Mark Benecke & Lydia Benecke

Aus der Dunkelkammer
des Bösen

Neue Berichte vom bekanntesten
Kriminalbiologen der Welt

BASTEI ENTERTAINMENT

Inhalt

  1. Einleitung
  2. Kapitel 1 – Hitlers Zähne
  3. Kapitel 2 – In Kopf und Knast bei Getriebenen
  4. Kapitel 3 – Sherlock Holmes reloaded: Auf der Suche nach der psychischen Störung
  5. Kapitel 4 – Pädophilie
  6. Kapitel 5 – Das »Heranzüchten« einer Ehefrau – wie aus Kindesmissbrauch Gefangenschaft wird
  7. Kapitel 6 – Was geht vor in Vergewaltigern und Sexualmördern
  8. Kapitel 7 – Mord im Dachstuhl
  9. Kapitel 8 – Mord unter Nachbarn
  10. Kapitel 9 – Nekrophilie: Lust an Leichen
  11. Kapitel 10 – Übersinnliche Ermittlungen
  12. Kapitel 11 – Zum Schluss: Mord, Lust und Mordlust
  13. Danksagung
  14. Literaturhinweise und Quellen
  15. Register
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Unseren Klienten – egal, ob PolizistInnen, Knackis oder Angehörige eines toten Kindes – gewidmet. Viele von ihnen haben bei der Fallbearbeitung mehr geleistet, als es ihnen irgendjemand jemals zugetraut hätte.
Das ist eindrucksvoll und hält auch uns bei der Stange.

Einleitung

Argh, wie man sich doch irren kann. Nachdem die kleine Trilogie aus den Büchern Mordspuren (kniffelige Fälle und Serienmord, oft aus Sicht der Täter), Mordmethoden (spannende Ermittlungen, meist aus Sicht der Ermittler) und So arbeitet die moderne Kriminalbiologie (biologische Spuren am Tatort) erschienen waren, teilte ich dem Verlag mit, dass ich beim besten Willen keine neuen Themen mehr im Angebot hätte. Auch das Vorschicken der bezaubernden Lektorinnen, eine leckere Dinner-Einladung sowie ein fantastisches Fläschchen Apfelschnaps konnten das nicht ändern.

Das wäre es also gewesen – wenn nicht kurz darauf meine Frau Lydia einen gigantischen Berg Papier vor sich aufgestapelt hätte. Den Inhalt kannte ich: Es war die Akte des Serientäters Luis Alfredo Garavito, der in Kolumbien über dreihundert Jungen zu Tode gefoltert hat. Im Alltag überaus sanft, ja geradezu weichlich, ist mir der in seinen Taten so brutale Mann bis heute vor allem deshalb gut in Erinnerung, weil er bei meinen Besuchen immer die Kaffeetassen vertauschte. Ich kriegte seine, er meine. Immer. Begründung: Sein Kaffee könnte ja vergiftet sein.

Dass ich stürbe, hätte ihm die Gefängnisverwaltung tatsächlich einen Giftcocktail zugedacht, war ihm wurscht. So lernte ich jemanden kennen, der die Gefühle anderer einfach nicht versteht – nicht einmal dann, wenn er sich damit mörderisch unbeliebt macht. Dazu passte auch Garavitos Abschiedsgeschenk an mich: Eine Bibel mit der Widmung: »Gott versteht mich, die Menschen nicht.« Damit hat er vielleicht sogar recht, dachte ich.

»Ist dir eigentlich aufgefallen«, fragte mich Lydia nun, »dass es da einige interessante Tests in der Akte gibt? Du musst sie beim letzten Besuch in Kolumbien durchgeführt haben.«

Nein, das wusste ich nicht mehr. Stattdessen erinnerte ich mich, damals stundenlang vor dem Gefängnis in der glühenden Sonne gesessen und mir dabei meine Füße komplett verbrannt zu haben. Verflucht seien alle Sandalen dieser Welt! Schuld an meinem Fußrückenbrand war eigentlich die Übersetzerin. Sie hatte die Tests morgens mit in den Knast genommen, denn ausgerechnet an diesem Tag musste sie alleine zu unserem Täter: Es war Frauentag, das heißt, nur Frauen durften ins Gefängnis. Ich hatte sie noch angefleht, sich nicht von Garavito umgarnen zu lassen. Acht Stunden und gefühlte zwanzig Flaschen Limo später kam sie wieder. »Er hat so interessant erzählt«, meldete sie fröhlich, »warum hätte ich früher gehen sollen?«

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Die Bildertests hatte ich recht zufällig herausgesucht, weil ich mir einfach nicht erklären konnte, warum der von Grund auf nette Mann Dinge getan hatte, die bereits mit einem Mindestmaß an Einsicht dazu führen müssten, dass man sich – anstatt die Taten zu begehen – entweder einweisen lässt oder von einer Brücke springt. Was war in Garavitos Gehirn so anders, dass er Kindern lebend den Kopf abschnitt, während er andere, gefesselte Kinder dabei zusehen ließ? Wie schaffte er es, sogar im Gefängnis unerkannt zu bleiben und von dort unter falschem Namen beinahe wieder freigelassen zu werden? Wie hatte er das Gericht dazu gebracht, eine Höchststrafe von nur fünfundzwanzig bis vierzig Jahren auszusprechen, wenn selbst der aufgeklärteste Mensch eine lebenslange Sicherheitsverwahrung fordern müsste? Und warum war der örtliche Priester davon überzeugt, dass sein Schäfchen Garavito durch die Taufe zu einem besseren Menschen wurde?

Zwar habe ich auch Psychologie im Nebenfach studiert, aber als herzenstief der Biologie verschriebener Student interessierte mich nicht so sehr die Software des Menschen als dessen harte Verdrahtung mit Nerven- und Sinneszellen. Den Beweggründen eines Serienmörders lässt sich so aber nicht auf die Spur kommen.

Kurz gesagt, der Fall Garavito steckte damals fest. Ich wusste nur absolut nicht, wo. Weil ich im Denken sehr schlicht, im Rumprobieren aber umso größer bin, hatte ich daher einfach den Stapel Tests eingepackt, bei dem die Aufgaben aus simplen Bildern bestehen (siehe Abb. unten). Ich dachte, das würde eventuell die Kommunikation mit Garavito erleichtern. Leider fiel auf das für den Besuch festgelegte Datum der erwähnte Frauentag. Die Auswertung des Tests hatte ich danach offenbar aufgrund meines von Limo erweichten Hirns und der durchaus nagenden Sorge um die beim Besuch des Serientäters verschollene Übersetzerin aus den Augen verloren.

