Inhalt

  1. Cover
  2. Über die Autorin
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Widmung
  6. Stammbaum
  7. Karten
  8. ERZIEHUNG
  9. 1
  10. 2
  11. 3
  12. 4
  13. 5
  14. 6
  15. 7
  16. 8
  1. VERLORENE PARADIESE
  2. 1
  3. 2
  4. 3
  5. 4
  6. 5
  7. 6
  8. 7
  9. 8
  10. 9
  11. 10
  1. KRIEG
  2. 1
  3. 2
  4. 3
  5. 4
  6. 5
  7. 6
  8. 7
  9. 8
  1. WEITE WEGE
  2. 1
  3. 2
  4. 3
  5. 4
  6. 5
  7. 6
  8. 7
  9. 8
  1. FRIEDEN
  2. 1
  3. 2
  4. 3
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  9. 8
  10. 9
  11. 10
  12. 11
  13. 12
  14. 13
  15. 14
  1. Nachwort und Danksagung
Der Rus des Kiwis

 

In Erinnerung an Einstein
und Marie Curie

Stammbaum
Karte
Karte

ERZIEHUNG

Canterbury Plains, Greymouth,
Christchurch, Cambridge
1907 – 1908 – 1909

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1

»Ein Wettrennen! Komm, Jack, bis zum Ring der Steinkrieger!«

Gloria wartete Jacks Antwort gar nicht erst ab, sondern brachte ihr fuchsfarbenes Pony gleich neben seinem Pferd in Startposition. Als Jack ergeben nickte, legte Gloria leicht die Unterschenkel an, und die kleine Stute stob davon.

Jack McKenzie, ein junger Mann mit rotbraunem lockigem Haar und ruhigen, grünbraunen Augen, ließ sein Pferd ebenfalls angaloppieren und folgte dem Mädchen über das schier endlose Grasland von Kiward Station. Jack hatte keine Chance, Gloria mit seinem kräftigen, eher langsamen Cobwallach einzuholen. Er war auch zu groß für einen Jockey, aber er gönnte dem Mädchen den Spaß. Gloria war mächtig stolz auf das pfeilschnelle Pony aus England, das wie ein Vollblüter in Kleinformat wirkte. Soweit Jack sich erinnerte, war es das erste Geburtstagsgeschenk ihrer Eltern, mit dem Gloria wirklich glücklich war. Der Inhalt der Pakete aus Europa, die sonst in unregelmäßigen Abständen für sie eintrafen, war wenig spektakulär: ein Rüschenkleid samt Fächer und Kastagnetten aus Sevilla; goldfarbene Schühchen aus Mailand; eine winzige Straußenlederhandtasche aus Paris … alles Dinge, die auf einer Schaffarm in Neuseeland nicht sonderlich von Nutzen waren und die sich sogar für gelegentliche Besuche in Christchurch als viel zu extravagant erwiesen.

Doch Glorias Eltern dachten nicht an so etwas, im Gegenteil. William und Kura Martyn stellten es sich wahrscheinlich amüsant vor, die eher hausbackene Gesellschaft in den Canterbury Plains durch einen Hauch »Große Welt« zu schockieren. Hemmungen und Schüchternheit waren beiden fremd, und sie gingen selbstverständlich davon aus, dass ihre Tochter ähnlich fühlte.

Während Jack nun in halsbrecherischem Tempo über Feldwege preschte, um das Mädchen wenigstens nicht aus den Augen zu verlieren, dachte er an Glorias Mutter. Kura-maro-tini, die Tochter seines Halbbruders Paul Warden, war eine exotische Schönheit und mit einer außergewöhnlichen Stimme gesegnet. Die Musikalität verdankte sie wohl eher ihrer Mutter, der Maori-Sängerin Marama, als ihren weißen Verwandten. Kura hatte von klein auf den Wunsch gehegt, die Opernwelt in Europa zu erobern, und unablässig ihre Stimme ausgebildet. Jack war gemeinsam mit ihr auf Kiward Station aufgewachsen und dachte heute noch mit Grausen an Kuras Gesangsübungen und ihre schier endlose Klavierspielerei. Dabei hatte es zunächst so ausgesehen, als gäbe es im ländlichen Neuseeland keine Chance für sie, ihre Träume zu verwirklichen – bis sie in William Martyn, ihrem Mann, endlich den Bewunderer fand, der ihre Talente zur Geltung zu bringen wusste. Seit Jahren tourten die beiden mit einer Gruppe von Maori-Sängern und Tänzern durch Europa. Kura war der Star eines Ensembles, das traditionelle Maori-Musik mit westlichen Instrumenten zu eigenwilligen Interpretationen verband.

»Gewonnen!« Gekonnt verhielt Gloria ihr lebhaftes Pony inmitten der Felsformation, die man den »Ring der Steinkrieger« nannte. »Und da hinten sind auch die Schafe!«

Die kleine Herde Mutterschafe war der eigentliche Grund für Jacks und Glorias Ausritt. Die Tiere hatten sich selbstständig gemacht und weideten nun in der Gegend des Steinkreises auf einem Landstück, das dem örtlichen Maori-Stamm heilig war. Gwyneira McKenzie-Warden, der die Leitung der Farm oblag, achtete die religiösen Gefühle der Ureinwohner, obwohl das Land zu Kiward Station gehörte. Es gab Weiden genug für die Schafe und Rinder, sodass die Tiere nicht auf Maori-Heiligtümern herumstreunen mussten. Deshalb hatte sie Jack beim Mittagessen gebeten, die Schafe einzutreiben, was auf Glorias lebhaften Protest stieß.

»Das kann ich doch machen, Grandma! Nimue muss noch lernen!«

Seit Gloria ihren ersten eigenen Hütehund trainiert hatte, drängte es sie nach größeren Aufgaben auf der Farm, sehr zur Freude Gwyneiras. Auch diesmal lächelte sie ihre Urenkelin an und nickte ihr zu.

»In Ordnung, aber Jack wird dich begleiten«, bestimmte sie, obwohl sie selbst nicht sagen konnte, weshalb sie das Mädchen nicht allein reiten ließ. Im Grunde bestand kein Anlass zur Sorge: Gloria kannte die Farm wie ihre Westentasche, und alle Menschen auf Kiward Station kannten und liebten Gloria.

Mit ihren eigenen Kindern war Gwyneira längst nicht so übervorsichtig gewesen. Ihre älteste Tochter Fleurette war schon als Achtjährige vier Meilen zu der kleinen Schule geritten, die Gwyneiras Freundin Helen damals auf einer Nachbarfarm betrieb. Aber Gloria war etwas anderes. Gwyneiras sämtliche Hoffnungen ruhten auf der einzigen anerkannten Erbin von Kiward Station. Nur in den Adern Glorias und Kura-maro-tinis strömte das Blut der Wardens, der eigentlichen Gründer der Farm. Dazu stammte Kuras Mutter Marama aus dem örtlichen Maori-Stamm; Gloria wurde also auch von den Ureinwohnern anerkannt. Das war wichtig, denn zwischen Tonga, dem Häuptling der Ngai Tahu, und den Wardens bestand seit jeher eine heftige Rivalität. Tonga hoffte, das Land durch eine Heirat zwischen Gloria und einem Maori aus seinem Stamm verstärkt unter seinen Einfluss zu bringen. Diese Strategie hatte allerdings schon bei Glorias Mutter Kura versagt. Und Gloria zeigte bislang kein großes Interesse am Leben und der Kultur der Stämme. Natürlich sprach sie fließend Maori und hörte gerne zu, wenn ihre Großmutter Marama die uralten Sagen und Legenden ihres Volkes erzählte. Verbunden jedoch fühlte sie sich nur Gwyneira, deren zweitem Mann James McKenzie und vor allem ihrem Sohn Jack.

