Eines Tages ist es da. Steht am Ende einer Sackgasse mitten in der Stadt. Es ist ein großes Kind. Den Blick hält es demütig zu Boden gesenkt, seine Haut ist rissig. Tagsüber versammeln sich die Bewohner der Stadt um dieses Kind, veranstalten Kundgebungen und Konzerte. Nachts schlagen sie auf es ein, mit Fäusten, Stöcken und Ketten – auf die Skulptur aus weichem, niemals trocknendem Lehm, auf das Mahlstädter Kind. Der Künstler hat es ihnen zur Vollendung überlassen, hat ihnen die Aufgabe übertragen, es »in die allgemein als vollkommen empfundene Form eines Kindes zu bringen«. Zuerst treibt die Kunstbegeisterung die Bewohner der Stadt, dann kommen sie als Pilger ihrer Wut, verlieren prügelnd die Kontrolle über sich und beinahe auch ihren Verstand.

Die Erzählungen von Clemens J. Setz sind gespickt mit grotesken Ideen und subtilem Horror, voller gewalttätiger Momente und zärtlicher Gesten. Wie in den Romanen präsentiert sich Setz auch in der kurzen Form als scharfer Beobachter der menschlichen Natur und einfühlsamer, geradezu liebevoller Porträtist ihrer Eigenarten.

»Hier ist ein Autor zu erleben, der sprachliche Tricks und Kniffe beherrscht, von denen man vorher noch gar nicht wusste, dass es sie gibt.« Die Welt

Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren. Studium der Mathematik und Germanistik in Graz; Obertonsänger, Übersetzer und freier Schriftsteller. Er lebt in Graz. Für Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes wurde er mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2011 ausgezeichnet.

Clemens J. Setz

Die Liebe zur Zeit des
Mahlstädter Kindes

Erzählungen

Suhrkamp

Umschlagabbildung: Gregori Maiofis, Adversity makes strange bedfellows, © WBA Entertainment, Nashville/USA

ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Suhrkamp Verlag Berlin 2011

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

eISBN 978-3-518-74590-8

www.suhrkamp.de

Inhalt

Milchglas

Die Waage

Die Visitenkarten

Das Gespräch der Eltern in Hänsel und Gretel

Die Vase

Weltbild

Der Schläfer erwacht

Die Blitzableiterin oder Éducation Sentimentale

Mütter

Die Leiche

Das Herzstück der Sammlung

Condillac

Das Riesenrad

Character IV

Eine sehr kurze Geschichte

Kleine braune Tiere

Die Entschuldigung

Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes

Für Julia

ATTENTION!

WHEN THE TRAIN IS NOT STOPPED
IT WILL BE CONSTANTLY MOVING

Hinweisschild in einem
amerikanischen Zug

Milchglas

Il ragazzo non osa guardarsi nel buio,

ma sa bene che deve affogarsi nel sole

e abituarsi agli sguardi del cielo, per crescere un uomo.

Cesare Pavese

Es gab sie wie Sand am Meer, sie waren überall und allgegenwärtig, die Grauzonen von Traurigkeit, Wahnsinn und Einsamkeit in Gegenständen, Gebäuden und Situationen: offen stehende Garagen mit einem unveränderlichen Ölfleck auf dem Boden, überquellende Mülltonnen, dreibeinige Hunde oder – sehr schlimm – Haltestellen, als wäre man angekettet unter freiem Himmel; dann einzelne Dinge, verbogenes Besteck, braun beränderte Fäustlinge, Körner aus Winterstreugut, die in den flüssigen Schuhabdrücken auf dem Küchenfußboden schwimmen, ausgebrannte Telefonzellen, Büsche, die nach Urin riechen und trotzdem von Hunderten Spatzen bewohnt sind, die verblassenden Farben der eigenen Sommerkleidung im Untergangslicht eines Treppenhauses, in dessen schummrigen Halbstöcken kleine taufbeckenartige Vorrichtungen stehen, ohne einen Hinweis auf Sinn und Zweck; die ganze entsetzliche Melancholie und Verlorenheit eines Bahnsteigs, der Pendelblick nach links: Schienen, endlos, dann nach rechts: dasselbe, und der vergebliche Versuch, sich festzukrallen in den Rockfalten der Mutter angesichts dieser ausweglosen Unendlichkeit, die einem am nächsten Tag auf harmlosere Weise wieder begegnet, in der Schule, als Zahlenstrahl.

Und die abendlichen Planeten Mars und Venus, mit ihren fühlerartigen Ausläufern, wenn man sie anzwinkert: kleine Bernsteininsekten über den Dächern der Stadt.

Ich schlief fast keine Nacht mehr durch, seit Bernd, mein Bruder, ausgezogen war. Früher hatte mich immer sein Schnarchen beruhigt, sein Gemurmel im Schlaf, seine Bewegungen, die träge und einförmig waren wie die eines aufgehenden Backteigs.

Jede Nacht hatte ich Albträume: lange, unfreundliche Korridore, in denen man mit verschiedenen Graden der Unbeweglichkeit kämpfen musste; verschlossene Türen mit fremdsprachigen Aufschriften; meine Mutter, die mich nicht mehr wiedererkennt und meinen Bruder bittet, mir zu zeigen, wo der Ausgang ist; Verfolgungsjagden durch unseren Keller, in dem Atommüll lagert; ein sterbendes Tier, das sich in einen der schwarzen Regenschirme geflüchtet hat und daraus nicht mehr zu vertreiben ist; rötliches Eis, das beim Schlittschuhlaufen bricht; Clownsschminke, die man nicht mehr ab bekommt. Und in beinahe jedem Traum begegnete ich einer blauen Flamme wieder, die plötzlich irgendwo hochzüngelte, aus meiner Armbanduhr, aus einem Stück Brot, aus einem Brückengeländer, das sich in diesem Moment auflöste und mich in den Fluss stürzen ließ, aus Geldbörsen, Eistüten, Legosteinen, fremden Augen. Ich hasste die blaue Flamme, ihre Farbe war das Entsetzlichste an ihr, dieser Ton von Blau, den ich tagsüber nirgends erblicken konnte. Er ließ sich auch nicht mit Buntstiften auf Papier malen, die verfügbaren Schattierungen aus der Pelikan-Zeichenbox reichten dafür nicht aus. Ich versuchte, der Flamme einen Namen zu geben, damit sie mich endlich nicht mehr heimsuchte, aber es half nichts.

Zu den Albträumen kamen noch meine Schwierigkeiten einzuschlafen. Meine Glieder wollten sich einfach nicht beruhigen. Die Finger blieben hellwach bis spät in die Nacht und bewegten sich, zwei nervöse Spinnen, über die Bettdecke. Außerdem hörte ich die ganze Nacht lang meine Eltern durch die Wohnung gehen, Möbel verrücken, flüstern, sprechen. Ich war schon oft zu ihnen hinausgegangen, wenn sie mich mit ihren Geräuschen qualvoll lange wach gehalten hatten, aber sie saßen immer nur in der Küche oder im Wohnzimmer, betreten, verwirrt, überrascht, mich so spät noch zu sehen – und rieten mir, mich wieder ins Bett zu legen.