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»Das ist ja lustig«, sagte Lydia mit ihrem Stirnrunzeln, das aus einer ganz anderen Welt kommt. »Hast du dir wirklich nie Gedanken darüber gemacht, dass Psychologen solche Täter begutachten und beschreiben? Und dass dafür dieselben Regeln gelten, die auch ein Naturwissenschaftler anwendet: Vorhersagbarkeit und Nachprüfbarkeit?«

Nein, hatte ich nicht. Wer Sperma, Blut, Drogen und Insekten einsammelt und ordentlich beschriftet, macht sich eben keine Gedanken um vermurkste Lebensläufe. Das sollte sich ändern.

Wir durchforsteten fortan Zeitungen, Artikel und meine eigenen Fälle nach den »missing links«, also den seelischen Beschreibungen der Täter. Das machte so viel Spaß, dass ich sogar einige meiner Vorträge entsprechend umbaute. Ergebnis war, dass wir ganz neue Nachfragen aus dem Publikum erhielten – von Opfern, Tätern, Angehörigen und Informanten. Es war überwältigend. Die Vorgänge, wie sie in der modernen forensischen Seelenkunde erforscht werden, waren großteils unbekannt. Nicht nur mir, sondern auch den meisten Zuschauern.

Deshalb haben wir einige der spannendsten Fälle hier aufgeschrieben. Die psychologischen Teile des Buches stammen von Lydia, das Übrige von mir. Dass der Stil dabei ein wenig wechselt, ist gewollt. Genau so reden wir mit den Klienten – jeder ein bisschen anders und mit verschiedenen Schwerpunkten und Sichtweisen, aber dennoch als Team, das hinterher alles zu einem hoffentlich stimmigen Gesamtbild zusammenfügt. Deswegen haben wir auch kleine Zusatztexte eingebaut, in denen Sie neben Gesprächen mit einigen unserer Informanten auch am Wegesrand unserer Forschungen liegende Blüten und Kräuter finden.

Dieses Buch war übrigens eine Höllenarbeit, für die wir vieles hintenanstellten. Bücher scheiben ist keine romantische Tändelei für nette Abendstunden … erst recht nicht, wenn es um vermurkste Verbrechen und noch vermurkstere Verbrecher geht. Es hatte aber zwei hübsche Vorteile. Erstens ärgere ich mich nicht mehr über Taten, die meiner Meinung nach eigentlich nie hätten passieren dürfen, denn in den meisten Fällen habe ich jetzt verstanden, warum es so kam, wie es kam. Schön war diese Einsicht nicht. Aber, wie der Kölner sagt: »Et is, wie et is.« Zudem: Was man versteht, lässt sich vielleicht auch ändern. Das gilt auch für Erkeimendes in der Dunkelkammer des Bösen.

Zweitens geht unsere kriminalistische Buchserie nun also doch mit einem neuen Blickwinkel weiter, den Sie so garantiert nirgendwo aufbereitet finden. Wir schließen Türen auf, von denen selbst ich nichts geahnt hätte, wenn mich meine Frau nicht zu psychologischen Kongressen und schmutzigen Gerichtsverhandlungen geschleppt sowie allerhand neue Forschungsarbeiten ausgegraben hätte, die Sigmund Freud prähistorisch aussehen lassen.

Außerdem muss ich unserem stets neugierigen Publikum bei öffentlichen Veranstaltungen danken. Ihre Nachfragen sind es, die uns immer wieder darüber nachdenken lassen, ob ein Fall wirklich so abgelaufen sein kann, wie es »alle« meinen. Ergebnis davon ist beispielsweise der Baukasten für Straftäterseelen, den Lydia Ihnen hier vorstellt.

So entstand eine Sammlung von Kriminalfällen, die wir nicht nur spannend finden, sondern die teils nicht nur das Leben der Betroffenen, sondern auch das unsere verändert haben. Wer sich eher für technische Einzelheiten der Fälle interessiert, surft einfach die kostenlose und werbefreie Webseite »benecke.com« an, wo auch Spezialartikel ohne Registrierung und Schnickschnack gratis aufrufbar sind. Muss aber nicht sein – Sie halten ja das deutlich unterhaltsamere Buch in Händen.

Also: Viel Spaß beim Lesen.

Mark Benecke

Köln, im Mai 2011

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Es war unglaublich kalt. So kalt, dass mir zum ersten Mal im Leben der Schädelknochen einzufrieren drohte, mir die Ohren fast abfielen und ich mir nichts dringender herbeisehnte als eine winddichte Mütze mit möglichst großen Schlappohren. Egal, wie doof die aussehen würde.

Wir standen am Roten Platz, am Hintereingang des Kreml. Ein sehr netter, aber etwas zauseliger Mann in hellblauer Polyesterfluffjacke – von unserem »Fixer« (von engl. »to fix«: etwas richten) zweifellos großzügig bestochen – begrüßte uns und führte uns in die Kellerräume. Ich staunte: Alles, wirklich jede Ecke und jeder Winkel, stand voller Lenin-Nippes. Große und kleine Büsten – teils verhüllt, damit der Staub der Zeit sie nicht zerfressen möge, teils aber auch wie soeben erst aufgestellt – duckten sich in gedeckten Farben unter endlose Regalreihen und Kellerdecken (siehe Abb. unten).

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Ein Schrank kam mir besonders seltsam vor. Er war als einziger versiegelt, allerdings nur mit einer billigen Schnur. Dieses Siegel hätte ich sogar mit meinem Taschenmesser vorsichtig lösen und dann wieder ankleben können. Es interessierte aber offenbar eh niemanden. Auf die Frage, was in diesem Schrank »versiegelt« sei, bekam ich die Antwort: »Das sind Stalins persönliche Gegenstände  …  seine Pfeife und so was.« Der zumindest für meine Augen laxe Umgang mit solchen sonst oft in Staatsmuseen ausgestellten Dingen verwirrte mich. War nicht sogar Helmut Kohls Strickjacke ein bewundertes Ausstellungsstück im Bonner Haus der Geschichte? Gehörten da die persönlichen Gegenstände von zumindest nach außen hin maßlos übersteigert verehrten Führungsgestalten nicht auch entweder in eine Hochsicherheitskammer oder hinter Panzerglas?

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Doch wohin wir auch kamen, es war überall das Gleiche: Der Eingang des Staatsarchivs wurde von einem vielleicht siebzehnjährigen Soldaten bewacht, und in der Geheimdienstzentrale hingen keine Gemälde an der Wand, sondern die – allerdings sehr hübschen – Deckel von Pralinenschachteln. Auch das Rauchverbot im KGB war nicht ganz ernst zu nehmen: Das Schild hing falsch herum, sodass der Qualm nach unten zog. Ich steckte mir also erstmal eine Pfeife an (meine eigene, nicht die von Stalin) und überlegte.

