Oliver Pötzsch
Die Henkerstochter
Historischer Roman
Ullstein
Das Buch
Kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg wird in der bayerischen Stadt Schongau ein sterbender Junge aus dem Lech gezogen. Auf seiner Schulter ist ein ungelenkes Zeichen eintätowiert, das den Verdacht auf Hexenwerk aufkommen lässt. Sofort beschuldigen die Schongauer die Hebamme Martha Stechlin, in deren Hütte der Junge zusammen mit anderen Kindern oft zu Besuch war. Die Ratsherren der Stadt würden die Frau lieber heute als morgen hinrichten lassen, um der Aufregung der Bürger Herr zu werden. Der Henker Jakob Kuisl soll ihr mit Hilfe von Folter ein Geständnis abpressen. Doch Jakob Kuisl ist von der Unschuld der Stechlin überzeugt; er ahnt, dass durch die Hinrichtung der Hexe ein Verbrechen vertuscht werden soll. Gemeinsam mit Simon, dem studierten Sohn des Stadtmedicus, und der klugen Henkerstochter Magdalena untersucht er die Umstände des Kindsmords. Weitere Kinder verschwinden und ein Waisenjunge, der ebenfalls das geheimnisvolle Zeichen trägt, wird tot aufgefunden. Die Stimmung in der Stadt steigert sich zu Hysterie; der Henker ist gezwungen, mit der Folterung der Hebamme zu beginnen. Wenn der Henker, seine Tochter und der Medicus nicht schnell die Wahrheit herausfinden, wird die alte Frau sterben.
Der Autor
Oliver Pötzsch, Jahrgang 1970, arbeitet seit Jahren als Filmautor für den Bayerischen Rundfunk, vor allem für die Kultsendung quer. Er ist selbst ein Nachfahre der Kuisls, die vom 16. bis zum 19. Jahrhundert die berühmteste Henker-Dynastie Bayerns waren. Oliver Pötzsch lebt mit seiner Familie in München.
Mehr unter www.oliver-poetzsch.de.
Von Oliver Pötzsch ist in unserem Hause außerdem erschienen:
Die Henkerstochter und der schwarze Mönch
Die Henkerstochter und der König der Bettler
In Gedenken an Fritz Kuisl
Für Niklas und Lily,
am anderen Ende der Linie
Jakob Kuisl, Schongauer Scharfrichter
Simon Fronwieser, Sohn des Stadtmedicus
Magdalena Kuisl, Henkerstochter
Anna Maria Kuisl, Frau des Scharfrichters
Die Kuisl-Zwillinge Georg und Barbara
Bonifaz Fronwieser, Stadtmedicus
Martha Stechlin, Hebamme
Josef Grimmer, Fuhrmann
Georg Riegg, Fuhrmann
Konrad Weber, Stadtpfarrer
Katharina Daubenberger, Hebamme aus Peiting
Resl, Magd im Gasthaus »Zum Goldenen Stern«
Martin Hueber, ein Augsburger Rottfuhrmann
Franz Strasser, Altenstadter Wirt
Clemens Kratz, Krämer
Agathe Kratz, Krämersgattin
Maria Schreevogl, Ratsherrengattin
Graf Wolf Dietrich von Sandizell, kurfürstlicher Pfleger
Die Ratsherren
Johann Lechner, Gerichtsschreiber
Karl Semer, Erster Bürgermeister und Wirt vom Gasthaus »Zum Goldenen Stern«
Matthias Augustin, Mitglied des Inneren Rats
Matthias Holzhofer, Bürgermeister
Johann Püchner, Bürgermeister
Wilhelm Hardenberg, Pfleger des Heilig-Geist-Spitals
Jakob Schreevogl, Hafner und Prozesszeuge
Michael Berchtholdt, Bäcker und Prozesszeuge
Georg Augustin, Rottfuhrmann und Prozesszeuge
Die Kinder
Sophie Dangler, Mündel des Leinwebers Andreas Dangler
Anton Kratz, Mündel des Krämers Clemens Kratz
Clara Schreevogl, Mündel des Ratsherren Jakob Schreevogl
Johannes Strasser, Mündel des Altenstadter Wirts Franz Strasser
Peter Grimmer, Sohn von Josef Grimmer, Halbwaise
Die Söldner
Christian Braunschweiger, André Pirkhofer, Hans Hohenleitner, Christoph Holzapfel
Schongau,
12. Oktober Anno Domini 1624
Der zwölfte Oktober war ein guter Tag zum Töten. Die ganze Woche hatte es geregnet, doch an diesem Freitag nach Kirchweih hatte der liebe Herrgott ein Einsehen. Die Sonne schien trotz des beginnenden Herbstes warm hinunter auf den Pfaffenwinkel, und oben von der Stadt her waren Lärm und Gelächter zu hören. Trommeln dröhnten, Schellen klirrten, irgendwo spielte eine Fiedel. Der Geruch von Schmalznudeln und gebratenem Fleisch drang hinunter bis ins stinkende Gerberviertel. Es würde eine schöne Hinrichtung werden.
