Sandra Lüpkes

Taubenkrieg

Kriminalroman

 

 

Die mit Sternchen versehenen Begriffe oder Gegebenheiten werden – alphabetisch angeordnet – im Anhang näher erläutert.

 

Ungekürzte Ausgabe 2011

© 2010 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

 

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Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

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eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 40832 - 5 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 24858 - 7

 

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|5|

 

Would?

 

Into the flood again

same old trip it was back then

so I made a big mistake

try to see it once my way

 

Am I wrong?

Have I run too far to get home?

Have I gone?

And left you here alone

 

If I would, could you?

 

Alice in Chains, 1992

Inhalt

Die Eins steht als Zahl für den Anfang und die Einmaligkeit

Die Zwei steht als Zahl für Gegensätzlichkeiten wie oben und unten, gut und böse, richtig und falsch

Die Drei steht als Zahl für Eindringlichkeit und Wahrhaftigkeit

Die Vier steht als Zahl für die Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft

Die Fünf ist die Zahl der Liebesgöttin Venus

Die Sechs steht als Zahl für Unvollkommenheit und Rebellion

Die Sieben findet sich als Zahl in der Apokalypse wieder, auch gibt es sieben Todsünden

Die Acht steht als Zahl für Neuanfang und Magie

Die Neun beinhaltet für die Kelten als Zahl das ganze Universum

Die Zehn verbindet als Zahl den Anfang mit dem Nichts

Die Elf ist die Zahl der Reumütigen

Die Zwölf steht als Zahl für den sich schließenden Kreis

Die Dreizehn steht als Zahl für Störung und Unvollkommenheit

Die Vierzehn ist die Zahl der bösen Dämonen

Die Fünfzehn ist die Zahl der Himmelsgöttin Ischtar, die auch die Göttin des Krieges ist

Die Zwanzig ist die Zahl des Menschen in seiner Gesamtheit

Die Zweiundzwanzig ist die Zahl der Menschen, die weitblickend handeln

Die Siebenundzwanzig ist die Zahl der Begegnung zwischen Sonne und Mond

Die Dreiunddreißig ist die Zahl der Menschen, die anderen zu Hilfe eilen und sie beschützen

Die Vierzig steht für die Zeit, in der sich der Mensch in schlimmen Zeiten bewähren muss

Die Vierundvierzig steht als Zahl für Menschen, die Energie aufwenden, um Dinge zum Guten zu wenden

Die Fünfzig steht als Zahl für den Beginn eines neuen Abschnitts

Die Sechzig steht als Zahl für den regelmäßigen Lauf der Zeit

Die Siebzig steht als Zahl für ein Menschenleben

Die Einhundertachtzig steht als Zahl für die entgegengesetzte Richtung

Die Dreihundertsechzig steht als Zahl für den sich schließenden Kreis

Die Sechshundertsechsundsechzig steht als Zahl für das absolut Böse

Die Einhundertvierundvierzigtausend steht als Zahl für die Erlösung der Gerechten

Die Null ist neutral, sie wird als Symbol für den leeren Raum genutzt

Anhang

Ein Wort zum Schluss

|7|Die Eins
steht als Zahl für den Anfang und die Einmaligkeit

Der Tatort ist eine Landschaft.

Unberührte Natur, wenn man ihn vernünftig abgesperrt hat. Chaotisches Dickicht oder unwegsames Gelände. An einigen Stellen aber auch aufgeräumt, übersichtlich, nahezu einladend: Komm her und erforsche mich. Hier ist vieles verborgen. Und wenn du bereit bist, dich auf meine Fährten zu begeben, erzähle ich dir vielleicht auch meine Geschichte.

Doch pass auf! Bewegst du dich zu eilig, werden einige Dinge für immer verborgen bleiben. Lässt du dir aber zu lange Zeit, wird vieles von dem, was es zu entdecken gilt, überwuchert.

Fast hätte Wencke mit der Hacke ihres Turnschuhs den rußigen Fleck auf dem Holz verwischt. Flecken sah man unzählige, wenn man nach unten schaute: kalligraphische Linien fast, die Wassertropfen auf den Dielen hinterlassen hatten, neben schwarzen Kreisen aus Motoröl und grünen Farbklecksen, die beim Streichen der Decke heruntergetropft sein mussten. Alles alte Spuren. Doch die Asche war frisch.