Das Ziel unserer Tour durch Moskau war es, Dinge zusammenzutragen, die noch nie zuvor und auch später nie wieder ein Forscher so detailliert untersuchen durfte. Dazu gehörten neben einem Schädelstück aus dem Hof des Führerbunkers vor allem die angeblichen Zähne Hitlers. Uns wurden aber auch eine Art Entgiftungsbox, die Pistolen von Goebbels und Hitler, die Lehne des Sofas, auf dem sich die Hitlers erschossen hatten, und – für mich am interessantesten – die handschriftlichen Originalerinnerungen einiger Personen aus dem Führerbunker vorgelegt. All das war in mehreren Instituten verstreut. Die wenigen Kollegen, die Zugang zu den Beweisstücken hatten, durften oft nur alte Schwarz-Weiß-Fotos ansehen oder ohne Kamera einen raschen Blick auf die Gegenstände werfen. Selbst der KGB-Agent, der mir half, kannte nur die Gegenstände aus seiner Behörde, nichts anderes.

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Im Laufe der Jahre kamen noch weitere spannende Fundstücke hinzu, beispielsweise die Röntgenbilder von Hitlers Kopf, als er noch lebte. Das alles geschah auf teils sehr abenteuerlichen Wegen, wie ich gleich berichten werde. Wer sich mit Hitler einlässt, und sei es nur mit seinen Überresten, braucht neben starken Nerven auch reichlich Widerstandskraft gegen Verfolgungswahn.

Ein Schädel ohne Zähne

Doch zurück zum eiskalten, spiegelglatten Roten Platz. Nachdem das Team von National Geographic dort mit mir den Keller voller Lenin-Figuren angeschaut und gelernt hatte, dass hier einiges anders aufbewahrt wird als erwartet, gelangten wir zum Lenin-Mausoleum. Ich war mir nicht ganz sicher, was das mit Hitler zu tun haben sollte, ließ mich aber überraschen. Und wirklich – der Präparator von Lenins Leiche, mit dem wir am Vorabend gesprochen hatten, berichtete nun von seinem gefährlichen Job. Je nachdem, welcher politische Wind gerade wehte, war es mal besser und mal schlechter gewesen, die Leiche des eigentlich verehrten Staatslenkers zu pflegen. Auch hier lernte ich also etwas: Nämlich dass politische Strömungen keineswegs so nachvollziehbar verlaufen, wie ich mir das als Biologe mit einem guten Schuss Naivität vorgestellt hatte. Dass dieses Alarmlicht (»Achtung, es könnte alles anders sein, als es scheint«) nun auch für mögliche Hintergründe unserer Schädeltour angeschaltet war, half mir bei unserer nächsten Station, dem Staatsarchiv.

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Das Merkwürdige dort war nämlich, dass es sich um eine nichtgeheimdienstliche Organisation handelt. Warum also sollte Hitlers Schädel dort liegen? Schließlich hatte der militärische Geheimdienst Smersch (Смерш) die beiden verkohlten Hitlers (Adolf und Eva) aus ihrem flachen Erdloch ausgebuddelt. Hierzulande ist der Smersch höchstens aus den James-Bond-Romanen Casino Royale, Leben und sterben lassen und Goldfinger bekannt – Bond hat dort eine Rechnung mit dem Smersch offen, weil ihm Agent »Le Chiffre« alias »Die Nummer« das russische Zeichen »Sha« (ш) für »Spion« in die linke Hand schnitt. In den Filmen heißt die Einheit allerdings nicht Smersch, sondern »S.P.E.C.T.R.E.«. Der geheime Dienst war aber trotz dieser scheinbar harmlosen Romanverwurstung gewiss nicht so leutselig, Beweisstücke ans öffentlich zugängliche Staatsarchiv durchzureichen. Wenn schon das bloße Erhalten von Lenins Leiche den Präparator mehrfach fast vor ein Erschießungskommando gebracht hätte, was würde dann wohl mit Smersch-Agenten passieren, die ein solch bedeutendes Beweisstück einfach an die Öffentlichkeit auslagern?

Wie gut, dass wir einen Historiker im Team hatten. Wer dieser Mann wirklich war, habe ich erst später erfahren … für mich war er zunächst einmal der einzige Historiker, den ich überhaupt kenne. Tatsächlich ist Gerhard Weinberg derjenige Mann, der nicht nur Hitlers angebliche Tagebücher untersuchte, sondern der auch die vielleicht beste Gesamtschau des Zweiten Weltkrieges geschrieben hat (A World at Arms, dt. Eine Welt in Waffen, Stuttgart 1995). Beim Abendessen erzählte mir Weinberg zwei Dinge, die dank meines nun aktivierten Nichts-Ist-Wie-Du-Denkst-Spinnensinns sogar zu mir durchdrangen:

Erstens: Stalin wollte Hitler, um es propagandamäßig ausschlachten zu können, unbedingt als weinerliches Weichei sterben lassen, das sich – O-Ton – »wie ein Weib« vergiftet und nicht wie ein Offizier erschossen hatte.

Zweitens: Hitler hatte fürchterliche Angst davor, als Lebender oder als Leiche durch Moskau gezerrt zu werden. Vielleicht hatte er dabei Bilder von römischen Feldherren vor Augen, die besiegte Führer in der Tat so vorführten. Das war auch der Grund, warum Hitler befahl, seine Leiche zu verbrennen.

Konnte es sein, dass der Geheimdienst die ewigen Lügen Stalins hintertreiben wollte? Denn der Kremlchef wollte angeblich weder wissen, ob sein verhasster Gegner Hitler überhaupt tot sei, noch, wohin er im Falle des Überlebens verschwunden sein könnte. Selbst der Befreier Berlins, Marschall Georgij Schukow (Žukov) musste auf Geheiß Stalins im Juni 1945 Journalisten in Berlin mitteilen: »Wir haben keinen Leichnam gefunden, der als Hitler identifiziert werden konnte. Er mag im letzten Augenblick mit einem Flugzeug entkommen sein.«

Auch Stalin selbst erzählte auf der Potsdamer Konferenz amerikanischen Lunchgästen einen Monat später, Hitler sei noch am Leben und habe sich möglicherweise nach Spanien oder Argentinien abgesetzt. (Dort soll er nach Meinung von Verschwörungstheoretikern im Jahr 1985 im Alter von sechsundneunzig Jahren gestorben sein.) Durch diese Propagandalüge Stalins entstanden die noch heute umlaufenden Gerüchte, Hitler sei in Japan, Skandinavien, Argentinien oder auf dem Mond anzutreffen.