Jakob Kuisl stand in der lichtdurchfluteten Stube und versuchte seinen Vater wachzurütteln. Zweimal war der Büttel schon vorbeigekommen, um sie abzuholen. Diesmal würde er sich nicht mehr abwimmeln lassen. Der Kopf des Schongauer Scharfrichters lag auf der Tischplatte, das lange, strähnige Haar schwamm in einer Lache aus Bier und Branntwein. Er schnarchte und zuckte gelegentlich im Schlaf.
Jakob beugte sich hinunter bis zum Ohr seines Vaters. Er roch eine Mischung aus Alkohol und Schweiß. Angstschweiß. Vor Hinrichtungen roch sein Vater immer so. Spätestens nach der Urteilsverkündung fing der sonst mäßige Trinker zu saufen an. Er aß nichts und redete kaum noch. In den Nächten wachte er dann oft schreiend und schweißüberströmt auf. Die letzten zwei Tage war er praktisch nicht mehr ansprechbar. Seine Frau Katharina wusste das und zog deshalb regelmäßig mit den Kindern zu ihrer Schwägerin. Nur Jakob musste bleiben, schließlich war er der älteste Sohn und damit der Knecht seines Vaters.
»Wir müssen los! Der Büttel wartet!«
Jakob hatte erst geflüstert, dann laut geredet, mittlerweile brüllte er. Endlich regte sich der schnarchende Koloss.
Johannes Kuisl sah seinen Sohn aus blutunterlaufenen Augen an. Seine Haut hatte die Farbe von trockenem, altem Brotteig; im schwarzen, strähnigen Bart hingen die Reste der Gerstensuppe vom gestrigen Abend. Mit seinen langen, fast klauenartig gekrümmten Fingern fuhr er sich übers Gesicht. Dann richtete er sich in seiner ganzen Länge von fast sechs Fuß auf. Der mächtige Körper schwankte einen Moment lang, kurz schien es, als ob er vornüberfallen wollte. Doch dann hatte Johannes Kuisl Halt gefunden. Er straffte sich.
Jakob reichte seinem Vater den fleckigen Rock, den Lederkoller für die Schultern und die Handschuhe. Gemächlich zog der große Mann sich an und wischte sich die Haare aus der Stirn, dann schritt er ohne ein Wort hinüber zur hinteren Stubenwand. Dort, zwischen der abgewetzten Küchenbank und dem Herrgottswinkel mit Kruzifix und getrockneten Rosen, lehnte das Richtschwert. Es war gut zwei Armlängen lang, mit kurzer Parierstange, ohne Spitze, dafür mit einer Klinge, mit der man ein Haar in der Luft hätte zerschneiden können. Sein Vater schärfte es regelmäßig. Es glänzte in der Sonne, als wäre es gestern erst geschmiedet worden. Keiner konnte sagen, wie alt es war. Vor Johannes Kuisl hatte es seinem Schwiegervater Jörg Abriel gehört und davor dessen Vater und dessen Großvater. Irgendwann würde es Jakob gehören.
