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Inhaltsverzeichnis

HEYNE <
Manual
Erster Akt
Erste Szene - 1. Januar 3042 a. D. (Erdzeit)
Zwischenspiel - 25 Jahre zuvor
Erstkontakt
Zweite Szene - 1. Januar 3042 a.D. (Erdzeit)
Dritte Szene - 2. Januar 3042 a.D. (Erdzeit)
Zweiter Akt
Erste Szene - 11. Januar 3042 a.D. (Erdzeit)
Zweite Szene - 2. Januar 3042 a.D. (Erdzeit)
Dritter Akt
Erste Szene - 11. Januar 3042 a.D. (Erdzeit)
Zweite Szene
Dritte Szene - 12. Januar 3042 a.D. (Erdzeit)
Vierte Szene - 15. Februar 3042 a. D. (Erdzeit)
Vierter Akt
Erste Szene - 23. April 3042 a.D. (Erdzeit)
Zweite Szene - 24. April 3042 a.D. (Erdzeit)
Dritte Szene - 14. Januar 3042 a.D. (Erdzeit)
Vierte Szene - 27. April 3042 a.D. (Erdzeit)
Fünfter Akt
Erste Szene - 17. Januar 3042 a. D. (Erdzeit)
Zweite Szene - 27. April 3042 a. D. (Erdzeit)
Dritte Szene - 30. April 3042 a. D. (Erdzeit)
Sechster Akt
Erste Szene - 23. Januar 3042 a. D. (Erdzeit)
Zweite Szene
Dritte Szene - 30. April 3042 a. D. (Erdzeit)
Siebter Akt
Erste Szene - 30. April 3042 a. D. (Erdzeit)
Zweite Szene - 23. Januar 3042 a. D. (Erdzeit)
Achter Akt
Erste Szene - 5. Mai 3042 a. D. (Erdzeit)
Zweite Szene
Dritte Szene - 23. Januar 3042 a. D. (Erdzeit)
Neunter Akt
Erste Szene - 8. Mai 3042 a. D. (Erdzeit)
Zweite Szene - 8. Mai 3042 a. D. (Erdzeit)
Zehnter Akt
Erste Szene - 21. März 3042 a. D. (Erdzeit)
Zweite Szene - 8. Mai 3042 a. D. (Erdzeit)
Elfter Akt
Erste Szene - 11. Mai 3042 a.D. (Erdzeit)
Zweite Szene - 14. Mai 3042 a.D. (Erdzeit)
Dritte Szene
Zwölfter Akt
Erste Szene - 15. Mai 3042 a. D. (Erdzeit)
Zweite Szene - 17. Mai 3042 a. D. (Erdzeit)
Dritte Szene
Vierte Szene
Dreizehnter Akt
Erste Szene - 17. Mai 3042 a. D. (Erdzeit)
Zweite Szene - 27. Mai 3042 a. D. (Erdzeit)
Vierzehnter Akt
Erste Szene - 29. Mai 3042 a. D. (Erdzeit)
Zweite Szene - 29. Mai 3042 a. D. (Erdzeit)
Fünfzehnter Akt
Erste Szene - 31. Mai 3042 a. D. (Erdzeit)
Zweite Szene - 29. Mai 3042 a. D. (Erdzeit)
Dritte Szene - 5. Juni 3042 a. D. (Erdzeit)
Sechzehnter Akt
Erste Szene - 13. Juni 3042 a. D. (Erdzeit)
Zweite Szene - 5. Juni 3042 a. D. (Erdzeit)
Dritte Szene
Vierte Szene - 13. Juni 3042 a. D. (Erdzeit)
Siebzehnter Akt
Erste Szene - 6. Juni 3042 a. D. (Erdzeit)
Zweite Szene - 13. Juni 3042 a. D. (Erdzeit)
Dritte Szene - 6. Juni 3042 a. D. (Erdzeit)
Vierte Szene
Achtzehnter Akt
Erste Szene - 13. Juni 3042 a. D. (Erdzeit)
Zweite Szene - 6. Juni 3042 a. D. (Erdzeit)
Dritte Szene - 11. Juni 3042 a. D. (Erdzeit)
Vierte Szene - 14. Juni 3042 a. D.
Neunzehnter Akt
Erste Szene - 16. Juni 3042 a. D. (Erdzeit)
Zweite Szene - 29. Juli 3042 a. D. (Erdzeit)
Da capo
Copyright

Da capo

 

 

 

 

 

 

Man könnte meinen, dass ich mich klar antizyklisch verhalte: In einer Zeit, in der Fantasy immer noch stark und die extrem romantisierten Vampire nach wie vor übermächtig sind, suche ich mir ein anderes Betätigungsfeld.

Es ist keine Übersprunghandlung.

Die Welt der Sterne, Roboter, Technik und der Abenteuer – fremd war sie mir nie.

Angefangen hat es mit Captain Future sowie Raumschiff Enterprise, und zwar mit Pille, Spock und Kirk. Damals waren sie für mich eher gruselig als faszinierend; danach kamen, nicht weniger klassisch, Star Wars und Kampfstern Galactica, Blade Runner, Enterprise-TNG, Babylon 5, Deep Space Nine und, und, und …

Die Idee für einen Space-Fiction-Roman ist schon älter. Space Fiction (nach Doris Lessing) oder besser gesagt eine düstere, gemeine Space Opera – seit 2003 steckt mir die Geschichte von Collector im Kopf. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis ich sie realisieren konnte, doch das machte nichts.

Ganz im Gegenteil.

Denn in der Zwischenzeit ist viel passiert, und neue Möglichkeiten haben sich ergeben, die es mir erlauben, das Tor zu einem großen, neuen Universum aufzustoßen:

JUSTIFIERS

Als langjähriger Rollenspieler kam ich Ende der 1980er, Anfang der 1990er in Berührung mit dem netten, kleinen Pen&Paper-Science-Fiction-Rollenspiel namens JUSTIFIERS. Es verschwand leider sehr rasch von der Bildfläche und wurde nicht mehr neu aufgelegt. Mir ging es jedoch nicht aus dem Kopf.

Also gab ich die Suche nicht auf, recherchierte, fand Querverweise und Verantwortliche des alten Verlags, bis es mir gelang, die Rechte an der Rollenspielwelt zu sichern. Ich habe die Space-Fiction-Welt überarbeitet, erweitert und vielschichtiger gemacht. Romanidee und Rollenspielwelt verschmolzen.