Genauso frisch wie der größte Fleck von allen, der sich so ziemlich genau in der Mitte des Bootsschuppens ausbreitete. Ein braunroter See, an den meisten Stellen bereits in der Maserung versickert, nur auf den Astlöchern der Fußbodenbretter lag das Blut noch nass und glänzend.

|8|Wencke richtete sich wieder auf. »Sie haben zusammen geraucht.«

Kriminalhauptkommissar Wachtel schaute durch die fast blinden Scheiben nach draußen, als sei ihm das alles hier zu blöd. »Rocker rauchen immer und überall.« Die Augen hinter den starken Brillengläsern waren so schmal, dass man nicht erkennen konnte, ob er wirklich etwas beobachtete oder nur den Blickkontakt zu vermeiden suchte. »Und alles«, ergänzte er schließlich.

»Im Aschenbecher auf dem Tisch liegen vier filterlose Kippen. Und auf dem Boden wurde dieselbe Anzahl ausgedrückt.« Wencke beugte sich noch einmal nach unten, auch wenn der Geruch geronnenen Blutes unangenehmer wurde, je weiter man sich dem Boden näherte. »Es sieht zumindest danach aus. Vier Ascheflecken. Aber die Zigarettenstummel sind nicht da. Oder hat die Spurensicherung die Beweise schon …«

»Wir haben alles fürs Erste so gelassen, Frau Tydmers. Wie besprochen. Meine Männer sind keine Dilettanten.« Man sah dem Leiter der Schweriner Mordkommission deutlich an, dass er sich wenig von dem versprach, was Wencke Tydmers und ihr Kollege Boris Bellhorn hier trieben – sie im Innenbereich, Bellhorn war gerade auf dem Außengelände beschäftigt. Wahrscheinlich würde Wachtel in den nächsten Minuten einen Satz sagen wie: »Operative Fallanalyse klingt für mich nach Hokuspokus« oder: »Die deutsche Polizei ist jahrelang gut damit gefahren, akribisch die Spuren am Tatort auszuwerten, was brauchen wir also Leute, die versuchen, in den ganzen Scheiß noch was hineinzuinterpretieren?« Vorerst aber begnügte er sich mit einem eindrucksvoll-muffigen Gesichtsausdruck.

»Wie lange hat die Spurensicherung gebraucht, das gesamte Chaos zu archivieren?«

»Schauen Sie sich doch um. Mit ein, zwei Stunden ist da keinem geholfen …« Er selbst schaute sich überhaupt nicht |9|um, sondern ließ seinen Blick lieber schweifen: nach draußen, wo keine zwei Meter entfernt der Pinnower See lag, mit Enten und Libellen und Seerosenblättern auf der spiegelglatten Wasseroberfläche und mannshohem Schilfgras am Ufer.

Schön war der Anblick hier drinnen wirklich nicht. Es gab kaum etwas, das so aussah, als befände es sich an dem ihm zugedachten Platz. Lediglich der Aschenbecher stand noch auf dem Tisch und die zwei leeren Literflaschen, in denen sich ursprünglich Mineralwasser befunden hatte. Gerade die Dinge, die noch an Ort und Stelle waren, interessierten Wencke.

Doch das Chaos ringsherum war fast übermächtig. Die beiden Ruderboote, für die diese Hütte gebaut worden sein mag, waren wahrscheinlich schon länger nicht mehr in Gebrauch. Sie vermittelten den Eindruck, dass man mit ihnen bestenfalls bis zur Seemitte gelangte, für den Rückweg brauchte man aber schon großes Glück und müsste mindestens mit nassen Füßen rechnen. Das kleinere, blau gestrichene Boot schob sich längsseits auf die Werkbank, und der rostige Griff einer Schraubzwinge war durch die Planken gedrückt worden. Das Größere – ursprünglich mochten bis zu sechs Personen darin Platz gefunden haben – war im vorderen Drittel komplett zertrümmert. Die passende Axt lag daneben, der scharfe Metallkopf hatte sich im Eifer des Gefechts vom Griff gelöst.

Die Farbeimer, Abdeckplanen, Taue und Netze, die sich ringsherum im Raum verteilten, hatten sich vermutlich zuvor auf dem Regal gestapelt. Derjenige, der das eigentlich stabil wirkende Metallgestell aus der Wand gerissen hatte, war mit Sicherheit kein Spargeltarzan. Und der Außenbordmotor war ihm als Wurfgeschoss auch nicht zu massiv erschienen, das altersschwache Ding hing halb auf dem Tisch, farbig schillerte das Altöl, das zäh von den Rotorblättern tropfte.

