Inhalt

  1. Cover
  2. Über die Autorin
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Widmung
  6. 1
  7. 2
  8. 3
  9. 4
  10. 5
  11. 6
  12. 7
  13. 8
  14. 9
  15. 10
  16. 11
  17. 12
  18. 13
  19. 14
  20. 15
  21. Nachwort

Über die Autorin

Kerstin Gier hat als mehr oder weniger arbeitslose ­Diplompädagogin 1995 mit dem Schreiben von Frauenromanen begonnen. Mit Erfolg: Ihr Erstling Männer und andere Katastrophen wurde mit Heike Makatsch in der Hauptrolle verfilmt, und auch die nachfolgenden Romane erfreuen sich großer Beliebteit. Ein unmoralisches Sonderangebot wurde mit der »DeLiA« für den besten deutschsprachigen Liebesroman 2005 ausgezeichnet.

Heute lebt Kerstin Gier, Jahrgang 1966, als freie Autorin mit Mann, Sohn, zwei Katzen und drei Hühnern in einem Dorf in der Nähe von Bergisch Gladbach.

KERSTIN GIER

FISHERMAN’S FRIEND
in meiner Koje

Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Für Jo und Heidi,
meine erste und beste Crew,
für Frank L., meinen ersten
und besten Skipper,
für Biggi, meine erste
und beste Freundin

Und für Frank – nicht der Erste,
aber mit Abstand der Beste!

1

»Mutter-Teresa-Seniorenheim«, murmelte ich vor mich hin. »Was für ein dämlicher Veranstaltungsort für einen Segelkurs.«

Mutter-Teresa-Seniorenheim, das klang nun wirklich nicht nach dem Ort, an dem das Abenteuer meines Lebens seinen Anfang nehmen sollte.

Aber man darf weder Menschen noch Orte nach ihren Namen beurteilen, und ich zwang mich, den Namen in einem romantisch verklärten Licht zu betrachten. Warum sollte es nicht möglich sein, hier einen Mann zu treffen, der noch seine eigenen Zähne hatte? Denn das war letzten Endes mein zugegeben niederes Motiv. Das Segeln wollte ich nur in zweiter Linie erlernen.

»Hier irgendwo muss es sein«, sagte meine Schwester und verminderte das Tempo abrupt. Der Fahrer im Wagen hinter uns drückte empört auf die Hupe.

Ich zeigte ihm einen Vogel, was er in der Dunkelheit vermutlich nicht erkennen konnte, und sah noch einmal auf meine Wegbeschreibung.

»Mutter-Teresa-Heim, Eingang links – na ja, wenigstens einen Straßennamen und eine Hausnummer hätte man ja dabeischreiben können«, nörgelte ich. »Wer kennt sich bei den Altenheimen schon so genau aus?«

»Seniorenwohnheim«, verbesserte Rebecca. »Und es liegt auf der Hand, dass das Mutter-Teresa-Heim in der Mutter-Teresa-Straße liegt – oder?«

Ich nickte zustimmend. Zu dieser Schlussfolgerung waren wir nach gemeinsamer detektivischer Kleinarbeit über den Stadtplan gelangt. Zu unserer Rechten tauchte jetzt ein höheres, verklinkertes Gebäude auf, das sehr stark nach Seniorenwohnheim aussah.

»Das ist es«, sagte ich siegessicher.

Rebecca schaute sich nach einem Parkplatz um. »Wir sind eine Vierstunde zu früh«, stellte sie dabei fest, und weil es ja nichts Peinlicheres gibt, als zu früh zu kommen, parkten wir ein bisschen weiter die Straße runter und saßen die Zeit bis acht Uhr im Auto ab. Dabei ergingen wir uns in wilden Vermutungen über die Zusammensetzung der Kursteilnehmer.

»Bestimmt lauter Rentner, die ihren Schrebergarten gegen ein Motorbötchen eingetauscht haben«, unkte ich aus purem Zweckpessimismus. In Wahrheit hoffte ich auf ein paar unheimlich nette, junge Intellektuelle mit guttrainierten Brustmuskeln. Nur für den Fall, dass heute Abend ein solcher anwesend sein würde, hatte ich mich ziemlich in Schale geschmissen, natürlich den Verhältnissen dezent angepasst. Wollweißer Zopfpulli und Jeans, die Haare zu einem Zopf geflochten.

Leider war mir mit den Haaren ein kleines Malheur passiert. Ich hatte wieder mal eine der angeblich auswaschbaren Tönungen ausprobiert. Nach Flamingo, Mandarine und Chayenne-Rot diesmal Paprika-Rot. Aus Schaden wurde ich einfach nicht klug.

In Wirklichkeit bin ich eine Blondine, hellgoldblond, eine Haarfarbe, mit der ich vor allem im Sommer immer zufrieden bin. Leider aber wachsen die Haare im Winter am Scheitel mindestens zwei Nummern dunkler nach, und dann sieht es so aus, als hätte ich sie zuvor gefärbt. Allein deswegen erlag ich immer so um die Weihnachtszeit der Versuchung, zu einer Rothaarigen zu mutieren.

Irgendwo hatte ich gelesen, dass blonde Menschen aussterben und weniger als ein Prozent der Weltbevölkerung ausmachen und man als Blonder deshalb nicht nur etwas ganz Besonderes ist, sondern auch sozusagen die moralische Verpflichtung hat, das Aussterben der blonden Subspezies zu verhindern. Dank der Blondinen, die die Frechheit besitzen, sich mit Brünetten fortzupflanzen, werden echte Blondinen wie ich bald ausgestorben sein. Da musste ich doch wirklich nicht noch hergehen und mich paprikafarben machen! Zu allem Überfluss sah es nämlich auch beschissen aus! Und dann wieder das alte Problem: von wegen auswaschbar nach vier bis fünf Haarwäschen. Hahaha!

»Das wächst sich aus«, meinte meine Schwester tröstend. »In drei bis vier Jahren wirst du wieder blonde Gene vererben können.«

Ich musste lachen. Es war wohl nicht sehr wahrscheinlich, dass sich meine vorübergehende Rothaarigkeit vererben würde. Ganz davon abgesehen, dass ich im Augenblick nicht vorhatte, mich fortzupflanzen.

»So«, sagte Rebecca schließlich. »Es ist eine Minute nach acht. Wenn wir jetzt reingehen, sind wir exakt fünf Minuten zu spät, also echt cool. Bist du bereit für das Abenteuer deines Lebens?«

Ich strich mir eine paprikarote Strähne aus dem Gesicht und straffte meine Schultern. »Ich bin bereit.«

»Bleib cool«, sagte Rebecca. »Und noch was: Es ist nicht nötig, dass du jedem gleich auf die Nase bindest, dass du meine kleine Schwester bist. Und dass ich einen Mann und ein Baby habe, geht auch keinen was an, klar?«

»Klar«, sagte ich voller Aufregung, ohne nach dem Grund zu fragen. Äußerlich echt cool schlenderten wir durch den hellerleuchteten Eingang des verklinkerten Baus. Gleich hinter der Tür stand eine Frau und lächelte uns herzlich an.