Der Roman Collector ist folgerichtig ein Auftakt, ein Vorgeschmack auf das, was mit JUSTIFIERS kommen soll: ein Pen&Paper-Rollenspiel (Verlag: Ulisses Spiele), eine Taschenbuch-Serie beim Heyne-Verlag mit vielen verschiedenen Autorinnen und Autoren, Comics (Verlag: New Ground Publishing) und hoffentlich vieles mehr, um der vergessenen Space-Fiction-Welt wieder neues Leben einzuhauchen. Das ist mein größtes Anliegen!

Oder um es anders zu sagen: Zurück zu den Wurzeln, sowohl als Rollenspieler als auch als Space-Fiction-Fan.

Mehr Informationen unter:
www.justifiers.de und www.mahet.de

Mein Dank geht an den Heyne-Verlag und Sascha Mamczak für die Unterstützung und die Bereitschaft, JUSTIFIERS ein Roman-Zuhause zu geben; an Lektorin Angela Kuepper sowie die Testleserinnen Sonja Rüther und Petra Ney.

Jetzt aber Vorhang auf für:

CHRISTOPH HARDEBUSCH

MISSING IN ACTION

 

 

 

Sie hockten sich etwas abseits des Lagers in einem Kreis zusammen. Blasse Gesichter, unruhige Augen. John nahm einen der langen, biegsamen Stöcke der niedrigen Vegetation und begann damit, die Umrisse des behelfsmäßigen Lagers in den ockerfarbenen Staub zu kritzeln.

»Ich hab das mal gesehen, in so ’nem Holovid«, sprudelte es unvermittelt aus Shakey raus.

»Was?«

»Da sind Leute verschleppt worden. In die Wälder. Und nachher hat man auch nur Leichen oben in den Bäumen gefunden. Und als sie Marines hinterher geschickt haben, wurden die abgemetzelt, einer nach dem anderen.«

»Und?«, fragte Bull trocken, obwohl bereits klar war, worauf die Geschichte hinauslief.

»Mann, das waren Aliens. So riesige Viecher, mit Klauen, und die hatten so Rüssel am Maul. Die haben die Menschen zum Ausbluten aufgehängt, damit sie besser die Gedärme fressen können. War echt eklig.«

Shakeys Gesicht zeigte, dass er es ernst meinte, trotz der Zuckungen seines linken Auges, die ihn so wirken ließen, als zwinkere er permanent jemandem zu.

John seufzte. Er sah die besorgten Blicke seiner Leute. Nur Jaime und Bull sahen aus wie immer.

Bei Bull lag es daran, dass seine Hybrid-Gesichtszüge nicht gut damit umgehen konnten, wenn er Gefühle hatte. Und bei Jamie war John unsicher, ob sie überhaupt Gefühle hatte.

»Halt die Klappe, Shakey«, knurrte er schließlich.

»Aber Boss, wenn ich es doch sage. Das hier ist genau wie in dem Film.«

»Du sagst es selbst: Film. Das hier ist aber die Wirklichkeit, klar? Wir sind keine Pappkameraden mit Kanonen aus Plastik, sondern Soldaten. Das echte Ding. Also halt die Klappe, du Wichser.«

Eigentlich hatte er den Piloten nur zurechtweisen wollen, aber die fast schon greifbare Nervosität unter seinen Leuten hatte ihn angesteckt, und er hatte sich in Rage geredet. Innerlich verfluchte er sich dafür, Shakey derart angefahren zu haben. Es war Bull, der mal wieder in seiner unnachahmlichen Art die Situation rettete: »Sir, ohne respektlos sein zu wollen, aber wir sind alle Soldaten.«

»Das sagte ich grade, Sarge.«

»Und demnach sind wir alle, auf die eine oder andere Art, Wichser.«

John blickte in die Runde und sah hier und da zögerliches Grinsen erscheinen.

»Bis auf Jamie«, warf Shakey mit einem anzüglichen Schnalzen ein. Sie selbst sagte nichts. An ihren Reaktionen hätte man nicht einmal ablesen können, ob sie den Witz verstanden hatte, aber Jon wusste, dass ihr nie etwas entging.

»Okay«, gestand er, dann wurde er ernst: »Jetzt ist aber Schluss mit der Filmkritik. Da draußen ist etwas, vermutlich ein Tier. Wir müssen es nur vor die Gewehrläufe bekommen. Denn wenn man darauf schießen kann …«

Er ließ das Ende des Satzes in der Luft hängen, und es dauerte nur einen Moment, bis einer ihn aufgriff: »Dann kann man es auch töten.«

»Genau. Und dann ist es gar nicht so schlimm. Rourke, Sie und Cao überprüfen die Sensoren. Kalibrieren Sie die Biester neu. Ich will, dass nichts an ihnen vorbei kommt, was größer als ein Hamster ist, verstanden?«

»Ja, Sir. Solange der Hamster keinen Tarnanzug trägt, kriegen wir ihn.«

Jetzt grinsten fast alle. Es war gut, aber nicht gut genug. Die Neuen zeigten ihre Zähne; einige hoben die Fäuste und schlugen sie aneinander, hier und da gab es ein leises »Yeah!«.

Aber es waren nicht die Grünschnäbel, die John Sorgen machten. Die Handvoll Veteranen, die ihm geblieben waren, lächelten nicht. Er konnte ihre Unruhe spüren. Da draußen war etwas, so viel stimmte. Aber wenn das ein Tier ist, dann ist es verflucht clever. Zu clever.

Shakeys Geschichte war für den Moment vergessen, und John begann, die taktische Lage anhand seiner Karte im Dreck zu erläutern, teilte Teams ein und die wenigen Waffen zu. Als er sicher war, dass alle verstanden hatten, entließ er seine Leute zu ihren Pflichten.

Nur Bull blieb noch. Der Hybride legte seinen massigen Kopf auf die Seite und starrte aus seinen seltsamen, großen und seelenvollen Augen auf die Karte.

»Unsere Situation ist fubar, Sir.«

»Ich weiß, Sarge. Komplett fucked up. Aber wir können nur unseren Job machen und sehen, dass wir ihn richtig machen. Je weniger Leichensäcke wir am Ende brauchen, umso besser.«

»Ja.«

Der Hybride wandte sich ab, aber John hatte noch einen Befehl: »Und Bull, sorg dafür, dass Shakey seine Alien-Geschichten für sich behält. Schlimm genug, wenn die Rookies sich in die Hosen scheißen, aber bei dem Pack von Zivilisten können wir das gar nicht gebrauchen.«

Bull hielt inne, schien zu überlegen, dann nickte er.