Ein Tatort brauchte keine Leiche, um schrecklich zu sein. Aber mit Leiche war er bei Weitem übersichtlicher. Dann |10|wusste man wenigstens genau, wo das Zentrum lag. Ein Toter bot so etwas wie Orientierung. Da ist der Kopf, da sind die Beine. Gibt es Strangulationsfurchen, muss man nach einem Strick suchen. Bei Schusswunden läuft die Fahndung nach dem Projektil oder einem entsprechenden Loch in der Wand. Wurde ein Mensch erstochen, liegt vielleicht irgendwo das Messer verborgen.

Doch hier gab es nichts dergleichen. Keine Leiche, keine Orientierung. Nur ein See aus Blut. Und deswegen hatte die Schweriner Polizei auch das LKA des Nachbarlandes um Hilfe gebeten. Mecklenburg-Vorpommern verfügte zwar über eine eigene Profiling-Abteilung, doch die dortigen Kollegen waren skeptisch, bei einem Fall ohne Leiche ihre Arbeit zu leisten. Das ging über die übliche Fallanalyse hinaus, hier waren Experten gefragt, die sich auf die sogenannte Sequenzanalyse* spezialisiert hatten, bei der Schritt für Schritt der vermutete Tatablauf in kleine Stücke zerlegt wird, um dann zu sehen, unter welchen Gesichtspunkten er sich wieder zusammenpuzzeln lässt. Boris Bellhorn, Wenckes Kollege im LKA Hannover, war eine solche Koryphäe der Soziologie und beherrschte die ausgefeiltesten Methoden der Kriminalistik. Wencke war da eher von der praktischen Sorte. Vielleicht hatte man sie als Ergänzung an Boris’ Seite gestellt, jedenfalls mussten beide heute Vormittag in Hannover ziemlich zügig ihre Sachen packen.

Sequenzanalytiker finden sich auch ohne Sachbeweise zurecht. Sie erkennen die Handschrift des Täters sozusagen zwischen den Zeilen. Indem sie sich ihren eigenen Weg suchen. Keine Trampelpfade aus Fingerabdrücken und Zeugenaussagen benutzen, sondern sich ins Unterholz der Psychologie schlagen. Und das macht sie irgendwie … suspekt.

Zumindest schien KHK Wachtel es so zu sehen. »Und? Schon eine originelle Idee?« Die Ironie passte zu ihm. Zu seiner etwas behäbigen, selbstzufriedenen Art. Männer, die Toupets |11|diesen Ausmaßes trugen, mussten selbstzufrieden sein, sonst wäre ihnen der silbergraue Wischmopp auf dem Scheitel peinlich. »Ich dachte, Sie und Ihr Kollege kommen hierhin, schauen sich kurz um, und schwuppdiwupp haben Sie uns die Arbeit von vier Wochen abgenommen. So geht das doch bei diesen modernen Methoden, oder nicht?«

Endlich war es raus, das Gift, auf das Wencke bereits gewartet hatte und das sie fest entschlossen ignorierte.

»Was sind denn jetzt Ihre Pläne, um die Leiche zu finden, Herr Wachtel?«

»Selbstverständlich sind diverse Proben schon seit heute früh im DNA-Labor

»Wie schnell wird dort gearbeitet?«

»Die Warteliste ist genau so lang wie bei Ihnen in Niedersachsen, aber wir haben eine besondere Dringlichkeit angemerkt. Wenn wir viel Glück haben, haben wir in zwei Tagen ein Ergebnis.«

»Und bis dahin?«

»Meine Leute durchkämmen gerade den unmittelbaren Umkreis. Das Gelände ist ja weiträumig abgesperrt. Auch das Clubhaus* nebenan wird so gut wie auseinandergenommen, sobald wir den entsprechenden Durchsuchungsbeschluss haben.«

»Den haben Sie noch nicht? Warum dauert das so lange?«

»Das Clubhaus befindet sich laut Katasteramt nicht auf demselben Grundstück wie der Tatort, vielleicht liegt es daran. Auf jeden Fall sind wir dran, der leitende Oberstaatsanwalt Gauly persönlich kümmert sich um den entsprechenden Antrag.«

»Und die Taucher?«

»Längst unterwegs!«

Boris Bellhorns schlaksige Gestalt tauchte im Gegenlicht der offenen Schuppentür auf. Er war Wenckes Lieblingskollege, intelligent und freundlich, vielleicht ein bisschen zart |12|besaitet für den Job, dafür nicht so ein Drachen wie ihre gemeinsame Vorgesetzte Tilda Kosian. Die Entscheidung, wer von ihnen beiden bei diesem Job draußen bleiben durfte und wer rings um die Blutlache zu tun hatte, war schnell gefallen. Wencke hatte im Gegensatz zu Boris früher bei der Kripo gearbeitet und war wesentlich unempfindlicher in diesen Dingen.