Vor der Haustür wartete der Büttel. Immer wieder drehte der kleine, schmächtige Mann den Kopf hinüber zu den Stadtmauern. Sie waren spät dran, wahrscheinlich wurden die Ersten oben schon ungeduldig.
»Mach den Wagen fertig, Jakob.«
Die Stimme seines Vaters klang ruhig und tief. Das Schreien und Schluchzen von heute Nacht war wie durch Zauberei verschwunden.
Als Johannes Kuisl seinen massigen Körper durch die niedrige Holztür schob, wich der Büttel unwillkürlich einen Schritt zur Seite und schlug ein Kreuz. Im Ort war der Henker kein gern gesehener Mann. Nicht zufällig lag sein Haus draußen vor der Stadt im Gerberviertel. Wenn der Hüne im Gasthof schweigend seinen Wein trank, saß er an einem eigenen Tisch. Auf der Straße wich man seinem Blick aus; es hieß, er brachte Unglück, besonders an Hinrichtungstagen. Die Lederhandschuhe, die er heute trug, würden nach der Exekution verbrannt werden.
Der Henker setzte sich auf die Bank neben dem Haus und genoss die Mittagssonne. Wer ihn so sah, konnte kaum glauben, dass er noch vor einer Stunde im Delirium vor sich hingemurmelt hatte. Johannes Kuisl galt als guter Scharfrichter. Schnell, stark, ohne Zaudern. Keiner außerhalb der Familie wusste, wie viel er vor den Hinrichtungen in sich hineinschüttete. Jetzt hatte er die Augen geschlossen, als lauschte er irgendeiner fernen Melodie. Noch immer war der Lärm aus der Stadt zu hören. Musik, Gelächter, irgendwo in der Nähe zwitscherte eine Amsel. Das Schwert lehnte wie ein Spazierstock an der Bank.
»Denk an die Stricke!«, rief der Henker seinem Sohn zu, ohne die Augen zu öffnen.
Jakob zäumte in dem ans Haus angrenzenden Stall den klapprigen Schimmel auf und spannte ihn vor den Wagen. Stundenlang hatte er den zweirädrigen Karren gestern noch geschrubbt. Zwecklos, wie er jetzt feststellen musste. Schmutz und Blutflecken hatten sich in das Holz eingefressen. Jakob warf auf die schlimmsten Stellen ein wenig Stroh. Dann war der Wagen bereit für den großen Tag.
Mit seinen zwölf Jahren hatte der Sohn des Henkers bereits einige Hinrichtungen aus nächster Nähe erlebt, zwei Erhängungen und das Ertränken einer dreimal verurteilten Diebin. Beim ersten Hängen war er gerade sechs Jahre alt gewesen. Jakob erinnerte sich noch gut, wie der Straßenräuber fast eine viertel Stunde lang am Seil getanzt hatte. Die Menge hatte gejohlt, und der Vater war an diesem Abend mit einem extragroßen Stück Hammelfleisch heimgekommen. Nach Hinrichtungen ging es den Kuisls besonders gut.
Jakob holte ein paar Seile aus der Truhe hinten im Stall und packte sie in einen Sack zu den Ketten, den rostigen Beißzangen und den Leinentüchern zum Aufwischen des Blutes. Dann warf er den Sack auf den Wagen und führte den aufgezäumten Schimmel nach draußen vor das Haus. Sein Vater kletterte auf den Karren und setzte sich im Schneidersitz auf den Holzboden. Das Schwert ruhte auf seinen mächtigen Oberschenkeln. Der Büttel schritt eilig vorneweg. Er war froh, außerhalb der Reichweite des Henkers zu sein.