»Bitte ziehen Sie Ihre Schuhe gleich hier vorne aus«, sagte sie mit einer Stimme, die keine Widerrede duldete.

Etwas verwirrt taten wir wie geheißen.

»Ist der Stefan schon da?«, erkundigte sich Rebecca bei der Frau nach unserem Segellehrer.

»Das weiß ich nicht. Ich kenne die Teilnehmer noch nicht mit Namen. Gleich zu Anfang werden wir erst einmal ein Kennenlernspiel veranstalten. Oh, guten Abend.« Hinter uns hatte ein Pärchen den Flur betreten, die Frau war eindeutig schwanger. »Bitte ziehen Sie die Schuhe gleich hier vorne aus.«

Rebecca und ich schlurften auf Socken in den nächsten Raum. Hier bot sich uns ein unerwartetes Bild. Auf Turnmatten verteilt saßen jeweils zwei meist händchenhaltende Personen, Mann und Frau, und sämtliche Frauen hatten eines gemeinsam.

»Alle schwanger!«, entfuhr es Rebecca.

»Wir sind hier falsch«, schloss ich messerscharf und wandte mich an die Schwangere auf der Turnmatte gleich neben der Tür. »Wissen Sie vielleicht, wo der Segelkurs stattfindet?«

Die Schwangere schüttelte den Kopf.

Rebecca kam ein schrecklicher Verdacht. »Ist das am Ende gar nicht das Mutter-Teresa-Heim?«

Wieder Kopfschütteln, diesmal von allen Turnmatten. In stummer Übereinkunft hasteten wir zurück zu unseren Schuhen. Glücklicherweise wusste die Dame am Eingang den Weg zum Seniorenheim.

»Da sind Sie aber noch ein paar Minuten unterwegs«, sagte sie.

Rebecca sah auf ihre Uhr. Es war bereits Viertel nach acht.

»Echt cool«, meinte ich unglücklich. Noch peinlicher, als zu früh zu kommen, ist es, zu einer offiziellen Veranstaltung erst dann zu erscheinen, wenn alle anderen schon Platz genommen haben und der Vortragende seine Begrüßungsworte bereits hinter sich gebracht hat. Die Blicke, mit denen man bei solchen Gelegenheiten bedacht wird, sind im höchsten Maße krebserregend.

»Dann besser gar nicht«, sagte ich im Brustton der Überzeugung, aber davon wollte Rebecca nichts wissen. Sie scheuchte mich im Laufschritt zu unserem Wagen zurück und bretterte dann kamikazemäßig zum echten Mutter-Teresa-Seniorenheim. Das lag bereits in tiefster Dunkelheit. Es war nach acht, da mussten die Senioren schon schlafen. Nur der Eingang links war notbeleuchtet.

Da aber über der Tür groß und deutlich »Mutter-Teresa-Heim« stand, folgte ich Rebecca, ohne zu zögern, in den nach Desinfektionsmitteln riechenden Flur.

»Und jetzt?« Vor uns breitete sich ein menschenleerer, kilometerlanger Gang mit unendlich vielen Türen aus. »Woher willst du wissen, in welchem Raum dein toller Segelkurs stattfindet?«

Auch Rebecca sah ratlos aus. Dann aber griff sie hinter sich zum Lichtschalter und knipste das Licht aus. Der Flur war sofort in gespenstisches Dunkel getaucht. Orientierungslos tastete ich nach der Wand.

»Was soll das?«, rief ich ungehalten.

»Das kann ich dir sagen«, hörte ich die Stimme meiner pfiffigen Schwester. »Ich will sehen, unter welcher Türschwelle hier noch Licht ist.«

Das war zugegebenermaßen clever von ihr. Und es funktionierte. Nur der Raum hinter der ersten Tür links schien beleuchtet zu sein. Rebecca knipste das Flurlicht wieder an und drückte energisch die Klinke hinab. Ich wartete noch, bevor ich ihr folgte – schließlich konnte es immerhin sein, dass sie einen aufsässigen Senioren überraschte, der unerlaubterweise nach acht Uhr noch fernsah oder sich einen runterholte. Aber wir hatten den richtigen Raum erwischt. Leider!

Alle Augenpaare durchbohrten uns mit unfreundlichen Blicken. Am unwilligsten guckte der bebrillte junge Mann, der sich vor den zusammengerückten Tischen neben einem Flip-Chart aufgebaut hatte. Darauf konnte man die vielversprechenden Worte »Navigation, Gezeiten, Seemannschaft, Wetter und Gesetzeskunde« lesen.

»Hallo, Stefan«, sagte Rebecca. Sie kannte den Bebrillten persönlich – er war unser zukünftiger Segellehrer.

»Hallo«, erwiderte er mürrisch und wartete ansonsten stumm, bis wir uns gesetzt hatten. Ich ließ mich peinlich berührt neben meiner Freundin Bille nieder.

»Haben wir was verpasst?«

»Nö«, erwiderte sie. »Nur das Allerwichtigste. Was es kostet, welche Bücher wir brauchen und was genau in den einzelnen Unterrichtsstunden durchgenommen werden soll.«

»Zum Segeln muss man Enthusiasmus mitbringen«, sagte der Typ mit Brille, beinahe ohne seine Lippen zu bewegen. Man wusste nicht, ob man seinen Worten glauben sollte oder seinem Tonfall. Von Enthusiasmus keine Spur.

»Steht der unter Valium?«, erkundigte ich mich flüsternd bei meiner Schwester. Ich hatte mich mittlerweile von unserem peinlichen ersten Auftritt erholt und mich gründlich im Raum umgesehen. Dies war eindeutig der Saal, in dem die Senioren nachmittags Bastel- und Tangokurse abhielten, die Fenster waren immer noch mit weihnachtlichen Goldpapiersternen verziert, in der Luft hing der Geruch von Korega-Tabs. »Oder hat der schadhafte Zähne?«

»Nein, der ist immer so«, flüsterte Rebecca zurück.

Ich seufzte. Bille neben mir seufzte auch. Dies war schließlich die sogenannte Schnupperstunde, die einem so richtig Lust aufs Segeln machen sollte.

»Die Stunden werden ziemlich hart sein, die Theorie ganz schön langweilig, der Lernstoff verdammt schwierig. Da bleibt der Spaß zwangsläufig auf der Strecke«, pries der Segellehrer seinen Unterricht an. In mir keimte der Verdacht, dass er am Ende gar nicht wollte, dass der Kurs zustande kam.

Außer Rebecca, Bille und mir saßen nur noch sechs weitere Personen um die Seniorenkaffeetafel herum.

»Kann man hier auch den Binnenschifffahrtsschein machen?«, fragte die Frau mir gegenüber nun schon zum dritten Mal. Sie trug eine von diesen Lupenbrillen, die die Augen optisch mindestens verdreifachen.