»Und?« Boris blieb auf der Türschwelle stehen und fuhr sich mit den Fingern durch seine etwas zu langen Haarsträhnen, um die Wachtel ihn sicher beneidete. »Sollen wir mal kurz zusammenfassen, was wir haben?«

»Nicht viel«, musste Wencke zugeben. »Ein zertrümmerter Bootsschuppen auf dem Gelände eines einschlägig bekannten Motorradclubs*. Die Devil Doves – Teufelstauben?«

Boris Bellhorn und KHK Wachtel nickten synchron.

Wencke betrachtete die Szenerie. »Zwei Wasserflaschen, ein paar Zigarettenkippen und eine solche Menge Blut, dass klar sein dürfte, hier konnte jemand nicht mehr auf eigenen Beinen hinausspazieren.«

»Die Blutspur zieht sich bis zum Bootssteg«, ergänzte Boris. »Das Opfer wird also über den See abtransportiert worden sein. Vielleicht wurde es dort versenkt, vielleicht auch ans andere Ufer gebracht. Dort gibt es nur Bäume und die Autobahn, da hätte keiner was mitgekriegt.«

Wencke beschloss, den sturen Kommissar mit einzubeziehen. »Herr Wachtel, wann genau wurde das Ganze hier eigentlich entdeckt?«

»Um vier Uhr morgens kam der Anruf.«

»Und wer hat Sie informiert?«

Wachtel kramte seinen digitalen Notizblock heraus, demonstrativ, auch hier in Meckpomm war man auf dem neuesten Stand der Technik, und selbst ein Beamter auf bestem Weg zur Pension war sich nicht zu schade, die neuen Medien zu nutzen. |13|Wenige Tastendrucke später hatte er die Information parat. »Patch Blacky

Wencke musste lachen. »Ein Hund?«

»Wir kennen die Rocker hier am besten unter ihren Spitznamen. Patch Blacky heißt mit bürgerlichem Namen Thorsten Schwarz und ist ein hohes Tier im Motorrad-Club. Gehört sozusagen zum Vorstand, organisiert die Ausfahrten der Mitglieder.«

»Road-Captain* nennt man diesen Job«, mischte Boris mit und erntete immerhin einen erstaunten Blick aus Wachtels Schlitzaugen. »Der Road-Captain muss einen halbwegs guten Draht zur Polizei haben, damit die bei den Touren ein Auge zudrücken, wenn gnadenlos rote Ampeln übersehen oder Vorfahrtsstraßen blockiert werden.«

»Sie kennen sich ja richtig aus!« Endlich und zum allerersten Mal seit ihrer Ankunft wandte der Kommissar sich in ihre Richtung und schaute Wencke und Boris an. Was auch immer der Anlass gewesen war, sich schließlich doch auf eine gemeinsame Ebene zu begeben, Wencke war froh, nicht immer mit der Rückseite seines Haarteils kommunizieren zu müssen.

»Ich habe mein Soziologie-Studium mit einer Diplomarbeit über Männerbünde abgeschlossen. Bin also sozusagen Fachmann für Hooligans, studentische Verbindungen, Mönchsorden und die ganze Bagage …« Boris hob ein wenig zu tänzerisch die Schultern. Schon beim Wort »Soziologie-Studium« war Wachtels plötzliche Aufgeschlossenheit wieder merklich abgeflaut. Und als er jetzt zu begreifen schien, dass der coole Profiler aus Hannover ganz offensichtlich schwul war, verebbte das letzte bisschen Kollegialität schneller wieder, als es gekommen war.

Boris nahm es gelassen. »Auch wenn ich nicht so aussehe, ich bin so etwas wie ein Rocker-Experte.«

|14|Wachtel stieß seinen Atem in den Bart und schaute wieder ins Blaue.