»Los jetzt!«, rief Johannes Kuisl.
Jakob zog an den Zügeln, und der Wagen setzte sich quietschend in Bewegung.
Während der Schimmel gemächlich die breite Straße Richtung Oberstadt trottete, sah der Sohn immer wieder nach hinten zu seinem Vater. Jakob hatte die Arbeit seiner Familie immer geachtet. Auch wenn die Leute von einem ehrlosen Beruf sprachen, konnte er nichts Schimpfliches daran finden. Geschminkte Huren und Gaukler, die waren ehrlos. Doch sein Vater hatte einen harten, anständigen Beruf, der viel Erfahrung benötigte. Jakob lernte von ihm das schwierige Handwerk des Tötens.
Wenn er Glück hatte und der Kurfürst es zuließ, würde er in ein paar Jahren seine Meisterprüfung machen. Eine standesgemäße, handwerklich perfekte Enthauptung. Jakob hatte noch nie eine gesehen. Umso wichtiger war es, heute genau zuzuschauen.
Der Wagen war mittlerweile über eine schmale, steile Straße in die Stadt eingefahren und hatte den Marktplatz erreicht. Überall vor den Patrizierhäusern waren Buden und Stände aufgebaut. Dreckverschmierte Mädchen verkauften gebrannte Nüsse und kleine, duftende Brote. In einer Ecke hatte sich eine Gruppe von Spielleuten niedergelassen, jonglierte mit Bällen und sang Spottverse auf die Kindsmörderin. Zwar war der nächste Jahrmarkt erst Ende Oktober, doch die Hinrichtung hatte sich in den umliegenden Dörfern herumgesprochen. Man tratschte, aß, kaufte ein paar Leckereien, um dann das blutige Spektakel als Höhepunkt zu feiern.
Jakob sah vom Kutschbock hinunter auf die Leute, die den Henkerskarren teils lachend, teils staunend anstarrten. Viel war hier nicht mehr los, der Marktplatz hatte sich geleert. Die meisten Schongauer waren bereits zur Köpfstatt außerhalb der Stadtmauern geeilt, um die besten Plätze zu ergattern. Die Hinrichtung sollte nach dem Mittagsläuten erfolgen, bis dahin war es keine halbe Stunde mehr.
Als der Wagen mit dem Scharfrichter auf den gepflasterten Platz rollte, hörte die Musik auf zu spielen. Jemand schrie: »Na, Henker! Hast dein Schwert geschärft? Vielleicht magst sie ja heiraten?« Die Menge johlte. Zwar gab es auch in Schongau den Brauch, dass der Scharfrichter die Delinquentin verschonen konnte, wenn sie ihn ehelichte. Doch Johannes Kuisl hatte bereits eine Frau. Und Katharina Kuisl galt nicht gerade als sanftmütig. Als Tochter des berüchtigten Scharfrichters Jörg Abriel wurde sie auch Bluttochter oder Satansweib genannt.
Der Wagen rollte über den Marktplatz am Ballenhaus vorbei und hielt auf die Stadtmauer zu. Ein hoher, dreistöckiger Turm ragte hier auf; die Außenwand rußig, die Fenster klein wie Schießscharten, mit Gittern davor. Der Henker schulterte sein Schwert und stieg vom Wagen ab. Dann begaben sich Vater und Sohn durch das steinerne Portal ins kühle Innere der Fronfeste. Eine schmale, ausgetretene Treppe führte nach unten ins Verlies. Hier befand sich ein düsterer Korridor, von dem rechts und links schwere, eisenbeschlagene Türen abgingen. In Kopfhöhe waren winzige Gitter eingelassen. Durch ein Gitter zur Rechten ertönte ein fast kindliches Wimmern und das Flüstern des Priesters. Lateinische Wortfetzen drangen an Jakobs Ohr.
Der Büttel öffnete die Tür, und sofort war die Luft erfüllt von Gestank. Urin, Exkremente, Schweiß. Unwillkürlich hielt der Henkerssohn den Atem an.
