Inhaltsverzeichnis
Buch
Autorin
Annie Proulx bei btb
Widmung
Lob
Der Höllenschlund
Die Indianerkriege neu aufgelegt
Der Sickereffekt
Was für Möbel Jesus aussuchen würde
Drei alte Dachse
Mann kriecht aus dem Wald
Der Wettbewerb
Der Wolf von Wamsutter
Der Jacuzzi-Sommer
Sperrmüll
Sommerfrischler aus Florida
Danksagung
Copyright
Buch
Wyoming, Land der Taugenichtse und Träumer, hat Annie Proulx schon einmal zu unvergeßlichen Geschichten inspiriert. Ihr zweiter Band über diese bizarr-schöne, dürregeplagte, von Stürmen und Winden heimgesuchte und von Industriegiften verseuchte Landschaft erzählt von Menschen, die den Widrigkeiten des Lebens trotzen, ihre Schrullen pflegen und jeden mit Mißtrauen beäugen, der aus der »roten Hölle« außerhalb der Staatsgrenzen kommt.
Ein Rancher, dem sein Land heilig ist, muß miterleben, wie ihn nicht nur Frau und Söhne, sondern auch Glück und Geld verlassen und er mit liberalen Ökologen an einem Strang zieht. Ein künstlerisch angehauchtes Ehepaar aus New York merkt erst in Wyomings Weite, wie verschieden beide sind. Ein erfolgloser Glücksucher lernt die Freuden und Gefahren des Lebens in einem Trailerpark kennen; und in den drei weithin bekannten Bars des winzigen Ortes Elk Tooth, der Schauplatz mehrerer denkwürdiger Erzählungen ist, sollte man tatsächlich mal vorbeischauen...
Autorin
Annie Proulx wurde 1935 in Connecticut geboren und lebt heute in Denver und Wyoming. Für ihre Romane und Erzählungen wurde sie mit allen wichtigen Literaturpreisen Amerikas ausgezeichnet, u.a. dem PEN/Faulkner Award, dem Chicago Heartland Award, dem Pulitzerpreis, dem National Book Award, sowie dem Irish Times International Fiction Prize. Die Verfilmung ihrer Kurzgeschichte »Brokeback Mountain« aus dem Erzählband »Weit draußen. Geschichten aus Wyoming« wurde mit drei Oscars prämiert.
Annie Proulx bei btb
Herzenslieder. Erzählungen (73616)
Postkarten. Roman (73617)
Schiffsmeldungen. Roman (73611)
Das grüne Akkordeon. Roman (73423)
Mitten in Amerika. Roman (73269)
Für Muffy, Jon, Gillis und Morgan
Es heißt immer, wir leben in einer wunderbaren Welt, aber soweit ich das beurteilen kann, war die Welt, in der ich lebe, noch nie wunderbar.
Charlie Starkweather 1958 in seinem Geständnis
Der Höllenschlund
An einem Novembertag ritt Wildhüter Creel Zmundzinski von der Jagd- und Fischereiaufsicht Wyoming im dichter werdenden Licht des Spätnachmittags den Pinchbutt-Abflußgraben hinunter. Die letzten Fetzen Sonnenlicht besprenkelten seinen roten Backenbart mit feurigen Spritzern. Das Gelände war abschüssig, mit Drehkiefern bestanden, weiter unten von Beifuß abgelöst und vereinzelten Wiesen, die Wapitis im Winter auf ihrer Wanderschaft nach Südosten gern aufsuchten. Ab und zu, wenn der Blick nicht verstellt war, sah er auf dem Kies der Wendestelle unten in der Ferne seinen Geländewagen samt Pferdeanhänger glitzern. Er ritt ganz langsam, sang das Lied vom großen Joe Bob, »Stolz des hinteren Felds, Held seiner Tage«, während vor ihm der Übeltäter ohne Jagdschein ging, den Creel beim Verscharren der Eingeweide einer Elchkuh überrascht hatte. Die Hinterschenkel hatte der Mann in seinen ATV-Geländewagen geladen, den Rest des Kadavers der Verwesung überlassen.
»Das hier ist ein geschütztes Gebiet, in dem nicht gejagt werden darf«, sagte Creel. »Zeigen Sie mir Ihren Jagdschein.«
Der rotgesichtige alte Knabe betatschte die zahlreichen Taschen seiner Jagdjacke. Die Jacke war neu, am hinteren Saum steckte noch das Preisschild. Das Aufblitzen des Preisschilds war Creel durch die Bäume aufgefallen. Jetzt förderte der Mann seine Brieftasche zutage und suchte darin.
Während er wartete, lauschte Creel Zmundzinski auf einen Ton, den er nicht hören wollte.
Nach langem Suchen reichte der Mann Creel ein Papprechteck. Es war eine Visitenkarte, die neben Telefonnummern und einer immens verkleinerten Abbildung der Kathedrale von Chartres folgende Worte aufwies:
EHRWÜRDEN JEFFORD J. PECKER
GEISTLICHER ZU PERSIA
»Persia, wo ist das?« fragte Creel, der an den Iran dachte, da ihm die Vorwahl 323 nicht vertraut war. Er hatte den Eindruck, als höre er das gefürchtete Geräusch aus der Ferne.
»Pör-si-öh, Kalifornien«, sagte der Geistliche laut und nasal, um Creels Aussprache zu korrigieren.
»Ist das Ihre Kirche?« fragte Creel, der die Abbildung betrachtete. Tatsächlich, von dem Weidengehölz unten am Grund der Wiese hörte er das jammervolle Blöken eines verwaisten Elchkalbs.
»Sie sieht ganz ähnlich aus.«
»Aber einen Jagdschein kriegt man dadurch noch lange nicht.« Sein Ton war jetzt sehr kühl. Was der Geistliche nicht wissen konnte, war, daß er dem einen unter dreiundfünfzig Wildhütern in Wyoming über den Weg gelaufen war, der nichts mehr verabscheute als Elchkuhmörder, weil sie verwaiste Kälber dem Schicksal überließen, sich in einer Welt voller Raubtiere und unbarmherziger Witterung allein zurechtzufinden. Creel Zmundzinski war nämlich selbst Waise und hatte nach dem Tod seiner Eltern bei Tante und Onkel auf deren Ranch in Encampment gelebt. Doch Schuleschwänzen, schlechter Umgang und zu guter Letzt Einbruchdiebstahl hatten ihn in das Jugendheim St. Francis gebracht. Zornbebend ob der Ungerechtigkeit des Lebens und voller Selbstmitleid sorgte er bei jedem Anlaß für Ärger. Von St. Francis hätte er nahtlos in das Staatsgefängnis in Rawlins wechseln können, wäre da nicht Orion Horncrackle gewesen, ein betagter Beamter der Jagd- und Fischereiaufsichtsbehörde.