Der Segelmensch antwortete geduldig, was er schon zweimal erklärt hatte, nämlich dass wir hier den Sportbootführerschein See und den BR-Schein erwerben könnten, also eine Berechtigung zum Führen von Segelyachten. Ich fragte mich nicht zum ersten Mal, wofür ausgerechnet ich so einen Schein erwerben sollte. Ich saß keineswegs aus freien Stücken auf den zugegebenermaßen bequemen Stühlen. Meine Familie hatte mir auf Rebeccas Anraten hin diesen Segelkurs zu Weihnachten geschenkt.

Ich bin Steinbock, das langweiligste Sternzeichen überhaupt, und Rebecca war diejenige, die mir eingeredet hatte, ich solle diesen Segelkurs als das Abenteuer meines Lebens betrachten. Tja, wenn man den Worten des Segellehrers Glauben schenken konnte, dann wurde daraus schon mal nichts. Und außerdem hatte ich den starken Verdacht, dass Rebecca mein Weihnachtsgeschenk aus rein egoistischen Motiven ausgesucht hatte, denn ich hätte viel lieber eine neue Nähmaschine bekommen.

Rebecca war es nämlich, die es nach einem Abenteuer dürstete, obwohl sie in meinen Augen die glücklichste Frau der Welt war. Sie hatte einen Mann, der sie auf Händen trug, eine kleine Tochter, die noch auf Händen getragen werden musste, und einen gutgehenden Laden, in welchem sie selbstentworfene Klamotten verkaufte. Was ihr fehlte, wusste wohl nur sie selber, wenn überhaupt.

Sie kannte den schlaftrunkenen Segellehrer vom Volleyball und hatte versucht, mir sowohl ihn als auch den ganzen Kurs auf die unterschiedlichste Weise schmackhaft zu machen.

»Segeln ist der einzige Sport, den auch Unsportliche wie du ausüben können, Judith«, sagte sie unter anderem, was sehr ungerecht war, weil ich mindestens sechsmal im Jahr joggte und ganz passabel Schach spielen konnte.

»Es kann einfach nicht schaden, wenn man im fortgeschrittenen Alter noch mal seine Gehirnzellen in Schwung bringt«, meinte sie außerdem. Von fortgeschrittenem Alter konnte höchsten bei ihr die Rede sein, ich war nämlich erst achtundzwanzig – und damit vier Jahre jünger als sie. Was meine Gehirnzellen anging, die waren durch mittlerweile siebzehn Semester Germanistikstudium wohltrainiert.

Wobei ich fairerweise sagen muss, dass ich nur noch nebenbei studierte. Hauptberuflich war ich Künstlerin. Das heißt, ich bastelte sehr hübsche Marionetten, eigentlich ohne jeden künstlerischen Anspruch. Aber ich hatte das Glück, einen Bruder zu haben, der mich managte und eine Galerie ausfindig gemacht hatte, die meine Puppen als Kunstobjekte ausgab und verkaufte. Für Leute mit Geld, aber ohne Kunstverstand waren sie genau das Richtige: naiv, dekoraktiv und teuer. Besonders um die Weihnachtszeit gingen sie weg wie warme Semmeln.

Im Sommer, wenn sich das Guthaben auf meinem Konto bedrohlich gegen null neigte, jobbte ich zusätzlich als Sekretärin, Urlaubsvertretung in einer Firma für Einwegkleidung.

Studium, künstlerische Passion und Job hielt ich Rebecca unter die Nase, dazu meine Hobbys – nämlich auf dem Sofa und im Biergarten rumhängen, Klamotten in der Waschmaschine einfärben und Mozzarella-Tomaten essen – wo bitte sollte ich vielbeschäftigte Person noch Zeit für einen Segelkurs finden?

Daraufhin änderte sie ihre Taktik und appellierte an meine niederen Triebe. Leider muss ich zugeben, dass das funktionierte.

»Stell dir vor, du auf einem Boot mitten in der Ostsee und lauter kernige, braungebrannte Typen um dich herum.« So ungefähr lautete der Satz, dem ich es zu verdanken habe, dass ich jetzt tatsächlich hier saß und bereit war, die Kunst des Segelns zu erlernen.

Außerdem, einem geschenkten Gaul schaut man bekanntlich nicht ins Maul, und meine alte Nähmaschine tat es noch ganz gut. Nur, leider, die knackigen Typen waren hier doch ziemlich rar gesät.

»Ja, aber kann man denn hier auch den Führerschein für Binnengewässer machen?«, fragte die Frau mir gegenüber wieder und rollte bedrohlich die Augen.

»Nein«, antwortete der Segellehrer jetzt knapp.

»Aber die Karin, die war letztes Jahr hier, und die hat den Binnenführerschein gemacht.«

»Kann nicht sein«, widersprach der Segellehrer. Er kannte keine Karin, das sah man ihm deutlich an.

Miss Binnenschifffahrt machte ein so beleidigtes Gesicht, dass ich meinen Hintern darauf verwettet hätte, dass diese Schnupperstunde die erste und letzte für sie war. Ich persönlich würde ihr nicht hinterhertrauern.

Außer Miss Binnenschifffahrt saß noch eine übellaunig dreinblickende Frau da, die zwar alles mitschrieb, was der Segellehrer sagte, aber so aussah, als würde sie eigentlich lieber den Führerschein für Planierraupen machen. Neben ihr ein mittelalter Mann, der sein Handy vor sich auf dem Tisch deponiert hatte, und ein weißbärtiger Herr, der sich mehrfach nach Angelmöglichkeiten während des Ausbildungstörns erkundigte. Auf der anderen Seite saß ein ausgesprochen seriös wirkendes Ehepaar Ende fünfzig.

Nur ein einziger Teilnehmer schien zu halten, was Rebecca versprochen hatte. »Ich bin Mick«, hatte er sich vorgestellt. »Man nennt mich auch Micky.«

Micky war kein bisschen mickrig, hatte schöne blaue Augen und einen kleidsamen Dreitagebart. Das war natürlich auch Bille nicht verborgen geblieben.

»Süß«, flüsterte sie mir zu.

»Ich sehe hier nur einen einzigen halbwegs kernigen Typen, und den will schon meine Freundin«, wandte ich mich vorwurfsvoll an Rebecca, während der Segelmensch das Band vom letztjährigen Ausbildungstörn in den Videorekorder legte.

»Die anderen kommen erst nächstes Mal«, behauptete Rebecca.

Wer’s glaubt, wird selig!

Diese Mickymaus würde wohl oder übel für uns alle herhalten müssen, das sah ich schon kommen.

»Ich hab’ ihn zuerst gesehen«, flüsterte mir Bille zu.

Das hatte ich jetzt von meinem echt coolen Zuspätkommen. Aber im Grunde freute mich Billes Interesse an einem anderen Mann als Burghart über alle Maßen.