Drinnen hörte das Wimmern der Frau kurz auf, dann ging es in ein hohes, klagendes Schreien über. Die Kindsmörderin wusste, dass es jetzt zu Ende ging. Auch die Litanei des Priesters schwoll an. Das Beten und das Schreien vereinten sich zu einem einzigen infernalischen Lärm.
»Dominus pascit me, et nihil mihi deerit ...«
Andere Büttel waren jetzt hinzugeeilt, um das Bündel Mensch ans Tageslicht zu zerren.
Elisabeth Clement war einmal eine schöne Frau gewesen, mit blondem Haar bis zur Schulter, lachenden Augen und einem spitzen Mund, der immer ein wenig spöttisch zu lächeln schien. Jakob hatte sie des Öfteren mit den anderen Mägden unten beim Wäschewaschen am Lech gesehen. Jetzt hatten die Büttel ihr die Haare abgeschnitten, das Gesicht war bleich und eingefallen. Sie trug ein einfaches graues Büßerhemd, das über und über mit Schmutzflecken übersät war. Die Schulterknochen stachen durch Hemd und Haut. Sie war so mager, als hätte sie von der reichlichen Henkersmahlzeit, die Verurteilten drei Tage lang zustand und die traditionell der Semer-Wirt stiftete, überhaupt nichts angerührt.
Elisabeth Clement war die Magd des Rösselbauern gewesen. Ihre Schönheit hatte sie bei den Knechten beliebt gemacht. Sie hatten sie umschwirrt wie Motten das Licht, ihr kleine Geschenke gemacht, sie vor der Haustür abgefangen. Der Rösselbauer hatte geflucht, doch was half’s. Der eine oder andere, so hieß es, sei mit ihr auch im Heu verschwunden.
Die zweite Magd hatte das tote Kind hinter der Scheune in einer Grube gefunden, die Erde darauf noch ganz frisch. Schon gleich am Anfang der Folter war Elisabeth zusammengebrochen. Von wem das Kind war, konnte oder wollte sie nicht sagen. Aber die Frauen in der Stadt tratschten und tuschelten. Elisabeths Schönheit war ihr zum Verhängnis geworden, und das ließ so manche hässliche Bürgersfrau beruhigt schlafen. Die Welt war wieder in Ordnung.
Jetzt schrie Elisabeth ihre Angst in die Welt hinaus und schlug wild um sich, als die drei Büttel sie aus ihrem Loch zerrten. Sie versuchten sie zu fesseln, doch immer wieder entwand sie sich ihnen wie ein glitschiger Fisch.
Dann geschah etwas Merkwürdiges: Der Henker trat hervor und legte ihr beide Hände auf die Schultern. Fast zärtlich beugte sich der große Mann zu dem schmächtigen Mädchen herunter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Nur Jakob war nahe genug, um die Worte zu verstehen.
»Es wird nicht wehtun, Lisl. Ich versprech’s dir, es wird nicht wehtun.«
Das Mädchen hörte auf zu schreien. Zwar zitterte es noch am ganzen Körper, doch es ließ sich jetzt binden. Die Büttel blickten mit einer Mischung aus Bewunderung und Angst zum Scharfrichter empor. Für sie hatte es so ausgesehen, als hätte Johannes Kuisl dem Mädchen einen Zauberspruch ins Ohr geflüstert.
Schließlich traten sie nach draußen, wo viele Schongauer bereits erwartungsvoll auf die arme Sünderin warteten. Raunen und Tuscheln war zu hören, einige schlugen ein Kreuz oder sprachen ein kurzes Gebet. Oben am Kirchturm begann die Glocke zu läuten, ein hoher, schriller Ton, den der Wind über die Stadt wehte. Spottrufe gab es nun keine mehr, außer den Glockentönen war völlige Stille eingetreten. Elisabeth Clement war eine von ihnen gewesen, jetzt begaffte die Menge sie wie ein wildes, gefangenes Tier.