Stalin blieb bei seiner hirnverbrannten Darstellung – hirnverbrannt deshalb, weil seine Diplomaten und Agenten durch die Geschichte in schwere Bedrängnis kamen. Kurz zuvor hatten sie nämlich noch die Version vertreten müssen, dass der tote Hitler gefunden worden sei. Man druckte sogar das Foto einer unverbrannten »Hitlerleiche« und produzierte ein Filmchen davon. Beides musste nun wieder zurückgezogen werden. Das war eine der ganz wenigen Propagandaaussagen Stalins, die er rückgängig machte und durch eine neue Story ersetzte. Was allerdings vollkommen sinnlos war. Denn alle Überlebenden aus dem Führerbunker – zuletzt lebten dort noch etwa zweihundert Menschen – hatten getrennt voneinander und vor verschiedenen Mächten und in allen Details übereinstimmend berichtet, Hitler habe sich erschossen und seine Leiche sei vor dem Führerbunker verbrannt worden. Stalin wusste also genau, wo Hitler war, wie seine Leiche aussah und, damit einhergehend, dass er tot war (siehe Box: Hitlers Grab, S. 51). Auch alle internationalen Zeitungen berichteten von Hitlers Tod, und schon am 1. Mai 1945 hatten Stalins Truppen aus Berlin Hitlers Tod gemeldet. Das berichteten mir übereinstimmend sowohl die Übersetzerin von General Schukow, als auch Lew Bezymenskij, Dolmetscher und Aufklärungsoffizier (also Agent) ebenfalls für Schukow. Die Nachricht an Stalins Sekretär lautete:

»Genosse Stalin. Bei einem Posten der 8. Gardearmee meldete sich der Chef des Generalstabs der Infanterie, General Kreps (gemeint ist Hans Krebs, letzter Generalstabschef des Heeres; er suizidierte sich wenig später im Führerbunker, nachdem Stalin keine Verhandlungen, sondern nur die Kapitulation annehmen wollte, M.B.), der Folgendes berichtete: Am 30. April um 15.50 Uhr Berliner Zeit setzte Hitler durch Selbstmord seinem Leben ein Ende.«

Schukow berichtete später, dass Stalin auf diesen Anruf geantwortet habe: »Hat der Lump ausgespielt! Schade, dass wir ihn nicht lebend erwischt haben.«

Das sowjetische Propagandachaos wurde also immer größer und lächerlicher. Dennoch widersprach niemand aus der Sowjetunion der Darstellung, dass Hitler angeblich geflohen sei. Stalin war bekannt dafür, Menschen anderer Meinung rasch ermorden zu lassen – Hunderttausende solcher Auftragsmorde sind bekannt.

Kein Wunder, dass sogar das erste Buch über Hitlers Tod aus der Sowjetunion nur unter der Bedingung erscheinen durfte, dass ausdrücklich auf einen Bittermandelgeruch und Glassplitter von einer Giftampulle zwischen Hitlers Zähnen hingewiesen wurde. Diese Darstellung folgte dem damals unveröffentlichten Sektionsbericht vom 8. Mai 1945 aus dem Leichenschauhaus der Kliniken in Berlin-Buch. Darin hatte Rechtsmediziner Faust Schkarawski (den schicken Vornamen erhielt er, weil sein Vater Goethe-Liebhaber war) zusammen mit dem Chefanatom der Roten Armee, N. A. Krajewski, festgestellt:

»Das Vorhandensein der Überreste einer zerdrückten Glasampulle in der Mundhöhle (…) der ausgeprägte Bittermandelgeruch (…) und die gerichtschemische Untersuchung der inneren Organe, wobei Zyanverbindungen festgestellt wurden, (…) gestatten der Kommission, den Schluss zu ziehen, daß der Tod in diesem Fall durch Vergiftung mit Zyanverbindungen verursacht wurde.«

Autor des Buches, in dem der Obduktionsbericht dann 1968 erstmals erschien, war Lew Bezymenskij. Er bezog sich wegen der vom KGB vorgegebenen Linie nur auf die Giftpassage des Sektionsberichtes, nicht aber auf eine mögliche Ausschussöffnung im Schädel. Als ich im Jahr 2001 mit ihm sprach, regte ihn die ganze Sache noch so auf, dass er fast ohnmächtig wurde und wir das Interview unterbrechen mussten. Im Jahr 2007 starb er. Er lebte zuletzt in einer mit Büchern randvoll gestellten Wohnung in einem überheizten Moskauer Wohnblock. Die Heizungstemperatur war nur zu regeln, indem man die Fenster öffnete oder schloss. Es war eine unwirkliche Welt.

Ob die Glassplitter tatsächlich im Mund von Hitlers Leiche lagen oder nicht, wollte Bezymenskij selbst am Ende seines Lebens nicht endgültig entscheiden. Er hielt die Geschichte mit der Giftampulle aber für eher korrekt und erzählte mir, dass der Kopfschuss seiner Meinung nach aus politischen Gründen unter den Tisch fallen musste. Diese Aussage – dass Hitler durch einen Schuss starb – deckt sich nicht nur mit den Berichten aller Zeugen aus dem Führerbunker, sondern vor allem auch mit der Schilderung Johann Rattenhubers, dem Leiter des »Kommandos zum Schutz des Führers«. Er berichtete allerdings seltsamerweise, dass Hitler sich nicht selbst erschossen habe, sondern dies seinen persönlichen Adjutanten bzw. Diener Otto Günsche habe erledigen lassen. Ich bin mir da nicht so sicher, denn die Schussrichtung, eher von unten als von der Seite, ist für eine Erschießung durch andere sehr ungewöhnlich.

Aber Bezymenskij hatte dieselbe Erfahrung gemacht wie ich: Wo Agenten ihre Finger im Spiel haben, wird das Forschen schwierig – nur war es in seinem Fall auch lebensgefährlich. Er hielt sich in seinem Buch an das, was ihm vorgelegt und angeraten wurde.

Für mich ergab sich aus der Zusammenfassung aller Gespräche, Akten und Erinnerungen, dass Hitler sich vergiftet und erschossen hat. Solch ein merkwürdiger Doppel-Freitod ist technisch problemlos möglich, weil Zyankali erst nach einer halben Minute oder – je nach Menge – auch noch später zum Tod führt. So bleibt genug Zeit, um noch eine Pistole abzudrücken.

Eigentlich konnten sich die Hitlers sicher sein, dass das Gift wirken würde, denn sie hatten kurz vorher die Wirkung an Hitlers geliebter Schäferhündin Blondi und ihrem Sohn Wolf ausprobiert. Die beiden Tiere starben am Gift. Doch wer konnte schon wissen, ob bei Hitlers Kapsel nicht ein Herstellungsfehler aufgetreten war? Oder ob das Gift bei einem schwereren Körper als dem eines Hundes genauso schnell wirkte? So fiel wohl der Entschluss, dass nur Gift plus einem Schuss – der alleine mit viel Pech ebenfalls nicht hundertprozentig zum Tod führen musste – den gewünschten sicheren und schnellen Tod bewirken würden. Die Rechnung ging auf und Hitler starb.