Burghart war Billes Freund. Ich konnte ihn nicht leiden. Es soll ja öfter vorkommen, dass man den Freund der besten Freundin nicht ausstehen kann, aber all jenen, denen es so geht, möchte ich zurufen: »Ja, ich weiß, Heinz-Peter, Michael und Bruno, die sind alle schrecklich, aber seht euch Burghart an und seid dankbar, denn nun wisst ihr, es kann noch viel, viel schlimmer kommen!«

Immerhin hatte ich es Burghart zu verdanken, dass Bille mir bei diesem sogenannten Abenteuer Gesellschaft leistete. Burghart war nämlich ein begeisterter Segler. Er und Bille fuhren regelmäßig an irgendwelche holländischen Binnenseen und schipperten auf einem Katamaran herum, Burghart als Kapitän, Bille als bewundernder Decksklave. Burghart teilte seine Mitmenschen grundsätzlich nur in zwei Kategorien ein: die Stümper und die Bewunderer. Bille musste abwechselnd für beides herhalten.

Allerdings besaß Burghart noch keinen entsprechenden Segelschein. Nicht, dass er das nicht sofort und ohne Vorbereitung mit links hinter sich gebracht hätte, aber er hätte einfach zu wenig Zeit, sagte er. Weil er noch so viele andere Sachen um die Ohren habe.

Bille glaubte sich zur Abwechslung mal seiner Bewunderung sicher zu sein, wenn sie diesen Segelschein erwerben würde. Aber mit dieser Annahme lag sie so gründlich daneben wie mit der ganzen verfahrenen Beziehungskiste als solcher.

Burghart flippte nämlich völlig aus, als er hörte, dass Bille ihm bald etwas voraushaben würde.

»Ihr beiden Luschen und den BR-Schein schaffen? Dass ich nicht lache!« Er entrang sich ein paar künstliche Haha-Laute.

»Soviel ich weiß, ist der Kurs noch nicht voll belegt«, sagte ich. »Da wäre sicher noch ein Platz frei – für eine Lusche wie dich!«

Burghart ignorierte mich einfach. Das tat er meistens.

»Niemals packst du das, Bille! Wo du nicht mal richtig Auto fahren kannst!«

Jetzt musste ich aber lachen! Erst vor zwei Wochen hatte nämlich er Billes vor der Tür parkendes Fahrrad zu Brei gefahren, seiner Ansicht nach, weil es nicht vorschriftsmäßig (!) beleuchtet (!) gewesen war; meiner Ansicht nach, weil selbst ein Fahrrad noch einen höheren IQ hat als Burghart.

»Du traust mir wohl gar nichts zu, was?«, fragte Bille leicht gekränkt.

»Jedenfalls das nicht«, meinte Burghart. »Das wäre rausgeschmissenes Geld, ehrlich. Außerdem find’ ich das irgendwie affig. Die totale Angabe.«

»Und ich dachte, du freust dich. Weil ich dann weiß, was ich tun soll, wenn wir das nächste Mal segeln gehen.«

»Einen Scheiß wirst du wissen«, knurrte Burghart. »Aber wenn du dich unbedingt lächerlich machen willst, bitte!« Dabei machte er ein Gesicht zum Reinhauen. Das heißt, in mir weckte dieses spezielle Gesicht (und eigentlich auch alle seine anderen) das Bedürfnis zuzuschlagen, bei Bille hatte es in der Regel eine andere Wirkung.

Sie sagte dann meistens: »Wenn du meinst …« Was den gewalttätigen Teil in mir noch höher auf die Palme trieb.

Zu meiner großen Überraschung war es diesmal anders.

Bille sah Burghart in die Augen und sagte fest: »Schade, dass du das so siehst. Aber ich hab’ mich schon angemeldet und zieh’ das jetzt durch.«

»Du wirst ja sehen, was du davon hast«, rief Burghart da aus, und mit dieser undurchsichtigen Drohung rauschte er aus der Wohnung.

Er wohnte ein Stockwerk über Bille, und dort hörten wir Sekunden später die Tür knallen. Noch ein paar Sekunden später hörten wir die Toilettenspülung rauschen.

»Jetzt ist er sauer«, erklärte Bille. »So was verursacht immer Durchfall bei ihm. Sofort. Er hat dann nicht mal Zeit, die Klotür zuzumachen.«

Die Vorstellung von Burghart mit angeschlagener Verdauung hinter der offenen Klotür trug dazu bei, mich ganz schnell von meiner Überraschung zu erholen.

»Toll«, lobte ich Bille. »Endlich zeigst du mal wieder Profil! Ganz die alte Bille!«

»Ich hab’ mich doch nicht verändert!«

»Ach nein?« Ich zog ironisch eine meiner Augenbrauen hoch, ein mimisches Kunststück, das ich vor dem Spiegel zur Vollkommenheit trainiert hatte. »Und wer sagt neuerdings statt Joghurt immer Lactobazillus?«

Dazu konnte sie dann nichts mehr sagen. Der Lactobazillus war nämlich noch die harmloseste Veränderung, die seit Beginn ihrer Freundschaft zu Burghart in ihr vonstatten gegangen war.

Immerhin, dass sie es auf sich genommen hatte, Burgharts Verdauung zu stören, war ein erster Schritt zur Besserung. Und ich würde alles daransetzen, Burghart zu beweisen, dass wir jedenfalls keine Luschen waren. Dieser verdammte Segelschein, das schwor ich mir, würde unser sein.

Auf dem Fernsehschirm flimmerte es gelb. Nach und nach – dies war eindeutig ein Amateurvideo – formierten sich daraus ein paar Gestalten in Ostfriesennerzen und Südwestern, die verfroren in die Kamera winkten. Der Wind blies kräftig. Die Kamera machte einen Schwenk über Unmengen von grauem Wasser. An einer besonders tristen Stelle fror der Segellehrer das Bild ein.

»Da!«, stieß er für seine Verhältnisse ungewöhnlich aufgeregt hervor und zeigte auf die Wasserfläche. »Seht ihr das?«

»Ja, allerdings. Könnten wir den Ausbildungstörn nicht auf dem Mittelmeer machen?«, erkundigte sich Bille fröstelnd.

»Da!«, wiederholte der Segellehrer ungeduldig und tippte auf einen Punkt im Wasser. »Weiß einer von euch, was das ist?«

Sogleich hagelte es Vorschläge von allen Seiten.

»Ein herrenloses Surfbrett?«, wagte sich Rebecca vor. Surfer waren die einzigen Idioten, denen sie zutraute, dass sie bei diesem Wetter aufs Wasser gingen. Aber es war wohl kein Surfbrett, aus dem ungehaltenen Blick zu schließen, den ihr der Segellehrer zuwarf.

»Ein Hai?«, mutmaßte Miss Binnenschifffahrt, und jetzt war allen klar, warum sie sich lieber auf die Binnengewässer verlegen wollte.

Hai war ebenfalls unzutreffend.

»Eine leere Bierdose«, riet Mickymaus. Guter Tipp, aber leider auch falsch.

»Seht doch mal genau hin«, empfahl der Segellehrer.

Alle beugten sich vor. Auch ich kniff die Augen zusammen und versuchte, den kleinen Flecken zu identifizieren, aber es gelang mir nicht.

Meine Kurzsichtigkeit war dabei ein zusätzliches Handicap.