Ihr Verhalten war mir unerklärlich. Was hatten sie immer zu bereden? In den Gesprächen beim gemeinsamen Abendessen ließen sie sich nichts anmerken. Merkwürdig war, dass sie immer erst gegen Mitternacht miteinander zu flüstern und zu sprechen begannen, wenn ich noch mit der Angst kämpfte, diesmal die ganze Nacht wach zu bleiben.

Wenn wirklich gar nichts mehr half, holte ich die blaue Kiste unter meinem Bett hervor.

Trenner

Kinder im Park sind wie Verstoßene, sie laufen überallhin, als wären sie auf der Suche nach einem Unterschlupf für die Nacht. Wer zu lange an einem Ort blieb, wurde von Bettlern belästigt, die mit einem Speichelfaden am Kinn kämpften oder eine Hand in ihrer Hose bewegten, als wollten sie ein schlagendes Herz nachahmen. Man hatte dann zwei Möglichkeiten: um Hilfe rufen oder kämpfen. In unseren Gedanken entschieden wir uns meist für den Kampf, damit niemand merkte, dass sich in unsere Stimmen bereits Tränen mischten.

Wir glaubten an nichts. Wir sprachen unentwegt von Banden, vom Davonlaufen, von Heckenschützen und Überfällen, vom Erlernen einer schwierigen Kampfkunst und sogar davon, ein Mädchen zu verführen. Das alles hing, soweit man sehen konnte, irgendwie zusammen.

Es war der seltsamste Zustand, die rätselhafteste Einrichtung überhaupt: eine Welt, in der es Mädchen gab, Mädchen, von denen wir im Turnunterricht getrennt waren, die höhere Stimmen hatten und sich miteinander in einem jahrhundertealten Geheimcode verständigten, der versiegelt und streng bewacht war. Jeder Versuch, den Code gewaltsam zu knacken, führte zur Katastrophe – Tränen, Gebrüll, Lehrer und Eltern, die auf den Unterschied zwischen den Geschlechtern hinwiesen und uns am Handgelenk in irgendeine Richtung zerrten.

Aus rätselhaften Gründen machte uns gerade die körperliche Unterlegenheit der Mädchen, auf die man uns ständig hinwies, ihre schwächeren Arme und Beine, erst richtig wütend, sie schien wie eine Verspottung unserer eigenen Körper. Wir hätten viel darum gegeben, das heißt bezahlt, wenn wir nur für fünf Minuten allein mit einem Mädchen gewesen wären, allein in einem abgesperrten Raum. Allein und ohne Konsequenzen.

Es gab keine Möglichkeit, uns zu beruhigen.

Während mancher Schulstunden dachte ich daran, wie wunderbar es sein müsste, ein Mädchen, am besten eines aus der vorderen Reihe, eines jener Mädchen mit Brille und langem Pferdeschwanz, in eine Statue zu verwandeln – nicht in eine aus Stein, sie sollte lediglich bewegungsunfähig sein, die Augen von mir aus geschlossen und ohne Kleider. Was man alles mit einem solchen Mädchen anstellen könnte, alles, einfach alles – mir fiel vor Aufregung darüber gar nichts Originelles ein, das ich auch meinen Freunden erzählen konnte. Sie alle hungerten, wie ich, nach solchen Erzählungen, nach den quälenden Visionen, die einer von uns etwa eines Nachts gehabt hatte und am nächsten Tag vorm Schulgebäude schilderte – diese entsetzlichen Fantasien aus erfüllten Wünschen und gestohlenen Schätzen. Mein Herz wurde jedes Mal zu einem Buch mit aufflatternden Seiten, wenn einer von uns etwas Neues erzählte, eine Episode, einen Einfall, eine Spiel- oder Folteranleitung – und natürlich musste dann jeder den anderen übertrumpfen, und so verfielen wir in dunkel sprießende Improvisationen, die uns noch tagelang verfolgten, wenn wir sie richtig hinbekamen.

– Die Laura … mit ihrem langen Pferdeschwanz (wie diese letzte Silbe schmatzte!) … wenn die sich hinknien würde … wie ein Hund … und dann nimmt man einfach die Haare und zieht sie zwischen ihre Arschbacken … dass sie sich den Arsch mit ihrem Zopf abwischt …

– Oder du knotest die Haare dann so, schau, so …

– Und dann steckst du sie ihr rein!

Und das schmutzige Wort, das gleichzeitig in einem anderen Leben rein, also sauber, unbefleckt, bedeuten konnte, zerging salzig auf der Zunge.

Die Tatsache, dass die Mädchen nichts von uns hielten und sich nicht im Geringsten auf die gleiche Art und Weise über uns zu unterhalten schienen wie wir über sie, stachelte uns zu immer kühneren Flugversuchen an.

Der einzige Ort, an dem es keine festgelegten Sitzplätze für Buben und Mädchen gab, war die Kirche.

Trenner

In der Kirche drehte sich alles darum, dass man nur so weit und nicht weiter gehen durfte in dem riesigen, fast immer menschenleeren Gebäude. Bis zum Altar und nicht weiter. Nein, bis zu den Stufen vor dem Altar. Und auch nicht in die Sakristei, nicht ohne Aufsicht.

Unsere Schritte hatten lange Echos: Doch … Doch … Dochchch …

Von Pater Johann hatten wir damals die Erstkommunion erhalten, ein seltsames Martyrium aus Basteleien und rituellen Kerzen, die monatelang meine Träume beschäftigten. Und alle Mädchen in Weiß. Gebete aufsagen. Der Ablauf der Messe, wie die Strophen eines Gedichts auswendig im Kopf. Das merkwürdige Wort Fürbitten. Die lange Reihe der Mädchen und Buben mit den Kerzen in der Hand. Der schwitzende Fotograf auf dem kleinen Gemeindeparkplatz.

Mir gefiel es, zur Messe zu gehen, weil ich da noch viele meiner alten Schulfreunde treffen konnte. Die Kinder im Gymnasium, das ich seit einem halben Jahr besuchte, waren mir alle noch fremd und würden das Kunststück wohl nicht mehr hinbekommen, meine Freunde zu werden.

An dem Tag, als ich den weißen Papiertaler, der Teile des Erlösers enthielt und nach nichts schmeckte, in der Kommunion empfing, aber nicht schluckte, habe ich das erste Mal jemanden geschlagen. Michael.

– Dalleib Christi, sagte Pater Johann und tat dann das Ungeheuerliche, das er schon einige Male getan hatte, etwas, das mich elektrisierte und beinahe in Ohnmacht fallen ließ – er legte mir die kleine, weiße Hostie auf die Zunge. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich ganz von selbst den Mund offen gehalten hatte, was mich noch mehr verwirrte und anstachelte. Dann fiel mir ein, dass nur geschehen war, was mir vorher schon von allen lang und breit erklärt worden war.

Die Hostie blieb am Gaumen kleben und wurde ein weißer und zäher Brei, wenn man nicht aufpasste. Wir allerdings passten auf.