»Ich kümmere mich darum, Sir.«

»Danke.«

John sah dem Hybriden nach, bis er nur noch ein gehörnter Schemen vor dem hellen Nachthimmel war. Dann trat er zwischen die Zelte und verschwand aus Johns Blickfeld. Der besah sich die Karte. Eine einzige abgefuckte Scheiße … also alles wie immer.

Laut sagte er: »Aliens. Na großartig …«

Erste Szene

1. Januar 3042 a. D. (Erdzeit)

SYSTEM: SOL
PLANET: ERDE/TERRA (FREIZONE)
GLOBALE SPEICHEREINHEIT: I
KOORDINATEN: 45°26’N, 12°20’0

 

 

 

Ausgerechnet heute muss es pissen.

Quietschend rutschten die Wischerblätter über die breite Frontscheibe und rieben den Schleier aus Staub und Feuchtigkeit zur Seite. Das Metronom des Niederschlags.

Kris sah aus der zehn Meter hohen Kanzel des titanischen Antigrav-Trucks auf die Überbleibsel einer lange vergangenen Zeit.

Die letzten ausgeblichenen Ruinen der Lagunenstadt änderten ihre Farbe. Regentropfen um Regentropfen befeuchtete sie und den ausgetrockneten, rissigen Boden des Venezianischen Golfs, der sich von Aschgrau zu Schwarz wandelte. Die jahrhundertealten Palazzo-, Straßen- und Brückenüberbleibsel wurden auch dunkler, als wollten sie sich der Umgebung anpassen und sich aus einem einzigen Zweck tarnen: vor der anrückenden zerstörerischen Maschine verschwinden, die herandonnerte.

Mit zweihundertachtzig Stundenkilometern jagte der dreihundert Meter lange, knallrot gestrichene Truck über den einstigen Meeresboden dahin. Anstelle von Rädern saßen eine Vielzahl dumpf brummender Antigravitationspulsatoren unter dem tonnenschweren Giganten und ließen ihn zehn Zentimeter über dem Grund schweben. Schwenkbare Hochleistungsrotoren am Heck und seitlich am Auflieger schoben ihn an.

Elf Wochen Trockenheit. Klar, dass das sich gerade jetzt ändern muss.

Kris nahm sich einen Schokoriegel von der Ablage und öffnete die Verpackung mit einer Hand, die andere blieb an der Multifunktionskonsole, mit der er das Gefährt steuerte, ein halbes Lenkrad mit zahlreichen Knöpfen und Touchpads darauf. Verschiedenste Anzeigen glühten schräg vor ihm und spiegelten sich in seinen grünen Augen. Wechselnde Außenbilder vom Truck wurden auf die Scheibe projiziert, zwei Dutzend Kameras lieferten die Bilder. Nur mit ihnen war er in der Lage, das Gefährt, das Gauss Industries gehörte, sicher ohne den Autopiloten zu lenken. Kris war ein Mietkutscher und konnte alles bewegen, was man ihm hinstellte, solange es über einen Antrieb verfügte.

Der Regen verstärkte sich. Das Metronom pendelte von selbst schneller.

Hoffentlich muss ich nicht aussteigen. Dazu habe ich nämlich überhaupt keine Lust.

Er biss ab und genoss den Geschmack, der sich in seinem Mund ausbreitete: süß, klebrig und irgendwie entspannend.

Die Baustelle tauchte auf, mitten im einstigen Canal Grande.

Kris wusste vom Canal Grande nur, weil er einen Lageplan vor Antritt des Jobs gelesen hatte, um sich auf das Manövrieren vorzubereiten. Ältere terranische Geschichte interessierte ihn nicht besonders, er fand die Gegenwart schon anstrengend genug. Aber er räumte ein: Früher muss Venedig mal eine schöne Stadt gewesen sein.

Die Aufnahmen von vor eintausend Jahren hatten ihn beeindruckt. Der geschwungene Hauptkanal, der von oben wie ein krummes Fragezeichen ausgesehen hatte, die vielen Nebenkanäle, die Paläste, die bunten Ziegeldächer, die Plätze und verborgenen Fleckchen hatten was von einem Retro-Vergnügungspark. Heute war das alles nicht mehr als eine Ansammlung unnötiger Vergangenheit, die ihm das Rangieren erschwerte. Das Wasser, das den außergewöhnlichen Charme der Stadt begründet hatte, gab es schon lange nicht mehr.

Kris grinste. Heute bin ich Venedigs einziger Gondoliere.

Neue Bauten waren entstanden – wenn auch nur vorübergehend. Krane erhoben sich mitten in den Resten der Serenissima, Scheinwerfer flammten von oben herab und beleuchteten den künstlichen Krater, den die Baumaschinen geschaffen hatten. Der Anblick erinnerte Kris an eine offene Wunde, in der gnadenlos herumgestochert wurde. Der Bergungstrupp von Gauss Industries war darin fündig geworden. Jetzt brauchten sie einen Profi wie ihn, der auch ohne die Unterstützung des Autopiloten fahren konnte.

Sie buddeln wirklich! Er hatte bis vor kurzem noch geglaubt, eine Ladung besonders schwerer Container aus einem Hochregalhort abzufahren. Na ja, was immer es sein wird: Last ist Last. Aber es ist mal was anderes als die üblichen Riesenkisten.

Etwas abseits parkten vier klobige Hovercraft-Panzer, auf deren Dächern sich kleine Radarantennen drehten und sechsläufige Flakkanonen angebracht waren. Ein unmissverständliches Zeichen an alle, die Gauss den Fund streitig machen wollten.

Hm … Ein bisschen viel Standardgeleitschutz für nachher. Kris steuerte den Truck in gerader Linie auf das Loch zu. Dass er dabei mit der stählernen Frontschürze eine zwölf Meter breite Schneise durch die Ruinen zog und noch mehr Verwüstung anrichtete als die Jahrhunderte, interessierte ihn nicht. Venedigs Zeit war schon lange abgelaufen.

Steine wurden rechts und links davongeschleudert, die letzten widerstrebenden Holzbalken, die von Salz und Hitze konserviert worden waren, barsten. Ein kleiner Schuttberg schob sich vor dem Truck auf und fiel an den Rändern zur Seite weg.

Die sind lecker. Kris beugte sich zur Seite, um einen zweiten Schokoriegel zu greifen.