Zwischen Jack und Gloria hatte immer schon eine besondere Beziehung bestanden. Der junge Mann war fünfzehn Jahre älter als seine Halbgroßnichte, und in Glorias ersten Lebensjahren war vor allem er es gewesen, der sie vor den Launen und dem Desinteresse ihrer Eltern beschützt hatte. Jack hatte für Kura und ihre Musik nie etwas übrig gehabt, aber Gloria mochte er vom ersten Schrei an – was buchstäblich zu nehmen war, wie Jacks Vater gerne scherzte. Das Baby pflegte nämlich lauthals loszubrüllen, sobald Kura die erste Klaviertaste anschlug. Dem brachte Jack vollstes Verständnis entgegen; er schleppte Gloria mit sich herum wie einen Hundewelpen.

Inzwischen hatte nicht nur Jack den Steinkreis erreicht, auch Glorias kleine Hündin Nimue. Der Border Collie hechelte und blickte beinahe vorwurfsvoll zu seiner Herrin auf. Es gefiel der Hündin gar nicht, wenn Gloria ihr davonritt. Sie war glücklicher gewesen, bevor das pfeilschnelle Pony aus England eingetroffen war. Jetzt aber nahm sie sich zusammen und jagte gleich wieder los, als Gloria sie mit einem scharfen Pfiff auf die Schafe ansetzte, die um die Felsen verstreut grasten. Wohlgefällig beobachtet von Jack und ihrer stolzen Besitzerin, trieb Nimue die Tiere zusammen und wartete dann auf weitere Befehle. Gloria führte die Herde geschickt in Richtung Heimat.

»Siehst du, ich hätte es auch allein geschafft!« Triumphierend strahlte das Mädchen Jack an. »Wirst du es Grandma erzählen?«

Jack nickte ernsthaft. »Sicher, Glory. Sie wird stolz auf dich sein. Und auf Nimue!« Gwyneira McKenzie hatte mehr als fünfzig Jahre zuvor die ersten Border Collies aus Wales nach Neuseeland gebracht, dort weiter gezüchtet und trainiert. Es machte sie glücklich, Gloria so geschickt mit den Tieren umgehen zu sehen.

Andy McAran, der steinalte Vorarbeiter der Farm, beobachtete Jack und Gloria, als diese die Schafe schließlich in den Pferch trieben, an dem er herumwerkelte. McAran hätte längst nicht mehr arbeiten müssen, beschäftigte sich aber gern auf der Farm und sattelte noch fast jeden Tag sein Pferd, um aus dem Ort Haldon nach Kiward Station zu reiten. Seiner Frau gefiel das nicht, was Andy aber nicht abschreckte – im Gegenteil. Er hatte spät geheiratet und würde sich nie daran gewöhnen, dass jemand ihm Vorschriften machte.

»Fast wie damals, Miss Gwyn.« Der Alte grinste anerkennend, als Gloria das Tor hinter den Schafen schloss. »Fehlt nur das rote Haar und …« Den Rest ließ Andy unausgesprochen; schließlich wollte er Gloria nicht kränken. Aber Jack hatte zu oft ähnliche Bemerkungen gehört, um Andys Gedanken nicht lesen zu können: Der alte Viehhüter bedauerte, dass Gloria weder die elfenhaft zarte Figur noch das schmale, hübsche Gesicht ihrer Urgroßmutter geerbt hatte – was seltsam war, da Gwyneira ihre roten Locken und die zierliche Gestalt an fast alle anderen weiblichen Nachkommen weitergegeben hatte. Gloria schlug nach den Wardens: kantiges Gesicht, dicht zusammenstehende Augen, scharf geschnittener Mund. Ihre hellbraunen üppigen Locken umspielten ihr Gesicht weniger als es zu erdrücken. Die wilde Pracht zu frisieren war eine Qual, und so hatte das Mädchen vor etwa einem Jahr ihr Haar in einem Anfall von Trotz abgeschnitten. Natürlich hatten alle sie geneckt, ob sie denn nun »ganz zum Jungen« werden wollte – vorher schon hatte sie gern die Breeches stibitzt, die ihre Großmutter Marama für die Maori-Jungen nähte –, doch Jack fand, dass Gloria die kurzen Locken wunderbar standen, und auch die weiten Reithosen passten besser zu ihrem kräftigen, etwas gedrungenen Körper als Kleider. Was die Figur betraf, schlug Gloria nach ihren Maori-Ahnen. Mode nach westlichem Schnitt würde sie nie vorteilhaft kleiden.

»Von ihrer Mutter hat das Mädchen nun wirklich gar nichts«, bemerkte auch James McKenzie. Er hatte die Ankunft Jacks und Glorias vom Erker in Gwyneiras Schlafzimmer aus beobachtet. Dort saß er inzwischen gern; der luftige Aussichtspunkt gefiel ihm besser als die bequemeren Sessel im Salon. James war kurz zuvor achtzig geworden, und das Alter machte ihm zu schaffen. Seit einiger Zeit quälten ihn Gelenkschmerzen, die ihm jede Bewegung schwer machten. Dabei hasste er es, sich auf einen Stock zu stützen. Er gab nicht gern zu, dass die Treppe hinunter zum Salon ein immer größeres Hindernis für ihn darstellte, deshalb redete er sich lieber damit heraus, von seinem Erkerplatz aus das Geschehen auf der Farm leichter überwachen zu können.

Gwyneira wusste es besser: James hatte sich im vornehmen Salon auf Kiward Station nie wirklich wohlgefühlt. Seine Welt waren stets die Mannschaftsunterkünfte gewesen. Nur Gwyn zuliebe hatte er sich damit abgefunden, das hochherrschaftliche Anwesen zu bewohnen und seinen Sohn hier aufzuziehen. James hätte seiner Familie lieber ein Blockhaus gebaut und vor einem Kamin gesessen, für den er selbst das Brennholz geschlagen hatte. Dieser Traum verlor allerdings an Attraktivität, je älter er wurde. Inzwischen fand er es angenehm, einfach nur die Wärme zu genießen, für die Gwyneiras Dienstboten sorgten.

Gwyneira legte ihm die Hand auf die Schulter und schaute nun ebenfalls zu Gloria und ihrem Sohn hinunter.