Wildhüter Orion Horncrackle hatte die schönste Kindheit gehabt, die ein Junge sich wünschen kann. Er und seine drei älteren Brüder waren in dem Buffalo-Forks-Gebiet am Snake River aufgewachsen, mitten auf dem Kontinent, und hatten in den dreißiger und vierziger Jahren in der Wildnis der Beartooth und Buffalo-Hochebenen ihre Pferde geritten, im Freien übernachtet und gejagt. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten seine überlebenden Brüder die Ranch übernommen, und Orion hatte als erster Horncrackle die Universität von Laramie besucht. Er promovierte in Biologie, trat eine Woche darauf in die Behörde für Jagd- und Fischereiaufsicht ein und blieb dort für den Rest seines Arbeitslebens.
Er war fast sechzig, und Creel Zmundzinski war vierzehn, als sie sich kennenlernten. Orion stieg die Treppe zum Gericht hinauf, während Creel in Begleitung zweier Jugendwärter hinunterschlurfte, die Miene sauertöpfisch verzogen. Als sie sich begegneten, trat Creel dem Wildhüter gegen den Knöchel und grinste hämisch. Seine Begleiter zerrten ihn weg und brachten ihn zu einem alten Bäckereiwagen, an dessen Seite die Worte JUGENDHEIM ST. FRANCIS aufgemalt waren.
»Was ist das für ein übles Subjekt?« fragte Orion den Hilfssheriff, der oben auf der Treppe Maulaffen feilhielt.
»Einer von den Burschen aus St. Francis. Die haben da drauβen üble Subjekte, soviel man sich nur wünschen kann.«
Eine halbe Stunde später, nachdem der betreffende Wilderer es versäumt hatte, »der Vorladung Folge zu leisten«, fuhr Orion auf der Suche nach dem Jugendheim St. Francis aufs Land hinaus. Es war ein schäbiges Steingebäude mitten auf der Prärie.
Ein ungepflegtes Baseballfeld und ein verbogener Basketballring ohne Netz befanden sich neben einem Anbau, über dessen Tür ein schiefes Schild WÄSCHEREI besagte. Sonst gab es nichts, keine Pferdekoppel, keinen Viehhof, keine Scheune, keinen Garten, nicht einmal Berge.
Was zum Teufel sollen die Jungen hier tun? Müssen sich ja zu Tode langweilen, dachte er sich. Ungestört umrundete er das Gebäude, stieg wieder in seinen Pritschenwagen und fuhr weiter.
Von seinem Büro aus rief er den Heimleiter an und führte ein langes Gespräch mit ihm. Am übernächsten Samstag saß Orion Horncrackle in seiner Uniform mit rotem Hemd auf einem Klappstuhl in einem ungeheizten Zimmer vor elf zappeligen Jungen im Alter von vierzehn bis siebzehn, darunter Creel Zmundzinski.
»Ich weiß«, sagte Orion in dem Ton, den er bei störrischen Pferden anzuschlagen pflegte, »daß die meisten von euch denken müssen, das Leben hätte euch ziemlich gemein mitgespielt, hätte euch um Eltern und ein Zuhause betrogen. Aber wißt ihr was? Das ist Tausenden und aber Tausenden von Kindern passiert, die es trotzdem fertiggebracht haben, ihr Leben in den Griff zu kriegen. Aus denen anständige Menschen geworden sind. Die es zu etwas gebracht haben. Ich bin hergekommen, um euch zu sagen, daß ihr nicht die verlassenen Waisenknaben seid, für die ihr euch haltet. Ihr seid an einem wunderschönen und wilden Ort geboren, und wenn ihr euren Heimatstaat Wyoming und seine Natur die Stelle eurer Menscheneltern einnehmen lassen wollt, dann wäre das nicht das schlechteste für euch. Ich helfe euch dabei, eure neuen Verwandten kennenzulernen. Wir werden Ausflüge in die Berge machen, und jeder einzelne hat sich dabei zu bewähren, sonst war der erste Ausflug sein letzter.«
»Wollen Sie damit sagen, daß ein Haufen Hirsche für uns wie Mutter und Vater sein sollen?« Der Junge hatte ein Gesicht wie ein Kürbis mit einer Andeutung pfirsichfarbenen Flaums.
»Gewissermaßen ja. Von Hirschen kann man eine Menge lernen.«
»Und was ist mit Vögeln? Ich will einen Adler als Dad«, sagte Crossman, der sich für den Gedanken erwärmte.
»Ein Stinktier wäre passender für dich«, sagte Creel, doch mit einemmal riefen sie alle Namen von Tieren, die sie sich als Verwandte wünschten.
Ein sehr schmaler Junge, der halb indianisch aussah, sagte: »Dürfen wir auch Pferde reiten?«
»Aha! Wie heißt du? Ramon? Du nennst die Sache beim Namen. Wißt ihr, früher konnte man an einer Zauberlampe reiben, und dann steckte ein Dschinn den Kopf zur Tülle raus, und man konnte ihm befehlen, ein paar gute Pferde zu bringen, aber solche Lampen mit Geistern drin sind heutzutage schwer aufzutreiben. Ich muß sehen, wie ich an ein paar Pferde komme, und es werden wahrscheinlich nicht die besten Pferde sein, die man sich vorstellen kann, aber du hast recht, Pferde sind nötig, selbst wenn es nur Maulesel sind. Und ich werde sie auftreiben.«
Er gab jedem Jungen eine Karte von Wyoming und erzählte ihnen von den Bighorns, dem Sunlight Basin, dem Buffalo Plateau seiner Jugend, von den Wind-River-Bergen, dem Towogotee-Paß, Sheep Mountain, Elk Mountain, dem Medicine Bow. Er erzählte von Gabelantilopen, Silberlöwen, dem großen Wapiti, Dachsen und Präriehunden, von Adlern und Falken und Wiesenstärlingen. Yellowstone Park befinde sich zu großen Teilen in Wyoming, sagte er, und sie würden mit Sicherheit hinfahren. Er gab jedem von ihnen einen Naturführer mit dem Titel Die Säugetiere Wyomings.