Es war ganz einfach. Man musste nur vorher eine halbe Stunde mit offenem Mund herumrennen, bei Wind, mit offener Jacke, im Park oder vor der Kirche. Oder, wenn das nicht möglich war, pfeifend ein- und ausatmen, so als wäre man verschnupft. Mit ausgetrockneter Kehle wartete man die Messe ab, dann empfing man – welch eigenartiger Schauder packte mich jedes Mal aufs Neue bei diesem Wort – die Kommunion, die weiße Oblate. Sie klebte sofort an der Innenseite des Mundes fest, und man konnte sie gefahrlos hinaustragen und den Freunden zeigen, die mit ihren Eltern vor der Kirche herumstanden, auf dem Kiesweg, gleich neben einem unordentlichen Fahrradständer.

Über dem Altar, sehr weit oben, gab es ein rundes, weißes Fenster aus Milchglas, das ich immer anstarrte, wenn ich empfing. Es war genauso rund und weiß wie die Hostie in meinem Mund, und die Distanz zwischen mir und dem hohen Fenster verringerte sich fast auf null, wenn sich die kleinere Version davon, die Hostie, an meinen Gaumen legte. Wie ein Seil, das zwischen zwei weit entfernten Punkten gespannt wird. Das Fenster war einer der wenigen Gegenstände, die eine unleugbar heilige Wirkung auf mich hatten, ähnlich wie der Anblick einer verfaulten Blume, der eigenen Haut unter einem starken Vergrößerungsglas oder der toten Fische auf dem Bauernmarkt mit ihren entsetzt starrenden Augen.

Am Kirchenparkplatz, allein mit ein paar Freunden, sperrte ich meinen Mund auf und zeigte ihnen die intakte Hostie.

– Gib …

– Lass mich!

Michael griff mir mit seinen nach Speichel riechenden Fingern ins Gesicht, auf meine Lippen. Ich wehrte ihn ab. Er taumelte wieder näher, dümmlich und verspielt. Ich rammte ihm meine Faust in den Bauch, dann schlug ich ihm, während er sich krümmte, ins Genick. Die Freunde wichen vor uns zurück.

Michaels Mutter hatte uns gesehen und eilte ihrem Sohn zu Hilfe. Sie spuckte ein paar Beschimpfungen in meine Richtung, dann zog sie ihn am Handgelenk davon. Er ließ sich führen wie ein Blinder, von der Erkenntnis, dass sein Körper Schmerz empfinden konnte, ganz benebelt.

Ich blieb zurück und begann erregt zu kauen.

Trenner

In der Ferne winkten fallende Schornsteine, wie ein Lauffeuer breitete sich die Hölle über die Gegend aus, über den Volksgarten, das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, das Orpheum, die Parkgarage. Über den Hinterhof unseres Hauses, über die Balkone und Fenster. Über die Vogeltränke, über meine Fingerspitzen. Sogar auf meiner Haut breitete sie sich jetzt aus, eine Hölle wie warmes, feuchtes Moos, eine Hölle wie ein Medaillon, das man mit sich herumträgt, eine Hölle wie eine verbotene Körperstelle, die niemals ganz trocken wird, auf der alles immer festklebt und sich langsam auflöst wie Löschpapier. Ein Haarföhn löste sich aus meiner Schulter, er tropfte auf den Boden. Er war winzig klein und lebendig. Ich berührte ihn mit der Fußspitze, da begann er sich im Kreis zu drehen wie ein Feuerwerkskörper. Es musste davon noch Hunderte in meinen Schultern geben.

Entsetzt atmete ich aus. Beim Aufstehen schleifte ich die Bilder des Traums an einer langen, scheppernden Drachenschnur hinter mir her.

Ich betrat die Küche. Wie immer verharrten meine Eltern für einen Augenblick in der Position, in der sie sich gerade befanden. Ich hatte sie unterbrochen. Ich unterbrach sie die ganze Zeit. Andere Kinder begrüßten oder überraschten, ich unterbrach.

Meine Mutter stand am Herd. In der Hand hielt sie einen Löffel und schabte etwas aus einer Pfanne. Mein Vater starrte sie an.

– Kannst du das lassen?

– Was?

– Dieses Geräusch. Dieses Kratzen.

– Ich kann nicht warten …

– Lass es!

– Wenn ich es jetzt nicht mache, dann kann ich die Pfanne gleich wegwerfen!

– Brauchst du eine schriftliche Einladung?

Mein Vater war aufgestanden. Dann schaute er mich an und setzte sich wieder. Normalität bewahren. Alles in Ordnung. Niemand streitet.

Es war erbärmlich.

Sie hatten beide tiefe Augenringe, die Hautstelle darunter war dunkelgrau und so schlaff und ausgeleiert, als hätten die ganze Nacht Bleigewichte daran gehangen.

Solange ich in der Küche war, schwiegen sie, verschonten mich. Ich hasste sie dafür.

Sie waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass keiner von ihnen bemerkte, dass ich an diesem Tag gar kein Frühstück bekam.

Das geschah ihnen recht, dachte ich.

Irgendwann würde es mir so schlecht gehen, dass sie ihr Verhalten schlagartig ändern müssten.

Trenner

Wenn meine Eltern keine Zeit für ein Mittagessen hatten, kam Inge zu mir, die sonderbare Nachbarin. Sie saß in der Küche und wartete, bis sie jemand ansprach. Wir sperrten die Wohnungstür so gut wie nie ab; in unserem Bezirk gab es wenig Kriminalität, trotz des finsteren Volksgartens gleich um die Ecke.

– Hallo, sagte ich in die Küche.

– Hallo, sagte Inge, schau –

Sie winkte mich zu sich heran und zeigte mir ihre Fußsohle. Sie war schwarz und besaß fast so etwas wie ein Muster, eine Struktur aus eingetretenem Dreck.

– Sohlen …, sagte sie, nickte mir aufmunternd zu und lachte auf ihre breite, hin und her schwappende Art.

Inge kochte gut und erzählte immer wieder dieselbe Geschichte von dem Lamm, das sie als Kind versucht hatte aufzuziehen, weil es von seiner Mutter verstoßen worden war. Ich hörte die Geschichte gerne. Inge hatte schon vor langer Zeit den Verstand verloren. Deshalb konnte sie so gut kochen und erzählen.

Und noch einen Vorteil hatte es, wenn Inge in der Wohnung war: Sie ließ mich, ohne nachzufragen, überall hingehen.

Trenner

Michael freute sich – trotz des kleinen Kampfes vor der Kirche – immer noch, wenn er mich sah. Er wusste, dass ich viel klüger war als er und deshalb auch viel einfallsreicher. Besonders liebte er es, wenn seine Mutter uns beide allein ließ, dann wich er gar nicht von meiner Seite, stellte sich taub für jeden Satz in normaler Tonlage, sprang aber auf alles an, was ich mit leicht veränderter Stimme sagte.