Der Blick blieb an seiner Hand hängen. Am Ringfinger, an dem die Erinnerung aufblinkte und die Aufmerksamkeit auf sich zwang.

Sie lebte heute an einem anderen Ort, drei Langstreckensprünge von der Erde entfernt. Bei einer anderen Frau und mit zwei adoptierten Kindern, die seiner Tochter gute Schwestern waren. Er würde Umaia gerne hassen, doch es gelang ihm nicht, obwohl sie ihm Soraya genommen hatte. Seine Kleine war drei Jahre alt – und kannte ihn nicht.

Ich bin selbst schuld. Ob ich mir …

Die blaue Kom-Leuchte flackerte, dann sagte eine Frauenstimme aus den Lautsprechern: »Sie sind spät, Kutscher.«

Seine selbstquälerischen Gedanken wurden durchbrochen. Zum Glück. Kris atmete auf. »Beschweren Sie sich bei Ihren Mechanikern, Miss«, gab er mürrisch zurück, doch der Tonfall tat ihm sofort leid. Wer immer mit ihm sprach, sie konnte nichts dafür, dass sein Privatleben ein ähnlicher Trümmerhaufen war wie Venedig. »Früher waren die Schraubendreher bei Gauss schneller. Die Steuerpropeller …«

»Ich brauche keine Erwiderungen von Ihnen«, schnarrte sie ihn kühl an. »Sie sind zu spät und zu schnell. Es ist ja anerkennenswert, dass Sie durch Ihre Raserei versuchen, den Verzug aufzuholen, aber jetzt drosseln Sie die Geschwindigkeit, sonst rauschen Sie in meine Baustelle.«

»Bestätigt«, gab Kris ungerührt zurück. »Ankunft in einer Minute.« Er drückte Umkehrschub auf der Konsole und lenkte leicht nach rechts, damit er neben dem Krater zum Stehen kam.

Scheiße, sie hat Recht. Das wird eng!

Ein Ruck lief durch das Vehikel, das durch sein Eigengewicht mit diesem Tempo einen Straßenzug echter, stabiler Häuser abreißen konnte, wenn es außer Kontrolle geriet. Was es mit Kranen, Alu-Aufbauten und Leichtcontainern anrichtete, wollte er gar nicht wissen.

»Errechneter Bremsweg: fünfhundertdreiundvierzig Meter«, meldete der Computer nüchtern; der Autopilot verweigerte bei dieser Fahrweise jeglichen Dienst. Zwei Warnungen flackerten auf der Anzeige auf, die Kris ignorierte. Hastig tippte er auf den Knöpfen herum, schob die Finger über die Pads.

Die Geschwindigkeit fiel. Der Truck korrigierte seinen Weg und wühlte sich weiter durch den Schutt. Aber …

Oh, Mann, wird das enger als eng! Kris verfluchte einmal mehr den Ring an seinem Finger und die Gedanken, die er auslöste.

Das blaue Kom-Licht erwachte erneut zum Leben. »Kutscher, was machen Sie denn da?!«, rief die Frauenstimme mit hörbarem Stress. »Sie sind immer noch zu schnell!«

Kris sah die Menschen im Canal, die sich zu ihm gedreht hatten. Die Ersten rannten los, zwei der Hoverpanzer fuhren vorsichtshalber aus dem Weg; die starken Luftströme um sie herum drückten den Regen und den Schmutz zur Seite. »Keine Sorge. Ich lande pünktlich.« Heiliger Allvater Wotan, lass mich nicht gelogen haben.

Ohne Rücksicht auf das Material ließ Kris die dreißig Stützen ausfahren, auf die man den Truck im Stehen senken konnte, um die Pulsatoren zu schonen. Bei knappen achtzig Stundenkilometern wirkten sie wie Fräsen und rissen den Boden auf. Dreck wirbelte meterhoch auf und wurde zu einer gewaltigen Staubfahne, die das LCV hinter sich herzog, als brenne es.

Kris wurde in die Gurte gepresst und hatte mit der Steuerung alle Hände voll zu tun. Der Auflieger drohte auszuscheren und mit der Breitseite in die Baustelle zu fegen.

»Errechneter Bremsweg: siebenundachtzig Meter«, meldete der Computer. »Achtung: Kollisionsalarm.«

»Scheiße!«, rief Kris, zog die Maschine gerade und schaltete die Antigrav-Einheiten aus. Ruckartig erhielten einhundert Tonnen ihr wahres Gewicht zurück und drückten auf die Stützen, die sich in das Erdreich bohrten.

Der Truck sackte nach unten – und stand.

Rote Meldungen flimmerten auf den digitalen Armaturen, zwei Streben hatten sich verzogen, doch ansonsten war nichts geschehen. Der Mittelsensor der rechten Seite meldete: »Abstand zum Hindernis: 0,002 Meter«, die entsprechende Kamera zeigte Kris den Sockel eines Krans in Makroaufnahme. Dichter wäre es nicht mehr gegangen.

Er ließ die Pulsatoren hochfahren und drückte das Gespann damit aus der Erde, manövrierte zur linken Seite und stellte den Truck auf die Stützen. Nach einmal Durchatmen und zwei Sekunden Warten presste er die Kom-Taste. »Ankunft wie vorhergesagt«, meldete er und schloss die Augen, schluckte. Verdammter Ring! Er hoffte, dass zwei verbogene Stützstreben wirklich alles an Schäden waren.

»Steigen Sie aus, Kutscher«, bekam er von der Frauenstimme in einem Ton befohlen, als handelte es sich um einen Überfall. »Wir brauchen Ihre Einschätzung.«

»Bestätigt.« Kris drückte den Ausstiegsknopf. Prima. Raus ins Scheißwetter.

Die Kanzel senkte sich fahrstuhlgleich nach unten, während er sich einen signalroten Wachsmantel über sein schwarzes Shirt warf und einen gelben Helm aufsetzte. Auf einer Baustelle war es zur eigenen Sicherheit wichtig, gesehen zu werden. Die hohen Stiefel würden ihn vor dem Dreck schützen, die Beine der schwarzen Cargohose stopfte er in die Schäfte.

Einen Meter über dem Boden hielt die Kanzel an.

Sagen wir mal guten Tag zu der schlecht gelaunten Dame. Aber dumm anmachen werde ich mich nicht lassen.

Die Steuerkonsole zog Kris ab und steckte sie ein, dann schwang er sich zur Tür in den Nieselregen hinaus. Es roch nach Staub und Feuchtigkeit, eine leichte Nuance von Algen und Salz schwebte in der Luft. Phantommeer.