»Die Devil Doves sind ein vergleichsweise neuer Club, der sich vor gut fünf Jahren aus vielen anderen Rockerverbänden zusammengeschlossen hat«, untermauerte Boris noch ein wenig sein Fachwissen. »Soweit ich informiert bin, sorgen sie besonders in den neuen Bundesländern für ziemlichen Ärger, weil sie Gebietsansprüche stellen und den GPGs ins Gehege kommen.«

»Den GPGs

»G-Point-Gangsters. Ein anderer Motorrad-Club, den es schon wesentlich länger gibt.«

»Was für ein bescheuerter Name!«

»Das ist zweideutig zu verstehen, meine Liebe. Einmal der G-Punkt, wie du ihn kennst …« Wencke konnte ihren Kollegen sogar gegen das Licht leicht erröten sehen. »Na ja, und weil G der siebte Buchstabe im Alphabet ist und die Sieben wiederum eine besondere Bedeutung in der Zahlenmythologie hat, sie symbolisiert die Todsünden und dominiert in den Beschreibungen der Apokalypse …« Boris hielt inne. »Hört sich schräg an?«

»Allerdings. Ich dachte, Rocker fahren bloß Motorrad.«

»Viele Männerbünde berufen sich auf die Prinzipien der Numerologie. Eins steht für Anfang und Einmaligkeit, Zwei für die Gegensätzlichkeit, und so weiter bis zur 144.000, die ja angeblich die Anzahl derer angibt, die nach dem Weltenende die Erlösung finden.« Boris schien zu bemerken, wie skurril sein kleiner Vortrag wirkte, und lächelte verlegen. »Ich erkläre dir das morgen ausführlicher, wenn du magst.«

»Morgen? Morgen um diese Zeit werde ich dabei sein, meine Koffer zu packen, und ab Mittwoch sind wir Richtung Nordsee unterwegs. Es gibt Zeugnisse, und in den ersten zwei Ferienwochen fahre ich mit meinem Sohn Emil zum Zelten |15|nach Ostfriesland. Vierzehn Tage Urlaub in der alten Heimat.« Vierzehn Tage keine scheußlichen Tatorte mehr, keine Wortgefechte mit der Chefin in Hannover, keine nervenaufreibende Organisation des Alltags einer alleinerziehenden Mutter mit Vollzeitjob, fügte Wencke in Gedanken hinzu. »Reg dich nicht auf, Boris, meinen Bericht über diese Schweinerei hier mache ich morgen früh noch fertig und schicke ihn dir per Mail.«

»Ich muss mich dann also die nächsten Tage mit Kollegin Kosian begnügen?«, seufzte Boris.

Plötzlich kam wieder Leben in den Kommissar. »Die nächsten Tage? Ich bitte Sie, so lange wollen Sie an diesem Fall hier herumdoktern?« Er lachte tatsächlich, zumindest drangen rhythmische Geräusche aus seinem Bart. »Die Sache ist doch sonnenklar! Selbst der Leitende Oberstaatsanwalt Gauly hat schon einen Haken hinter den Fall gemacht: Rockerkrieg! Meine Männer und ich haben eigentlich nur darauf gewartet, dass es hier am Pinnower See den ersten Toten gibt.«

»Inwiefern?«

»Die Teufelstauben breiten sich immer weiter aus und haben vor ein paar Wochen das Hot Lady in der Nähe von Hagenow übernommen. Einer der größten Puffs* im Umkreis von hundert Kilometern und zuvor in der Hand der Gangster

»Sie meinen, unsere Sache hier hat mit diesen Revierkämpfen zu tun?«

»Womit sonst? Das hier ist ein Machtduell zwischen zwei Rockerclubs: Dämliche, fette Jungs schlagen sich gegenseitig die Köpfe ein, weil sie ihre Nutten und ihre Drogen* in denselben Straßen an den Mann bringen wollen. Also gibt’s Rambazamba. Da brauchen Sie Ihre wertvolle Zeit wirklich nicht mit irgendwelchem Psychokram zu verschwenden.«

Wencke und Boris schauten ihn beide an. Wahrscheinlich dachten sie dasselbe: Kotzbrocken.

»Sie wissen doch noch nicht einmal, wer das Opfer ist!«

|16|»Es wird wohl einer von den Kuttenträgern sein. Wir gehen von einem Überfall durch die GPGs aus, eine Art Denkzettel oder so …«

»Wenn Denkzettel verpasst werden, wird die Leiche nicht aus dem Weg geräumt, das wissen Sie doch sicher auch. Macht- und Gewaltdemonstrationen verlaufen ins Leere, wenn das Opfer nicht mehr da ist. Wir erklären Sie sich das?«

»Ach, Frau … wie war doch gleich Ihr Name?«

Wencke zeigte nur auf das gut lesbare Namensschild an ihrem weißen Overall.