Johannes Kuisl hob das zitternde Mädchen auf den Karren und flüsterte ihm erneut etwas ins Ohr. Dann reichte er ihm ein kleines Fläschchen. Als Elisabeth zögerte, packte er plötzlich ihren Kopf, hielt ihn nach hinten und träufelte ihr die Flüssigkeit in den Mund. Alles ging so schnell, dass nur wenige der Umstehenden etwas davon mitbekamen. Elisabeths Augen wurden glasig. Sie kroch in eine Ecke des Wagens und legte sich dort auf den Boden. Ihr Atem ging nun ruhiger, das Zittern hörte auf. Kuisls Trank war bekannt in Schongau. Eine Gnade, die er allerdings nicht jedem Verurteilten zuteilwerden ließ. Der Opferstockräuber und Mörder Peter Hausmeir hatte vor zehn Jahren jeden einzelnen Schlag gespürt, als ihm Kuisl die Knochen brach. Aufs Rad geflochten hatte er so lange geschrien, bis ihm der Henker schließlich mit einem letzten Hieb den Halswirbel zertrümmerte.
Normalerweise mussten die zum Tode Verurteilten selbst zur Hinrichtungsstätte gehen oder sie wurden, gewickelt in eine Tierhaut, von einem Pferd dorthin geschleift. Doch der Scharfrichter wusste aus Erfahrung, dass verurteilte Kindsmörderinnen in der Regel nicht mehr selbst gehen konnten. Um sie ruhigzustellen, erhielten sie am Hinrichtungstag ganze drei Liter Wein, und der Trank tat ein Übriges. Meist waren die Mädchen taumelnde Lämmer, die man zur Schlachtbank fast tragen musste. Johannes Kuisl nahm deshalb immer den Karren. Außerdem hielt der Wagen den einen oder anderen davon ab, der armen Sünderin noch einen Hieb ins Jenseits mitzugeben.
Der Henker führte jetzt selbst die Zügel, sein Sohn Jakob ging nebenher. Die Menge begaffte und belagerte den Karren, so dass sie nur langsam vorankamen. Inzwischen war auch ein Franziskanerpater zur Verurteilten hinaufgeklettert und betete neben ihr den Rosenkranz. Der Wagen fuhr gemächlich um das Ballenhaus herum und hielt schließlich an der Nordseite des Gebäudes. Jakob erkannte den Schmied aus der Hennengasse, der dort mit der Glutpfanne wartete. Kräftige, schwielige Hände pumpten mit dem Blasebalg Luft in die Kohlen, so dass die Beißzange rot wie frisches Blut leuchtete.
Wie eine Marionette richteten zwei Büttel Elisabeth auf. Ihre Augen blickten ins Leere. Als der Henker das Mädchen mit der Zange in den rechten Oberarm zwickte, schrie es kurz und hoch auf. Dann schien es wieder in eine andere Welt hinüberzugleiten. Es zischte und rauchte, Jakob stieg der Geruch von verbranntem Fleisch in die Nase. Obwohl ihm sein Vater von der Prozedur erzählt hatte, kämpfte er mit Brechreiz.
Noch drei Mal, an jeder weiteren Ecke des Ballenhauses, hielt der Karren, und die Prozedur wiederholte sich. Elisabeth wurde noch einmal in den linken Arm, einmal in die linke Brust und einmal in die rechte Brust gezwickt. Doch dank des Trankes hielten sich die Schmerzen in Grenzen.