Am Spätnachmittag klopfte der Heimleiter an die Zimmertür und schnauzte die Jungen an: »Jetzt bedankt euch bei Wildhüter Horncrackle und verabschiedet euch von ihm. Zeit für euren Pflichtsport. Mr. Swampster wartet schon in der Turnhalle. Wird’s bald!«
Creel stieß Crossman den Ellbogen in die Seite und flüsterte: »Der hat keine Ahnung, daß er es mit dem Sohn vom Elchkönig zu tun hat.«
»Ja, und mit dem vom Goldadler.«
»Klappe halten da hinten, und marsch!« Zu Orion Horncrackle sagte der Heimleiter: »Ob Sie bei denen was ausrichten können, möchte ich bezweifeln. Sie sind störrisch wie die Esel.«
»Und Raufbolde sicher auch«, sagte Horncrackle sanftmütig.
Creel Zmundzinski war nicht der einzige Junge, der in dieser Nacht mit seiner Landkarte und den Säugetieren Wyomings unter dem Kopfkissen schlief, und er war auch nicht der einzige Junge aus St. Francis, der den Beruf des Wildhüters ergreifen sollte.
»Wie! Jagdschein! Zu Ihrer Information darf ich Sie darauf hinweisen, daß ich als Geistlicher von Wildhütern im allgemeinen mit mehr Respekt behandelt werde«, dröhnte Ehrwürden Jefford J. Pecker mit seiner verschnupften Stimme.
»Das war wohl in Kalifornien. Sir, Sie sind hier in Wyoming, und hier herrschen andere Sitten. Gehen Sie einfach vor mir den Weg runter. Ich stelle Ihnen einen Strafzettel wegen Wilderns aus.« Creel Zmundzinski mußte sich zwingen, höflich zu bleiben.
Zehn Minuten empörten Protestgeschreis, gefolgt von der weinerlichen Bitte, mit seinem ATV hinunterfahren zu dürfen, seines Gesundheitszustands wegen, konnten Creel Zmundzinski nicht erweichen.
»Was soll mit Ihrem Gesundheitszustand sein? Für meine Begriffe sehen Sie ganz gesund aus.«
»Wie! Spielen Sie sich jetzt auch noch als Arzt auf?« kreischte der Wilderer. »Ich bin herzkrank! Und ich habe ein krankes Bein! Ich bin schwer nierenkrank!«
Creel Zmundzinski reagierte nicht, und zu guter Letzt machte Ehrwürden Pecker sich auf den Weg, wobei er sich alle paar Minuten umdrehte, um Creel mit einem kurzen Schwall markiger Worte, von farbigen Bildern untermalt, zu überschütten. Creel fiel auf, daß das kranke Bein sich nicht entscheiden konnte, ob es das linke oder das rechte war. Vermutlich war es anstrengend, absichtlich zu hinken. Ab und zu trieb Creel seinen rötlichen Wallach Dull Knife ein bißchen an, bis dieser den Geistlichen in den Rücken stupste.
Als sie die Wiese verließen, ertönte das Blöken des Kalbs laut und ammervoll. Zmundzinski murmelte: »Alles Gute, Kleiner«, obwohl er wußte, daß das Kalb keine Chance hatte. Als sie den halben Weg zurückgelegt hatten, befahl Creel dem Geistlichen plötzlich, innezuhalten.
»Zurück nach oben«, sagte er.
»Wie!« Doch der Delinquent stieg flott den Weg hinauf, wahrscheinlich in der Annahme, daß sie seinen ATV holen gingen. Überrascht, aber keineswegs erfreut mußte er erfahren, daß der Wildhüter von ihm verlangte, eines der Hinterviertel des Elchs den Weg hinunterzutragen, ohne ATV.
»Wie? Das kann ich nicht, verdammt! Das sind an die siebzig Kilo Fleisch!«
»Ich helfe Ihnen, es hochzuheben, Reverend Pottymouth«, sagte der Wildhüter liebenswürdig.
»Pecker!«« kreischte der erboste Prediger. »Ich heiße Pecker!«
»Klar doch«, sagte Creel.
Sie brauchten lange für den Rückweg, denn der Jäger ließ sich alle paar Schritte an einen Baum sinken, um sich auszuruhen.
»Okay, jetzt rauf und das zweite Stück geholt.«
»Wie? Das werden Sie mir büßen, Sie verdammtes Arschloch in Ihrem roten Hemd! Ich habe Beziehungen. Das wird Sie Ihren Kopf kosten, darauf können Sie Gift nehmen! Ich sorge dafür, daß Sie gefeuert werden und Ihr Vorgesetzter auch und daß er weiß, warum er gefeuert wurde, nämlich wegen Ihnen.«
Auf der kiesbestreuten Wendestelle erlaubte Creel dem Mann, das zweite Stück Fleisch hinten in den Behördenwagen zu legen. Verschmutzt und blutbefleckt stand der Prediger auf einer leichten Kiesmulde kurz vor dem Ende der Wendestelle. Sobald er verschnauft hatte, begann er die Gründe aufzuflihren, warum Creel keine Anzeige gegen ihn erstatten dürfe, darunter die quälenden Gewissensbisse, die Creel später zweifellos heimsuchen würden, das Gerichtsverfahren, das Ehrwürden gegen die Jagd- und Fischereiaufsicht von Wyoming anzustrengen gedachte, sowie die einflußreichen Freunde Ehrwürdens, die einem gewissen rothaarigen Wildhüter, dessen Vorfahren fraglos mit Torquemada, Bill Clinton und dem Papst verwandt waren, das Leben zu einem ausnahmslos dornigen Leidensweg machen würden. Creel schrieb unbeeindruckt weiter.
»Haben Sie mich nicht gehört, Sie Idiot? Sie Trottel von einem Wildhüter, Sie werden in der Hölle schmoren!« brüllte der Mann erregt und stampfte vor Wut und Frust mit den Füßen. Rauch stieg gekräuselt um ihn herum auf.