Im Schein der Flutlichter und menschenklein wurde ihm bewusst, wie groß die Baustelle war und welche immensen Anstrengungen von Gauss Industries unternommen worden waren, den Fund zu bergen. Aus seinem LCV und zehn Metern Höhe lief er gern Gefahr, seine Umgebung zu unterschätzen. Kris kam sich zwischen den Kranen und Baumaschinen unglaublich winzig vor.

Eine Gruppe von Menschen in gelben Regenoveralls eilte auf ihn zu, die Schutzhelme trugen sie über den Kapuzen. Sie hatten wasserdichte Computerpads dabei, auf denen zwei geschäftig herumtippten.

Deren Job wollte ich auch nicht haben.

Vorneweg schritt eine Frau um die fünfzig, die ein Kehlkopfmikrofon stolz um den Hals trug, als sei es wertvoller Schmuck, dahinter kamen Ingenieure; begleitet wurden sie von fünf Bewaffneten, die in schweren, dunkelbraunen Metall-Kevlar-Panzerungen steckten und dickläufige Automatikgewehre in den Händen hielten. Die Militärhelme waren komplett geschlossen, von außen undurchsichtige Visiere nahmen ihnen das Menschliche. Gardeure des Unternehmens.

Er marschierte ihnen durch den aufweichenden Boden entgegen.

»Das ist also der Mann, der uns empfohlen wurde«, begrüßte ihn die Frau und klang genervt. »Als die Agentur Ihren Namen nannte, sagte sie nichts davon, dass Sie ein Stuntman sind.«

Lass dich von ihr nicht anmachen. Vor ihrer Mannschaft schon gar nicht. »Tut mir leid, Miss …« Er las ihren Namen auf dem Anstecker. »… Crompton. Es gab ein Problem mit den Quaribarstabilisatoren, was die Rotationsquadrifuge der Kompensatorzylinder …«

Sie hob unterbrechend die Hand. »Technikgeschwafel interessiert mich nicht, Kutscher. Sie sind da, wir wollen was verladen.« Crompton deutete auf das LCV. »Können wir denn was verladen, oder hat Ihre kleine Fahreinlage den Truck massiv beschädigt?«

»Nein. Alles bestens. Ich parke in Venedig immer so.« Kris sah einen der Ingenieure breit grinsen. Der Mann hatte kapiert, dass die ansatzweise Erklärung aus erfundenen Begriffen bestanden hatte. »Sie wollten meine Fachmeinung?«

»Kommen Sie.« Crompton drehte sich um und ging zur Baustelle. »Und packen Sie Ihre Schnodderschnauze wieder ein, Kutscher. Das zieht bei mir nicht.«

Ich bin kein Schnodderschnauzer. Kris folgte ihr mit den anderen. Die Stiefel patschten durch erste Pfützen. Ich versuche es nur. »Seit wann buddelt Gauss wieder nach Artefakten? «, fragte er, um sie von sich abzulenken. »Ich dachte, das Thema sei schon lange durch?«

»Für Sie als Externer mit Sicherheit.« Er rollte mit den Augen. Mit Konzernen zusammenzuarbeiten machte keinen Spaß. Es war nicht seine Art von Menschenschlag.

»Entschuldigung, dass ich Sie anspreche: Hat man schon was Neues von Babylon5 gehört?«, fragte ihn der Mann, der eben gegrinst hatte, aber die Heiterkeit war gänzlich verflogen. Er hieß Millers, wie sein Namensschild auf der Brust verkündete.

»Der Planet Babylon5?« Kris zuckte mit den Achseln. »Kommt darauf an. Wieso fragen Sie mich das? Haben Sie keinen Empfang hier?«

Millers verneinte. »Die Abstrahlung des Fundes stört manche Signale, wie den des orbitalen Nachrichtensatelliten. Mein letzter Stand ist, dass die Collectors im Anflug auf Babylon5 waren.«

»Das sind sie immer noch. Sie haben nebenbei Kitomea angegriffen, wie Starlook meldete.«

Millers’ Schritte verlangsamten sich. »Zeus, bewahre sie«, murmelte er und presste sein Computerpad fester an sich.

Kris sah ihn bedauernd an. »Sie haben Verwandtschaft dort?«

»Gute Freunde von mir leben da«, antwortete er und schloss zu ihnen auf, nachdem Crompton ihm einen auffordernden Blick zugeworfen hatte. »Die Götter des Olymp mögen mit ihnen sein! Ich bete, dass ihnen die Flucht rechtzeitig gelungen ist.«

»Gehört der Planet nicht der FEC? Die kümmern sich normalerweise um ihre Bürger.«

»Nein. Sie haben ihn unter der Hand an die Automaten zur Pacht abgetreten. Deswegen mache ich mir solche Sorgen. « Millers schwieg, weil Crompton ihn wieder ansah. »Entschuldigung, Miss.«

Kris zog die Schultern leicht in die Höhe und schürzte ansatzweise die Lippen. Merkwürdig.

Normalerweise arbeitete die FEC nicht gerne mit dem Order of Technology zusammen, dessen Mitglieder abfällig Automaten genannt wurden. Ein Orden, der sich darauf spezialisiert hatte, den menschlichen, angeblich anfälligen Körper abzuschaffen, war nicht nach jedermanns Geschmack. Auch sein Beweggrund hörte sich besser an, als er war: Es ging dem 2OT, wie er abgekürzt wurde, darum, dem menschlichen Geist mehr Freiheiten zu geben und sich des Fleisches zu entledigen, weshalb seine Mitglieder sich die unterschiedlichsten Ersatzgliedmaßen, Kunstkörper und Apparate schufen. Größenwahnsinniges Streben nach Unsterblichkeit mit Hilfe der Technik. Und sie besaßen im Vergleich zu den meisten Konzernen und Regierungen überragende Technik, das musste der Neid ihnen lassen.

Kris schauderte, wenn er nur daran dachte, sich ohne Grund diverse Körperteile austauschen zu lassen. »Wird schon, Millers«, versuchte er den Mann aufzumuntern, glaubte aber nicht wirklich daran. Der 2OT war bekannt dafür, dass er Planeten effizient ausbeutete, in welcher Form auch immer, und sich dabei wenig um die Bevölkerung kümmerte. Dass er Menschen vor Angriffen der Collies schützte, glaubte er schon gar nicht.