Elisabeth begann ein einfaches Kinderlied zu summen und streichelte dabei lächelnd ihren Bauch: »Schlaf, Kindlein, schlaf...«
Sie verließen Schongau durch das Hoftor und folgten der Altenstadter Straße. Schon von weitem konnten sie den Hinrichtungsplatz sehen. Ein grasiges, mit Erdflecken übersätes Feld, das zwischen den Äckern und dem angrenzenden Wald gelegen war. Ganz Schongau und auch die Einwohner der umliegenden Dörfer hatten sich darauf versammelt, für die Ratsherren waren Bänke und Stühle hierher gebracht worden. Das Volk stand in den hinteren Reihen und vertrieb sich die Zeit mit Tratsch und Naschwerk. In der Mitte erhob sich die Köpfstatt, eine gemauerte, sieben Fuß hohe Plattform, zu der eine Holzstiege hinaufführte.
Als der Wagen auf den Platz zufuhr, teilte sich die Menge. Neugierig versuchten die Menschen einen Blick auf die am Karrenboden liegende Kindsmörderin zu erhaschen.
»Sie soll aufstehen. Hoch, hoch mit ihr! Henker, zeig sie uns!«
Das Volk war sichtlich erbost. Viele warteten hier schon seit den Morgenstunden, und jetzt war von der Verbrecherin nichts zu sehen. Schon begannen die ersten Bürger Steine und faules Obst zu werfen. Der Franziskanerpater duckte sich, um sein braunes Gewand zu schonen, doch einige Äpfel trafen ihn am Rücken. Die Büttel drängten die Menge zurück, die sich wie ein einziges großes Wesen um den Karren zusammenzog, als wollte sie ihn samt Inhalt verschlucken.
Ruhig steuerte Johannes Kuisl den Wagen bis hin zur Plattform. Dort warteten bereits die Ratsherren und der Pflegsverwalter Michael Hirschmann. Als hiesiger Stellvertreter des Kurfürsten hatte Hirschmann selbst vor zwei Wochen das Urteil verkündet. Jetzt blickte er dem Mädchen noch einmal tief in die Augen. Der alte Mann kannte Elisabeth seit ihrer Kindheit.
»Mei, Lisl, was hast g’macht?«
»Nix. Nix hab ich g’macht, Exzellenz.« Elisabeth Clement blickte den Verwalter aus bereits toten Augen an und streichelte weiter ihren Bauch.
»Das wird allein der Herrgott wissen«, murmelte Hirschmann.
Der Verwalter nickte, dann führte der Scharfrichter die Kindsmörderin die acht Stufen zur Köpfstatt empor. Jakob folgte ihnen. Zweimal stolperte Elisabeth, dann hatte sie ihren letzten Gang geschafft. Oben warteten bereits ein weiterer Franziskanerpater und der städtische Ausrufer. Jakob blickte nach unten auf die Wiese. Er sah Hunderte von gespannten Gesichtern, die Münder und Augen weit aufgerissen. Die Ratsherren hatten ihre Plätze eingenommen. Von der Stadt her läutete wieder die Glocke. Alles wartete.
Der Henker drückte Elisabeth Clement sanft nach unten, bis sie kniete. Dann verband er ihr mit einem der mitgebrachten Leinentücher die Augen. Ein leichtes Zittern ging durch ihren Körper, sie murmelte ein Gebet.
»Ave Maria, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Weibern«
Der Ausrufer räusperte sich, dann verkündete er noch einmal das Urteil. Jakob hörte die Stimme wie ein fernes Rauschen.
»... dass du dich nun vom ganzen Herzen zu Gott kehren und so zu einem frommen und glücklichen Tod kommen sollst ...«
Sein Vater stupste ihn von der Seite an.
»Du musst sie mir halten«, flüsterte er so leise wie möglich, um die Rede nicht zu stören.