Ich redete mir ein, dass Michael mich für meine Klugheit und meine fantasievollen Spielideen liebte, und ich hasste ihn gleichzeitig für diese Schwäche. Sobald er mich spüren ließ, dass ich ihm überlegen war, konnte ich die Beherrschung verlieren.

Trotzdem musste ich zugeben, dass mir die Spiele mit ihm am besten gefielen – das Verschanzen hinter einem Berg von Matratzen, das Ausschauhalten am Balkon, in ein paar annähernd in Armeefarben getupfte Decken gewickelt, oder das Verwundeten-Spiel, in dem wir zwei Angeschossene oder Verstümmelte waren, die sich durch eine Wüste oder einen Dschungel oder eine menschenleere Vorstadt schleppten – die Spiele erfüllten das wichtigste Kriterium, das ich bei Spielen kannte: Mir wurde heiß.

An diesem Tag spielten wir an seinem Computer. Ich schlug etwas anderes vor, aber Michaels Mutter war noch zuhause, und ich verstand sein Zögern. Er wollte den Genuss für später aufsparen, ich selbst hätte es genauso gemacht. Wir saßen nebeneinander vor dem Bildschirm, Michael hatte einen Stuhl für mich aus der Küche geholt, einen hellen aus Holz, der nicht zu dem schwarzen Bürosessel passte, auf dem Michael halb kniete und halb saß. Seine Finger waren schmutzig, gelb und dick. Das halbe Kreuz der Pfeiltasten seiner Tastatur war abgewetzt und verschmiert. Ich musste sie, Gott sei Dank, nicht anfassen. Michael konnte den Augenblick kaum erwarten, da seine Mutter endlich die Wohnungstür hinter sich zuziehen und uns allein lassen würde. Er wurde nervös, war nicht richtig bei der Sache, ihm unterliefen lächerliche Fehler.

Ich ermahnte ihn, er solle sich konzentrieren.

Er stand auf und ging zur Tür. Er lauschte. Als er die Schritte seiner Mutter hörte, die aus dem Badezimmer kam, senkten sich seine Schultern.

– Komm wieder her, sagte ich.

Ich ertrug es nicht, wenn die Anwesenheit seiner Mutter wichtiger war als meine. Ich besuchte ihn schließlich nur einmal in der Woche. Ob seine Mutter da war oder nicht, konnte ihm doch eigentlich egal sein. Und wenn wir schon nicht die richtigen Spiele spielen konnten, solange wir nicht allein waren, sollte er doch wenigstens –

– Was tust du!?

Ich hatte geschrien, sofort wurde ich wieder leiser. Kein Grund, seine Mutter anzulocken.

– Gar nichts, sagte er.

Er hatte seinen Zeigefinger auf die Pfeil-nach-oben-Taste gelegt, sodass seine Spielfigur auf meine zusteuerte, ohne Attacke, ohne Chance. Ich besiegte sie und schrie ihn wieder an:

– Was soll das?

– Es ist eh schon aus, sagte er.

Sein dickes Gesicht, seine Weichheit, seine unangebrachte Liebe, die er mir auch noch vorenthielt, solange seine Mutter in der Wohnung war – all das trieb mich zur Tat, zum ersten Befreiungsschlag. Ich warf mich auf ihn und schlug ihm mit der Faust gegen die Stirn. Er quietschte unter meinem Gewicht und strampelte. Ich haute noch einmal zu, diesmal auf seine straff gespannte Wange. Sofort leuchteten ein paar rote Flecken auf. Er starrte zu mir hoch, verwirrt, ängstlich. Ich hätte ihm auf der Stelle einen kleinen Metallring durch die Lippe oder das Ohrläppchen schlagen können.

Ein paar Sekunden nach der Attacke ging es schon nicht mehr um die Tat selbst, es war vielmehr die Verbindung bestimmter Dinge und Gegenstände, die augenblicklich notwendig schien. Die Brille, die Finger, der runde, helle Schädel, das fleckige T-Shirt, die Schultasche, das alles brüllte nach Verschmelzung, nach Entweihung. Ich riss an Michaels Arm und verdrehte ihn, der Widerstand des Gelenks nahm zu, mir wurde heiß.

Die Wohnungstür fiel ins Schloss.

Michaels Augen weiteten sich, und er schrie um Hilfe. Ich hatte noch nie ein Kind um Hilfe schreien gehört, außer einmal – mich selbst, als ich im Lift unseres Hauses feststeckte und erst drei Stunden später befreit werden konnte. Seitdem vermied ich jeden Kontakt mit dem Aufzug, als wäre er eine unanständige Körperstelle, über die man mit niemandem sprechen durfte. Nachts hasste ich sein keuchendes Fahrgeräusch in den Wänden.

Ich drehte noch stärker an Michaels Arm, er weinte und schrie nach seiner Mutter, die noch im Treppenhaus sein musste. Ich berührte seine Stirn und die Schläfen. Er ließ es geschehen. Etwas Finsteres wohnte in der Berührung von Michaels Kopf, in der Art, wie ich die Form seines Schädels unter seinen kurzen Haaren spüren konnte. In dem Gefühl lag ein quälendes, lähmendes Begehren, das Verlangen, in irgendeine Richtung weiterzugehen. Ohne ihn loszulassen, betastete ich meinen eigenen Kopf, um zu sehen, ob sich das Gefühl reproduzieren ließ. Ich sagte einige Male laut seinen Namen: Mich-a-el, Milch-al-eel.

Ich fasste nach seiner Brille und zog daran, langsam und vorsichtig, wie man die Schutzfolie von einem Abziehbild löst. Er begann sofort zu blinzeln. Auf einem Brillenglas lag eine kleine, runde Träne. Ich roch an der Brille.

– Mund auf, befahl ich ihm.

Er schüttelte den Kopf, er wand sich unter mir, wie ein Fisch, der zurück ins Wasser will. Ich griff in sein Gesicht und öffnete seine Lippen mit Daumen und Zeigefinger. Er wehrte sich, aber ich schaffte es, die Brille zwischen seine Zähne zu schieben. Er hatte aufgegeben, lag nur mehr da, die Brille im Mund, und weinte.

Ich hatte Mitleid, ich wollte aufhören. Das Telefon in der Wohnung klingelte.

Ich fuhr ihm einmal über den Kopf, das kurz geschorene Haar, das Gefühl an meinen Fingern brachte den Wahnsinn, den finsteren Taumel wieder; ich grub ihm meine Nägel in die Wangen, dabei bemerkte ich, wie sich mein Mund verzerrte, ohne dass ich es kontrollieren konnte – er wurde zu dem halbgeöffneten Mund, den man nach einem starken Weinkrampf hat, mehr eine offene Wunde als ein Mund. Ich schluckte. Das Gefühl seiner nachgebenden Haut unter meinen Fingernägeln. Es war genug, ich musste jetzt aufhören. Das Telefon läutete ein letztes, halbes Mal und blieb dann stumm.

Ich stieg von ihm herunter. Zuerst spuckte Michael die Brille aus, sie fiel auf den Teppich. Er hatte zu weinen aufgehört. Ohne mich zu beachten, ordnete er seine verrutschte Kleidung und putzte seine Brille an einem Hemdsärmel.