Archivwechsel

Während wir das Schädelstück also mithilfe der Abteilungsleiterin herauskramten, fragte ich mich, ob irgendjemand mit schwindender Macht Stalins ein Informationsleck schaffen wollte. Denn eine Austrittsöffnung an Hitlers Schädel würde jedem klarmachen, dass er sich auf jeden Fall erschossen hatte. Damit wäre das Thema der »weibischen« Vergiftung vom Tisch gewesen.

»Wie also«, fragte ich die Archivarin, »sind Sie eigentlich auf das Schädelstück gestoßen?« »Ganz einfach«, sagte sie. »Eines Tages kamen hier KGB-Agenten mit einer Bibliotheks-Kiste vorbei. Auf der stand deutlich lesbar ›Operation Mythos‹. Da wir mit geheimdienstlichen Dingen immer vorsichtig waren, haben wir die Kiste einfach in eine Ecke gestellt. Dort stand sie dann erst einmal herum.«

Diese Geschichte, so eigentümlich sie sich auch anhören mag, konnte ich gut nachvollziehen. Denn dass man in den chaotischen, vernachlässigten Krimskrams-Bergen des Archivs eine suspekte Kiste leicht verschwinden und von der auch sonst dort herrschenden Staubschicht bedecken lassen konnte, das konnte ich vor Ort gut erkennen.

Auch der frühere Direktor des Staatsarchivs, Sergei Mironenko, kennt das: »Ganz reibungslos geht es hier wirklich nicht vonstatten. Alleine im Jahr 1993 wurden uns beispielsweise dreihunderttausend Aktenordner übergeben. Für die KGB-Archive ist die Zusammenarbeit auch nicht ganz einfach. Boris Jelzin hatte deren Neuordnung befohlen, aber manche der örtlichen KGB-Dienststellen tun sich mit der Übersendung ihrer Unterlagen an uns schwer. Der zentrale Apparat ist behäbig. Immerhin gibt es aber schon einen Leseraum im Zentralarchiv des Ministeriums für Sicherheit. Das Ganze ist noch nicht vollständig gelöst, aber wir haben einen Anfang gemacht.« Es gab sogar eine Fernsehserie über – so der Titel der Show – Archivmysterien des Staatsarchivs. Sie lief in den Jahren 2000 und 2001 auf dem staatlichen russischen Sender RTR.

Der filmreife Codename Operation Mythos« ist also gar nicht so verrückt. Wer zudem hin und wieder mit Schlapphüten – so unsere interne Bezeichnung für Agenten aller Art – zu tun hat, kennt die bei ihnen manchmal herrschende Vorliebe für betont unauffällige oder geheimnisvolle Tarnnamen und Vorgangsbezeichnungen. Bis hierhin konnte die Geschichte von der mythischen Operation also stimmen. Die Frage war allerdings, ob in guter alter Agentenmanier nicht eine weitere, tiefere Täuschung und Lüge dahintersteckte.

»Einige Jahre später«, erzählte die Archivarin weiter, »öffneten wir die bis dahin herumstehende Kiste endlich. Darin lag ein Knochenstück und ein Zettel, auf dem stand: ›Stammt von Hitler‹. Für uns war das nicht sonderlich spannend. Das einzige Mal, dass sich jemand dafür interessiert hat, war bei einer Ausstellung in Moskau, auf der wir das Fragment zeigten. Wenn Sie wollen, könnten Sie es nach Deutschland mitnehmen und dort ausstellen. Was meinen Sie dazu?«

Ich biss mir auf die Lippe, weil ich nicht lachen wollte – eine Ausstellung mit dem Schädel Hitlers in Deutschland, das wäre vermutlich wirklich ein Erfolg. Fragte sich nur, welche Zuschauer diese Show anziehen würde …

Mittlerweile stand das Schädelstück vor mir. Es lag, fein gebettet auf einige Taschentücher und ein Stückchen dünnen Schaumstoffs, in einer antiken Diskettenbox.

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Das Erste, was mich am Schädel wunderte, war die wirklich deutlich erkennbare Ausschussöffnung. Beim Ausschuss bildet sich fast immer ein Trichter im Knochen – aber auf der Außenseite, also der Seite, aus der das Projektil zuletzt ausgetreten ist. Das leuchtet zunächst nicht ein, ist aber eine Tatsache, die auf fast alle Schädeldurchschüsse zutrifft. Hier gab es nichts zu diskutieren: Diese Person war mit großer Sicherheit erschossen worden.

Es fragte sich nur, ob diese Person Hitler war. Diese Frage wurde kürzlich noch einmal spannend, als die DNA desselben Schädels getestet wurde und angeblich von einer Frau stammte. Der Vizechef der russischen Staatsarchive, Wladimir Koslow, meldete daraufhin, das Schädelfragment sei sowieso bloß als »vermutlich zu Hitler gehörend« eingestuft worden und eh erst ein Jahr nach Hitlers Tod gefunden worden. Doch diese Informationen lagen uns damals noch nicht vor. Ich puzzelte also das, was ich wusste, zusammen:

Wir näherten uns dem Ziel.

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Allerdings wurde der überaus entspannte Umgang mit den Spuren zum Problem. Zwar konnten wir im Archiv so ziemlich alles machen, was wir wollten, doch fielen mir zur Prüfung der Frage, ob der Schädel nun echt sei oder nicht, nur drei Möglichkeiten ein: Entweder wir gewönnen Erbsubstanz daraus und verglichen sie mit Gewebe, das auf jeden Fall von Hitler stammte. Oder wir glaubten die Agentengeschichte. Oder wir fragten jemanden, der dabei war.

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Die letzte Option stellte sich als fruchtlos heraus. Zwar sprach ich einige Agenten an, die meinten jedoch allesamt, dass ich doch der Wissenschaftler sei, nicht sie. Von den Smersch-Leuten konnten wir niemanden mehr auftreiben, und die KGB (heute FSB)-Agenten waren selber ratlos. Kein Wunder: Das Schädelstück hatten sie noch nie gesehen. Es lag ja im Staatsarchiv.

Möglichkeit zwei wäre, wie gesagt, gewesen, die Geschichte einfach zu glauben. Das wäre mir in diesem Fall gar nicht so schwer gefallen, denn es ging ja nicht um eine Gerichtsverhandlung, sondern eher um ein eichhörnchenhaftes Zusammentragen von Informationen, die wir erst später sortieren wollten.

Doch was war mit der DNA? Wie sich zeigte, war diese normalerweise bombensichere Lösung die schwierigste, und wir ärgern uns bis heute damit herum. Warum, das erfahren Sie im folgenden Abschnitt.