»Frau Tydmers! Sie berufen sich auf die Regelfälle. Aber es gibt doch auch Ausnahmen, oder nicht?« Seine Selbstgefälligkeit ließ sich durch nichts erschüttern. »Es wird sich um ein Mitglied der Devil Doves handeln. Gestern Nacht haben sich hier an die fünfzig Rocker rumgetrieben. Hauptsächlich im Clubhaus und am Zaun. Es gab sogar einen Polizeieinsatz so gegen Mitternacht. Eine Streife mit Verstärkung war hier wegen Lärmbelästigung.«

»Wer hat sich denn beschwert? Hier wohnt doch weit und breit kein Mensch …«

»Anonymer Anruf. Das ist aber normal, mit den Teufelstauben will sich zu Recht keiner anlegen. Die haben mit ihren Maschinen wohl eine Art Rennen auf der B 321 veranstaltet, und da gibt es einige Anwohner, die auf diese Weise um ihren Schlaf gebracht werden. Wir vermuten, dass die Meldung aus der Ecke kam.«

»Und? Haben Sie die Raser erwischt?«

Wachtel zuckte mit den Schultern und kramte sein Handy hervor. »Moment, ich hake mal nach.« Er verließ, das Telefon am Ohr, den Schuppen, und Wencke und Boris folgten ihm.

Erst als sie wieder an der frischen Luft war, wurde Wencke bewusst, wie ekelhaft der Gestank im Inneren gewesen war. Diese Mischung aus Kraftstoffen, Terpentin, kaltem Rauch |17|und den unvermeidlichen Tatort-Gerüchen schlug ihr im Nachhinein auf den Magen. Sie atmete tief durch.

»Was war gestern genau los hier beim Einsatz?«, rief Wachtel in den Apparat. »– Wie? – Nein, die Herrschaften aus Hannover fragten danach. – Hm. – Okay. – Bedankt.« Er klappte das Mobiltelefon wieder zu. »Auf der Straße herrschte wieder Ruhe und Frieden, als die Kollegen ankamen. Sie sind dann aber noch mal sicherheitshalber hierher gefahren und haben Einsatzbereitschaft demonstriert.«

»Und dann?«

»Es gab Stress am Eingang. Alle Rocker sind aufgelaufen und haben sich empört, weil sie angeblich gar nicht mit den Bikes unterwegs gewesen waren und blablabla …« Er seufzte. »Sie glauben gar nicht, wie diese Typen uns hier in Schwerin auf den Geist gehen. Immer Ärger, immer einen auf starken Mann machen, immer Streit suchen. Die wollten doch glatt den Kellerbach rufen und uns wegen unerlaubten Betretens des Geländes rankriegen.«

»Wer ist Kellerbach?«, fragte Boris.

»Der Anwalt dieses feinen Vereins. Leo Kellerbach. Selbst einer von ihnen. Die haben ja alle Berufssparten in ihrem Club. Zahnarzt, Architekt, Oberstudienrat. Und eben Winkeladvokaten wie diesen Kellerbach. Der hat sich auf Rockerprozesse spezialisiert.«

»Verkehrsdelikte?«

»Kommt darauf an, wie Sie Verkehr definieren«, feixte Wachtel. »Die haben mit ihren ganzen Puffs*, Drogengeschäften* und illegalen Waffen* schon genug Arbeit für ihn. Allein der Ärger um diese Hot Lady-Übernahme war bestimmt eine juristische Meisterleistung. Da hat Kellerbach gar keine Zeit, sich um die ganzen Knöllchen wegen Verstoßes gegen die Straßenverkehrsordnung zu kümmern. Das macht dann seine Schwester Nikola, so einfach ist das.«

|18|Wencke musste zugeben, dieses ganze Theater hörte sich wirklich nach einem nervenaufreibenden Job an. Sympathisch sind ihr breite Kerle in Kutten und Leder noch nie gewesen, Totenkopftattoos und fransige Männerzöpfe lagen auf ihrer persönlichen Attraktivitätsskala im unterirdischen Bereich. Aber bislang hatte sie zum Glück auch noch mit keinem dieser Sorte näher zu tun gehabt.