»Eine Tonne«, rief der männliche Teil des seriös aussehenden Ehepaars plötzlich triumphierend aus.

»Richtig!« Der Segellehrer lächelte zum ersten Mal breit. Dabei registrierte ich, dass mit seinen Zähnen tatsächlich alles in Ordnung war. »Und was für eine Tonne?«

»Eine Regentonne?«, mischte ich mich spontan ein. Ich wollte nicht, dass jeder gleich merkte, wie kurzsichtig ich war. Ich trug nämlich keine Brille. Außerdem hatte ich blitzschnell geschaltet, dass Mülltonnen wohl kaum so weit draußen auf der Ostsee rumtrieben.

Ich stutzte. Regentonnen eigentlich auch nicht. Ärgerlich biss ich mir auf die Lippen. Warum konnte ich auch nie meinen Mund halten?

Die anderen grinsten auch prompt, und die Frau, die aussah, als ob sie eigentlich lieber den Führerschein für Planierraupen erwerben wollte, lachte sogar aus voller Kehle.

»Mein Gott wie dämlich«, japste sie schließlich. Mit der Regentonne lag ich wohl gründlich daneben.

»Haha«, sagte der Segellehrer und musterte mich böse. Offenbar fühlte er sich verarscht.

Bille stieß mich in die Seite. »Du kleiner Scherzkeks! Tonnen nennt man diese Bojendinger, die die Schifffahrt kennzeichnen.« Das war wohl eine Tatsache, die hier jedem außer mir bekannt war.

Der seriöse Herr schaute immer noch konzentriert auf den Bildschirm.

»Gelb, schwarz, gelb«, sagte er. »Das müsste demnach eine Gefahrentonne sein. Und zwar liegt die Gefahr hier im Osten der Tonne.«

»Sehr gut«, freute sich der Segellehrer. Die Ehefrau des Tonnenfachmannes strahlte.

»Du weißt aber auch immer alles, Heinrich!«, flötete sie.

Nach dieser sensationellen Enthüllung durften wir das Video zu Ende sehen. Die dick vermummten Gestalten waren abwechselnd mit schönen Sonnenuntergängen in Szene gesetzt worden, es wurde Beck’s Bier getrunken und mehrmals der »Biene-Maja-Song« angestimmt, falsch, aber laut. Der Segellehrer lächelte erinnerungsträchtig vor sich hin, und einmal sang er sogar leise mit.

»Uuund diessse Biene, die ich meine, die heißt Majaaaaa, kleine süße Biene namens Maja …« Man konnte nur hoffen, dass das Lied nicht zwingend erlernt werden musste, wenn man sich denn nun entschloss, tatsächlich an diesem Segelkurs teilzunehmen.

»Also dann bis zum nächsten Mal«, sagte der Segellehrer optimistisch und packte seine Sachen zusammen.

»Also, ich werde nicht kommen«, meinte die mit der Lupenbrille, was ich ja schon gehofft hatte.

»Wir kommen«, verkündete die Ehefrau des Tonnenspezialisten und lächelte ihren Heinrich an. »Und wir bringen Freunde von uns mit. Ein segelerfahrenes Ehepaar. Sie besitzen eine Yacht auf Ibiza.«

Na toll, das segelerfahrene Ehepaar war sicher auch schon scheintot, genau wie der mit dem weißen Bart, der jetzt verkündete, dass er ebenfalls mit von der Partie sein würde, und zwar zusammen mit einem Freund.

»Aus dem Seniorenheim«, flüsterte ich Bille zu. Tatsache war ja, dass sie in diesem Fall nicht weit zu gehen hatten.

»Es gibt immer noch diesen Mick«, meinte Bille und schaute ihm hinterher. Ich ebenfalls.

»Das ist allerdings ein Argument«, sagte ich dann.

Billes geheimes Tagebuch

8. JANUAR.

Jetzt reicht’s. Alles muss man sich nicht gefallen lassen. B. kam gerade und hat mir endlich sein Weihnachtsgeschenk gebracht.

Es ist Augencreme. Für die Haut ab vierzig.

B. sagt, die war sündhaft teuer.

Ich bin noch keine dreißig, habe ich ihm gesagt, aber das weiß B. ja selbst.

Er sagte, meine Krähenfüße bereiteten ihm Kummer.

Sagte ihm, das seien Lachfältchen, keine Krähenfüße.

Er sagte, ich solle mir nichts vormachen, der Zahn der Zeit nage auch an mir.

Habe aber auch in letzter Zeit wenig Grund zu lachen. B. trifft sich mit einer Kollegin namens MELANIE. Er sagt, sie sehe aus wie Julia Roberts, nur besser.

Habe ihm im Gegenzug von diesem Mick aus unserem Segelkurs erzählt. Habe gesagt, Mick sieht aus wie Brad Pitt in Brünett, nur besser. Und der Segellehrer wie Keanu Reaves. Schön wär’s ja!

B. tat so, als glaubte er mir kein Wort.

Habe ihm dann meine neuen Schuhe vorgeführt. B. meint, darin hätte ich kurze Beine. Werde die blöden Dinger morgen umtauschen.

2

Dass ich eine vielbeschäftigte Frau war, habe ich ja schon an früherer Stelle erwähnt. Allerdings habe ich vergessen, in diesem Zusammenhang Leonard, meinen Freund und Liebhaber, anzuführen. Leonard war ein ziemlich zeitaufwendiges und pflegeintensives Hobby, und ich überlegte schon seit geraumer Zeit, es wieder aufzugeben.

Ich war mal sehr in Leonard verliebt gewesen, ich hatte ihn sogar für die große Liebe schlechthin gehalten. Mittlerweile bin ich allerdings anderer Ansicht. Dabei war Leonard, grob betrachtet, wirklich beziehungsfähig. Er sah gut aus, verdiente sein eigenes Geld und vergaß niemals meinen Geburtstag. Er betrog mich nicht (oder wenn doch, dann so geschickt, dass ich absolut nichts davon merkte), und er hatte im Großen und Ganzen die gleiche Einstellung zum Leben wie ich. Nein, grob betrachtet war mit ihm alles in Ordnung.

Es waren Kleinigkeiten, die mich zu einer Meinungsänderung veranlasst hatten, jene scheinbar völlig nebensächlichen Eigenarten, die man bei sich selber klaglos akzeptiert, ja sogar still und heimlich für sympathisch hält.

Eben diese Kleinigkeiten töteten mir bei Leonard den letzten Nerv. Die Art, wie er das Frühstücksei köpfte, nämlich die breite Spitze zuerst. Oder wie er nieste. Nicht »hat – schi« wie jeder normale Mensch, sondern »hu – scha!« Unerträglich. Und dann aß er Nudeln zusammen mit Apfelmus! Hat man so was schon mal gehört?

Das absolut Schlimmste aber war seine Angewohnheit, kleine Verse vor sich hin zu sprechen, bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Die Kinderreime, die den lieben Kleinen die Tücken des Lebens erleichtern sollen, hatte Leonard sich genau eingeprägt, und seit Kindergartenzeiten waren sie ein unverzichtbarer Teil seines Alltags. Er war eben ein Mann mit Sinn für Traditionen.