»Sie ist wunderschön«, sagte sie. »Wenn sich eines Tages der passende Mann für sie findet …«

James verdrehte die Augen. »Nicht schon wieder!«, seufzte er. »Gott sei Dank läuft sie den Kerlen noch nicht nach. Wenn ich da an Kura und diesen Maori-Knaben denke, der dir solches Kopfzerbrechen bereitet hat … Wie alt war sie damals? Dreizehn?«

»Sie war nun mal frühreif!«, verteidigte Gwyneira ihre Enkelin. Sie hatte Kura immer geliebt. »Ich weiß, du magst sie nicht besonders. Aber ihr Problem bestand eigentlich nur darin, dass sie nicht hierher gehörte.«

Gwyneira bürstete ihr Haar, bevor sie es aufsteckte. Es war immer noch lang und lockig, auch wenn das Weiß darin immer mehr über das Rot triumphierte. Ansonsten sah man der inzwischen fast Dreiundsiebzigjährigen ihr Alter kaum an. Gwyneira McKenzie-Warden war schlank und drahtig wie in ihrer Jugend. Ihr Gesicht wirkte zwar mittlerweile hager und war von kleinen Fältchen durchzogen, aber sie hatte ihre Haut nie vor Sonne und Regen geschützt. Das Leben einer Dame der feinen Gesellschaft lag ihr nicht, und allen Fährnissen des Daseins zum Trotz betrachtete sie es nach wie vor als Glücksfall, dass sie ihr adeliges Elternhaus in Wales im Alter von siebzehn Jahren verlassen hatte, um in einer neuen Welt ein riskantes Eheabenteuer zu wagen.

»Kuras Problem lag darin, dass ihr niemand das Wort Nein beigebracht hat, als sie noch aufnahmefähig war«, brummte James. Sie hatten diese Diskussion über Kura schon tausendmal geführt; es war im Grunde das einzige Thema, das jemals für Sprengstoff in James’ und Gwyneiras Ehe gesorgt hatte.

Gwyn schüttelte missbilligend den Kopf. »Das klingt ja schon wieder, als hätte ich Angst vor Kura gehabt«, sagte sie unwillig. Auch dieser Vorwurf war nicht neu, obwohl er ursprünglich nicht von James gekommen war, sondern von Gwyns Freundin Helen O’Keefe – und schon der Gedanke an Helen, die im Jahr zuvor gestorben war, versetzte Gwyn einen Stich.

James zog die Augenbrauen hoch. »Angst vor Kura? Die hattest du doch nie!«, neckte er seine Frau. »Deshalb schiebst du ja auch seit drei Stunden diesen Brief, den der alte Andy gebracht hat, auf dem Tisch hin und her. Mach ihn schon auf, Gwyn! Zwischen dir und Kura liegen achtzehntausend Meilen. Sie wird dich nicht beißen!«

Andy McAran und seine Frau lebten in Haldon, dem nächsten kleinen Ort. Im dortigen Postamt lagerten die Briefe für Kiward Station, und Andy betätigte sich gern als Briefträger, wenn Post aus Übersee eintraf. Im Gegenzug erwartete er – wie sämtliche männlichen und weiblichen Klatschbasen in Haldon – ein bisschen Tratsch über das exotische Künstlerdasein der sonderbaren Warden-Erbin. James oder Jack lieferten die neuesten Nachrichten über Kuras wildes Leben auch bereitwillig, und Gwyneira schritt gewöhnlich nicht ein. Schließlich gab es meist Erfreuliches zu berichten: Kura und William waren glücklich, die Vorstellungen ausverkauft, eine Tournee jagte die andere. In Haldon zerriss man sich natürlich trotzdem die Mäuler. War William seiner Kura wirklich seit bald zehn Jahren treu? Auf Kiward Station hatte das ungetrübte Glück gerade mal ein Jahr gehalten. Und wenn die Ehe wirklich so vollkommen war – warum wurde sie dann nicht mit weiteren Kindern gesegnet?

Gwyneira, die jetzt mit zittrigen Fingern den diesmal in London abgestempelten Brief öffnete, war das alles egal. Sie interessierte eigentlich nur Kuras Verhältnis zu Gloria. Das war bislang von Desinteresse geprägt, und Gwyneira betete, dass es so blieb.

Diesmal sah James seiner Frau jedoch schon beim Lesen an, dass der Brief aufrüttelndere Nachrichten enthielt als die immer gleichen Erfolgsgeschichten von »Haka meets Piano«. James hatte es schon geahnt, als er nicht Kuras steile Buchstaben auf dem Umschlag erkannt hatte, sondern William Martyns flüssiges Schriftbild.

»Sie wollen Gloria nach England holen«, sagte Gwyneira tonlos, als sie den Brief schließlich sinken ließ. »Sie …« Gwyn suchte die Stelle in Williams Schreiben. »Sie wissen unsere Erziehungsarbeit zwar zu schätzen, aber sie machen sich Sorgen darüber, ob Glorias ›künstlerisch-kreative Seite‹ hier ausreichend gefördert wird! James, Gloria hat keine ›künstlerisch-kreative Seite‹!«

»Gott sei Dank«, bemerkte James. »Und wie gedenken die zwei diese neue Gloria denn nun zu erwecken? Soll sie mit auf Tournee? Singen, tanzen? Flöte spielen?«

Kuras virtuose Beherrschung der pecorino-Flöte gehörte zu den Glanzpunkten ihres Programms, und natürlich besaß auch Gloria ein solches Instrument. Zum Kummer ihrer Großmutter Marama hatte das Mädchen der Flöte aber nicht einmal eine der »normalen Stimmen« fehlerfrei entlocken können, geschweige denn die berühmte »wairua«, die Stimme der Geister.

»Nein, sie soll in ein Internat. Hör dir das an: ›Wir haben eine kleine und sehr idyllisch gelegene Schule bei Cambridge ausgewählt, die eine vielseitige Mädchenbildung besonders im geistigkünstlerischen Bereich gewährleistet …‹«, las Gwyneira vor. »Mädchenbildung! Was soll man denn darunter verstehen?«, murmelte sie ärgerlich.

James lachte. »Kochen, backen, sticken?«, schlug er vor. »Französisch? Klavier spielen?«

Gwyn sah aus, als würde sie gefoltert. Als Tochter eines Landadeligen war ihr das alles nicht erspart geblieben, aber zum Glück hatte das Geld der Silkhams nie für eine Internatsausbildung der Töchter gereicht. Deshalb hatte Gwyn sich den schlimmsten Auswüchsen entziehen können, um stattdessen nützliche Dinge wie Reiten und Hütehundeausbildung zu erlernen.

James stand schwerfällig auf und nahm sie in die Arme.

»Komm, Gwyn, so schlimm wird es schon nicht sein. Seit die Dampfschiffe verkehren, ist die Reise nach England ein Klacks. Viele Leute schicken ihre Kinder auf ein Internat. Es wird Gloria nicht schaden, sich ein bisschen in der Welt umzusehen. Und die Landschaft bei Cambridge soll sehr lieblich sein, so wie hier. Gloria wird mit gleichaltrigen Mädchen zusammen sein und Hockey spielen oder was man da so treibt … na gut, wenn sie ausreitet, muss sie sich halt mit dem Damensattel abfinden. Ein bisschen gesellschaftlicher Schliff ist ja auch gar nicht so schlecht, seit die Viehbarone hier immer vornehmer werden …«

Die großen Farmen in den Canterbury Plains, die seit über fünfzig Jahren bestanden, warfen meist ohne größeren Einsatz der Besitzer guten Gewinn ab. So mancher »Schafbaron« der zweiten oder dritten Generation führte das Leben eines vornehmen Gutsbesitzers. Es gab jedoch auch Farmen, die verkauft worden waren und nun vor allem hochdekorierten Kriegsveteranen aus England als Ruhesitz dienten.