»Wie?« sagte er, als der Kies unter seinen Füßen nachgab.
Ein Geräusch ertönte, als würde ein Salatkopf auseinandergerissen. Der Kies brodelte und öffnete sich plötzlich zu einem Loch. Der Jäger stürzte in eine lodernde rote Öffnung von etwa einem Meter Durchmesser, die wie ein riesiges glühendheißes Rohr aussah. Mit einem schrillen Schrei verschwand der Prediger darin. Das Ganze hatte keine fünf Sekunden gedauert.
Sofort schloß sich der Zugang zu der heißen Röhre wieder, und der Kies der Wendestelle wirkte unberührt und solide bis auf eine etwas dunklere ringförmige Vertiefung an der Stelle des fatalen Zugangs. Ein schwach schwefliger Geruch hing in der Luft, nicht unähnlich dem des Wassers aus dem Wasserhahn in der Küche von Zmundzinskis Wohnwagen in Elk Tooth. Das Pferd zitterte, harrte aber tapfer aus.
»Du lieber Himmel«, sagte Creel zu Dull Knife. »Ist das wirklich passiert? Haben wir das wirklich gesehen?« Auf unsicheren Beinen näherte er sich der ringförmigen Vertiefung. Ihm war, als könne er ein fernes, schwaches Zischen vernehmen. Er beugte sich vor und hielt die Hand über die Stelle im Kies, wo vor wenigen Minuten Ehrwürden Pecker gestanden hatte. Eindeutig warm. Er holte einen mehrere Kilo schweren Felsbrocken und ließ ihn auf die Stelle fallen. Der Kies gab ein wenig nach, doch kein glühendes Loch öffnete sich. Nach einer halben Stunde ratlosen Suchens und tiefer Nachdenklichkeit gab er auf und fuhr im Dunkeln nach Hause. Er konnte sich nicht erklären, was vorgefallen war, doch es ersparte ihm eine Menge Papierkram.
Eine Woche später hatte Creel Zmundzinski eine erbitterte Auseinandersetzung mit zwei Anwälten aus Texas und ihrem Freund, einem kalifornischen Finanzbeamten, der schwor, er werde dafür sorgen, daß Creel jedes Jahr seines künftigen Lebens eine Steuerprüfung erlebe und seine Kinder und Kindeskinder ebenfalls.
»Noch ein guter Grund, nicht zu heiraten«, sagte Creel.
Die Anwälte sagten, er werde in einer Hochsicherheitszelle seine Strafe absitzen.
»Hoffentlich nicht in der neben Ihrer«, sagte er lächelnd.
Keiner der drei hatte einen Jagdschein für Wyoming; zwei konnten texanische Jagdscheine vorweisen und behaupteten, es gebe zwischen Kalifornien und Wyoming ein Abkommen, die Jagdscheine des anderen Bundesstaates anzuerkennen. Creel lachte und sagte, das glaube er nicht. Die Männer hatten den fünf Wapitihirschen, die sie geschossen hatten, die Köpfe abgeschnitten und mit den Kadavern einen Bewässerungsgraben verstopft, der dadurch übergelaufen war. Creel zwang sie, den Graben zu säubern, ein Loch auszuheben, die fliegenbedeckten Kadaver zu begraben und dann vor ihm her zur Pinchbutt-Wendestelle zu fahren. Er achtete darauf, nahe an der Straße zu parken. Diesem Ort näherte man sich besser vorsichtig. Er wies die Männer an, sich an das Ende der Wendestelle zu begeben.
»Gehen Sie dort hinüber«, sagte er und deutete auf die Stelle, wo der Kies dunkler gefärbt war.
Sie schlurften desinteressiert in die angewiesene Richtung. Die schwache kreisförmige Vertiefung war kaum auszumachen, doch er erkannte sie an dem Felsbrocken, den er nach dem überraschenden Abgang Ehrwürden Peckers dort hatte fallen lassen, und an dem dunkleren Kies, der den Umfang der Öffnung markierte. Er vermutete, daß Ruß die Verfärbung bewirkte. Er nahm seinen Verwarnungsblock in die Hand und überlegte, wie er sie dazu bringen konnte, auf und ab zu springen oder zu stampfen. Er wußte nicht einmal, ob es funktionieren würde. Vielleicht war Ehrwürden Pecker ein Einzelfall gewesen. Vielleicht funktionierte es nur bei Geistlichen, die auf die schiefe Bahn geraten waren. Vielleicht hatten sich kosmische Kräfte miteinander verbündet. Er tat so, als müsse er überlegen, hielt sich den Stift an die Lippen und legte den Kopf schief.
»Meine Herren, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich lasse Sie diesmal laufen, wenn Sie bei einer kleinen Albernheit mitmachen. Für mein privates Amüsement möchte ich sehen, wie Sie sich lächerlich machen, dann lasse ich Sie laufen. Ich möchte, daß Sie springen – so«, er machte es vor, »und dann lache ich, aber ich schreibe keinen Strafzettel.«
Die drei Freunde blickten einander mit Mienen an, die verrieten, was sie von seinem Geisteszustand hielten.
»Kommt, machen wir ihm die Freude«, sagte der Finanzbeamte und sprang zaghaft, kaum ein paar Zentimeter hoch. Nichts geschah, doch Creel sah ein vereinzeltes schwaches Rauchzünglein an der richtigen Stelle aufsteigen.
»Na los, springen Sie richtig«, sagte er und tat selbst einen hohen Sprung, um sie anzustacheln.
Einer der Anwälte sprang mit einer Anmut empor, die Creel nur bewundern konnte, und als er den Boden berührte, öffnete sich dieser unter dem Trio, und alle stürzten sie in das glühende Bohrloch. Der Finanzbeamte hatte einen Fuß außerhalb des Kreises gehabt, und einen Augenblick lang sah es aus, als könnte er sich retten, doch der Tunnel übte eine beträchtliche Sogwirkung aus. Creel spürte sie über mehrere Meter Entfernung, und der Finanzbeamte wurde verschluckt wie eine Fliege von einem Staubsauger.