»Die Schlinge durch das kleine Törchen, fertig ist das Hasenöhrchen«, sagte er, wenn er sich die Schuhe zuband.

Aß er etwas mit den Händen, leckte er diese hinterher einzeln ab und sagte dabei: »Erst kommt der Daumen, der schüttelt die Pflaumen, der hier sammelt sie auf, der trägt sie weg, und der kleine Schelm hier isst sie alle wieder auf!«

In den Sommernächten bei der Stechmückenjagd hatte Leonard eine ganz besondere Methode, reglos mit einem Buch dazustehen, die Mücke mit den Augen zu verfolgen und zu warten, bis sie sich an Decke oder Wand niederließ. Dabei murmelte er: »Ich hab’ gefischt, ich hab’ gefischt, ich hab’ die ganze Nacht gefischt und keinen Fisch er …« Zong! Das Buch landete genau auf der Mücke und pulverisierte sie in Sekundenbruchteilen. »… wischt!«

Es war wirklich zum Verzweifeln. Der Vers aber, der das Fass bei mir endgültig zum Überlaufen brachte, blieb mir lange unbekannt. Das lag daran, dass wir nach anderthalb Jahren immer noch nicht so vertraut miteinander waren, in Hör- oder Sichtweite des anderen die Toilette zu benutzen. Erst als ich eines Winterabends in meiner Wanne lag und Leonard mal ganz dringend pinkeln musste, wurde ich Zeuge dieser dramatischen Szene.

Zuerst hörte ich ein melodisches Murmeln.

»Heile, heile, Gänschen, die Katze hat ein Schwänzchen«, worauf es fröhlich zu plätschern begann. Als es zu plätschern aufhörte – während der ganzen Zeit stockte mein Atem –, war es eine Weile still. Dann hörte ich ihn sagen: »Kannst du schütteln, kannst du klopfen, in die Hose geht der letzte Tropfen!«

Vor lauter Schreck flutschte mir die Seife aus der Hand und knallte gegen die Deckenlampe. »Kannst du schütteln, kannst du klopfen …!« Also nä! In dieser Nacht musste Leonard in seiner Wohnung schlafen, und ich trug mich ernsthafter als jemals zuvor mit dem Gedanken, ihn endgültig abzuschaffen.

Aber zwei Wochen später machte er mir einen Heiratsantrag, und ich war gerührt, weil es mein allererster Heiratsantrag war. Schon aus diesem Grund hätte ich beinahe ja gesagt. Glücklicherweise konnte ich mich gerade noch mal beherrschen.

»Sag mal«, begann er. »Wie sieht das aus? Heiraten wir eigentlich demnächst mal?«

Wie gesagt, ich konnte mich gerade noch beherrschen.

»Och nö«, sagte ich.

Zumal auch unsere Freizeitaktivitäten nicht optimal aufeinander abgestimmt waren. Bei der Auflistung meiner Hobbys vorhin habe ich meine Vorliebe fürs Kino vergessen. Kino musste mindestens einmal die Woche sein, und da Leonard fast alle Filme doof fand, ging ich meist ohne ihn. Er mochte nur ausgesuchte Actionfilme und eine bestimmte Sorte Weltraumabenteuer. Alle anderen Filme nur, wenn viel Sex darin vorkam und/oder wenn Demi Moore mitspielte. Aus diesem Grund war ich um so verwunderter, als er einwilligte, mit mir in »Schlafes Bruder« zu gehen, der am Abend nach meiner Segelkurs-Schnupperstunde in der Cinemathek wiederholt wurde.

»Also, das ist aber jetzt nicht gerade ein Actionfilm«, sagte ich noch, aber Leonard meinte, ich solle mir mal keine Sorgen machen, der Titel allein sei schon sehr vielversprechend. Ich weiß noch, dass ich dachte, sieh an, für ein Wunder ist es nie zu spät.

Aber das Wunder stellte sich als pures Missverständnis heraus. Leonard knackte schon nach einer Viertelstunde tief und fest im unbequemen Kinosessel und ließ außer ein paar schnorcheligen Atemzügen bis zum Ende des Films nichts mehr von sich hören.

»Ich steh’ eben nicht auf Heimatfilme«, sagte er, als ich ihn später leicht ungehalten zur Rede stellte.

»Heimatfilm!«, wiederholte ich entrüstet.

Ja, und außerdem sei der Titel irreführend, meinte Leonard weiter. Und jetzt kommt es: Statt »Schlafes Bruder« hatte er »Scharfes Luder« verstanden!

»Du musst in Zukunft nicht mehr so nuscheln«, meinte Leonard. »Gehen wir jetzt essen? Ich hab’ Hunger auf Pizza.«

Mir war der Appetit vergangen. Ich konnte es förmlich vor mir sehen: Leonard, der die Pizza fein säuberlich zerlegte und dabei laut vernehmbar sagte: »Oben stumpf, doch unten scharf, das Händchen sich nicht schneiden darf!«

»Mit dir gehe ich nicht essen«, sagte ich. »Ab heute sind wir geschiedene Leute.«

Für einen Mann, der noch vor zwei Tagen einen Heiratsantrag oder jedenfalls so etwas Ähnliches gemacht hatte, nahm Leonard diese Neuigkeit ziemlich gelassen.

»Dann eben ein andermal«, sagte er. »Du kannst mich ja anrufen.«

Wir wohnten alle unter einem Dach, meine Schwester Rebecca und ihre Familie, mein Bruder Mo und ich. Außerdem wohnte noch ein lieber alter Mann bei uns, den wir Onkel nannten, obwohl er nicht mit uns verwandt war. Es war das pure Idyll: Ich hatte die Wohnung unterm Dach, der Onkel wohnte im dritten Stock, Mo im zweiten, Rebecca, Kaspar und ihre kleine Tochter Charlotte im ersten. Im Erdgeschoss hatte Rebecca ihren Laden.

Unser Haus stand mitten im belgischen Viertel, Wand an Wand mit einer Reihe wunderschöner, schmalbrüstiger Jugendstil- und Gründerzeithäuser, die man liebevoll restauriert hatte.

Bloß unseres war von meinen Großeltern in den fünfziger Jahren bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt worden. Den kostbaren Stuck hatte man brutal entfernt, die Fassade dunkelgrau verputzt, die noblen Holzsprossenfenster durch Kunststofffenster ersetzt, und als Krönung statt der verschnörkelten Jugendstilhaustür eine unnachahmlich hässliche Drahtglassicherheitstür eingebaut.

Wir durften mietfrei in diesem Prunkstück hausen, weil unsere Eltern ganzjährig auf Gran Canaria lebten. Dort wohnten sie in einer kleinen weißen Finca mit Ziegeldach auf einer sonnigen Anhöhe, umgeben von Olivenbäumen und Orangenhainen. Es brauchte also niemanden zu wundern, dass sie ihren drei Kindern ihren deutschen Besitz so großzügig zur Verfügung gestellt hatten.