Collie. Wer hat diese beschissene Verniedlichung eigentlich ins Spiel gebracht?

Die nette, langhaarige Hunderasse hatte nicht mal im Ansatz mit dem menschenverachtenden, gepanzerten Auftreten der Ahumanen zu tun. Vermutlich sollte das Hunde-Kürzel die Verachtung gegenüber den Widersachern ausdrücken. Kris fand es unpassend, aber er gebrauchte es dennoch. Es ging einfach schneller als Collector von den Lippen.

Sie hatten den Rand des Schachts erreicht.

Kris sah in das vierhundert Meter breite Loch und schätzte es auf eine Tiefe von vierzig Metern. Die Arbeiter und ihre Maschinen hatten sich durch den Boden gegraben, bis sie auf den rostfarbenen Fund gestoßen waren. Säuberlich freigelegt lag er da: zweihundert Meter lang, an seiner dicksten Stelle etwa zwanzig Meter im Durchmesser und ein bisschen an uralte Feststoffraketen erinnernd. Erste Stahlketten und Leinen waren drum herum geschlungen worden, die Krane machten sich zum Verladen bereit.

Kris hatte mit mehr gerechnet. Mit blinkenden Lichtern am Rumpf, geheimnisvollen Geräuschen oder Symbolen. Das ist irgendwie … langweilig.

In den gefährlichsten Bereichen unmittelbar unter den Ketten arbeiteten einfache Lastenroboter und Beta-Humanoide. Betas waren Mischwesen aus Tier und Mensch, die von Unternehmen und Planetenregierungen je nach Verfügbarkeit als billige Arbeiter eingesetzt wurden. Man konnte sie in nahezu jeglicher Tierform züchten. Hier hatte GI Büffel-Betas eingesetzt, wegen ihrer gewaltigen körperlichen Kräfte. Sie trugen signalrote Regenoveralls. Groteske Wesen mit dicken Stierköpfen und -hörnern, die eine humanoide Statur hatten.

»Schick«, kommentierte Kris. »Das ist doch mal ein Fund. Und was ist es, Miss Crompton? Eine verbuddelte Altlast aus dem 21. Jahrhundert oder doch was Nützliches?«

»Ein neuer, unbekannter Antrieb«, antwortete Millers rasch.

Zu rasch, wie man Cromptons eisiger Miene ablas. »Bevor unser Ingenieur noch mehr Geheimnisse ausplaudert, sollte er zu Bergungsteam zwei gehen und die Hebung klarmachen«, sagte sie schneidend. Millers lief los. »Hatte ich Sie nicht darum gebeten, nicht krampfhaft lässig sein zu wollen, Kutscher?« Sie wartete seine Reaktion gar nicht ab. »Was ich von Ihnen wissen will: Hält das LCV sicher zwölfhundert Tonnen aus?«

»Das ist das Maximum an Ladung«, erwiderte Kris und mahnte sich, ihrer Bitte nachzukommen. Er war nicht der von Natur aus coole Typ, dem man die Sprüche abkaufte, sondern wirkte meist angestrengt. Konzentriere dich auf das, wovon du Ahnung hast. »Wenn das Gewicht gleichmäßig verteilt ist, wird es nur schwierig.« Er zeigte auf einen Wulst, der sich im hinteren Drittel um den Fund zog und an eine polierte Schweißnaht erinnerte. »Wenn da aber vierhundert Tonnen drinstecken, haben Sie ein Problem. Dann bekommen Sie den Antrieb nur mit einem Raumschiff geborgen. Zu viel Unausgeglichenheit für das LCV, auch wenn Gauss-Techniker am Truck gepfriemelt haben, um ihn leistungsfähiger zu machen.«

»Auf die Schnelle bekomme ich keins.« Crompton sah ihm direkt in die Augen. »Sie müssen es schaffen. Deswegen habe ich Sie herbestellt. Sie sind der Beste auf Terra, wenn es um Überfracht geht, wie man uns bei Gauss sagte. Hätten wir unseren Besten hier, hätte ich gern auf Sie verzichtet.«

»Klingt, als hätten Sie es eilig?« Kris ging auf ihre semibeleidigende Bemerkung nicht ein und sah zu den eckigen Hoverpanzern und den martialischen Geschützaufbauten. Scheint doch wertvoll zu sein.

Seine Blicke schweiften erneut in die Tiefe. Für ihn war die Grube lebendig gewordener Geschichtsunterricht: Er befand sich mitten in den Anfängen der menschlichen Langstreckenraumfahrt. Das wiederum fand er spannend.

Da die Menschheit nicht in der Lage gewesen war, effiziente Antriebe zu konstruieren, hatte man den Weg zu den Sternen in der Erde, in Pyramiden und in den Tempeln alter Hochkulturen gesucht: die Wracks abgestürzter außerirdischer Schiffe. Die Wissenschaftler hatten die Dinge, die man verstanden hatte, einfach kopiert.

Um diese Wracks waren Kriege geführt worden, denn sie waren der Schlüssel zu den weit entfernten Planeten und hatten das Leben auf der Erde vollständig verändert.

Zwar gab es noch das umgangssprachliche Beamen, wie man es aus alten Science-Fiction-Serien kannte. Der richtige Begriff lautete TransMatt-Technologie, und sie ging wesentlich weiter als das fiktionale Beamen. Aber die Technik war teuer und vom TTMS-Konzern monopolisiert. Eine Sende- und Empfangsstation mit Transmitterbögen, durch die man schritt, musste dazugekauft und aufgebaut werden.

Kris hatte schon welche gesehen, in den Konzerngebäuden, in denen er seine Lieferungen abgeladen hatte. Schlecht war, dass ein solcher Transmitterbogen von den Abmessungen nur einundzwanzig Quadratmeter betragen durfte. Das grenzte die Art der zu transportierenden Objekte stark ein, wie ihm ein Techniker erklärt hatte. TransMatt benötigte außerdem auch länger, um die Strecken zu überbrücken. Pro Lichtjahr einen Monat Reisezeit durchs Nichts. Der ultimative Vorteil: keine Gesundheitsschäden.

Manchen war das zu langsam, vor allem den Kons, den Konzernen.

Im Laufe der Jahrhunderte wurden mit steigendem technischen Verständnis und durch den Austausch mit anderen Rassen weitere Rätsel um Motoren, Antriebe, Reaktoren gelüftet. Aber noch immer funktionierte vieles in Raumschiffen, ohne dass die Kapitäne und Maschinisten wussten, warum. Raumfahrt, gerade wenn es durch das Interim ging, blieb spannend.