Ich setzte mich wieder vor seinen Computer.

– Kommst du jetzt, sagte ich.

Er setzte sich auf sein Bett, zog sich die Socken aus und wieder an. Ein verzweifelter Versuch, etwas Ordnung zurückzugewinnen. Danach stand er auf und kam tatsächlich zu mir, und wir spielten weiter gegeneinander. Aber er schaute nur starr auf den Bildschirm, sein Gesicht war ausdruckslos wie ein Stapel Papier. Seine dicken Finger mit den abgekauten Nägeln tänzelten ungeschickt über die Tastatur. Ich ließ ihn gewinnen, um ihm zu zeigen, dass ich nicht mehr wütend auf ihn war. Er bemühte sich zwar auch zu verlieren – vermutlich um mich zu beruhigen –, aber es gelang ihm nicht. Endlich hob seine Spielfigur die eckigen Arme zum Himmel und führte ihren Siegestanz auf. Nach drei Runden hatte Michael sogar ein Leben mehr als ich.

Trenner

Die schreckliche Kreuzigung auf der ersten Schauseite des Isenheimer Altars; ein Porträt des Elefantenmenschen Joseph Merrick; das nackt brennende Mädchen in Vietnam; der Lampenschirm aus Buchenwald; ein KZ-Häftling, der in einer Druckkammer ermordet worden ist, mit geborstenen Augenhöhlen; ein alter Kupferstich, der einen Pestdoktor zeigt, geschnäbelt und mit einem Stock zum Berühren der Kranken, vor ihm ein abgezehrter schwarzer Leichnam wie ein Büschel verbrannte Wolle; eine Werbepostkarte zum Film Eraserhead; ein paar alte Kinderzeichnungen mit Tunneln, Kerzen und Altären; ein Rosenkranz; eine Bilderserie aus der Chronik der Medizin über das Steinschneiden im Mittelalter; die musikalische Hölle von Bosch; ein paar Seiten aus einem Kinderbuch mit Darstellungen von vergreisten Elfen, und die Elfen sind von einem Fluch befallen, der ihre Gesichter altern lässt und ihre Herzen in graue Pilze verwandelt, die irgendwann aus der Brust schlüpfen wie kleine lebendige Schirme – das grausamste Bild zeigt eine Wiese neben einem Wald, auf ihr eine Schar Elfen, Männer wie Frauen, die sich unter Todesschmerzen krümmen und die Hände gegen ihre Oberkörper pressen, um die Katastrophe aufzuhalten – das und eine Sammlung alter Actionfiguren waren in etwa der Inhalt der blauen Kiste. Als ich sie schon hervorgezogen hatte, merkte ich, dass ich sie heute nicht brauchen würde. Sie wanderte zurück in die Finsternis.

Trenner

Am nächsten Tag erhielt Michael seine zweite Abreibung, diesmal sozusagen in Abwesenheit.

Wir waren alle im Park und spielten Geschwader. Ich liebte dieses Wort, obwohl ich nicht genau wusste, woher es kam. Es fühlte sich im Mund an wie ein geheimnisvoller schwarzer Lederhandschuh.

Das Spiel sah folgendermaßen aus: Vier von uns waren die kampfkräftigste Einheit einer Sondereinsatztruppe, die nach einer nuklearen Katastrophe durch das Land zog und für Frieden und Disziplin sorgte. Die anderen drei waren Rebellen. Die Spielanleitung hatten wir von der Verpackung eines Videofilms.

Das Spiel bestand aus Feuergefechten quer durch den ganzen Park. Als Waffen benutzten wir Äste.

Ich gab Michael den Auftrag, sich zu verstecken. Über unsere gestrige Auseinandersetzung hatten wir nicht mehr gesprochen. Aber mir schien, dass er noch eine Spur unterwürfiger war als sonst. Er fragte mich, wo er sich verstecken solle. Ich brachte ihn zu dem kleinen Pavillon mit öffentlichen Toiletten, der in der Nähe der Volksgartenstraße stand. Die Tür zu den Männerklos stand offen, und ich stellte Michael in eine der Kabinen.

– Bis wir dich rufen, sagte ich.

Er salutierte. Für einen Augenblick brachten mich sein alberner Spieleifer, seine roten Wangen, sein vorstehender Unterkiefer wieder in Rage, aber ich riss mich zusammen und ließ ihn allein, er machte die Klotür zu. Ein obszöner Spruch erschien, begleitet von einer Telefonnummer. Ich ging noch einmal zurück und riet ihm, die Tür zu versperren. Ich wartete. Es dauerte eine Weile, dann färbte sich das kleine Kästchen unter der Türschnalle rot – besetzt.

Das Spiel ging ungefähr eine Stunde ohne Unterbrechung weiter. Wir mieden den Teil des Parks, in dem einige der Mütter auf Bänken saßen und darauf warteten, dass ihre Söhne müde zu ihnen zurückkehrten.

Diesmal war es anders – eine Mutter kam zu uns, mitten in unser Spiel von postapokalyptischer Vergeltung. Sie nahm von den Vorgängen allerdings nichts wahr, sondern sprach ihren Sohn Markus an, der gerade tot im Gras lag. Er stand sofort auf und ging mit ihr fort. Eine andere Mutter tauchte gleich nach ihr auf und fragte nach ihrem Kind.

Ich kannte sie. Ich wartete.

Wenig später waren alle am Suchen, ich eingeschlossen. Auf der schmalen Brücke über den Mühlgang entdeckte ich ein kleines Stofftaschentuch, das jemand um eine der Geländersprossen gewickelt hatte. Das Taschentuch verwandelte sich in eine Jacke, in eine Unterhose, in einen Pullover. In Michaels Pullover. Michael war entführt, im Gebüsch, in einem Hinterhof, auf dem Rücksitz eines Lieferwagens vergewaltigt worden, und anschließend war seine Jacke auf die Brücke gelegt worden, als Ablenkungsmanöver. Oder nein, er selbst war zu einem der Bettler gegangen und hatte sich ihm angeboten. Oder dargeboten, mit dieser etwas raueren, schmutzigeren Silbe.

Die letzte Version der Geschichte reizte mich ganz besonders. Wenn ich vielleicht was gesehen hätte … etwa den Moment, da Michael zum ersten Mal den Penner anspricht … Vielleicht bezahlte er sogar den Penner. Mit seiner Jacke. Und die war dem Penner hinterher zu klein gewesen, und er hatte sie deshalb hier abgelegt, als hätte sie jemand einfach vergessen. Oder besser – Michael war einfach plötzlich aus unserem Spiel verschwunden und hatte sich, schon im Fortgehen, die Jacke ausgezogen. Diese Geschichte war unschlagbar. Denn man wusste nichts, man konnte aber alles ahnen – wozu zog er die Jacke aus, wenn es doch schon beinahe Abend und ziemlich kühl war? Und warum war er plötzlich weggegangen? Diese Fragen brachten mir einen unerhörten Vorteil – man würde mir glauben, weil ich selbst so wenig wusste.