Gwyn atmete tief durch. »Das war es wahrscheinlich«, seufzte sie. »Ich hätte ihr das Foto mit dem Pferd nicht erlauben sollen. Aber sie wollte es unbedingt. Sie war so glücklich über das Pony …«

James wusste, was Gwyn meinte: Einmal im Jahr machte sie ein großes Gewese darum, Gloria für ihre Eltern fotografieren zu lassen. Im Allgemeinen steckte sie das Mädchen dazu in ein möglichst steifes und langweiliges Sonntagskleid; diesmal aber hatte Gloria darauf bestanden, im Sattel ihres neuen Ponys abgelichtet zu werden. »Mom und Dad haben mir Princess doch geschenkt!«, hatte sie argumentiert. »Sie freuen sich bestimmt, wenn sie mit auf dem Bild ist.«

Gwyneira spielte nervös mit ihrem eben erst aufgesteckten Haarknoten, bis sich die ersten Strähnen wieder lösten. »Ich hätte wenigstens auf Damensattel und Reitkleid bestehen sollen.«

James nahm sanft ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf.

»Du kennst doch Kura und William. Vielleicht war es wirklich das Pony. Aber genauso gut hättest du ein Foto von Gloria im Sonntagsstaat schicken können – dann hätten sie geschrieben, dass eigentlich ein Klavier dazugehört. Vielleicht war die Zeit einfach reif. Sie mussten sich irgendwann daran erinnern, dass sie eine Tochter haben.«

»Reichlich spät!«, schimpfte Gwyn. »Und warum lassen sie uns nicht wenigstens mitreden? Sie kennen Glory doch gar nicht. Und gleich ein Internat! Sie ist so jung …«

James zog seine Frau an sich. Aber er sah sie lieber wütend als so verzagt und unsicher wie eben.

»Viele englische Kinder kommen schon mit vier ins Internat«, erinnerte er sie. »Und Glory ist zwölf. Sie wird es verkraften. Wahrscheinlich gefällt es ihr sogar.«

»Sie wird ganz allein sein …«, sagte Gwyn leise. »Sie wird Heimweh haben.«

James nickte. »Am Anfang haben bestimmt alle Mädchen Heimweh. Aber sie werden darüber hinwegkommen.«

Gwyneira fuhr auf. »Wenn das Gut der Eltern zwanzig Meilen entfernt ist, ganz sicher. Aber bei Glory sind es achtzehntausend! Wir schicken sie um die halbe Welt, zu Leuten, die sie nicht kennen und nicht lieben!«

Gwyneira biss sich auf die Lippen. Bislang hatte sie es nie zugegeben, im Gegenteil, sie hatte Kura immer wieder verteidigt. Aber im Grunde war es eine Tatsache. Kura-maro-tini machte sich nichts aus ihrer Tochter. Und William Martyn ging es nicht anders.

»Können wir nicht einfach so tun, als hätten wir den Brief nicht bekommen?« Sie schmiegte sich an James. Der fühlte sich an die blutjunge Gwyneira erinnert, die sich zu den Viehhütern in die Ställe geflüchtet hatte, wenn sie mit all den Ansprüchen ihrer neuen, neuseeländischen Familie nicht fertig wurde. Aber das hier war ernster als ein Rezept für Irish Stew …

»Gwyn, Liebes, dann schicken sie einen neuen! Das hier ist nicht auf Kuras Mist gewachsen. Die hätte vielleicht mal so eine Idee geäußert, aber spätestens beim nächsten Konzert wäre das wieder vergessen gewesen. Der Brief kommt von William. Das Ganze ist also sein Projekt. Wahrscheinlich liebäugelt er mit der Idee, Gloria bei nächster Gelegenheit mit irgendeinem Earl zu verheiraten …«

»Aber früher hat er die Engländer gehasst«, wandte Gwyneira ein. William Martyn konnte auf eine kurze Vergangenheit als Irischer Freiheitskämpfer zurückblicken.

James zuckte die Achseln. »William ist wandlungsfähig.«

»Wenn Gloria wenigstens nicht ganz allein wäre«, seufzte Gwyn. »Die lange Schiffsreise, all die fremden Leute …«

James nickte. Trotz all seiner beruhigenden Worte konnte er Gwyns Gedanken gut nachvollziehen. Gloria liebte die Arbeit auf der Farm, aber ihr fehlte die Abenteuerlust, die Gwyn und ihre Tochter Fleurette auszeichnete. In dieser Beziehung schlug das Mädchen aus der Art – nicht nur Gwyn, auch ihr Ahnherr Gerald Warden hatte niemals das Risiko gescheut, und Kura und William Martyn erst recht nicht. Aber hier mochte das Maori-Erbe greifen. Glorias Großmutter Marama war sanft und erdverbunden. Natürlich wanderte sie mit ihrem Stamm umher, aber wenn sie das Land der Ngai Tahu allein verlassen sollte, fühlte sie sich unsicher.

»Und wenn wir ein anderes Mädchen mitschicken?«, überlegte James. »Hat sie keine Freundin unter den Maoris?«

Gwyneira schüttelte den Kopf. »Du glaubst doch nicht, dass Tonga ein Mädchen aus seinem Stamm nach England schickt!«, meinte sie. »Ganz abgesehen davon, dass mir keines einfällt, das mit Gloria vertraut ist. Da wäre allenfalls …« Gwyns Gesicht hellte sich auf. »Ja, das wäre eine Möglichkeit!«

James wartete geduldig, bis sie ihren Gedanken zu Ende geführt hatte.

»Sie ist natürlich auch noch sehr jung …«

»Wer?«, fragte er schließlich nach.

»Lilian«, meinte Gwyn. »Mit Lilian hat sie sich gut verstanden, als Elaine letztes Jahr hier war. Eigentlich war sie das einzige Mädchen, mit dem Glory jemals gespielt hat. Und Tim ist doch selbst in England zur Schule gegangen. Vielleicht erwärmt er sich ja für die Idee.«

Ein Lächeln huschte über James’ Gesicht, als Lilians Name fiel. Noch eine Urenkelin, aber in diesem Fall Fleisch von seinem Fleisch. Elaine, Fleurettes Tochter, war in Greymouth verheiratet. Ihre Tochter Lilian war das älteste von vier Kindern. Das einzige Mädchen und eine Neuauflage von Gwyneira, Fleurette und Elaine: rothaarig, lebhaft und immer gut gelaunt. Gloria war zuerst ein wenig schüchtern gewesen, als sie im Jahr zuvor zusammen mit ihrer Urgroßmutter die Farm besucht hatte. Aber Lilian hatte das Eis schnell gebrochen. Sie plauderte ohne Punkt und Komma von ihrer Schule, ihren Freundinnen, ihren Pferden und Hunden zu Hause, ritt mit Gloria um die Wette und drängte sie, ihr Maori beizubringen und den Stamm auf Kiward Station zu besuchen. Zum ersten Mal hörte Gwyneira ihre Urenkelin Gloria mit einem anderen Mädchen kichern und Geheimnisse austauschen. Die zwei versuchten, Rongo Rongo, Hebamme und tohunga der Maoris, beim Schmieden eines Zaubers zu belauschen, und Lilian hütete das Stück Jade, das Rongo Rongo ihr schließlich schenkte, wie einen Schatz. Die Kleine wurde auch nicht müde, sich eigene Geschichten auszudenken.