Auch wenn wir bisher weder Geld noch Muße gehabt hatten, aus dem grauen Ungetüm wenigstens ein weißes Ungetüm machen zu lassen, kam meine Lebensweisheit vom ›geschenkten Gaul‹ wieder mal zur Anwendung. Ich war beinahe wunschlos glücklich mit meiner Wohnung. Und ich war niemals allein wie andere Unverheiratete, Kinderlose, die schon bedrohlich auf die Dreißig zugingen wie ich. Einer im Haus war immer da, der einem Gesellschaft leisten konnte.

Als ich an diesem Abend als frischgebackener Single nach Hause kam, war bei Rebecca und Kaspar noch Licht. Ich hörte Klein-Charlotte krähen und Kaspar ein Kinderlied singen. Im Hintergrund ratterte leise Rebeccas Nähmaschine.

Unwillkürlich entfuhr mir ein Seufzer. Rebecca hatte es ja so gut. Sie besaß einfach alles, was man sich vom Leben wünschen konnte. Ich hingegen …

»Was stehst du hier im Dunkeln rum?« Das war mein Bruder Mo, der soeben nach Hause kam, Hand in Hand mit einer scharfen Blondine im Super-Minirock. Vielleicht war es auch das Flurlicht, das mich plötzlich blendete.

»Ach, nur so!« Verstohlen wischte ich mir eine Träne aus dem Augenwinkel.

»Das ist Julia«, stellte mir Mo seine Begleitung vor.

Julia entblößte ihre perfekten Zähne. »Hallöchen, Popöchen!«

Da zeigte sich wieder mal der Unterschied zwischen meinem Bruder und mir. Ich hätte niemals jemand mit nach Hause gebracht, der so völlig ungehemmt »Hallöchen, Popöchen« sagte, egal, wie perfekt seine Zähne auch sein mochten.

»Auweichen, dein Eichen«, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen.

»Ich habe Neuigkeiten, die dich vom Stuhl hauen werden«, entgegnete Mo völlig ungerührt. »Du bekommst eine eigene Ausstellung. Im April, in der Galerie am Brunnen.«

»Eine eigene Ausstellung? Du meinst, eine Ausstellung nur mit meinen Marionetten?«

Mo nickte. »Die Presse wird darüber berichten, und dann wird ein Run auf die Dinger beginnen, der uns viel, viel Geld einbringen wird! Vielleicht musst du dann diesen Sommer mal nicht jobben.«

»Schön wär’s.« So schlecht war das Leben vielleicht doch nicht. Immerhin bestand noch die Möglichkeit, beruflich zu Ruhm und Ehren zu gelangen. »Hast du gut gemacht, Mochen.«

»Gern geschehen.« Mo zog seine Julia weiter die Treppe hinauf. Sie winkte mir noch einmal zu.

»Tschöchen!« Ich musste plötzlich dringend aufs Klöchen und machte mich ebenfalls an den Aufstieg. Außerdem wollte ich wissen, ob Leonard auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte.

Hatte er aber nicht.

Etwas enttäuscht ließ ich mich auf mein Sofa fallen und las noch ein paar Seiten in dem Schmöker, den ich vor einigen Tagen gekauft hatte. Trotz des vielversprechenden Titels ertappte ich mich dabei, wie ich Minuten später einfach nur an die Decke starrte. Vielleicht hatte Rebecca ja recht, und mir fehlte nur ein richtiges Abenteuer zu meinem Glück.

Am nächsten Morgen leistete ich mir, wie an jedem Tag, den Luxus auszuschlafen. Im Spiegel sah ich, dass meine paprikafarbenen Haare zu verblassen begannen, und freute mich. Noch ein, zwei Wochen, und ich war wieder winterblond mit einem dunklen Scheitel. Vielleicht würde ich dann mal zur Abwechslung zu einer falschen Brünetten mutieren. Man soll ja alles im Leben wenigstens einmal ausprobieren.

Ich hatte keine Lust, allein zu frühstücken, daher ging ich hinunter zu Rebecca in den Laden. Wie immer um zehn hielt sie mit einer Tasse Kaffee und zwei Marzipanschnecken ihr zweites Frühstück ab. Eine der Marzipanschnecken erklärte ich unbefangen zu meinem Eigentum.

»Was nähst du denn da?«, erkundigte ich mich und zeigte auf ein gelbes Stoffgebilde mit braunen Rauten.

»Ein ganz scharfes Kleid«, erläuterte Rebecca. »Hauteng mit einem Stehkragen und einer kleinen Stoffbürste auf dem Rücken. Ich werde es Frühstück im Stehen nennen. Aus dem Alltag einer Giraffe.«

»Wie originell«, sagte ich. Rebeccas Kleider wurden in letzter Zeit immer ausgeflippter. Weiß der Himmel, woran das lag. Noch vor kurzem hatte sie ganz brav in schwarzem Leinen und Chiffon geschwelgt.

»Ich habe übrigens gestern mit Stefan telefoniert«, teilte sie mir mit.

»Mit welchem Stefan?« Stefans gab es schließlich wie Sand am Meer. Genaugenommen war Stefan überhaupt kein Name, sondern ein Sammelbegriff.

»Mit unserem Segellehrer.«

»Ach der«, schnaubte ich verächtlich.

»Der ist gar nicht so übel, wirklich. Du solltest ihn dir mal genau anschauen. Er ist Single, sieht gut aus und steht zufällig auf Rothaarige.«

»So ein Zufall, wirklich«, sagte ich. »Aber ich steh’ mehr auf diesen Mick. Der kriegte wenigstens die Zähne auseinander.«

»Tja!« Rebecca biss in ihre Marzipanschnecke. »Mick wird wohl leider nicht kommen, hat Stefan gesagt.«

»O nein!«

»O doch! Ihm haben wohl die Kursteilnehmer nicht so zugesagt, hat er Stefan wissen lassen.«

»Ja, meinst du denn, mir?« Dann fiel mir ein, dass das eigentlich eine ziemliche Unverschämtheit von diesem Mick war. Schließlich hatten wir ihm gegenübergesessen, Bille, Rebecca und ich – in der Blüte unserer Schönheit. Wenn das nicht Grund genug war, bei der Stange zu bleiben, dann wusste ich aber wirklich nicht, weshalb.

»So ein Tortenarsch«, sagte ich böse.

»Stefan ist sowieso besser. Außerdem hast du ja immer noch Leonard.«

»Eigentlich nicht«, klärte ich Rebecca auf. »Wir haben gestern Schluss gemacht.«

»Wie schade aber auch! Wo er doch immer so nette Kinderreime wusste. Charlotte war ganz vernarrt in ihn.«

Ich war in Gedanken noch immer bei Mick. »Wenn Bille das hört, dann springt sie bestimmt ab.«

Aber Bille nahm die Nachricht, dass der Segelkurs mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit ohne Mick stattfinden würde, relativ gelassen.

»Na ja, mir geht es ja auch in erster Linie ums Segeln«, sagte sie sogar.