Es war die wundervollste Entdeckung von allen: eine Geschichte, die einen Abend lang die Wirklichkeit verdrängte. Ich hatte den Wirkungsbereich meiner eigenen Stimme entdeckt. Ich hatte Gott gefunden, ich hatte ihn in mich aufgenommen.

Es war der schönste Abend, den ich seit langem erlebt hatte. Keine Streitereien, kein Gebrüll. Mein Vater und meine Mutter saßen, in ein leises, bedeutungsvolles Gespräch versunken, nebeneinander am Küchentisch. Worum ging es? Um den Park natürlich. Um meinen Bericht, um mich – es ging um mich, ohne dass sie es merkten! Ich hatte auf ganzer Linie gesiegt.

Sie berieten, ob der Park wirklich noch ein sicherer Ort für ein Kind war. Sollten sie mir überhaupt noch erlauben, zum Spielen dorthin zu gehen? Vielleicht war es ja auch die Schuld von Michaels Mutter, dass ihr Sohn verschwunden war. Ja, wer weiß, auch das konnte sein. Vernachlässigte sie ihren Sohn? Man würde mich später nach Hinweisen darauf befragen.

Ich saß im Nebenzimmer vor meinem Teller Spaghetti, aber ich hörte alles. Ich aß so geräuschlos wie möglich. Ich hatte mir bewiesen, dass in meinem Kopf ein Ausgang existierte, ein Ausgang aus der täglichen Hölle, aus den Streitereien und Kämpfen meiner Eltern. Ich brauchte meinen Bruder nicht mehr, um es zu ertragen. Mochte er doch bleiben, wo er wollte. Das erste hellblaue Aufflackern von Unabhängigkeit! Ich konnte mein Glück kaum fassen. Ich saß vor meinem Abendessen auf dem Sofa im Wohnzimmer und fand alles wunderschön: die alten Bilder an den Wänden, die schwarze Gesellschaft der zusammengeklappten Balkonsessel, die Tischplatte, die grüne Leselampe. Das leere Zimmer meines Bruders. Die geschlossene Tür.

Mein Vater schlug vor, dass mich ab jetzt immer jemand begleiten sollte. Das heißt natürlich erst, nachdem die Suche abgeschlossen und Michael wieder aufgetaucht war. Vorher blieb der Park Sperrgebiet.

Ich musste krampfhaft ein Lachen unterdrücken. Den Mund voller Nudeln, presste ich mir die Serviette auf die Lippen und zwang mich zu schlucken. In meiner Brust, knapp unterhalb meiner Kehle, implodierte ein kleiner Ball aus Glück.

Ob er wohl immer noch dort stand, in der Toilette, die so ekelhaft stank, nach jahrhundertealtem Urin und den Exkrementen todkranker Männer? Es war herrlich, sich Michael vorzustellen, wie er mit seiner kurzen Hose auf einer der schmutzverkrusteten Klobrillen hockte und die Stellung hielt. Vielleicht war er auch irgendwann eingenickt. Es hätte mich nicht gewundert, denn es kam oft vor, dass Michael im Unterricht schlief.

Ich nahm mir vor, ihn am nächsten Tag mit einer Beförderung zu belohnen, falls er es geschafft haben sollte, die ganze Nacht in der Kabine zu bleiben.

Meine Mutter telefonierte an diesem wundervoll friedlichen Abend noch spät mit jemandem; auch das kam nicht oft vor. Sie sprach im Nebenzimmer, als ich schon längst im Bett war. Ich hörte ihre Stimme, sie sagte, dass es ihr leidtue, sie versprach irgendetwas, das ich nicht verstehen konnte, dann legte sie auf.

Der Lichtspalt unter meiner Tür glühte auf und erlosch.

Trenner

Meine Entdeckung musste alles, wirklich alles verändert haben, denn am nächsten Morgen war die Wohnung leer – die Schuhe und Mäntel meiner Eltern fehlten –, und nur aus der Küche kamen Geräusche.

Ich erwartete, dass Inge dort saß und mit ihren Fußsohlen redete. Ich schaute um die Ecke.

– Hallo, sagte Bernd und sah von einem Glas Milch auf.

Ich dachte daran, dass ich noch im Pyjama war – Bernd hasste es, wenn ich nicht richtig angezogen war, er nannte mich dann immer nackt, obwohl alles an mir verhüllt war.

Dann erst dachte ich: Warum war er da?

– Die Mama und der Papa kommen erst später, sagte er und kaute.

Sein Ton überraschte mich. Die Mama und der Papa – so hatte er vorher nie gesprochen. Sonst hieß es immer sie. Er fasste sie beide immer zusammen. Etwas hatte ihn verändert während der Zeit, als er weg gewesen war. War er überhaupt zurückgekommen? Würde er wieder einziehen? Ich wusste nicht, was ich ihn fragen sollte.

– Zieh dir vielleicht etwas an, wie wär das …?

Ich blickte an mir herunter, nur um ihm zu zeigen, dass ich seinen Vorschlag ernst nahm, und ging zurück in mein Zimmer. Ich zog den Pyjama aus und holte eine saubere Unterhose aus dem Kleiderschrank. Auf dem Klavierschemel fand ich ein zusammengelegtes T-Shirt.

Draußen hörte ich Bernd herumgehen. Suchte er etwas? Ein Schlüsselbund rasselte, und die Wohnungstür wurde zugesperrt.

In Unterhose und T-Shirt ging ich ins Wohnzimmer. Bernd saß dort vor dem Fernseher, das Glas Milch stand vor ihm. Er hatte es immer noch nicht angerührt.

– Komm, sagte er und tätschelte den Sofabezug neben sich.

Auch diese Geste war neu. Einen Augenblick zögerte ich.

– Bist du heute Morgen gekommen?, fragte ich ihn.

Meine Stimme klang etwas schwach. Ich sah das Glas Milch an und räusperte mich.

– Nein, schon in der Nacht, sagte er und drückte auf der Fernbedienung herum. Gleich nach dem Anruf … bin ich hergekommen …

Der Anruf? War es das gewesen, was ich gestern im Halbschlaf gehört hatte? Meine Erinnerung an die Nacht war überraschend vage. Ich hatte zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wieder durchgeschlafen, traumlos und friedlich.

– Gleich nach dem Anruf …, wiederholte er, Stück Dreck …

– Was?

– Wie, was?, fragte er zurück.

– Warum sagst du Dreck zu mir?

– Hab ich das? – er legte die Fernbedienung weg und tat erstaunt – also ich wüsste nicht … Ich habe dich doch sicher nicht ein kleines Stück Dreck genannt, oder?

– Haha, sagte ich.

Ich hoffte, dass er Spaß machte.

– Ein kleines, wahnsinniges Stück Dreck … nein … nein, also das muss ein Irrtum sein, sagte er und legte zwei Finger auf seine Unterlippe, ein kleines Stück Scheiße, das vollkommen durchgedreht ist … nein, da musst du dich verhört haben …

Ich stand auf.