»Ich frag meinen Dad, ob er mir den Stein fassen lässt«, erklärte sie gewichtig. »Dann hänge ich ihn mir an einer goldenen Kette um den Hals. Und wenn ich dann den Mann kennen lerne, den ich mal heirate, wird er … wird er …« Lilian schwankte zwischen »brennen wie glühende Kohlen« und »vibrieren wie ein wild pochendes Herz«.

Gloria konnte da nicht mithalten. Für sie war ein Stück Jade ein Stück Jade, kein Werkzeug, jemanden zu verzaubern. Doch Lilians Fantasien lauschte sie gern.

»Lilian ist noch jünger als Gloria«, gab James zu bedenken. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Elaine sich jetzt schon von ihr trennt. Egal was Tim dazu meint …«

»Fragen kostet nichts«, erklärte Gwyn resolut. »Ich werde ihnen gleich schreiben. Was meinst du, müssen wir es Gloria sagen?«

James seufzte und fuhr sich durch sein ehemals braunes, jetzt weißes, aber immer noch wirres Haar. Eine für ihn typische Geste, die Gwyneira immer geliebt hatte. »Nicht heute und nicht morgen«, meinte er schließlich. »Aber wenn ich William richtig verstehe, fängt nach Ostern das neue Schuljahr an. Dann sollte sie in Cambridge sein. Gäbe es eine Verzögerung, würde man ihr keinen Gefallen tun. Wenn sie mitten im Jahr die einzige Neue ist, wird es umso schwerer für sie.«

Gwyn nickte müde. »Aber wir müssen es Miss Bleachum mitteilen«, meinte sie unglücklich. »Die muss sich schließlich eine neue Stellung suchen. Verflixt, da haben wir mal eine Hauslehrerin, die sich wirklich bewährt, und dann so was!«

Sarah Bleachum unterrichtete Gloria seit Beginn ihrer Schulzeit, und das Mädchen hing sehr an ihr.

»Na ja, zumindest wird Glory bestimmt nicht hinter den englischen Mädchen zurückstehen«, tröstete sich Gwyn.

Miss Bleachum hatte die Lehrerakademie in Wellington besucht und mit besten Zeugnissen abgeschlossen. Ihre besondere Liebe galt den Naturwissenschaften, und sie verstand, auch Glorias Interesse daran zu wecken. Die beiden vergruben sich mit Leidenschaft in Bücher, die von der Flora und Fauna Neuseelands handelten, und Miss Bleachums Begeisterung kannte keine Grenzen, als Gwyneira die Aufzeichnungen ihres ersten Gatten, Lucas Warden, hervorholte. Lucas hatte vor allem die Insektenpopulation seiner Heimat erforscht und katalogisiert. Miss Bleachum bestaunte seine peniblen Zeichnungen der verschiedenen Weta-Gattungen. Gwyneira betrachtete diese Kreaturen mit eher gemischten Gefühlen. Die Rieseninsekten waren ihr nie sonderlich sympathisch gewesen.

»Das war mein Urgroßvater, nicht?«, fragte Gloria stolz.

Gwyneira nickte. In Wirklichkeit war Lucas eher ihr Urgroßonkel gewesen, aber das musste das Kind nicht wissen. Lucas wäre glücklich über diese kluge Urenkelin gewesen, die endlich seine Interessen teilte.

Ob man Glorias Begeisterung für Insekten und sonstiges Getier allerdings auch in einer englischen Mädchenschule zu schätzen wusste?

2

»Lass das, ich kann allein aussteigen!«

Timothy Lambert wehrte die Hilfe seines Dieners Roly fast unwirsch ab. Dabei fiel es ihm an diesem Tag besonders schwer, die Beine vom Sitz des Gigs auf das Trittbrett zu schwingen, die Schienen anzulegen und dann mit Hilfe seiner Krücken Halt auf dem Boden zu finden. Dies war einer seiner schlechteren Tage. Er fühlte sich steif und gereizt – wie fast immer, wenn der Jahrestag des Unglücks nahte, dem er seine Behinderung verdankte. Diesmal jährte sich der Einsturz der Lambert-Mine zum elften Mal, und wie jedes Jahr würde die Minenleitung den Gedenktag mit einer kleinen Trauerfeier begehen. Die Hinterbliebenen der Opfer, aber auch die derzeit in der Mine beschäftigten Bergarbeiter wussten diese Geste zu schätzen. Ebenso wie die vorbildlichen Sicherheitsvorkehrungen in der Mine. Aber Tim würde wieder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, und man würde ihn anstarren. Und natürlich würde Roly O’Brien zum tausendsten Mal erzählen, wie der Sohn des Minenbesitzers ihn damals gerettet hatte. Tim hasste die Blicke, die zwischen Heldenverehrung und Grusel schwankten.

Jetzt zog Roly sich beinahe gekränkt zurück, verfolgte jedoch aus nicht allzu großer Entfernung, wie sein Herr sich aus der Kutsche quälte. Sollte Tim stürzen, würde er zur Stelle sein – wie immer in den letzten zwölf Jahren. Roly O’Brien war eine unschätzbare Hilfe, aber manchmal ging er Tim auf die Nerven, vor allem an Tagen wie diesem, an denen sein Geduldsfaden ohnehin schnell riss.

Roly brachte das Pferd in den Stall, während Tim zum Haus hinkte. Wie jedes Mal munterte der Anblick des eingeschossigen weißen Holzgebäudes ihn auf. Nach seiner Hochzeit mit Elaine hatte er das schlichte Anwesen in kürzester Zeit errichten lassen – gegen den Protest seiner Eltern, die ihm zu einer repräsentativeren Residenz rieten. Ihre eigene Villa, zwei Meilen entfernt Richtung Stadt, entsprach weit eher den landläufigen Vorstellungen vom Haus eines Minenbetreibers. Aber Elaine hatte Lambert Manor nicht mit Tims Eltern teilen wollen, und das hochherrschaftliche, zweigeschossige Anwesen mit seiner Freitreppe und den Schlafzimmern im oberen Stock entsprach auch kaum Timothys Bedürfnissen. Zudem war er kein Minenbesitzer; die Aktienmehrheit des Unternehmens gehörte längst dem Investor George Greenwood. Tims Eltern besaßen nur noch Anteile; er selbst war als Geschäftsführer angestellt.

