupteingang ertönte und ein paar Augenblicke später einer der anderen Verkäufer seinen Kopf in die Tür zur Abteilung Multi-Room-Systeme streckte, die McKusicks Domäne war.
»Dein Typ wird verlangt.«
McKusick schlenderte in den Verkaufsraum und versuchte, das Paar in der Mitte des Raumes einzuschätzen. Ein Mann Mitte bis Ende dreißig, groß; er trug einen dunklen Anzug, der bessere Tage gesehen hatte; locker gebundener Schlips, blaues Hemd, das braune Haar musste dringend mal geschnitten werden; die Frau in seiner Begleitung war fünf oder sechs Jahre jünger, trug schwarze Hosen und ein |25|schwarzes T-Shirt unter einer kurzen Lederjacke; wenig Make-up, volles, dunkles, kurz geschnittenes Haar, nicht ohne einen gewissen Stil: Auf gar keinen Fall würden die beiden mehr als tausend ausgeben, zweitausend höchstens, und das nur, wenn es dem Mann gelang, die genaue Summe im Unklaren zu lassen.
»Morgen. Mark McKusick. Womit kann ich dienen?«
Beide hatten einen festen Handschlag, geschäftsmäßig, sie griff sogar noch fester zu als er; beide sahen ihn direkt an.
»Detective Inspector Grayson«, sagte Will und zeigte seinen Polizeiausweis. »Das ist Detective Sergeant Walker. Können wir irgendwo reden?«
Also kein Verkauf, dachte McKusick. Erst als sie in dem kleineren der beiden Vorführräume saßen, machten die beiden ihm klar, dass es sich um etwas anderes handelte als eine gestohlene Hi-Fi-Anlage.
»Stephen Bryan«, sagte Will, »ist das ein Freund von Ihnen?«
»Ja.«
»Kennen Sie ihn gut?«
»Ja, ja. Warum? Warum wollen Sie das wissen?«
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«, fragte Helen Walker.
»Stephen?«
»Ja, Stephen.«
In McKusicks Eingeweiden begann sich etwas zu verkrampfen. »Schon … schon eine ganze Weile nicht mehr. Etliche Wochen, denke ich, einen Monat oder so. Ich bin mir nicht sicher.«
»Aber wenn Sie so gut befreundet sind …«
»Wir … also, wir haben beschlossen, uns nicht mehr zu sehen, jedenfalls nicht mehr so oft.« McKusicks Hals war |26|trocken und er konnte deutlicher als sonst das Geräusch seines eigenen Atems hören.
»Sie hatten Krach.«
»Nein.«
»Einen Streit.«
»Nein.«
Will hielt die Hände ganz ruhig, seine Finger waren leicht verschränkt. Helens Ellenbogen lagen locker auf den Armlehnen ihres Stuhls; sie hatte Schwierigkeiten, den Schreiber der unverhüllten Briefe mit dem Mann in Verbindung zu bringen, den sie vor sich hatten. Aber wenn es um Sex ging, gab es immer Überraschungen.
»Was ist passiert?«, fragte McKusick. »Es ist doch etwas passiert.«
Sie sahen ihn ausdruckslos an.
»Sie wissen es nicht?«, sagte Will.
»Was weiß ich nicht?«
»Stephen Bryan wurde gestern Morgen ermordet aufgefunden.«
McKusick schreckte zurück, als hätte man ihm einen Schlag auf die Brust versetzt; die Farbe wich aus seinem Gesicht. Er drehte den Kopf zur Seite, beugte sich über die Lehne seines Stuhls und würgte, aber außer Spucke und ein paar dünnen Speichelfäden kam nichts heraus. Seine Augen stachen, aber noch kamen keine Tränen.
»Hier«, sagte Helen und reichte ihm ein paar Papiertaschentücher.