Der Trick, dachte er sich, bestand also darin, sie zum Springen zu bringen. Es war eine wunderbare Entdeckung, und umgehend verriet er seinen Kollegen das Geheimnis der Pinchbutt-Wendestelle. Der Höllenschlund, wie er den Ort nannte, ersparte ihnen eine Unmenge mühsamen Papierkrams und erfreute sich bald so großer Beliebtheit, daß bisweilen mehrere Wagen der Jagd- und Fischereiaufsicht an der Straße anstanden und warteten, daß sie an die Reihe kamen. Wildhüter fuhren meilenweit, um Gesetzesbrecher zu dem wundervollen Loch zu bringen.
Ein Übeltäter drohte nach einer dreistündigen Fahrt mit einer Anzeige wegen grausamer und menschenunwürdiger Haftbedingungen, weil es in dem Wagen nach nassem Hundefell, Dung, Aas und Ölsardinensandwich roch. Kein derartiges Verfahren wurde jemals angestrengt.
Sie mußten alle schwören, den Mund zu halten. Creel erzählte es nicht einmal seinem besten Freund Plato Bucklew.
In der nächsten Jagdsaison stapfte Creel Zmundzinski in seine Lieblingskneipe Pee Wee in Elk Tooth. Er setzte sich an einen Tisch hinten im Lokal, wo Plato Bucklew damit beschäftigt war, Whiskey mit Bier runterzuspülen und die Kontaktanzeigen in der Zeitung zu studieren. Plato sah auf.
»Was ist denn mit dir los? Heute keine Bösewichter gefangen?«
»Doch, jede Menge. Mir tut schon die Hand weh vom Strafzettelschreiben. Für mich das gleiche«, sagte er zu Amanda Gribb und deutete auf Platos Getränke.
»So, so, dir tut die Hand weh – das müßtest du doch gewohnt sein, oder?« Die Frage wurde bewußt gedehnt gestellt.
»So geht das jetzt die ganze Saison hindurch, und das verdanke ich den verdammten Forstbrüdern.«
»Was soll das heißen?«
»Das soll heißen, daß die verdammten Brüder vom Forstamt mir das beste Arrangement aller Zeiten vermasselt haben.« Und er erzählte Plato alles von dem Höllenschlund, davon, wie die Wildhüter Schlange standen, um ihn zu benutzen, und von den gespenstischen Schreien der Missetäter, wenn sie in Pech und Schwefel hinunterglitten.
»Und? Was hat das Forstamt damit zu schaffen?« Plato Bucklew arbeitete für die Forstaufsicht; mochte er sich noch so gern über seine sturen, uneinsichtigen Vorgesetzten beklagen, von Rothemden wollte er keine Kritik an seiner Arbeit hören, auch nicht von Creel.
»Jetzt paß auf: Heute hatte ich einen richtig üblen Kunden, eine dreiste kleine Ratte, arbeitet in einer Bäckerei in Iron Mule, hat eine Hirschkuh geschossen. Dann läßt er glatt die Hosen runter und kniet sich hin und will mit der toten Hirschkuh Geschlechtsverkehr ausüben. Und ich stehe nur ein paar Meter weit weg.«
»Großer Gott!« Plato bekam seinen Whiskey in die Luftröhre. »Das« – er zitierte das Vokabular aus seinem Kurs in Kriminalpsychologie – »das ist ja abartige bestialische Nekrophilie! Wofür hast du ihm den Strafzettel ausgestellt?«
»Für nix, außer daß in dem Gebiet nur Böcke erlegt werden dürfen. In den Jagdvorschriften steht nichts über abartige Jägermikrochemie oder wie auch immer.«
»Na ja, du mußt es positiv sehen. Es hätte eine Menge mehr Schreibkram sein können. Zum Glück war es kein Bock, denn dann wäre es homosexuelle abartige bestialische Nekrophilie gewesen. Und was hast du dann getan?«
»Ich hab ihm gesagt, daß er seine Hosen wieder anziehen soll, und bin mit ihm zu der Wendestelle gefahren, aber da war nichts wiederzuerkennen. Sah aus, als hätte das Forstamt dort ein Stelldichein von Baggern und Planierraupen veranstaltet. Alles plattgewalzt, Platz für fünfzig Autos, folkloristische Wegbeschilderung, Anschlagtafeln, zwei von diesen neuen Scheißhäusern, Abfalleimer, Wanderkarten, das ganze Tralala. Aber meine geliebte Stelle, die kann ich nicht mehr finden. Ich bin die ganze Gegend abgegangen, habe mit einem Zaunpfosten, den die Forstleute liegengelassen hatten, überall auf den Boden geklopft, aber nichts zu machen. Nichts! Der Bursche stand da und hat mich nur angeglotzt. Er muß gedacht haben, daß ich nicht ganz dicht bin. Zuletzt mußte ich ihm einen stinknormalen Strafzettel ausstellen. Ich hab dann den anderen Wildhütern Bescheid gesagt, und in der Mittagspause waren wir alle da, sind herumgesprungen und haben im Kies gewühlt auf der Suche nach unserer heißgeliebten Stelle. Nix und nada. Verschwunden.«
»Schwer zu glauben, daß es sie wirklich gegeben hat. Letztes Jahr hast du kein Wort davon gesagt. Klingt wie hyperaktive Phantasie. Oder Massenhypnose.«
»Manchmal wünsch ich mir, du hättest diesen bescheuerten Psychologiekurs nicht gemacht. Es war ein Geheimnis. Ich durfte niemandem davon erzählen.«
»Angenommen, daß – letzten Herbst kam ein Memo für Jumbo Nottage wegen dem vielen Verkehr an deiner Wendestelle. Zu wenig Platz. Nehme an, er dachte, das wäre eine gute Gelegenheit, einen multifunktionalen Parkplatz anzulegen. Er dachte sicher, das wären lauter Touristen und Ausflügler. Konnte ja nicht wissen, daß es die Jagd- und Fischereiaufsicht war, die dort ihre Mitbürger schmoren ließ wie Kartoffeln im Feuer.« Er machte Amanda Gribb ein Zeichen.
»Amanda? Gibt es nicht einen Cocktail, der Teufelsirgendwas heißt?«
»Ich schau im Buch nach.« Amanda hatte versucht, das in leisem Ton geführte Gespräch zu belauschen, doch nichts mitbekommen außer den Worten »bestialische Nekrophilie«, die Plato ziemlich laut gesagt hatte.