»Kann es sein, dass dieser anonyme Anruf ein Ablenkungsmanöver war, damit der Mörder sich von hinten an den Bootsschuppen heranschleichen konnte?« Sie schaute von Wachtel zu Bellhorn und wieder zurück. Dieser Gedanke schien bei keinem von beiden Begeisterung auszulösen. »Ich habe es eben bei der Ankunft selbst gesehen: Das Gelände ist abgesichert wie so mancher Knast. Warnschilder, Stacheldraht und Überwachungskameras. Und wenn die Polizei – so wie heute – nicht jeden des Platzes verweist, möchte ich wetten, dass alle paar Meter ein Wachposten parat steht.«

»Stimmt«, musste Wachtel ihr beipflichten. »Selbst am Ufer patrouillieren sie alle naselang.«

Wencke schaute sich um. Lediglich die Aussicht auf den kleinen See war hier attraktiv, der Rest machte einen verlebten, irgendwie plattgewalzten Eindruck. Die wenigen graugelben Grassoden fristeten links und rechts der breiten Wege ein trostloses Dasein, wurden bedeckt von Bierflaschen, Zigarettenschachteln und vereinzelten Seiten der Bildzeitung. Das Clubheim, das ein wenig höher am Ufer lag und in den Vereinsfarben* schwarz-blau gestrichen war, sah in etwa so einladend aus wie ein Pinkelhäuschen auf dem Autobahnparkplatz. Über der Tür prangte ein gewaltiges Emblem: Eine skelettierte Taube, die an das Eiserne Kreuz genagelt war. Blasphemisch, scheußlich – und zudem mächtig windschief, die Schrauben hatten sich an einer Seite aus dem Bretterverschlag gelöst. Ein Blick durch die Fenster nach innen war unmöglich, die Devil |19|Doves hatten es vorgezogen, ihre Scheiben schwarz zu überstreichen. Aus welchen Gründen, darüber ließ sich bestens spekulieren.

Ein knallblaues Auto, irgendein teures Cabriolet, nahm rasant die Einfahrt und hielt direkt vor Wachtels Füßen. Der machte fast einen Bückling. »Herr Oberstaatsanwalt, gut, dass Sie kommen konnten.«

Der Mann, der aus dem Wagen stieg, gab sich auffallend lässig. Wencke schätzte Roland Gauly auf Anfang sechzig und wusste nicht genau, ob er in Freizeitkleidung erschienen war oder grundsätzlich durch seine Klamotten einen jüngeren Eindruck vermitteln wollte. Sein kahler Kopf wurde von einer Baseballkappe bedeckt. Dazu trug er T-Shirt und einen Sommeranzug in Beige.

»Einen solchen Fall muss man von Anfang an in starke Hände geben, nicht wahr?«

Sein Handschlag war demonstrativ fest. Wachtel machte die Anwesenden miteinander bekannt und ließ gleich zwischen den Zeilen mit einfließen, was er von den Gastermittlern hielt – nämlich nichts.

Gauly hörte sich alles mit einem amüsierten Gesichtsausdruck an. »Arbeiten Sie ruhig weiter, meine Damen, meine Herren. Lassen Sie sich durch mich nicht stören, ich bin lediglich hier, um mir mein eigenes Bild zu machen.« Dann nickte er noch einmal in die Runde und spazierte mit tänzelndem Schritt, als sei er nur ein Hobbyangler, der gleich am Ufer seine Rute auswerfen wollte, zum Bootshaus.

»Dass Gauly selbst den Fall in die Hand nimmt, ist ein großes Glück. Der Mann weiß, was er zu tun hat.« Wachtel sah ihm noch eine Weile hinterher, dann wandte er sich wieder an Wencke und Boris. »Wo waren wir stehengeblieben?«

»Bei diesem Anruf wegen Ruhestörung«, half Wencke ihm auf die Sprünge.

|20|»Ach ja. Glauben Sie allen Ernstes, die G-Point-Gangsters fingieren eine Beschwerde bei der Polizei, um sich von hinten anzuschleichen?« Wachtels Augenbrauen wanderten in verschiedene Richtungen, was darauf schließen ließ, dass er dieser Vorstellung mehr als skeptisch gegenüber stand.

»Hauptkommissar Wachtel hat nicht ganz unrecht«, schlug sich Boris noch auf dessen Seite. »Es gibt eine Art Ehrenkodex unter Rockern, der es verbietet, die Staatsgewalt einzuschalten, wenn es um Auseinandersetzungen untereinander geht. Wenn die GPGs einen Überfall planten, dann …«

»Das habe ich ja mit keiner Silbe behauptet«, unterbrach Wencke. »Ich habe nicht in der Mehrzahl gesprochen.«

»Was meinst du damit?«

»Ich habe von dem Mörder gesprochen. Es war definitiv nur einer dort hinten im Schuppen – abgesehen vom Opfer.«