»Wie …?«, begann McKusick, dann verstummte er. Der Schmerz in seiner Brust war echt, etwas bohrte sich in sein Brustbein, in seine Rippen. Das Atmen fiel ihm immer schwerer. »Wo? Wo ist es passiert?«
»In seinem eigenen Haus.«
McKusicks Schrei war ein schmerzerfülltes Klagen. Er |27|fiel auf die Knie, und dann begann er, sich selbst mit den Fäusten ins Gesicht zu boxen.
»Nein«, sagte Will und ergriff McKusicks Handgelenke. »Tun Sie das nicht.«
Helen verließ den Raum, und als sie mit einem Becher Wasser zurückkam, hatte sich Will über McKusick gebeugt, hielt seine Arme fest und sprach mit ruhiger Stimme auf ihn ein.
»Trinken Sie«, sagte Helen und Will trat zur Seite.
McKusick nahm den Becher in beide Hände.
»Wir müssen mit Ihnen sprechen«, sagte Helen. »In der Polizeidienststelle.«
McKusick sah sie abwesend an, dann nickte er.
»Wir sollten jetzt gehen«, sagte Will ein paar Augenblicke später und bot an, ihm auf die Füße zu helfen.
»Ich muss nur Bescheid sagen … mein Chef …«
»Natürlich.«
Der frühe Morgennebel hatte sich gelichtet und einen fahlen Himmel hinterlassen; der Wind war schwach für die Jahreszeit, und trotzdem fröstelte McKusick, als sie ihn zum Wagen führten.
Zu Beginn einer Ermittlung arbeiteten die Kriminalbeamten je nach Motivation und Genehmigung von Überstunden beinahe rund um die Uhr: Uniformierte Polizisten halfen bei der Befragung der Nachbarn, zivile Angestellte legten Akten an, gaben Informationen in den Computer ein und suchten Querverweise. Als Leiter der Ermittlung war es Wills Aufgabe, mit Unterstützung des Büroleiters Prioritäten zu setzen und sicherzustellen, dass alle vernünftigen Hinweise verfolgt wurden. Jedes Vorgehen und alle taktischen Entscheidungen, die er traf oder billigte, wurden sorgfältig festgehalten.
|28|Für manche war das eine Einladung, sich hinter einen Schreibtisch zu setzen, Organisationstalent und die Fähigkeit zum Delegieren zu demonstrieren und Superhirn zu spielen. Für Will aber war der Kern seiner Tätigkeit immer noch das, was draußen auf der Straße passierte, die persönliche Konfrontation mit Verdächtigen, das Fieber des aktiven Handelns. Wenn es notwendig wurde, war Helen eine außerordentlich fähige Stellvertreterin, das wusste er, aber zusammen, meinte er, konnten sie mehr erreichen als jeder für sich.
Und diese ersten Tage waren entscheidend. Ohne Ergebnisse würde das Adrenalin nachlassen und die Anzahl der an der Ermittlung beteiligten Beamten würde verringert werden; irgendwann würde jemand geholt werden, der Will über die Schulter sah, ihm mitteilte, was ihm entgangen war, und darauf hinwies, wo die Ermittlung in die Irre gegangen war.
Und genau das wollte er verhindern.
Die Ergebnisse der Obduktion hatte man ihnen für den nächsten Morgen versprochen, zusammen mit der ersten Auswertung der Proben, die am Tatort genommen worden waren; bis dahin gingen die Beamten den Namen nach, die aus Stephen Bryans Notizbüchern und Briefen stammten, außerdem den Namen von Freunden oder befreundeten Kollegen, die seine Eltern oder Leute von der Universität erwähnt hatten.
Aber zunächst war da Mark McKusick …
»Wie fandest du die Show?«, fragte Helen, sobald sie wieder im Büro waren und McKusick nicht mehr in Hörweite.