»Daddy!« Lilian, Tims und Elaines Tochter, riss bereits die Tür auf, noch ehe Tim sein Gewicht so verlagern konnte, dass er sich nur auf eine Krücke stützen musste und die rechte Hand für die Betätigung des Türgriffs frei hatte. Hinter Lilian erschien Rube, Tims ältester Sohn, und blickte enttäuscht drein, weil Lilian ihn schon wieder beim täglichen Wettstreit besiegt hatte, bei dem es darum ging, als Erster an der Tür zu sei, um dem Vater zu öffnen.

»Daddy! Du musst dir anhören, was ich heute geübt habe!« Lilian spielte begeistert Klavier und sang dazu – wenn auch nicht immer richtig. »Annabell Lee. Kennst du das? Es ist ganz traurig. Sie ist sooo schön, und der Prinz liebt sie ganz schrecklich, aber dann …«

»Mädchenkram!«, schimpfte Rube. Er war sieben Jahre alt, wusste aber schon genau, was er albern zu finden hatte. »Guck dir lieber die Eisenbahn an, Daddy! Ich hab die neue Lok ganz allein zusammengebaut …«

»Stimmt gar nicht! Mummy hat dir geholfen!«, petzte Lilian.

Tim verdrehte die Augen. »Schätzchen, so leid es mir tut, aber das Wort ›Eisenbahn‹ kann ich heute nicht mehr hören …« Tröstend zauste er den rotbraunen Schopf seines Sohnes. Alle vier Kinder waren rothaarig – Elaine vererbte ihre Haarfarbe zuverlässig. Die Jungen sahen sonst aber eher Tim ähnlich. Elaine freute sich jeden Tag an dem fröhlich-verwegenen Ausdruck ihrer Gesichter und ihren freundlichen, grünbraunen Augen.

Tims Miene hellte sich endgültig auf, als er seine Frau aus den Wohnräumen in den kleinen Korridor kommen sah, in dem die Kinder ihn begrüßt hatten. Sie war wunderschön mit ihren leuchtend grünen Augen, ihrem fast durchscheinend hellen Teint und den unzähmbaren roten Kringellöckchen. Ihre uralte Hündin Callie trottete hinter ihr her.

Elaine küsste Tim sanft auf die Wange. »Was hat sie wieder gemacht?«, fragte sie zur Begrüßung.

Tim runzelte die Stirn. »Kannst du Gedanken lesen?«, erkundigte er sich verwirrt.

Elaine lachte. »Nicht direkt, aber diesen Gesichtsausdruck trägst du eigentlich nur spazieren, wenn du wieder mal über eine besonders interessante Methode nachdenkst, Florence Biller um die Ecke zu bringen. Und da du sonst auch nichts gegen Eisenbahnen hast, wird es wohl mit der neuen Schienenverbindung zusammenhängen.«

Tim nickte. »Du hast es erfasst. Aber lass mich erst reinkommen. Was machen die Kleinen?«

Elaine schmiegte sich an ihren Mann und verschaffte ihm so die Möglichkeit, sich unauffällig auf sie zu stützen. Sie half ihm ins Wohnzimmer, das gemütlich eingerichtet war mit Möbeln aus Mataiholz, und nahm ihm sein Jackett ab, ehe er sich in einen der Sessel vor dem Kamin fallen ließ.

»Jeremy hat ein Schaf gezeichnet und ›Schiff‹ druntergeschrieben«, erzählte Elaine. »Wir wissen nicht, ob er sich verschrieben oder vermalt hat …« Jeremy war sechs und lernte gerade das ABC. »Und Bobby hat vier Schritte am Stück geschafft.«

Als wollte er es beweisen, zockelte der Kleine auf Tim zu. Der fing ihn auf, zog ihn auf seinen Schoß und kitzelte ihn. Der Ärger mit Florence Biller schien plötzlich weit weg zu sein.

»Noch sieben Schritte mehr, dann kann er heiraten!«, sagte Tim lachend und zwinkerte Elaine zu. Als er nach seinem Unfall wieder laufen lernte, waren elf Schritte – vom Eingang der Kirche bis zum Altar – sein erstes Ziel gewesen. Elaine hatte sich nach dem Minenunglück mit ihm verlobt.

»Hör nicht hin, Lily!«, sagte Elaine zu ihrer Tochter, die gerade zu einer Frage ansetzte. Lilian träumte von Märchenprinzen, und »Hochzeit« war ihr liebstes Spiel. »Geh lieber zum Klavier und schick Annabell Lee noch mal zu den Engeln. Und Daddy erzählt mir so lange, warum er plötzlich keine Eisenbahnen mehr mag …«

Lilian trollte sich zu ihrem Instrument, während die kleinen Jungs sich wieder der Spielzeugeisenbahn zuwandten, die sie auf dem Fußboden aufgebaut hatten.

Elaine schenkte Tim einen Whiskey ein und setzte sich neben ihn. Er trank nie viel und üblicherweise nicht vor dem Essen, schon um die Kontrolle über seine Bewegungen nicht zu verlieren. Aber heute wirkte er so erschöpft und verärgert, da mochte ein Schluck ihm guttun.

»Es ist eigentlich nicht der Rede wert«, meinte Tim schließlich. »Bloß dass Florence mal wieder mit der Eisenbahngesellschaft verhandelt hat, ohne die anderen Minenbesitzer einzubeziehen. Ich weiß es zufällig von George Greenwood. Der hat ja auch beim Gleisbau seine Finger drin. Dabei können wir gemeinsam viel bessere Bedingungen aushandeln. Aber nein, Florence scheint zu hoffen, dass alle anderen in Greymouth die neuen Gleise einfach übersehen, sodass nur Biller in den Genuss des vereinfachten Kohletransports kommt. Matt und ich haben jetzt jedenfalls eine Schienenanbindung auch für Lambert gefordert. Morgen kommen die Leute vom Gleisbau, und wir sprechen über die Kostenaufteilung. Zu Biller ziehen sie die Gleise natürlich gleich durch – Florence hat ihren eigenen Güterbahnhof in spätestens sechs Wochen.« Tim nippte am Whiskey.

Elaine zuckte die Schultern. »Sie ist eine gute Geschäftsfrau.«

»Sie ist ein Biest!«, schimpfte Tim und drückte sich damit wahrscheinlich weniger drastisch aus als die meisten anderen Minenbesitzer und Zulieferer der Region. Florence Biller war eine knallharte Geschäftsfrau, die jede Schwäche ihres Gegners nutzte. Sie regierte die Mine ihres Mannes mit eiserner Hand. Ihre Steiger und Sekretäre zitterten vor ihr – obwohl es neuerdings Gerüchte gab, dass ihr junger Bürovorsteher bevorzugt behandelt wurde. Es kam immer wieder vor, dass einer ihrer Mitarbeiter kurze Zeit eine Favoritenrolle spielte. Bisher genau genommen drei Mal. Tim und Elaine Lambert, die in ein paar Geheimnisse der Ehe zwischen Caleb und Florence Biller eingeweiht waren, dachten sich dabei ihren Teil. Florence Biller hatte drei Kinder …

»Keine Ahnung, wie Caleb es mit ihr aushält.« Tim stellte sein Glas auf den Tisch. Langsam fiel die Anspannung von ihm ab. Es war immer gut, mit Lainie zu reden, und Lilians eher begeistertes als inspiriertes Klavierspiel im Hintergrund trug zu seiner friedlicheren Stimmung bei.