DNA hilft … nicht immer

Neben normalen Fingerabdrücken, die schon seit 1904 in Deutschland verwendet werden, sind genetische »Fingerabdrücke« – seit etwa 1990 – die wichtigsten spurenkundlichen Ermittlungshilfen. Dabei wird die Erbsubstanz vom Fundort in einen Strichcode verwandelt, der für jeden Menschen einmalig ist. Einzige Ausnahme sind eineiige Zwillinge, die denselben forensischen Strichcode haben. Das spielt hier aber keine Rolle, weil Hitler keinen eineiigen Zwilling hatte.

Es wäre also problemlos möglich, die DNA aus dem zweifelhaften Hitlerschädel mit einer anderen, sicher von ihm stammenden Probe zu vergleichen, beispielsweise einer Zahnbürste, an der Erbsubstanz haftet, oder einer Briefmarke, die Hitler abgeleckt hat, oder einem Haar von seinem Kopfkissen. Sogar eine Mütze, die er getragen hat, würde genügen, um daraus einige Zellen auszuschütteln oder einen Fleck auszuschneiden, der durch Schweiß oder Blut entstanden ist. Fast immer sind in diesen Flüssigkeiten Hautzellen mit genügend DNA enthalten; bei Blut wäre das Problem am geringsten, da selbst im kleinsten Tropfen noch Hunderte weißer Blutzellen schwimmen. Diese trocknen dann auf der Unterlage, was der Erbsubstanz meist nicht schadet. Und bereits eine Zelle würde genügen …

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Leider hatte Hitler aber eine Marotte. Er wollte seine Erbsubstanz um keinen Preis irgendwo hinterlassen und tat dies auch nicht. Nicht eine einzige Locke klebt in einem Tagebuch, keine Träne wurde aufgefangen, keine von ihm angeleckte Briefmarke ist bekannt. Selbst eine Zahnbürste oder ähnliche Gegenstände wurden nicht aufgefunden – zumindest habe ich nichts dergleichen beim KGB gesehen und bis heute auch nichts darüber gelesen.

Normalerweise ist das Fehlen solcher Überreste überhaupt kein Problem, denn die Erbsubstanz heißt ja so, weil sie vererbt wird, also in den Nachkommen eines Menschen in ähnlicher, berechenbarer Form vorliegt. Doch Kinder wollte der Führer nicht. Seiner Sekretärin Traudl Junge sagte er:

»Ich wäre kein guter Familienvater, und ich halte es für verantwortungslos, eine Familie zu gründen, wenn ich mich meiner Frau nicht in genügendem Maße widmen kann. Außerdem möchte ich keine eigenen Kinder. Ich finde, die Nachkommen von Genies haben es meist sehr schwer in der Welt. Man erwartet von ihnen das gleiche Format wie das des berühmten Vorfahren und verzeiht ihnen den Durchschnitt nicht. Außerdem werden es meistens Kretins.«

Andere Verwandte Hitlers waren bis zum Jahr 2010 nicht aufzutreiben. Selbst die Grabstätten seiner Eltern und seiner Schwester sind nicht auffindbar. Von seiner übrigen Familie hatte sich Hitler ganz aktiv entfernt. Er wollte auf keinen Fall mit irgendwelchen Familienangehörigen zu tun haben; selbst seine schizophrene Großcousine Aloisia Hitler rettete er nicht, als sie 1940 im Rahmen der Tötung »geistig behinderter« Menschen vergast wurde. Als DNA-Vergleichsquelle kämen daher einzig sein zunächst in England, später dann in den Vereinigten Staaten lebender Halbneffe William Patrick und dessen Nachkommen infrage.

Allerdings konnte Hitler seinen Halbneffen nicht leiden. Der hatte nämlich versucht, sich einen Job oder, besser noch, Geld direkt beim Führer zu besorgen – andernfalls wolle er Familiengeheimnisse ausplaudern. Damit verhob sich der britische Neffe natürlich gewaltig. Bald kehrte Patrick wieder in seine Heimat zurück. Mit dem kleinen Job, den Hitler ihm in der Tat verschafft hatte, war er nicht zufrieden. Die Leiche Patricks – und damit die DNA aus seinen Knochen – wäre bis heute verfügbar, da er erst 1987 starb. Das Grab auf Long Island lautet zwar auf den Namen »Stuart-Houston«, die wahre Identität der Leiche ist aber durch Recherchen der New York Times und der Süddeutschen Zeitung mittlerweile bekannt.

Da Patrick Hitler/Stuart-Houston nach dem Krieg ein Labor für Blutuntersuchungen betrieb, könnte es sein, dass irgendwo noch eine Probe seines eigenen Blutes schlummert. Danach muss man aber seit Neuestem gar nicht mehr suchen. Denn im Jahr 2010 haben der Journalist Jean-Paul Mulders und der Historiker Marc Vermeeren neununddreißig entfernte Verwandte Hitlers aus Europa, den USA und Australien aufgetan. DNA-Proben lieferten diese Probanden allerdings nicht immer ganz freiwillig: So warf der Urenkel von Hitlers Vater Alois an einem Drive-in-Restaurant eine Serviette weg, die dann einfach als Spurenträger stibitzt wurde.

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Diese verwandtschaftlich etwas entferntere, durch Heiraten vermischte DNA ist trotzdem nützlich. Es gibt nämlich einen Teil der Erbsubstanz, der sich im Laufe der Generationen nicht ausdünnt und verändert, sondern auch in den Nachkommen immer gleich bleibt.

Dieser unveränderliche Teil der Erbsubstanz liegt auf dem Y-Chromosom, das nur Männer in sich tragen: Das Y-Chromosom wird in der männlichen Linie unverändert weitergegeben. Es ist also egal, ob man DNA aus Hitlers mutmaßlichem Schädel mit der DNA seines Neffen, seines Großvaters oder seines – hier nicht vorhandenen – Kindes vergleicht. Sogar die DNA des Groß-Halb-Neffen würde genügen, solange die Väter aus derselben Erblinie stammen.

Der Teufel steckt in einem ganz anderen Detail. Es fehlte jetzt nämlich an guter Original-DNA aus dem Schädel. Grund dafür war, dass niemand mit einem sterilen Bohrer unter guten, forensischen Laborbedingungen Knochenmehl aus dem Schädel gewonnen hatte. Das war das Einzige, was unser Bestechungsgeld nicht kaufen konnte  …  und ehrlich gesagt hatte ich – da damals noch die Vergleichs-DNA der Verwandten fehlte – auch keinen Bohrer eingepackt.