»Ja, es gibt was, das heißt Teufelstanz. Besteht aus Wodka, Rum und Apricot Brandy.«
»Das ist es! Zwei davon. Doppelte. Auf meinen Freund Wildhüter Creel, der das ganze letzte Jahr mit dem Teufel getanzt hat und nichts dagegen hätte, es wieder zu tun.«
Die Indianerkriege neu aufgelegt
An einem Sommertag zwischen dem neunzehnten und dem zwanzigsten Jahrhundert standen zwei Männer in Latzhosen, einer mit einem Schieferhammer in der Hand, auf einer Straße in Casper und betrachteten ein neues Gebäude.
»Denke mir, das wird den Kuhtreibern zeigen, wer hier das meiste Heu hat«, sagte der eine.
Der andere lächelte, als probierte er seine Lippen aus, und sagte: »Dem einen oder anderen vielleicht. Du hättest dich auf die Juristerei verlegen sollen, Verge. Dein Haus ist es nicht, was wir da hinstellen.«
»Eine Ranch würde mir mehr zusagen. Damit kann man richtig Geld machen.«
»Da kommt er«, sagte der Mann mit dem Hammer und nickte der großgewachsenen Gestalt im Gehrock zu, die in ihrem abgezirkelten Gang auf sie zukam. Der Mann sah nicht zu ihnen hin, sondern zu dem Gebäude.
»Gut, Jungs, sehr gut«, sagte Rechtsanwalt Gay G. Brawls. »Das ist jetzt die Königin von Casper, und hingestellt haben sie wir.«
In den ersten Jahrzehnten, nachdem Wyoming Bundesstaat geworden war, wollte jede Stadt wenigstens ein imposantes Gebäude vorweisen. Diese Banken, Gerichte, Opernhäuser, Hotels, Bahnhöfe und Firmensitze wurden aus Material errichtet, das den lokalen Steinbrüchen entstammte, aus Zementblöcken, deren Form Steinquader nachahmte, und manche hatten Gußeisenfassaden, per Versandhandel geordert. Die wenigsten haben ihre ursprüngliche Funktion behalten, und so kommt es, daß heute eine Mobiltelefongesellschaft kurioserweise in einem stattlichen Opernhaus residiert und die prachtvolle Sweetwater-Brauerei eine Zaunbaufirma beherbergt.
Inmitten der klapprigen Holzhäuser mit ihren Scheinfronten machte das Brawls-Geschäftshaus den Eindruck luxuriösen Reichtums. Die einzelnen Bestandteile des Gebäudes – das stattliche Gesims, Pilaster zwischen Fenstern und Türen, ein Türsturz mit ägyptischen Motiven zwischen Erdgeschoß und Obergeschoß – waren allesamt mit der Eisenbahn aus St. Louis gebracht worden. Ein neoklassizistischer Eingang mit girlandengeschmücktem Gesims und farbigen Glaseinsätzen im Gußeisen schmückte die Gebäudefront. An jenem Sommertag im Jahr 1900 trug Rechtsanwalt Gay G. Brawls seine Papiere in sein neues Büro im Obergeschoß. Das Erdgeschoß beherbergte hinter dem ersten großen Schaufenster der Stadt einen Textilwarenladen mit Rollen von Kattun und Barchent und allerlei Kurzwaren. Im hinteren Teil des Ladens gab es eine tadellose Auswahl an Herrenanzügen, die der Inhaber Mr. Isaac Frasket änderte, damit sie den breitschultrigen und schmalhüftigen Cowboys paßten, die sich auf die Kleidung stürzten. Er bezahlte zusätzliche Miete und lagerte in einem Raum im ersten Stock Hutschachteln und Putzmacherzubehör neben den Kisten mit alten eidesstattlichen Aussagen, Testamenten und Verfahrensunterlagen.
Brawls’ Kanzlei war erfolgreich und wählerisch. Der berühmteste Klient war William F. Cody – Buffalo Bill. Im Verein mit anderen Jüngern der Jurisprudenz stützte Rechtsanwalt Brawls den Schausteller bei den Zitterpartien seiner diversen Bankrotte, Frucht seiner Geschäfte mit den verrufenen Zeitungs- und Zirkusunternehmern Bonfils & Tammen aus Denver.
Rechtsanwalt Brawls, dreiunddreißig Jahre alt, als sein Gebäude errichtet wurde, hatte die langen Beine eines Reiters, schwarze Haare, weich wie Katzenfell, und einen Bartschatten wie eine Maske. Man konnte ihn fast einen schönen Mann nennen, da nur ein rötliches Mal am linken Lid seine Erscheinung beeinträchtigte, das strahlende tiefe Blau seiner Iris jedoch die Aufmerksamkeit von diesem Makel ablenkte. Er sah aus, als wäre er für den Sattel geschaffen, litt aber zu einer Zeit, als Pferde gleichbedeutend mit Transport waren, an einer Allergie gegen Pferdehaare. Nach zehn Minuten in einem offenen Fuhrwerk tränten ihm die Augen, und ein blindwütiger Kopfschmerz tobte hinter seiner Stirn; deshalb erledigte er alles zu Fuß, und wenn ein Ort zu weit entfernt war, um auf Schusters Rappen erreichbar zu sein, dann ging er nicht hin. Er gehörte zu den ersten Besitzern eines Automobils in Casper.
Im Jahr 1919 starb der alte Textilienhändler Mr. Frasket, und sein Leichnam wurde nach Osten zurückexpediert. Seine Räumlichkeiten mietete ein Eissalon, der zu einem beliebten Treffpunkt wurde. Sieben Monate später war es an Gay G. Brawls, nach dem Genuß einer Zitronensoda, auf dem Weg zurück in sein Büro auf der Treppe Akten zu verlieren, zu stolpern, auf den Akten auszurutschen, sich den Schädel zu brechen und nach einer Woche Koma im Alter von dreiundfünfzig Jahren zu sterben.
Sein Sohn Archibald Brawls, ebenfalls Anwalt, ebenso groß und dunkel wie sein Vater und mit den gleichen blauen Augen und dem guten Aussehen des geborenen Cowboys, wenn man von einem Mund voller schlechter Zähne absah, bezog die Büroräume im ersten Stock. Die Stunden, die er im Zahnarztstuhl verbrachte, waren lehrreich in Sachen Schmerz.