»Du glaubst also, dass es eine Show war?«
»Sich selbst ins Gesicht zu boxen.«
»Er war aufgeregt …«
|29|»Was du nicht sagst.«
»Außer sich.«
»Hat aber darauf geachtet, Augen und Nase nicht zu treffen. Hast du das gemerkt?«
»Er hatte gerade gehört, dass jemand ermordet wurde, der ihm etwas bedeutete. Was erwartest du?«
»Ein bisschen mehr als Schauspielerei.«
»Wenn es das war.«
Über Helens Gesicht huschte ein Lächeln. »Hast du jemals beim Schultheater mitgemacht?«
»Nicht, wenn es sich vermeiden ließ. Warum?«
»Ich war mal das weiße Kaninchen in ›Alice im Wunderland‹. Unser Lehrer war so ein wiedergeborener Hippie und hielt das Ganze für eine Art Drogenfantasie, die sich der gute alte Lewis Carroll auf einem Laudanumtrip ausgedacht hat oder was immer die Viktorianer genommen haben, um high zu werden. So wurde das jedenfalls inszeniert. Stroboskoplicht und Patschuli und jede Menge psychedelische Musik aus den Sechzigern. Grace Slick und Jefferson Airplane, weißt du. Die eine Pille macht dich größer, die andere macht dich kleiner.«
»Grace wer?«, sagte Will.
»Ist doch egal. Ich war vierzehn und hatte noch nie im Leben Drogen genommen. Mal abgesehen davon, hin und wieder am Joint von jemand anderem zu ziehen. Aber ich ließ das weiße Kaninchen so überzeugend durch seinen Amphetaminrausch hoppeln, dass am zweiten Abend ein Drogenberater nach der Vorstellung zu mir kam und praktisch darum bettelte, einen Termin zu machen.«
»Und was willst du damit sagen?«
»Dass vielleicht nur ein Fälscher eine Fälschung erkennen kann.«
|30|Mark McKusick hatte sich das Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen, die Haare gekämmt, seine Kleider in Ordnung gebracht; in seine Wangen war etwas Farbe zurückgekehrt. Er hatte gefragt, ob er sich einen Anwalt nehmen müsse, und die Antwort erhalten, das sei in diesem Stadium vermutlich nicht nötig. Es handele sich um wenig mehr als ein Gespräch, das ein paar Hintergrundinformationen liefern solle, ganz informell. Er tue ihnen einen Gefallen – darauf wies Will ausdrücklich hin – und helfe der Polizei bei ihrer Ermittlung. Wann immer ihm der Sinn danach stehe, könne er aufstehen und gehen.
Aber irgendwie fühlte es sich nicht ganz so an, nicht für McKusick, und das war auch in gewisser Weise beabsichtigt.
»Wie ist es passiert?«, sagte er, sobald Will und Helen den Raum betraten. »Was mit Stephen passiert ist, war es … ich meine, wer immer es getan hat, war der eingebrochen? War es ein Einbruch?«
»Alles zu seiner Zeit«, erwiderte Will.
»Ich möchte Stephen sehen«, sagte McKusick plötzlich. »Ich möchte ihn sehen.«
»Ich fürchte, das ist im Augenblick nicht möglich.«
»Ich habe das Recht …«
»Ich weiß, ich weiß. Aber Sie verstehen doch, wie wichtig es für uns ist … wir müssen Ihnen einige Fragen stellen.«
McKusick atmete langsam aus. »Gut.«
»Nach dem, was Sie gesagt haben, war Ihre Beziehung zu Stephen Bryan von längerer Dauer.«
»Unsere Beziehung? Ich sehe nicht, was das mit der Sache zu tun hat …«
»Bitte beantworten Sie einfach die Frage. Ihre Beziehung war von längerer Dauer?«
»Ja.«
|31|»Ernsthaft?«
»Ja. Aber ich sehe immer noch nicht …?«
»Haben Sie einen Vertrag unterschrieben? Sind Sie eine Lebenspartnerschaft eingegangen?«
»Nein, das nicht.«
»Aber Sie lebten zusammen.«
»Nicht direkt.«
Will lehnte sich zurück.