Diese Nachlässigkeit wurde 2009 von meinem Kollegen Nick Bellantoni ausgebügelt. Er bohrte nicht, sondern besorgte sich eins der abbröckelnden Stückchen des angekokelten Schädels. Zudem machte er mit Wattetupfern Abriebe. »Mir war dabei von vorneherein klar«, berichtet er, »dass da etwas nicht stimmen kann. Der Schädel war verdächtig dünn. Schädelknochen von Männern sind in der Regel dicker. Außerdem sahen die Verwachsungen der Schädelnähte eher aus, als ob sie von einem Menschen unter vierzig Jahren stammen.«

Die Knochenproben brachte er der Genetikerin Linda Strausbaugh, die ihr Labor in Connecticut daraufhin erst einmal für drei Tage dichtmachte. »Wir haben das ganz gründlich gemacht«, berichtet sie, »mit Kontrollen und allem Drum und Dran, wie in einem forensischen Labor.« Ergebnis: Die DNA stammte »unanfechtbar« von einer Frau. Da Eva Hitler im Alter von dreiunddreißig Jahren starb und ihre Leiche nahe an der Hitlers lag, könnte es sich also um den Schädel von Hitlers Gattin handeln. Oder aber um eine ganz andere Person – vielleicht ist es auch eine sowjetische Fälschung.

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Doch eines haben wir herausbekommen, und das ist fast zum Lachen: Als Jean-Paul Mulders und Marc Vermeeren sich 2010 mit viel Mühe und einigen Tricks die DNA von Hitlers Verwandten besorgten, stellten sie dabei auch einen Teil der Erbsubstanz sicher, der Informationen zur ethnischen Herkunft trägt.

In dieser Erbsubstanz lag die sogenannte Haplogruppe E1b1b. Sie ist in Westeuropa selten. Am häufigsten findet man sie unter Äthiopiern, Somali, Einwohnern Eritreas und bei nordafrikanischen Berbern, beispielsweise in Marokko, und bei Arabern. Sie ist dort teils so häufig, dass sie als typisches genetisches Merkmal dieser Menschen gilt. Sie alle haben eine deutlich erkennbare Hautbräunung. Aber auch unter sephardischen Juden aus Marokko, Spanien und Portugal findet man dieses DNA-Merkmal häufiger und regelmäßiger als im restlichen Europa. Die Haplogruppe kommt auch sehr oft im Nahen Osten vor, von wo aus sie sich über den Balkan nach Europa verbreitete. Das heißt nichts anderes, als dass die Familie der Hitlers, Hüttlers und Stuart-Houstons entfernte, aber dennoch deutliche nordafrikanische oder nahöstliche Wurzeln hat. Und das ist, angesichts des schäumenden Hasses der damaligen und heutigen Nazis gegen andere »Völker«, »Rassen«, Hautfarben und überhaupt alles ihnen Fremde schon wirklich komisch.

Das DNA-Phantom

Kaum hatte das Team berichtet, dass der Schädel von einer Frau stammen musste, begann mein Handy permanent zu klingeln. »Waren Sie nicht damals und gerade erst wieder in Moskau und haben sich alles angesehen?«, fragten JournalistInnen aus vielen Ländern. Ich war verblüfft und dachte noch einmal gründlich nach (was, wie Sie noch öfters sehen werden, nicht meine Stärke ist). Sogar der Leiter des Staatsarchivs der Russischen Föderation Sergei Mironenko hatte als Kommentar zur Moskauer Ausstellung »Der Untergang des Dritten Reiches« im Jahr 2000 klar und deutlich festgestellt, dass es sich »bei den hier ausgestellten Knochen nicht einfach um irgendwelche Teile handelt, die auf der Straße herumlagen, sondern um ein Knochenstück, das in der Grube lag, in der Hitler begraben wurde«.

Sollte er gelogen haben? Warum? Dass der Führer längst tot war, war vollkommen klar, und auf ein Ausstellungsstück mehr oder weniger kam es auch nicht an. Selbst wenn das Schädelstück mit einem Hinweis auf vorsichtige Zweifel ausgestellt worden wäre, hätte das der eindrucksvollen Eigenschaft des Objekts aus den Führerbunkergräbern keinen Abbruch getan. Wusste Mironenko es nicht besser? Bildete er sich etwas ein, das er sich wünschte, aber nicht beweisen konnte?

»Ist doch egal«, erwiderte Kollege Bellantoni, »wir haben im Labor bewiesen, dass das Schädelstück von einer Frau stammt, die bei ihrem Tod zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt war. Ich glaube nicht, dass es sich dabei um Eva Brauns Schädel handelt, denn sie hat sich vergiftet, nicht erschossen. Das Schädelstück könnte von jeder Frau stammen. Es sind ja schließlich viele Menschen im Bereich des Führerbunkers gestorben.«

Mir gefiel das nicht. Mit welchem Ziel sollten KGB oder Staatsarchiv eine derart plumpe Fälschung veranlasst haben? Konnte es nicht ebenso gut sein, dass sich in die Untersuchung eine falsche Grundannahme eingeschlichen hatte? Auf einmal, beim Duschen, rumpelte es in meinem Kopf: »DNA-Phantom«, flüsterte es mir aus dem Wasserschlauch zu, »denk an das DNA-Phantom!«

Das DNA-Phantom war Kern einer der tragikomischsten Ermittlungen, die es in Deutschland je gab. Anfang 2008 fand sich im Zusammenhang mit dem Mord an einer jungen Polizistin in Heilbronn eine DNA-Spur. Sie stammte allerdings nicht von den zwei Männern (darunter einem V-Mann der Polizei), denen das Auto gehörte, sondern von einer Frau.

DNA derselben Frau war auch im August 2007 bei Einbrüchen in Kornwestheimer Gartenhütten gefunden worden. Ein Vergleich mit der DNA-Datenbank des BKA ergab, dass dieselbe Frau an verdächtig vielen Tatorten in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Frankreich und Österreich gewesen sein musste. Die Taten reichten weit zurück. 1993 sollte sie in Idar-Oberstein eine Rentnerin und 2003 in Freiburg einen alten Mann ermordet haben. Außerdem fand sich ihre DNA im Auto von mutmaßlichen Mördern dreier georgischer Gebrauchtwagenhändler in der Nähe von Heppenheim. »Der Fall sprengt alles Dagewesene«, sagte ein Polizeisprecher aus Heilbronn damals.

Eine solch abgefeimte Serientäterin, die eine derartige Menge völlig verschiedener Taten begangen hatte, gab es in der Tat nie zuvor. Die Ermittler führten eine Reihenuntersuchung durch, bei der ab Anfang 2008 über achthundert Frauen überprüft wurden, die in Baden-Württemberg wegen Einbruchs oder Gewaltdelikten aufgefallen waren. Ohne Ergebnis.