»Ich glaube, Caleb sind ihre Machenschaften manchmal peinlich«, meinte Elaine. »Aber im Großen und Ganzen ist es ihm wahrscheinlich egal. Sie lässt ihn in Ruhe und er sie – das war ja wohl auch die Abmachung.«

Caleb Biller interessierte sich nicht für die Leitung der Mine. Er war Privatgelehrter und galt als Kapazität auf dem Gebiet der Maori-Kunst und Musik. Vor seiner Heirat mit Florence hatte er kurz damit geliebäugelt, sich ganz aus dem Familiengeschäft zurückzuziehen und ein Leben als Musiker zu führen – noch heute arrangierte er die Musik für das Programm von Kura-maro-tini Martyn. Aber Caleb litt unter Lampenfieber, und seine Angst vor dem Publikum war letztlich größer als seine auch nicht unerhebliche Furcht vor der schrecklichen Florence Weber. Jetzt leitete er nominell die Biller-Mine. Faktisch jedoch war Florence die Chefin.

»Ich wünschte nur, sie würde ihre Geschäfte nicht führen wie einen Krieg«, seufzte Tim. »Ich verstehe ja, dass sie ernst genommen werden will, aber … mein Gott, andere haben da auch ihre Probleme.«

Tim sprach aus Erfahrung. Am Anfang seiner Tätigkeit als Geschäftsführer hatte mancher Zulieferer oder Kunde versucht, seine Behinderung auszunutzen, um minderwertige Ware anzuliefern oder unbegründete Reklamationen vorzubringen. Schließlich nahm man an, dass Tim die Lieferungen kaum ausreichend überwachen konnte. Tim hatte allerdings seine Augen und Ohren auch außerhalb des Büros. Sein Stellvertreter Matt Gawain sah genau hin, und Roly O’Brien unterhielt ausgezeichnete Kontakte zu den Bergleuten. Er arbeitete über Tage mit, wenn Tim ihn nicht brauchte, und war dann abends oft genauso mit Steinstaub verschmutzt wie die Kumpels. Der Dreck machte Roly nichts aus, doch in eine Mine einfahren würde er nie wieder, seit er damals gemeinsam mit Tim zwei Tage lang verschüttet gewesen war.

Inzwischen war Tim Lambert als Chef seiner Mine hoch geachtet, und niemand machte mehr den Versuch, ihn zu betrügen. Florence Biller ging das sicher ähnlich; sie hätte ihren Frieden mit all ihren männlichen Konkurrenten machen können. Aber Florence kämpfte mit unverminderter Energie weiter. Sie wollte Biller nicht nur zur führenden Mine von Greymouth machen, sondern möglichst die ganze Westküste beherrschen, wenn nicht sogar den Bergbau des ganzen Landes.

»Gibt es irgendwas zu essen?«, fragte Tim seine Frau. So langsam regte sich sein Appetit.

Elaine nickte. »Im Ofen. Es dauert noch ein bisschen. Und ich … ich wollte vorher noch was mit dir besprechen.«

Tim bemerkte, dass ihr Blick Lilian streifte. Anscheinend ging es um sie.

Elaine sprach das Mädchen an, als es eben das Klavier schloss.

»Das war sehr schön, Lily. Wir sind alle ganz ergriffen von Annabells Schicksal. Ich kann jetzt unmöglich den Tisch decken. Würdest du das wohl für uns tun, Lily? Und Rube hilft dir dabei?«

»Der lässt doch nur wieder die Teller fallen!«, schimpfte Lilian, verzog sich dann aber brav ins Esszimmer.

Gleich danach hörten sie Scherben klirren. Elaine verdrehte die Augen. Tim lachte nachsichtig.

»Für Hausarbeit hat sie keine besondere Begabung«, bemerkte er. »Wir sollten ihr lieber die Leitung der Mine überlassen.«

Elaine lächelte. »Oder wir sorgen für eine ›künstlerisch-kreative Mädchenbildung‹.«

»Für was?«, fragte Tim verwirrt.

Elaine zog einen Brief aus den Falten ihres Hauskleids.

»Hier, der ist heute gekommen. Von Grandma Gwyn. Sie ist ziemlich durcheinander. William und Kura wollen ihr Gloria wegnehmen.«

»Auf einmal?«, erkundigte Tim sich mäßig interessiert. »Bisher waren sie doch nur an Kuras Karriere interessiert. Und jetzt machen sie plötzlich in Familie?«

»Das nicht gerade«, meinte Elaine. »Sie denken wohl eher an ein Internat. Weil Grandma Gwyn doch Glorias ›künstlerisch-kreative Seite‹ verkümmern lässt.«

Tim lachte. Er hatte den Ärger im Büro nun wirklich verdaut, und Elaine freute sich an seinem von Lachfalten durchzogenen, noch immer lausbubenhaften Gesicht. »Da werden sie nicht ganz Unrecht haben. Nichts gegen Kiward Station und deine Großeltern, aber es ist nicht gerade ein Hort der Kunst und Kultur.«

Elaine zuckte die Schultern. »Ich hatte nicht den Eindruck, als ob Gloria da viel vermisst. Die Kleine schien mir ganz glücklich. Allerdings ein wenig schüchtern. Sie brauchte sogar einige Zeit, um mit Lily warm zu werden. Insofern kann ich Grandma Gwyn schon verstehen. Sie sorgt sich, das Kind allein auf die Reise zu schicken.«

»Und?«, fragte Tim. »Du hast doch was auf dem Herzen, Lainie. Was wolltest du mit mir besprechen?«

Elaine reichte ihm Gwyneiras Brief. »Grandma Gwyn fragt, ob wir Lilian nicht vielleicht mitschicken möchten. Es ist wohl ein renommiertes Internat. Und Gloria würde es über den ärgsten Schmerz hinweghelfen.«

Tim studierte den Brief sorgfältig. »Cambridge ist immer eine gute Adresse«, meinte er. »Aber ist sie nicht ein bisschen jung? Mal ganz abgesehen davon, dass solche Internate ein Vermögen kosten.«

»Die McKenzies würden die Kosten tragen«, erklärte Elaine. »Wenn es bloß nicht so schrecklich weit weg wäre …« Sie sprach nicht weiter, als Lilian ins Zimmer kam. Die Kleine hatte sich eine viel zu große Schürze umgebunden, über die sie bei jedem zweiten Schritt stolperte. Wie so oft reizte sie ihre Eltern zum Lachen. Lilys sommersprossiges Gesicht hatte etwas Verschmitztes, auch wenn ihre Augen eher verträumt wirkten. Ihr Haar war fein und rot wie das ihrer Mutter und Großmutter, aber nicht gar so lockig. Sie trug es zu zwei langen Zöpfen geflochten und sah mit ihrer Riesenschürze aus wie ein Kobold, der Dienstmädchen spielte.