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Es wurden zwei Flaschen Wasser getrunken und vier Zigaretten geraucht. Und zwar von jedem. Einer von beiden hat die Angewohnheit, die Dinger auf dem Boden auszutreten, der andere benutzt lieber den Aschenbecher.«

»Sie immer mit Ihren Zigaretten!«, maulte Wachtel. »Das erscheint mit, mit Verlaub gesagt, ein bisschen weit hergeholt. Es könnten doch auch acht Personen da gewesen sein …«

»Möglich ist alles. Aber für mich sieht es so aus, als hätten sich zwei Personen eine ganze Weile unterhalten. Genau genommen mindestens vier Zigarettenlängen lang. Und dann kam es zum Mord.«

»Zwei Rocker rauchen gemütlich ein paar Glimmstängel. Und dann auf einmal so ein Chaos?« Wachtel schüttelte heftig den Kopf, Wencke konnte nur hoffen, dass sein falsches Haarteil jetzt keine Mätzchen machte. »Diese Geschichte halte ich für ausgemachten Schwachsinn, entschuldigen Sie, Frau Tydmers. Ihr Knowhow in allen Ehren, aber wir wissen, |21|diese Typen kommen immer in Rudeln, und dann fackeln sie nicht lange. Nichts mit gemütlichem Pläuschchen. Wenn die Rocker Stunk machen, gibt es gleich eins drauf, und zwar ohne Gnade!«

Boris war anzusehen, wie unangenehm es ihm war, sich auf Wachtels Seite schlagen zu müssen, er beließ es bei einer zustimmenden Geste und verzichtete darauf, seiner Kollegin direkt zu widersprechen. »Wenn die DNA-Analyse vorliegt, sind wir alle schlauer.«

»Ich habe nie davon gesprochen, dass es um einen Rockerüberfall ging. Für mich sieht das Ganze eindeutig nach einer Beziehungstat aus.«

»Beziehungstat?«, spuckte Wachtel aus. »Jetzt kommen Sie mir nicht mit einem romantischen Eifersuchtsdrama. Das ist doch lächerlich! Die Kriegserklärung der Gangster liegt schon lange vor, und wir bewegen uns hier bildlich gesprochen direkt im Schützengraben, den die Devil Doves bereits ausgehoben haben.«

»Aber im Schuppen hat nun mal keine Schlacht stattgefunden«, sagte Wencke trocken.

»Was denn sonst, meine Güte?« Dass Wachtel hinter seiner fischblütigen Fassade sehr wohl brodeln konnte, überraschte Wencke nicht besonders. Ihm stieg die Wut in den Kopf, und er verschoss Speicheltropfen beim Schimpfen. »Da drinnen ist ein Trümmerhaufen. Stalingrad, wenn Sie mich fragen. Ich dachte, Sie sind gekommen, um genauer hinzuschauen als wir. Und dann übersehen Sie das Offensichtlichste: Hier herrscht Krieg!«

»So ganz erschließt sich mir das Bild noch nicht, aber momentan tippe ich eher auf einen ganz normalen Mord oder Totschlag, eventuell sogar im Affekt. Das Durcheinander kann auch nachträglich angerichtet worden sein, um uns zu täuschen.« Ihr entging nicht der fast warnende Blick, den Boris |22|ihr zuwarf. Wahrscheinlich war er sogar Wenckes Meinung. Zumindest würde er sich sicher schnell von dieser Theorie überzeugen lassen, sobald beide Gelegenheit hätten, alle Details in Ruhe zu analysieren. Momentan ließ Boris sich einfach zu sehr vom tobenden Hauptkommissar beeindrucken.

»Morgen schreibe ich meinen Bericht. Noch habe ich nicht alle Details in Augenschein genommen, aber ich bin mir ziemlich sicher, mein erster Eindruck wird sich bestätigen. Zwei Personen, ein Streit … und dann ist es eben passiert.«

Wachtel musste jeden einzelnen Muskel seines nicht gerade schmächtigen Körpers angespannt haben, anders konnte er in einer solchen Haltung kaum das Gleichgewicht halten. Gerade wie ein Pfosten mit leichter Schräglage nach vorn, die Arme eng am zweireihigen Sakko, dann machte er einen beachtlichen Schritt, ging haarscharf an Wencke vorbei und lief zum Wagen. »Das sehe ich anders. Und ich bin mir sicher, Oberstaatsanwalt Gauly wird mir beipflichten. Hier bricht gerade ein Krieg aus!« Und als Wachtel einstieg in das Gefährt mit verspiegelten Fenstern, knurrte er noch einmal unüberhörbar: »Krieg!«