»Die gesuchte Frau könnte möglicherweise auch wie ein Mann aussehen«, gab der Leiter der Sonderkommission zu bedenken. Alleine zur Aufklärung des Polizistinnenmordes wurde die ungewöhnlich hohe Belohnung von hunderttausend Euro ausgesetzt. Ab Januar 2009 erhöhte sich dieser Betrag nach Zusammenlegung aller Taten sogar auf unglaubliche dreihunderttausend Euro. Nun wurde klar: Die Ermittler standen mit dem Rücken an der Wand – wie sollten sie auch der Öffentlichkeit erklären, dass eine Superverbrecherin seit fünfzehn Jahren jedes nur vorstellbare Delikt vom Eierdiebstahl bis zum Mehrfachmord unerkannt durchführen konnte?

Im Gewühl der Ermittlungen fiel niemandem zweierlei auf: Dass erstens das Phantom eine sehr eigentümliche Vorliebe für bestimmte Regionen und eine unerklärliche Abneigung gegen andere Gebiete (beispielsweise Bayern) hatte und dass es zweitens insgesamt vierzig so verschiedene Taten begangen hatte, dass sie in dieser Brandbreite kaum vorstellbar waren, ohne dass es schon einmal zu einer Verhaftung hätte kommen müssen. Vom Einbruch in ein stillgelegtes Hallenbad über Autoschlüsseldiebstähle aus Wohnungen und Heroinkonsum bis zu Autodiebstählen, Tötungen, Einbrüchen und Überfällen reichte die Palette. Besonders verwirrend dabei war, dass die in mehreren Fällen geschnappten Mittäter nichts von einer Frau berichteten. Hatten sie Angst vor der Rache des Phantoms und wollten es deshalb nicht verpfeifen? Doch auch kein anderer Zeuge hatte das Phantom je gesehen, und Fingerabdrücke hatte es auch nie hinterlassen. Trug das Phantom Handschuhe? Warum nicht …

Als das Innsbrucker Institut für gerichtliche Medizin sich Teile der Erbsubstanz der Supertäterin genauer ansah, zeigte sich, dass darin DNA-Anteile vorlagen, die häufig in Osteuropa vorkommen. Doch auch dieser Hinweis führte in die Irre. Denn wenig später zeigte sich, dass das DNA-Phantom in Wahrheit eine ältere Dame war, die beim Zulieferer der Spuren-Abriebstäbchen in Oberfranken arbeitete.

Dort setzte die nette Frau auf aus China stammende Wattestäbchen von Hand einen Stopfen auf, der wiederum in ein Plastikröhrchen passte. Mit diesen Stäbchen können Spuren, zum Beispiel Sperma oder Blut, von einer Oberfläche abgerieben, an der Luft getrocknet und danach sicher verpackt und befördert werden. Wenn allerdings schon vorher die DNA der Mitarbeiterin daran klebt, scheint es später so, als handele es sich dabei um eine Person, die an der Tat beteiligt war.

Leider dauerte es vom ersten Verdacht, dass es sich um eine solche Verschmutzung aus der Herstellerfirma handeln könnte, bis zur Enttarnung des Phantoms fast ein Jahr. Begründung der Ermittler: Überlastung. Meine verblüffte Anmerkung, man könne doch – wie eigentlich in der Spurenkunde und auch in unserem Labor üblich – immer ein zusätzliches, unbenutztes Stäbchen mit untersuchen, sodass die darauf befindliche Spur eines »DNA-Phantoms« sofort auffallen würde, traf auf Ablehnung: Das sei viel zu teuer.

Der Phantom-Fall führte nicht nur zu ordentlichem politischem Ärger, sondern auch zu weltweiter Berühmtheit: Sogar in der Fernsehserie CSI New York wurde die Story unter dem Titel »Dead Reckoning« (»Das DNS-Phantom«) verewigt.

Zurück zu Hitlers Schädel. Was wäre, wenn bei der in Connecticut frisch untersuchten DNA von Hitlers Schädel, die angeblich von einer Frau stammte, ebenfalls eine andere Quelle vorläge? Dass Hitler genetisch keine Frau war, wissen wir nicht nur durch sein Aussehen, sondern auch von Zeugenaussagen seiner Haushälterin, die später (verschämt) über Hitlers Sexleben sprach. (In unserer Welt ist alles möglich. Sogar scheinbar selbstverständliche Annahmen möchten wir aus Erfahrung nicht als gegeben hinnehmen, bevor sie nicht bewiesen sind.)

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Auch im Fall Hitler könnte ein Phantom eine Rolle spielen, nur dass es diesmal nicht bei der Wattestäbchenfirma arbeitet, sondern an einem Schreibtisch im Moskauer Staatsarchiv. Könnte es sich nicht um die DNA unserer Archivarin handeln? Sie hatte den Schädel Hunderte Male angefasst. Dass sich dabei ihre DNA übertragen hat, ist leicht einzusehen, zumal der Schädel stets ohne Handschuhe angefasst worden ist. Während unserer gesamten Untersuchung war ich der Einzige, der Latexhandschuhe trug – sowohl im Staatsarchiv als auch später beim KGB.

Wenn die Schädelnähte allerdings wirklich die einer jüngeren Person sind, kann es tatsächlich nicht Hitlers Schädel sein – Archivarinnen-DNA hin oder her. Doch leider wird auch hier gestritten. Die forensische Knochenkundlerin Marylin London, der ich die Nähte auf stark vergrößerten Bildern in Washington zeigte, meinte, die Nähte sähen doch eher wie die einer älteren Person aus. Mit dieser Erklärung kann ich leichter leben als mit der, dass die Person zwischen dreißig und vierzig Jahre alt gewesen sein soll. Denn dass Hitler am Ende seines Lebens stark vorgealtert war, ist bekannt.

Der »Führer« nahm deshalb große Mengen Aufputschmittel zu sich, die heute als illegale Droge »Crystal Meth« (damals Pervitin) bekannt sind. Er litt zudem an Schüttellähmung und ließ sich regelmäßig mit mehreren Substanzen, darunter dem starken Schmerzmittel Eukodal, fit spritzen. Das ist ein medikamentöser Hammer, den Hitler angeblich gegen seine Darmkrämpfe benötigte. Das Mittel sollte ab 1915 eigentlich als harmloserer Ersatz für das stark süchtig machende Morphin dienen. Doch schon zwei Jahre nach Einführung des Eukodal (Dihydrooxy-Codeinon-Hydro-chlorid) bemerkte man, dass es nicht nur Schmerzen linderte, sondern auch die Stimmung verbesserte. Es wirkt also ähnlich wie Heroin.

Setzt man Eukodal ab, kommt es zu Entzugserscheinungen, vor allem zu Angstzuständen und quälenden Erstickungsgefühlen. Diese sind derart unangenehm, dass man sich das Mittel wie jede andere Droge immer wieder beschafft und der Suchtkreislauf einsetzt,