Es war Samstagvormittag, und wir bummelten gemeinsam durch Köln. Bille wollte sich ein Paar neue Schuhe kaufen, ich war auf der Suche nach einem Wintermantel, wenn möglich schon reduziert. Aber Wintermäntel waren Mangelware im Januar, die wenigen, die reduziert waren, sahen auch so aus.

»Wintermäntel musst du Anfang August kaufen, genau wie Skischuhe«, meinte Bille fachmännisch. »Jetzt ist Saison für Badeanzüge.«

Es war knapp unter null, beim Sprechen bildeten sich weiße Wölkchen vor dem Mund. Ich fand, es wurde höchste Zeit für eine Pause im Café bei heißem Kakao mit Sahne.

»Also wenn dieser Mick nicht kommt, dann sehe ich wirklich keinen Grund mehr, diese ganze Lernerei auf mich zu nehmen.« Etwas abgelenkt begann ich, in einer Broschüre zu blättern. Wir waren an einem Stand angekommen, hinter dem uns junge Menschen verbindlich anlächelten, die trotz der bitteren Kälte auffallend adrett gekleidet waren. Auf den Titelblättern der gegen Bares zu erwerbenden Broschüren spielten blonde Kinder vor den Toren von Kernkraftwerken, und über den Blättern einer Eiche stand fett gedruckt: »Der deutsche Wald stirbt nicht.«

Endlich mal eine erfreuliche Meldung.

»Dann ruf’ ich ihn eben an«, versprach Bille. »Sicher hat dieser dröge Segellehrer nicht meinen Charme und mein Überredungstalent. Wenn ich mit Mick spreche, kommt er bestimmt.«

»Wollen Sie bitte unterschreiben?«, fragte eine der adrett gekleideten jungen Damen und hielt uns einen Kugelschreiber hin. Immer gerne bereit, für eine gute Sache zu unterschreiben, nahm ich ihn entgegen.

»Worum geht es denn?«

»Eine Petition an den Bundestag«, erläuterte die Adrette. Mehr brauchte man mir nicht zu sagen, ich war dabei. Neben mir unterschrieb bereits mit zitternder Hand eine alte Frau. Was waren unsere Senioren doch für politisch engagierte Bürger! Daran sollte man sich ein Beispiel nehmen.

»Geben Sie her«, meinte ich aufmunternd. »Ich will auch unterschreiben.«

Die alte Frau lächelte mich an. »Dat iss für eine jute Sache.«

»Von wegen! Nix da!« Bille stieß mich in die Rippen und deutete mit dem Finger auf die Überschrift der Petitionsliste. »Bist du etwa dafür, dass Frauen, die abtreiben, auf den elektrischen Stuhl kommen?«

Erschreckt ließ ich den Stift fallen.

»Wir sind lediglich für den Schutz des ungeborenen Lebens«, mischte sich die Adrette ein.

»Ja, ja, und der deutsche Wald stirbt nicht, und Kernkraft, ja bitte«, sagte Bille. »Das kennt man.«

»Sie sind wahrscheinlich wie die meisten Bürger auf die Panikmache in den Medien hereingefallen«, baute ihr die Adrette eine Brücke. »Kaufen Sie unsere Broschüren, dann sind Sie darüber informiert, wie es tatsächlich um unser Heimatland bestellt ist.«

»Nein, danke«, erwiderte Bille kühl. »Mir ist schon schlecht.«

Ich sah mich nach der netten alten Frau um, die bereits ihre Unterschrift unter die Petition gesetzt hatte. »Warten Sie! Wollen Sie wirklich, dass Frauen, die abtreiben, hinter Gitter kommen?« Bestenfalls.

»Welsche Frauen?«, fragte die Omi zurück und hielt sich eine Hand hinters Ohr.

»Die Frauen, die ungewollt schwanger werden«, wiederholte ich mit ungefähr fünfhundert Dezibel.

»Ja, ja, dat iss schlimm«, sagte die Omi bekümmert. »Wat da für’n Schlamassel draus werden kann, da kann isch ein Liedschen vun singen.«

Und das tat sie auch. Sie erzählte, was dem Jüngsten von Käthes Bruder passiert war. »Dat het sisch mit einem aus Zülpisch-Ülpenisch einjelassen, obwohl dat Käthe und dat Maria, wat däm Käthe singem Broder sing Frau iss, gleisch jesacht hatten, dat der nix taugen tät. Dat Jugendamt wor schon viermal dajewesen, weil der Daniäll, also der Sohn von däm Barbara und däm Hallodri aus Zülpisch-Ülpenisch, Autoradios und Handtaschen klauen und kleine Kinder verhaue tät. Wie finden Sie denn dat?«

»Schrecklich«, entfuhr es mir beeindruckt.

Die Omi nickte. »Dat hätte mer doch verhindern müsse«, fand sie und zeigte auf die Petitionsliste. »Isch dachte, dat hier iss für dat Mütterjenesungswerk, wat ja an und für sisch eine janz jute Sache iss, wenn dä Schlamassel dann doch passiert iss, oder wat iss dat jetzt?«

Ich antwortete schon leicht heiser, aber immer noch so laut, dass die gegenüberliegenden Schaufenster schepperten.

»Da han die misch wohl betuppt?«, schloss die Omi empört. Und betuppen ließ sie sich nicht. Aber die Petitionsliste hatte inzwischen ein sauber gescheitelter, jugendlicher Kollege der Adretten an sich genommen.

»Volksverhetzung«, sagte er zu mir. »Was Sie da betreiben, ist Volksverhetzung.« Die Adrette nickte dazu.

Die Omi wackelte indessen um den Stand herum.

»Volksverhetzung?«, wiederholte Bille. »Und wie nennt sich das, was ihr hier betreibt?«

»Wir sind immer noch per Sie«, fuhr ihr die Adrette über den Mund, aber ihr gescheitelter Kollege antwortete, ganz wie man ihn gelehrt hatte: »Aufklärung am Bürger nennt man das.«

Dabei grinste er blöde. Das Grinsen aber verging ihm im gleichen Augenblick, denn nun hatte die Omi ihn erreicht und entriss ihm mit einer ruckartigen Handbewegung die Petitionsliste. Mit der anderen Hand hielt sie ihren praktischen Taschenschirm umfasst. Sie sah aus wie zu allem bereit.

»Nischt mit mir!«, sagte sie und griff sich einen Kugelschreiber mit dem Aufdruck ›Deutschland den Deutschen‹. Mit diesem machte sie sich daran, ihren Namen und auch alle anderen Namen von der Liste zu streichen. Die Adrette und der Gescheitelte wichen ein paar Schritte zurück. Offenbar hatte man sie noch nicht darin geschult, wie sie mit renitenten, bis unter die Zähne bewaffneten Seniorinnen umzugehen hatten. Stellvertretend beschimpften sie Bille und mich.

»Grüne Spinner«, fing die Adrette ganz harmlos an.

»Dreckiges Kommunistenpack«, setzte der Gescheitelte einen drauf. Und von da an waren sie nicht mehr zu halten.