»Mr. Brawls«, sagte der Zahnarzt, »ich kann Ihnen ein anständiges Paar Nußknacker machen, Ihnen die verfaulten Zähne ziehen, und wenn die Wunde verheilt ist, werden Sie mit dem neuen Gebiß nie mehr Zahnschmerzen haben. Und es wird gut aussehen, nicht so wie diese spärlichen Stumpen.«
»Einverstanden«, sagte Brawls, und innerhalb eines Monats wurden seine schlechten alten Zähne durch ein Gebiß ersetzt, das aussah wie aus einem Gletscher herausgeschnitten.
Archibald Brawls’ Firma machte in den zwanziger Jahren trotz seiner jungen Jahre gute Geschäfte. Er war Rechtsvertreter eines bedeutenden Ranchers im Norden von Casper, der über politische Beziehungen verfügte und dessen verbriefter Landbesitz an die Emergency Naval Oil Reserve No. 3 angrenzte, die damals gerade unter dem Namen Teapot Dome einen zweifelhaften Ruf erlangte. Der Rancher, John Bucklin, stand auf gutem Fuß mit Albert B. Fall, dem Sekretär des Inneren, einem politischen Naturtalent, dem es gelang, der Marine die Aufsicht über das Ölvorkommen zu entreißen, das er daraufhin in bester Vetternwirtschaftstradition an den Ölmagnaten Harry Sinclair verpachtete. Fall, ein Verächter der aufkeimenden Naturschutzbewegung, setzte auf rücksichtslose Ausbeutung der Ressourcen und gab damit für die Zukunft eine bestimmte Richtung vor. Geld wechselte in großem Stil den Besitzer, und Bucklin begann sich Sorgen zu machen, er könnte im Sieb hängenbleiben, als die Regierung den Korruptionsskandal untersuchte. Wachsende Berge juristischer Schriftsätze verstopften Brawls’ Büro. Doch er pflegte mit seinem eisigen Lächeln zu sagen, selbst der übelste Wind bringe dem einen oder anderen etwas Gutes. Der Teapot-Skandal war ein Wendepunkt in seiner Karriere, und nachdem Fall ins Gefängnis gekommen war, verlagerte sich das Augenmerk des jungen Rechtsanwalts Brawls von Kleinkram wie Urkunden oder Testamenten zur Interessensvertretung der Holz- und Ölindustrie, zur Eisenbahn, zur Frage von Bewässerungsrechten und zu den herrlich undurchsichtigen gesetzlichen Bestimmungen über die Förderrechte an Mineralvorkommen.
Er erweiterte seine Archivkapazitäten, verstaute die Papiere und Bücher seines Vaters ganz hinten in einer Kammer und fügte seinen eigenen juristischen Ramsch hinzu, stapelweise vollgestopfte Kisten und Kartons.
Er machte die ganze Wirtschaftskrise hindurch gute Geschäfte. Auch andere in Natrona County wurden reich. Während im übrigen Land Staubstürme und Schlangen von Bedürftigen an der Tagesordnung waren, erfreute sich Casper steter Gewinne aus dem Ölgeschäft. Ein Bauboom setzte ein. Das Brawls-Geschäftshaus war jetzt nicht mehr das herausragendste Bauwerk der Stadt.
1939 kaufte Archibald Brawls nördlich von Casper eine Ranch, vormals Eigentum jenes Bucklin, den er in der Teapot-Dome-Affäre beraten hatte, und begann an den Wochenenden das Leben eines vornehmen Ranchers zu ftihren. Es gefiel ihm, seine Herde mit Zuchttieren zu verbessern. Das Land bestand hauptsächlich aus Yardangs und Gräben, die Kämme von Jahrtausenden von Westwinden glattrasiert. Es lag genau am Nordrand des großen Windkorridors, der den Staat vom Red-Desert-Gebiet bis zur Grenze nach Nebraska durchquert. Doch obwohl Brawls und seine Frau Kate – eine Blondine mit einem Gesicht, das sie aus einer Modezeitschrift ausgeschnitten hatte, und den karamellfarbenen Augen einer Eidechse – wichtige Politiker und Rancher zu Gast hatten, obwohl ihre Silvesterpartys und Ranch-Barbecues am Nationalfeiertag Großereignisse in der feinen Welt Wyomings darstellten, war ihr Leben von einer gewissen Tragik gezeichnet. Brawls wollte zusammen mit seinen Söhnen ein Rancherimperium errichten, doch Vivian, sein Ältester, fiel im Zweiten Weltkrieg. Basford, der zweite Sohn, entwickelte sich zum Trinker, steuerte seinen Ford in einen tödlichen Engpaß und starb mutterseelenallein im Beifußgestrüpp. Dann reichte Kate die Scheidung ein, zog nach Denver und heiratete einen Fußspezialisten. Der dritte Sohn Sage schloß 1959 sein Jurastudium an der Universität von Boston ab und trat in die Kanzlei seines Vaters ein. Er trug stets einen Anzug, im Unterschied zu den Stiefeln, der Köperhose und der taschenreichen Weste seines Vaters.
»Wenigstens einer in diesem Laden sollte wie ein Anwalt aussehen«, sagte er scherzeshalber.
Archibald hob eine Augenbraue, entblößte seine kalten Zähne. »Hast du etwa noch immer nicht begriffen, daß in diesem Staat die Interessen der Rancher den Ton angeben? Sie kommen zu uns, weil sie sehen können« – und bei diesen Worten hakte er den Daumen der einen Hand in den Armausschnitt seiner Weste, während ihm die Asche der unverzichtbaren Zigarette auf die Brust stob -, »daß wir ihre Probleme kennen.« Er rückte seinen Stetson zurecht, den er wie ein texanischer Sheriff im Büro nicht absetzte.
Den Klienten fiel die starke Ähnlichkeit der Brawls untereinander auf; sie verglichen das gerahmte Foto von Gay G. Brawls, das im Vorzimmer hing, mit den lebenden Exemplaren Archibald und Sage. Sie waren alle schlaksig, hatten alle den starken dunklen Bartwuchs, der sich unmittelbar nach der Rasur wieder zeigte, mußten sich alle bücken, um durch die Tür zu gehen. Als Archibald Brawls 1962 schließlich an Lungenkrebs starb, im selben Jahr, in dem der Blitz in die gedrungene Tülle des Felsauswuchses, der dem Teapot Dome seinen Namen gegeben hatte, einschlug und sie zerstörte, hatten ihn sein Sinclair-Vieh und seine Anteile an den ölreichen Salt-Creek-Feldern nördlich von Casper reich gemacht. Sein Sohn Sage erbte Ranch, Anwaltskanzlei und Geld.