– Was soll –

Da packte er mich bei den Schultern und hob mich hoch. Seine körperliche Kraft war immer noch die alte.

– Ein richtiger kleiner Psychopath, sagte er und ließ mich auf den Boden fallen. Fünf Stunden. Fünf verdammte Stunden … weißt du, was das heißt? Fünf – Stun – den. Fast bis Mitternacht! Weißt du, was das heißt?

– Ja, sagte ich.

Ich fühlte, wie Tränen unter der Oberfläche meines Gesichts zusammenströmten. Sie waren auf der Suche nach einem Ausgang.

– Was würdest du tun, wenn du bis Mitternacht in einem dreckigen Klo eingesperrt worden wärst?

– Ich hab ihn gar nicht einge–

– Und erst ein paar durchgedrehte Jugendliche finden dich und bringen dich nach Hause? So ein paar Wahnsinnige mit Glatzen und Bierdosen … Hm?

Ich drehte mich um und ging in Richtung meines Zimmers. Bernd musste dort, wo er die letzten Wochen gewesen war, den Verstand verloren haben.

Er holte mich ein, ich wehrte seinen Griff ab, er packte mich härter und hob mich wieder hoch. Ich strampelte.

– Hat dir das Spaß gemacht, hm?, fragte er, sehr nah an meinem Ohr, hat dir das einen Kick gegeben? Hat er um Hilfe gerufen? Komm schon, erzähl’s mir! Ich bin dein Bruder, mir kannst du alles erzählen –

Endlich ließ er mich los, ich rannte davon, in mein Zimmer. Er hinterher. Ich entkam ihm unters Bett. Ich rollte mich, so weit ich konnte, in die Dunkelheit. Sein Gesicht tauchte im Lichtspalt auf, fluchte. Er langte unters Bett, versuchte mich zu packen, aber ich lag zu weit entfernt. Er schlug mit der Faust auf den Boden und richtete sich auf. Seine nackten Füße gingen einmal ums Bett herum, dann hob er es auf einer Seite an.

Ich bekam Panik und robbte auf der anderen Seite raus, schnell aus dem Zimmer, vorbei am gespenstischen, kahlen Baum des leeren Kleiderständers – warum waren alle verschwunden? – in die Küche. Aber da hatte er mich schon eingeholt, er war viel größer und schneller, entsetzlich groß und entsetzlich schnell, seine Hände krallten sich in meinen Schultern fest, drehten mich herum. Ich war verloren, ich schlug und trat um mich, er fing alles ab, verpasste mir eine entsetzliche Ohrfeige, sodass für einen Augenblick alles in ein grünliches Blau getaucht war und sich langsamer bewegte als sonst. In einem letzten Versöhnungsversuch wollte ich ihn um die Taille fassen, aber ich lief nur in die Falle – zuerst drehte er mir den Arm auf den Rücken, dann warf er mich um, sodass mein Gesicht auf dem Boden aufschlug, und setzte sich auf mich. Ich japste und grunzte hilflos, bekam kaum noch Luft, meine Stimmbänder gaben, wenn ich sprechen wollte, nur ein hündisches Knurren her.

Bernd drückte ein Knie in meinen Rücken, zwischen meine Schulterblätter, immer fester. Ich merkte, dass seine Bestrafung ihm außer Kontrolle zu geraten drohte, und versuchte deshalb, ein wenig zu winseln, vielleicht sogar zu weinen. Aber der brennende Schmerz und die ohnmächtige Wut hielten die Tränen zurück, ich schluchzte ein wenig, sehr leise, da ich fast keine Luft bekam. Bernd ließ nicht locker, ich wand mich unter ihm, er versetzte mir ein paar Kopfnüsse, dann rutschte ihm die Faust aus, und er schlug viel zu kräftig zu, sodass mein Gesicht ein zweites Mal auf den Boden knallte, wieder mit Nase und Lippe zuerst. Dann hörte er endlich auf, sein Griff wurde lockerer, leichter zu ertragen, sein Gewicht hob sich von meinem zerquetschten Brustkorb. Endlich war ich frei. Bernd stand hinter mir und schnaufte. Ich begann zu weinen.

Er stieg über mich hinweg und verschwand im Badezimmer. Ich hörte den Wasserhahn zischen, den Spiegelschrank mit den Medikamenten auf- und zugehen.

Nachdem er mich verdroschen hatte, kam er nicht mehr zurück, sondern ließ mich einfach dort liegen, wo er mich auf den Boden geworfen hatte. Mein Lippe war aufgesprungen, und mir war sehr schwindlig – Blut sammelte sich unter mir – Blut überall, Blut auf meinen Händen, sogar auf meiner Armbanduhr, ich kroch auf allen vieren zum Heizkörper und lehnte mich dagegen, presste meine Wange gegen das kalte Metall.

Das ist das Ende, dachte ich. Ich werde sterben.

Trenner

Ich lag in meinem Elend, eingerollt in Zorn und Hilflosigkeit wie eine einsame, geballte Faust in einem engen Handschuh. Meine Füße schwitzten unter der Decke, aber ich ließ sie, wo sie waren.

Wenn ich die Augen schloss, flimmerte der Rand meines Gesichtsfelds. Ich rieb mir die Augen, und es wurde davon nur schlimmer. Reglos wartete ich, dass das Flimmern verschwand, aber es blieb. Also machte ich die Augen wieder auf.

Ein Bild an der Wand starrte mich an: ein krakeliges Selbstporträt, das ich in der Schule gemalt hatte. Es lachte, dumm und unbeschwert, wie eine Zielscheibe.

Meine Stirn glühte, und ich hatte Schwierigkeiten zu atmen. Zumindest bildete ich mir das ein. Mein Oberkörper hob und senkte sich, also atmete ich wohl, aber wenn ich den Mund öffnete, war sein Inneres so heiß, dass ich das Gefühl hatte, es käme keine Luft durch.

Meine Mutter war inzwischen einige Male bei mir gewesen und hatte auf mich eingeredet. Ich bettelte ständig um ein Fieberthermometer, aber sie reagierte nicht darauf.

In meinem Zimmer hörte ich, wenn ich die Augen schloss, einen Bach rauschen. Der glühende Lichtspalt unter der Tür kam manchmal bedrohlich näher, als wollte er meine Stirn berühren, und entfernte sich wieder. Ich fühlte seine Hitze und zuckte davor zurück.

Ich versuchte zu schlafen, aber es ging nicht. Draußen vor der Tür waren Stimmen, manchmal flüsternd, manchmal lauter, die sich unterbrachen, überlagerten, verdrängten. Ein ganzes Treppenhaus aus Stimmen.

Ich rollte mich auf die Seite. Der glühende Türspalt folgte mir, legte sich mir wie ein heißer Brennstab an die Wange. Ich wollte ihn wegwischen, aber er bestand nur aus Licht, und meine Hand fuhr mitten hindurch. Alles geriet in Unordnung. Meine Finger verhedderten sich in einer Falte des Bettbezugs. Sie war eigentlich nicht besonders tief, aber ich konnte meine Finger nicht mehr aus ihr herausziehen. Die Falte hielt sie zurück wie ein Fisch die Angelschnur.