Heute wurde offiziell auf der Erde nicht mehr nach den außerirdischen Raumschiffrelikten gesucht. Die Stufe hatte man hinter sich gelassen.

Eigentlich.

Die Hoverpanzer mit ihren sechsläufigen Flaks sorgten nicht dafür, dass Kris sich sicherer fühlte. Dieser Fund zu seinen Füßen lockte offenbar gefährliche Neider an.

Die Menschheit ist bescheuert. Ich würde in keinen Truck steigen, von dem ich nicht wüsste, wie sein Motor funktioniert. Kris versuchte sich vorzustellen, wofür dieser Antrieb gut sein würde. Langstreckensprünge? In seinem Verstand reihten sich die Fragen aneinander. Für einen Kurzstreckenmotor wäre er überdimensioniert. Ein Schubtriebwerk? Wie alt und woher?

Kris grinste. Am Ende musste Gauss vielleicht Regressansprüchen einer ahumanen Rasse nachkommen, die nachweisen konnte, dass einer ihrer Vorfahren der Besitzer des abgestürzten Raumschiffs gewesen war. Das kam immer wieder vor.

Aber eine Sache beschäftigte ihn besonders. »Wie aktiviert man ein solches Triebwerk?«, fragte er. »Wissen das Ihre Spezialisten? «

»Sagte ich schon, dass Sie das nichts angeht?«, knurrte Crompton.

»Doch, geht es. Ich habe keine Lust, dass dieses … was auch immer plötzlich anspringt, wenn es auf meinem LCV liegt«, konterte Kris und steckte die Hände tiefer in die Manteltaschen. »Deswegen die Frage. Ich bin in der Transportgewerkschaft, und die legt Wert auf die Sicherheit ihrer Mitglieder.«

»Erstens ist es das LCV von GI und nicht Ihres. Zweitens ist das Ihr Berufsrisiko«, schmetterte sie ihn ab. »Versuchen Sie nicht, den Preis vor Ort in die Höhe zu treiben. Sie bekommen zwanzigtausend Terracoins für eine einfache Fahrt. Andere Leute leben davon ein Jahr.« Crompton zeigte auf den Truck. »Ihr Fahrstil ist gefährlicher für Sie als der Fund. Checken Sie lieber das Vehikel. Das Beladen wird gleich beginnen. « Sie ging mit ihrem Beraterstab auf einen Lift zu, der sie nach unten in die Grube fuhr.

Ein Jahr? Was für Leute kennt die denn? Vermutlich solche, die keinen Unterhalt zahlen müssen. Kris und die Sicherheitstruppe blieben am Rand stehen. »Ich würde trotzdem eines zu gerne wissen«, murmelte er und wandte sich an die Gardeure. »Wird es gefährlich? Ich meine, wozu sonst habt ihr so viele dicke Panzer dabei?«

»Man weiß nie«, antwortete einer von ihnen orakelhaft durch den Helmlautsprecher. »Es wäre besser, wenn du die Augen offen hältst. Hier kommt deine einfache Anweisung: Die Hover werden dich auf der Fahrt begleiten, und du wirst nicht anhalten. Egal, was passiert.«

Kris zeigte mit dem Kinn auf das Triebwerk, um das immer mehr Kabel und Ketten gelegt wurden. Kleinere Antigravplattformen schwebten herbei, um das Heben zu sichern. »Wenn ich das im Rücken habe, brauche ich Kilometer, um zum Stehen zu kommen.«

»Umso besser.« Die Gardeure gingen zum nächsten Panzer und stellten sich unter eine ausgeklappte Transportlukentür, um dem Regen zu entkommen; von dort betrachteten sie das Treiben.

Das alles gefällt mir immer weniger. Kris kehrte zum LCV zurück, öffnete die Box unterhalb der Kanzel und schaltete das Diagnosegerät ein. Dann nahm er einen Handscanner und umrundete das Gefährt, prüfte es auf sichtbare und unsichtbare Schäden. Jetzt würde sich zeigen, ob wirklich alles in Ordnung war.

Seit vier Jahren verdingte er sich als Spezialkutscher und hatte sich bei den Freighteners angemeldet, einer freien Cargo-Agentur, die ihn an verschiedene Firmen auslieh. Nur Jobs auf der Erde, nur Jobs auf der Globalen Speichereinheit I. Gefangenentransporte lehnte er prinzipiell ab. Kris mochte keine Abenteuer, das Weltall und die Kolonien noch weniger. Damit hatte er abgeschlossen. Deswegen passte ihm nicht, dass sich seinem Empfinden nach etwas zusammenbraute. Dabei hat es nach einem leichten Auftrag ausgesehen, verdammt! Aber es muss ja nichts passieren.

Zügig hatte er seinen Rundgang beendet. Bis auf die verbogenen Stützen hatte sich kein Schaden gezeigt, auch das Diagnosegerät meldete nichts.

Kann losgehen. Kris stieg in die vakuumsichere Kanzel und fuhr wieder nach oben, streifte Mantel und Helm ab. Klickend rastete die Kontrollkonsole ein. »Stimm-Identifizierung: Kris Schmidt-Kneen«, sagte er laut. »Passwortphrase: Life’s a bitch, and then you die.«

»Bestätigt«, erwiderte der Computer. Die Armaturen leuchteten auf. »Willkommen. Ihr Atemalkohol beträgt 0,0 Promille, keinerlei Pupillenveränderung messbar. Fahrtüchtigkeit bestätigt.«

Schon blinkte das Kom-Signal. »Hier ist Millers«, sagte der Ingenieur. »Sind Sie bereit?«

»Bereit, Millers.« Kris war erleichtert, dass der Mann die Bergung leitete. Auf die bissige Crompton konnte er verzichten.

»Gut. Folgen Sie meinen Anweisungen, und setzen Sie langsam vor.«

Das Rendezvous zwischen Fund und Auflieger begann.

Über die Kameras verfolgte Kris das Beladen, korrigierte dabei immer wieder die Position des LCV. Der Computer scannte das heranschwebende Triebwerk, hydraulische Elemente auf dem Auflieger hoben und senkten sich, damit die Last sicher wie in einem Bett ruhte.