Nach einer Phase, in der er sich ausgiebig die Hörner abgestoßen hatte, heiratete Sage Brawls die fünfzehn Jahre jüngere Georgina Crawshaw aus Wheatland. Ihr Urgroßvater Waile Crawshaw war im ganzen Westen als gewiefter Pferdekenner bekannt gewesen. Er hatte 1910, als der Staat New York sich gegen Pferderennen entschied und der Markt für Vollblüter einbrach, Dutzende herrlicher Vollblutpferde für das sprichwörtliche Butterbrot erstanden, sie nach Wyoming verfrachtet und dort mit seinen Poloponys gekreuzt. Seine Kinder führten das Gestüt weiter, und Crawshaw-Reitpferde spielten auf den Polofeldern in aller Welt.
Georgina war auf der Ranch ihrer Familie aufgewachsen; sie war so blond wie Sages Mutter, doch dünn und durchtrainiert, mit dem Körper eines kräftigen Knaben. Sie hatte große, sehnige Hände und biß ihre Daumennägel ab. Sie machte Sage mit dem Polosport und mit Kreuzworträtseln bekannt.
Sie hatten keine Kinder, was möglicherweise die Verknöcherung von Sages Interessen und Charakter erklärte. Als Kind war er wißbegierig gewesen, hatte Schneeflocken auf einem Stück schwarzen Samts aufgefangen, hatte sich gefragt, wie viele Körnchen von Drehkieferpollen sich in den gelben sommerlichen Wolken über den Bergen befinden mochten, hatte mathematische Rätsel gelöst. Doch Georgina machte ihn zum Polonarren, und nach wenigen Jahren dachte er kaum noch an etwas anderes. Die Kreuzworträtsel waren ihm zu kompliziert.
Wie bei vielen Pferdeliebhabern verwandelte sich Sage Brawls Neigung in Besessenheit. Er liebte den Sport, das Galoppieren, die Gefahr, die körperliche Gewandtheit der Spieler, den aggressiven Vorstoß des Abdrängmanövers, das schwere Atmen, den Geruch von Staub und ausgerissenem Gras, sogar den Anblick der Zuschauer, die Köpfe gebeugt wie Schatzsucher, die nach Münzen Ausschau halten, wenn sie nach den einzelnen Spielperioden Rasenstücke austauschten. In Wyoming war Polo nicht der exklusive Sport der Reichen, sondern ebenso das Vergnügen von Rancharbeitern und kleinen Angestellten. Individuelle Reitkünste zählten mehr als Geld, doch wie Sage bisweilen zu bemerken pflegte, schadete es nicht, wenn man beides besaß. Er hatte Handicap 6, und Georgina, eine bis zur Verbissenheit perfektionistische Reiterin, hatte Handicap 7.
Sages Klienten gewöhnten sich an den Anblick, daß ihr Anwalt sich unvermutet nach hinten beugte, bis er mit der rechten Hand die linke Ferse berührte. Wenn er morgens aufstand, absolvierte er eine Reihe anderer Lockerungsübungen, die eine spätere Generation als Yoga identifiziert hätte. Die Brawls hatten sich ein Polofeld anlegen lassen, auf dem sie schwierige Schläge üben konnten. Überall im Haus waren Fotos – Sage, der einen Nearside-Forehand-Schlag führte, einen Offside-Underthe-Neck-Schlag, Sage, verschwitzt und triumphierend mit seinem Team, und ein Bild von Georgina auf Quickstep, den Wyoming Cup in Händen.
Die Jahre verweilten nicht, und allmählich begann Sage seine Kanzlei zu vernachlässigen, weil sie ihn vom Polospielen abhielt. Zeit und Geld wurden in die Ponys investiert, und sie bauten ein zweites Haus in Sheridan, um näher am Bighorn Polo Club zu sein. Bei einem Ehrenmatch in Omaha am letzten Junitag des Jahres 1994, bei dem Sage Cold Air ritt, ein neues Pferd, das er ausprobierte, zündete das Kind eines Zuschauers, das den 4. Juli nicht erwarten konnte, eine verbotene Rakete in einer leeren Flasche, und die Rakete traf das Tier an der Flanke. Sage Brawls war Anfang Sechzig und nicht mehr so geschmeidig und gewandt wie ehedem. Trotz seiner Übungen hatte die Arthritis sich in Hüften und Schultern eingenistet. Wenige Jahre zuvor hätte er sich mit einem Sprung befreien können. Erschrocken bäumte sich das Pferd auf, fiel auf den Rücken und begrub den Reiter unter sich. Zwei Tage später starb er, und das war’s. Wie die Dinosaurier waren die Brawls aus Wyoming verschwunden.
In ihrem Kummer und von Schuldgefühlen geplagt, verkaufte Georgina fast alle Ponys, schenkte dem Poloclub Sages und ihre eigene Ausrüstung und gelobte, dem Sport den Rücken zu kehren. Decker Mell, der Spieler auf Position eins in ihrem Team, rief sie an, Decker, der ein Gesicht wie eine Pfeilspitze hatte, Augen von so blassem Blau, daß sie wie falschherum eingesetzt aussahen, und einen feuchten Schnurrbart über den Lippen. Er war Qualitätsprüfer und hatte eine Schwäche für Pferde.
»Ich wußte wirklich nicht so recht, was ich denken sollte, als ich hörte, daß du deine Sachen dem Club geschenkt hast. Verdammt noch mal, Georgina, das kannst du nicht tun, du darfst nicht alles hinschmeißen! Deine Freunde, deine Familie, dein ganzes Leben sind untrennbar mit dem Polosport verwachsen.«
»Der Sport hat mir kein Glück gebracht.« Sie konnte ihn vor sich sehen, wie er in den Hörer spuckte, die schwarzen Pupillen seiner verblaßten Augen wie die Punkte von Ausrufungszeichen.