»Sehen Sie«, sagte McKusick, der es für notwendig hielt, etwas zu erklären. »Wir haben fast unsere gesamte Freizeit miteinander verbracht. Die Abende, Wochenenden, Ferien. Wir haben nur nicht … also, wir haben nicht zusammengelebt, das ist alles.«
»Und Sie waren damit zufrieden?«, fragte Helen.
McKusick war von der Frage überrascht. »Stephen wollte das so.«
»Sie nicht?«
Er sah sie an und zögerte. »Es war nicht meine Entscheidung, nein.«
»Aber Sie haben sie akzeptiert?«
»Ja, natürlich.« Er versuchte zu lächeln, was nicht ganz gelang. »Ein Kompromiss, wissen Sie.«
So ein Schwachsinn, dachte Helen. »Und war das der Grund, aus dem Sie sich getrennt haben?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Nein?«
»Sehen Sie …« McKusick biss sich auf die Unterlippe. »So einfach ist das nie.«
»Also, was ist passiert?«, fragte Will. »Sie hatten einen Streit oder was?«
»Eigentlich nicht, nein.«
»Aber doch eine Art Meinungsverschiedenheit?«
»Wenn Sie so wollen.«
|32|»Knatsch?«
»Ja, vermutlich …«
»Ein Zerwürfnis?«
McKusick schüttelte den Kopf. »Es war nichts Ernstes, wenn Sie das meinen. Meinen Sie das? Es ist so, wie ich schon sagte. Wir haben einfach beschlossen, uns eine Zeitlang weniger oft zu sehen, das ist alles. Eine Art Auszeit.«
»Und das war einvernehmlich?«, fragte Helen.
»Ja.«
»Einvernehmlich«, sagte Helen mit einem leichten Nicken, als spräche sie zu sich selbst.
Beide sahen sie McKusick an und warteten.
»Na ja«, sagte McKusick schließlich, »ich denke, es war eher seine Idee als meine. Er musste so viel unterrichten, mehr als sonst. Seit er in Cambridge war. Mehr Studenten. Neue Kurse. Und dann das Buch, an dem er gearbeitet hat. Das hat auch eine Menge Zeit gekostet. Es war wirklich wichtig, jedenfalls für ihn. Er wollte etwas mehr Raum haben, mehr Zeit. Ich meine, für mich ist es einfach, wenn die Arbeit vorbei ist, ist sie vorbei, verstehen Sie? Das heißt nicht, dass sie mich nicht interessiert, natürlich tut sie das, ich mag meine Arbeit, aber am Ende des Tages … also …« Er machte eine erklärende Geste. »Aber für Stephen ist sie sein Leben. Filme, Schreiben, Unterrichten, das ist alles eins. Da bleibt nicht mehr viel Platz für … na ja, für irgendwas anderes. Für irgendjemand anderen.«
Er schniefte und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als wollte er eine Träne wegwischen, und Will fragte sich, ob auch das Schauspielerei war. Vorausgesetzt, Helen hatte recht, und er hatte ihnen schon zuvor etwas vorgemacht.
»Wie lange waren Sie zusammen?«, fragte Helen und bemühte sich um einen verständnisvollen Tonfall.
|33|»Drei Jahre.«
»Das ist eine lange Zeit«, sagte sie. Länger, als ich es je geschafft habe, dachte sie. Viel länger. »Sie können doch nicht damit zufrieden gewesen sein?«, sagte sie. »Mit dem Arrangement, meine ich.«
McKusick lächelte beinahe. »Wir haben eine Zeitlang versucht zusammenzuleben. Als Stephen noch in Leicester war. Ich fand es gut. Wirklich. Natürlich war es nicht perfekt, nichts ist perfekt, aber Stephen hat gesagt, er könne nicht arbeiten, wenn ich die ganze Zeit da sei. Das war ich gar nicht, aber so schien es ihm.«
»Also zogen Sie wieder aus?«
»Ja.«
»Sie haben damals in Leicester gearbeitet?«, fragte Will.