Es musste der Zirkus sein.

Ich sah Inge, die in unserer Küche saß und ein kleines Ferkel im Arm hielt. Manchmal kommt es vor, dass ein Ferkelchen verstoßen wird. Die Mutter behandelt es wie einen Eindringling und verjagt es. Das Ferkel versteht die Welt nicht mehr und starrt seine Mutter aus der Ferne verwirrt an. Inge deutet auf den Nacken des Ferkels.

Dann dreht Inge, die gleichzeitig die Mutter des Ferkels ist, plötzlich nur mehr eine dicke Kerze zwischen den Händen. Habe ich etwa die Kerze für ein Ferkel gehalten? Ich betrachte die Kerze von oben. Der Docht ertrinkt langsam, löst sich im milchigen Weiß auf. So wie ein Insekt oder die zwinkernde Silhouette eines weit entfernten Vogels in der großen, dunkelgelben Sonnenscheibe am Abend.

Der Zirkus, der Zirkus.

Ein einzelner Ast, dünn und biegsam, taucht aus der Kerzensäule auf. Am spitzen Ende teilt sich der Ast, und es werden zwei daraus, aus den zweien werden vier, und so weiter. Mehrere Äste sprießen aus der Kerze. Es ist schwer, den Überblick zu behalten. Bald sind es so viele Äste, dass ich sie nicht mehr zählen kann. Alles, was ich weiß, ist, dass es eine gerade Anzahl sein muss, schließlich teilen sie sich an jedem Ende immer nur in zwei. Das Dickicht erreicht bereits die Zimmerdecke. Die Aufgabe, die sich mir jetzt stellt, ist eigentlich sehr einfach: Ich muss die Äste ordnen, nach Größe und Anzahl ihrer Ausläufer, ein paar habe ich schon geschafft. Es wird nicht länger als ein paar Stunden dauern. Vielleicht kann ich sie auch ein wenig zurückbiegen, glatt streichen. Es geht nicht.

Die Stimmen vor der Tür teilen sich, wenn ich die Äste auseinanderhalte. Es ist ungeheuer schwer, ich brauche meine ganze Kraft. Nichts ist mir je so schwergefallen. Meine Finger krallen sich immer tiefer in die komplizierte Blume aus Falten in der zerknitterten Bettdecke.

Trenner

Eine der Stimmen vor der Tür wurde lauter, protestierte gegen etwas, wurde nicht gehört, ging plötzlich unter und verstummte. Es war die Stimme meiner Mutter. Die Tür öffnete sich, und sie kam zu mir. Gott sei Dank begleitete sie niemand, nicht Pater Johann, auch nicht der Lehrer, auch nicht mein Bruder, obwohl ich mich vielleicht gefreut hätte, mit ihm zu sprechen, seine Entschuldigung zu hören und anzunehmen. Dass ich krank im Bett lag, bewies schließlich, dass seine Attacke ungerecht gewesen war.

Meine Mutter setzte sich zu mir ans Bett.

– Komm her, sagte sie, mit kraftloser Stimme, als hätte sie gerade geweint.

Sie sah mich nicht an, aber sie hob ein wenig die Arme, als Einladung – ich setzte mich im Bett auf. Jetzt erst bemerkte ich, wie unerträglich heiß mein Rücken war. Wieder überkam mich der Drang, mich zu bewegen, zumindest wollte ich das verschwitzte und festklebende Hemd abstreifen.

Meine Mutter nahm mich in den Arm und legte mir eine Hand in den Nacken. Sie befühlte meinen Hals, tastete ihn ab wie nach Knoten oder Insektenstichen und murmelte:

– Vielleicht einmassieren … wenn man es entlang der Speiseröhre …

Ich verstand nicht, und sie sprach weiter zu sich, während ihre Finger meinen Hals auf und ab tanzten und Informationen sammelten:

– Hier …

Sie drückte mich ein wenig von sich, auf Distanz, ihr ernster Blick begegnete mir, ihr besorgter, ängstlicher Blick, als hätte ich mich in ihren Armen in einen Dinosaurier verwandelt. Ihre Hände spielten weiter auf meinem Hals herum. Sie war sehr vorsichtig, trotzdem war es unangenehm, und ich traute mich nicht zu schlucken. Aber ich sagte nichts. Ich hatte begriffen, dass der Augenblick sehr wichtig für sie war.

Schließlich stand sie auf, ihre Wangen waren ein wenig gerötet. Sie seufzte erschöpft und ging zur Tür. Sie öffnete sie für die anderen Besucher – also waren sie doch alle zu mir gekommen; diese plötzliche Erkenntnis ließ mich erschaudern. Was wollten sie alle von mir, alle zur gleichen Zeit? Der Priester kam als Letzter ins Zimmer.

Er sprach sehr leise mit meiner Mutter, ich konnte nicht verstehen, was er sagte, aber dafür hörte ich meine Mutter:

– Ja schon … aber wenn wir es vielleicht ganz fein zermahlen, sodass es … quasi wie ein Pulver … vielleicht verletzt es dann nicht so …

Aber Pater Johann schüttelte den Kopf.

Ich hielt die Anspannung und Ungewissheit der Situation nicht mehr aus und zog die Bettdecke über meinen Kopf. Sofort wurde sie wieder weggerissen, der Lehrer nahm die Decke an sich und knüllte sie schnell zu einem Ball zusammen, wie um sie unschädlich zu machen.

– Felix, sagte Pater Johann, steh bitte auf. Komm her.

Wie lange hatte ich meinen Vornamen nicht mehr gehört?

Ich tat, was er von mir verlangte. Ich stand vor ihm. Seine Hand machte das Kreuzzeichen über mir, die andere hielt etwas hinter seinem Rücken versteckt.

– Dalleib Christi, murmelte er.

Ich kannte den Ablauf. Automatisch öffnete ich den Mund.

Seine Hand kam hinter dem Rücken hervor. Auf ihr lag, wie das Silbertablett auf den Spinnenfingern eines Kellners, säuberlich aus dem Rahmen gelöst, das kreisrunde, mädchenkopfgroße Milchglasfenster aus der Kirche.

Die Waage

1

Das Treppenhauslicht ging aus, und Daniel stand in vollkommener Dunkelheit vor einer Wohnungstür im vierten Stock. Die Musik, die aus der Wohnung dröhnte, klang in dem nackten, fensterlosen Korridor hart und unveränderlich. Daniel schaltete das Licht wieder ein; er musste sich weit vorlehnen, um den Lichtschalter zu erreichen. Das Türschild, auf das Daniel zuletzt gestarrt hatte, erschien wieder und hieß genauso wie vorher, Gerd & Elfriede Kaiser.

Daniel stand eine Weile da und hörte zu, wie sich die Musik in einen weiteren epileptischen Anfall hineinsteigerte – dann ließ er sich von seinen Füßen umdrehen und ging die Treppe hinunter, zurück in die Wohnung.