Kris überwachte jeden Schritt, jede Bewegung und besserte von Hand nach. Sein Bauchgefühl wusste, wo es haperte und der Rechner übergenau arbeitete. Es war eine Aufgabe, die ihm alles an Konzentration abverlangte. Er schwitzte, seine Hände waren kalt. Der kleinste Fehler konnte zur Folge haben, dass sich das Triebwerk durch einen Sturz vom Auflieger in Schrott verwandelte. Im dümmsten Fall riss es ihn dabei in den Tod.

Schließlich huschten die Antigravplattformen zur Seite. Die Krane ließen das Triebwerk in seiner ganzen Länge millimeterweise auf den Truck ab.

Kris fuhr die Leistung der Antigravitationspulsatoren bis zum Anschlag hoch. Er hatte Crompton nicht gesagt, dass es die schwerste Last darstellte, die er seit Beginn seines Kutscherdaseins fuhr. Irgendwann ist immer das erste Mal.

»Maximale Belastung leicht überschritten: zwölfhunderteins Tonnen«, warnte der Computer. »Autopilot für Steuerung unzureichend, manuelle Steuerung notwendig. Bitte bestätigen.«

Kris folgte der Anweisung und übernahm noch mehr Verantwortung: Er allein entschied nun über jede Bewegung des Trucks und die damit verbundene Sicherheit der Fracht. Andere hätten vor Angst gekotzt.

»So, das ist jetzt Ihre Sache«, sagte Millers und klang erleichtert. »Wir haben Ihnen die Ladung übergeben.«

»Bestätigt«, sagte er. »Was ist es denn jetzt, Millers? Ich verrate es auch nicht.«

Der Ingenieur lachte. »Wir schätzen, und es ist nicht mehr als eine Schätzung, dass es ein Langstreckensprungantrieb ist. Jedenfalls nach den bisherigen Erfahrungen. Genau kann ich es nicht sagen. Die Scans haben große Mengen an Deuterium und Palladium gezeigt. Der Reaktor scheint auf eine Art Kalte Fusion ausgelegt zu sein. Das fehlt GI noch in der Sammlung.«

»Was viel wichtiger ist: Ist es ganz oder kaputt?«

»Auch das wissen wir nicht. Aber Strom fließt in einigen Leitungen um den Kern, das haben wir geprüft. Alles andere muss von unseren Experten in einem Labor gecheckt werden. Passen Sie ein bisschen auf, und bremsen Sie das nächste Mal vorsichtiger. Gute Fahrt!« Millers beendete die Unterhaltung.

Kris sah, wie sich ein Hoverpanzer schräg vor das LCV setzte. Durch die Kameras wurden die anderen drei auf der Scheibe eingeblendet: rechts, links und am Heck. Die konzerneigene Eskorte stand bereit.

Blaues Kom-Licht leuchtete. »Hier GI first. Folgen Sie mir«, sagte einer der Gardeure. »Fahren Sie konstant siebzig Stundenkilometer. Wir halten die Luft sauber. Alles andere schieben Sie aus dem Weg. Bestätigen.«

»Die Luft sauber halten? Mit was rechnen Sie denn, GI first

»Bestätigen Sie einfach, Kutscher«, schnauzte der Mann. »Danach herrscht Funkstille.«

»Bestätigt«, sagte Kris und ließ die Taste los. »Arschloch.« Er warf die Rotoren an, und es dauerte lange, bis sich der Truck überhaupt rührte. Spitze. Das habe ich mir noch gewünscht: ein Problemtransport. Dabei habe ich der Agentur gesagt, dass ich solche Fahrten nicht mache. Die 20 000 Tois hätten mich stutzig machen sollen.

Erst unter maximaler Leistung glitt das LCV auf dem Antigravpolster behäbig vorwärts und startete mit Schrittgeschwindigkeit. Es dauerte etwa zehn Kilometer, bis es auf siebzig beschleunigt hatte. Der kalkulierte Bremsweg betrug elftausendundein Meter.

Nun wurde Kris doch mulmig. Gut, dass hier flacher Meeresboden ist.

Die Fahrt verlief ruhig. Bis auf den beunruhigenden Umstand, dass alle zehn Minuten Störungen bei Kameras und Abstandssensoren auftraten, immer ungefähr auf der Höhe des Wulstes, der einer polierten Schweißnaht ähnelte.

Stimmt, Millers hat von Anomalien in den Frequenzen gesprochen. Scheiße, das hat mir noch gefehlt. Das macht das Manövrieren nicht einfacher. Kris’ Blick huschte über den planetaren Nachrichtenticker in den Armaturen und hatte das Schlagwort Babylon5 entdeckt. »Laut abspielen«, befahl er dem Bordcomputer.

»… erreichte Starlook soeben die Meldung, dass Babylon5 an die Collectors gefallen ist«, sagte die männliche Sprecherstimme. »Der 2OT hat die Verteidigung wie zu erwarten eingestellt und den Planeten aufgegeben, der damit unter die sogenannte Obhut der Ahumanen gefallen ist.«

Damit hatten die Collies einundzwanzig Planeten eingenommen. Nach wie vor ließen sie sich kaum aufhalten, was nicht nur Kris beunruhigte.

Soraya lebte glücklicherweise nicht in dem Bereich, in dem die Collies operierten, sonst hätte er Umaia schon lange kontaktiert und sie zu einem Umzug gezwungen. Notfalls würde er ihr entgegen ihrer Abmachung das Sorgerecht streitig machen. Die Angst und die Sorge hafteten wie schmerzende Kletten auf seiner Seele.

»Der Tourismus- und Handelsplanet Babylon5 gab einer Milliarde Menschen eine Heimat«, erzählte der Sprecher. »Augenzeugen zufolge gelang einzelnen kleineren Schiffen die Flucht vor dem Eintreffen der Collectors. Ein Sprecher der Feudal European Coalition verurteilte …«

»Ton aus.« Ein weiterer Planet mehr für die Sammler. Hoffentlich konnten sich die meisten von ihnen retten. Kris drückte die Kom-Taste. »GI first, haben Sie mitbekommen, was mit Babylon5 geschehen ist?«

»Ja, haben wir«, bekam er zur Antwort. »Halten Sie trotzdem Funkstille, Kutscher.«

Kris unterbrach die Verbindung. »Arschloch«, sagte er wieder und dachte an Babylon5.

Den Collies traute Kris alles zu. Ihre Taktik zeugte von der Härte, die sie gegen alle anwandten, die sich zwischen ihre Ziele und ihre Schiffe stellten. Die stets gleichen, harmlosen Worte ihrer lakonischen Botschaften galten schon lange nichts mehr.

Woher seid ihr gekommen, ihr Mistkerle?