»Das stimmt.«
»Und als Stephen die Stellung hier bekam, sind Sie ihm gefolgt und mit Sack und Pack umgezogen?«
»Ja.«
»Also wirklich«, sagte Helen, »Sie haben sich ganz schön ins Zeug gelegt.«
»Könnte man sagen.«
»Aber er hat gesagt, wo’s langging.«
McKusick zuckte die Achseln.
»Na, hören Sie mal. Sie haben Ihren Job hingeschmissen und sich eine neue Wohnung gesucht; und dann hat er es sich anders überlegt und gesagt, er wolle sie nicht mehr sehen.«
McKusick schüttelte den Kopf. »So einfach war es nicht.« »Aber genau das ist passiert.«
McKusick antwortete nicht.
»Wenn mir das passieren würde«, sagte Helen, »wenn mich jemand so behandeln würde, wäre ich wirklich stinksauer. Milde gesagt.«
|34|»Und? Was? Ich hab die Fassung verloren und ihm den Kopf eingeschlagen? Wollen Sie das sagen?«
»Haben Sie es getan?«
»Seien Sie nicht albern.«
»Ist das albern?«, fragte Will.
»Natürlich.«
Will klopfte auf den Busch. »Wie kommen Sie denn darauf«, sagte er, »dass Stephen der Kopf eingeschlagen wurde?«
»Ich weiß nicht. Ich weiß doch nicht, was passiert ist. Sie wollen es mir ja nicht sagen.«
»Und trotzdem haben Sie davon gesprochen, dass ihm der Kopf eingeschlagen wurde.«
»Und soll das irgendwas beweisen?«
»Überlegen wir mal«, sagte Will. »Er könnte erstochen worden sein, erschossen, vergiftet, vergast, erdrosselt, an einem Balken aufgehängt, alles mögliche.«
»Gekreuzigt«, schlug Helen leise vor.
»Aber Sie entscheiden sich dafür, dass ihm der Kopf eingeschlagen wurde«, sagte Will. »Ich frage mich, warum?«
Will holte zwei Kaffee aus dem Automaten und trotz der Kälte gingen sie nach draußen, damit Helen eine Zigarette rauchen konnte. Einen Augenblick hatte Mark McKusick überrascht gewirkt, als sie ihm mitteilten, dass er gehen könne, natürlich nach den üblichen Warnungen, nicht umzuziehen und das Land nicht zu verlassen etc. Sie hatten ihm ganz deutlich klargemacht, dass sie ein weiteres Mal mit ihm würden sprechen wollen. Beim Verlassen des Polizeireviers hatte er auf den flachen Stufen nicht nur einmal, sondern zweimal über die Schulter geblickt, als erwartete er, zurückgerufen zu werden.
»Glaubst du immer noch, dass er lügt?«, fragte Will.
|35|»Immer noch lügt?«
»Na gut, dass er uns was vorspielt.«
»Muss nicht ein und dasselbe sein.« »Nein?«
»Nein.« Helen zog kräftig an ihrer Zigarette, inhalierte tief, dann stieß sie mit abgewandtem Kopf langsam eine blaugraue Fahne aus. »Ich will damit sagen, dass sich jemand auf eine bestimmte Art und Weise verhält, weil er denkt, das wird von ihm erwartet, weil er die richtigen Gefühle zeigen will. Das muss nicht heißen, dass die Gefühle unecht sind.«
»Und in diesem Fall? Du glaubst, er will uns für dumm verkaufen?«
Helen zuckte die Achseln. »Er ist schließlich Verkäufer.« Sie ließ ihren Zigarettenstummel auf den Boden fallen, drückte ihn mit der Schuhsohle platt und grinste. »Aber woher soll ich das wissen? Du bist der leitende Ermittler.«