»Was?«
»Du musst ihre Schultern und ihren Kopf hochhalten, damit ich gut treffe. Die Lisl kippt uns sonst um.«
Tatsächlich sank der Oberkörper der Verurteilten langsam nach vorne. Jakob war verwirrt. Bis jetzt war er immer davon ausgegangen, dass er bei der Hinrichtung nur zusehen sollte. Von Mithelfen hatte sein Vater nie gesprochen. Doch fürs Zaudern war es jetzt zu spät. Jakob packte Elisabeth Clement bei den kurzen Haaren und zog ihren Kopf empor. Sie wimmerte. Der Henkerssohn spürte Schweiß an seinen Fingern, er streckte den Arm aus, damit sein Vater mit dem Schwert Platz hatte. Die Kunst war es, mit einem einzigen, mit beiden Händen geführten Hieb genau zwischen zwei Halswirbel hindurch zu schlagen. Ein Augenzwinkern, ein Lufthauch nur, und die Sache war überstanden. Allerdings nur, wenn es richtig gemacht wurde.
»Gott gnade deiner armen Seel’ ...«
Der Ausrufer war zum Ende gekommen. Er zog einen dünnen, schwarzen Holzstab hervor, hielt ihn über Elisabeth Clement und zerbrach ihn. Das Knistern des Holzes war über den ganzen Platz zu hören.
Der Pflegsverwalter nickte Johannes Kuisl zu. Der Henker hob sein Schwert und holte aus.
In diesem Moment spürte Jakob, wie die Haare des Mädchens seinen schweißnassen Fingern entglitten. Eben noch hatte er Elisabeth Clements Kopf hochgehalten, da fiel sie plötzlich wie ein Sack Getreide nach vorne. Er sah das Schwert seines Vaters heranrauschen, doch statt des Halses traf die Klinge den Kopf in Höhe des Ohrs. Elisabeth Clement wand sich auf dem Boden der Köpfstatt. Sie schrie wie am Spieß, an ihrer Schläfe klaffte eine tiefe Wunde. In einer Lache aus Blut sah Jakob ein halbes Ohr liegen.
Die Augenbinde war der Verletzten vom Gesicht gerutscht. Mit schreckensweiten Augen blickte sie empor zum Scharfrichter, der mit erhobenem Schwert über ihr stand. Die Menge stöhnte wie aus einer Kehle. Jakob merkte, wie ein Würgen seinen Hals hochkroch.
Sein Vater schob ihn weg und holte noch einmal aus. Doch Elisabeth Clement rollte sich zur Seite, als sie das Schwert auf sich zukommen sah. Diesmal traf die Klinge ihre Schulter und fuhr ihr tief in die Halsbeuge. Blut schoss aus der Wunde empor und bespritzte Henker, Knecht und den entsetzten Franziskanerpater.
Auf allen vieren kroch Elisabeth Clement auf den Rand der Köpfstatt zu. Die meisten Schongauer starrten entsetzt auf das Schauspiel, doch auch Johlen war zu hören. Einige warfen Steine auf den Henker. Das Volk hatte es nicht gern, wenn der Mann mit dem Schwert pfuschte.
Johannes Kuisl wollte ein Ende machen. Er stellte sich neben die stöhnende Frau und holte ein drittes Mal aus. Diesmal traf er sie voll zwischen dem dritten und dem vierten Halswirbel. Das Stöhnen hörte abrupt auf. Doch der Kopf wollte nicht abgehen. Noch hing er an Sehnen und Fleisch, erst der nächste Hieb trennte ihn vollständig vom Rumpf.
Er rollte über das Holzpodest und blieb direkt vor Jakob liegen. Dem Henkerssohn wurde schwarz vor Augen, schließlich stülpte sich sein Magen um. Er fiel auf die Knie und erbrach das dünne Bier und den Haferbrei von heute Morgen, er würgte, bis nur noch grüne Galle kam. Wie durch eine Wand hörte er die Schreie der Leute, das Wüten der Ratsherren und das Keuchen seines Vaters neben ihm.
Schlaf, Kindlein, schlaf ...
Kurz bevor ihn eine gnädige Ohnmacht übermannte, fasste Jakob Kuisl einen Entschluss. Niemals würde er in die Fußstapfen seines Vaters treten, niemals im Leben wollte er Henker werden.
Dann kippte er kopfüber in die Blutlache.