»Der Tisch ist fertig, Mummy. Und ich glaube, der Auflauf auch.«

Tatsächlich drang der aromatische Duft des Fleischauflaufs von der Küche bis ins Wohnzimmer.

»Und wie viele Gläser hast du zerschlagen?«, fragte Elaine mit gespielter Strenge. »Leugne es nicht, wir haben es bis hierher gehört.«

Lilian lief rot an. »Gar keins. Nur … nur die Tasse von Jeremy …«

»Mummyyy! Sie hat meine Tasse kaputt gemacht!« Jeremy brüllte auf. Er liebte seine auch vorher schon angeschlagene Keramiktasse. »Mach sie wieder ganz, Mummy! Oder Daddy! Daddy ist Ingenieur, der kann doch Sachen heil machen!«

»Aber keine Tassen, du Dummi!« Das war Rube.

Einen Augenblick später stritten die Kinder sich lautstark. Jeremy schluchzte.

»Wir reden später weiter«, meinte Tim und ließ zu, dass Elaine ihm aus dem Sessel half. In der Öffentlichkeit bestand er auf vollkommene Unabhängigkeit und ließ sich allenfalls von Roly die Tasche tragen. Gegenüber Elaine jedoch konnte er Schwäche zugeben. »Vorerst müssen wir die Horde abfüttern.«

Elaine nickte und sorgte dann mit ein paar Worten für Ordnung.

»Rube, dein Bruder ist nicht dumm, entschuldige dich. Jeremy, mit ein bisschen Glück kann Daddy die Tasse kleben, dann kannst du noch Buntstifte reinstecken. Ansonsten bist du jetzt groß und kannst aus Gläsern trinken, wie alle anderen. Und du, Lily, räum bitte noch die Noten weg, bevor wir essen. Rube, für dich gilt das Gleiche, pack die Eisenbahn zusammen.«

Elaine hob ihren Jüngsten auf und setzte ihn in einen Hochstuhl im Esszimmer. Tim würde auf ihn aufpassen, während sie das Essen auftrug. Eigentlich wäre das die Aufgabe ihres Dienstmädchens Mary Flaherty gewesen, aber am Freitag hatte Mary ihren freien Nachmittag. Das erklärte auch, warum Roly nicht noch einmal aufgetaucht war, nachdem Tim ihn entlassen hatte. Gewöhnlich trennte er sich nicht so leicht von seinem Herrn und pflegte zumindest nachzufragen, ob es nicht doch noch etwas für ihn zu tun gab. Bei der Gelegenheit ergaben sich dann ganz zwanglos ein paar vertraute Worte mit Mary.

Elaine nahm an, dass die beiden an diesem warmen Frühsommerabend gemeinsam unterwegs waren und dabei mehr Küsse als Worte tauschten.

Immerhin hatte Mary den Auflauf noch vorbereitet, und Elaine brauchte ihn nur aus dem Ofen zu holen. Der Duft lockte Rube von seinen Aufräumarbeiten weg – und als Elaine sie eben rufen wollte, stand auch Lilian in der Tür.

Das Mädchen strahlte übers ganze Gesicht und wedelte mit Gwyneira McKenzies Brief, den Tim achtlos auf ein Tischchen neben seinen Sessel gelegt hatte.

»Ist das wahr?«, fragte sie atemlos. »Granny Gwyn schickt mich nach England? Wo die Prinzessinnen wohnen? Und in so ein Intra … Inter … in so eine Schule, wo man Lehrer ärgern kann und Mitternachtspartys feiert und so?«

Tim Lambert hatte seinen Kindern oft von seiner Schulzeit in England erzählt; seine Internatsvergangenheit schien eine einzige Abfolge von Streichen und Abenteuern gewesen zu sein. Lily konnte es nun gar nicht abwarten, es dem Vater gleichzutun. Sie hüpfte vor Aufregung auf und ab.

»Ich darf doch, oder? Mummy? Daddy? Wann fahren wir?«

»Wollt ihr mich denn nicht mehr haben?« Glorias verletzter Blick huschte von einem Erwachsenen zum anderen, und in ihren großen, porzellanblauen Augen schimmerten Tränen.

Gwyneira konnte es nicht ertragen. Sie hätte beinahe selbst geweint, als sie das Kind in die Arme nahm.

»Gloria, von ›nicht mehr wollen‹ kann keine Rede sein!«, tröstete stattdessen James McKenzie und sehnte sich dabei nach einem Whiskey. Gwyneira hatte die Zeit nach dem gemeinsamen Abendessen gewählt, um Gloria von der Entscheidung ihrer Eltern in Kenntnis zu setzen. Zweifellos, um dabei die Schützenhilfe »ihrer Männer« zu haben. James fühlte sich jedoch von jeher unwohl in der Rolle des Erziehungsberechtigten eines Warden-Kindes. Und Jack hatte von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, was er von Kuras und Williams Anweisungen hielt.

»Jeder Mensch geht zur Schule«, sagte der junge Mann, aber er klang nicht sehr überzeugt. »Ich war doch auch ein paar Jahre in Christchurch.«

»Aber du bist jedes Wochenende zurückgekommen!«, schluchzte Gloria. »Bitte, bitte, schickt mich nicht weg! Ich will nicht nach England! Jack …«

Das Mädchen blickte ihren langjährigen Beschützer Hilfe suchend an. Jack rutschte auf seinem Stuhl hin und her und hoffte auf Schützenhilfe durch seine Eltern. Seine Schuld war dies nun wirklich nicht. Im Gegenteil – Jack hatte sich ganz klar dagegen ausgesprochen, Gloria von Kiward Station wegzuschicken.

»Warte erst mal ab«, riet er seiner Mutter. »Ein Brief kann verlorengehen. Und wenn sie noch mal schreiben, sagst du ihnen klipp und klar, dass Glory für die weite Reise noch zu jung ist. Wenn Kura trotzdem darauf besteht, soll sie kommen und sie holen.«

»Aber das geht doch nicht so ohne Weiteres«, wandte Gwyneira ein. »Sie hat Konzertverpflichtungen.«

»Eben«, meinte Jack. »Sie wird den Teufel tun und ein halbes Jahr lang auf die Anbetung ihres Publikums verzichten, nur um Gloria in diese Schule zu zwingen. Und falls doch, braucht das Vorbereitung. Mindestens ein Jahr lang. Vorher der Briefwechsel, danach die Reise … Glory hätte zwei Jahre gewonnen. Sie wäre fast fünfzehn, ehe sie nach England müsste.«

Gwyneira hatte den Vorschlag ernsthaft erwogen. Aber die Entscheidung fiel ihr nicht so leicht wie ihrem Sohn. Jack war völlig furchtlos, was Kura-maro-tini anging. Aber Gwyn wusste, dass es Druckmittel gab, die man auch von der anderen Seite des Ozeans aus einsetzen konnte. Gloria war zwar die Erbin, aber bislang gehörte Kiward Station Kura Martyn. Wenn Gwyneira sich ihren Wünschen widersetzte, genügte eine Unterschrift unter einem Kaufvertrag, und nicht nur Gloria, sondern die gesamte Familie McKenzie musste die Farm verlassen.

»So weit denkt Kura doch gar nicht!«, meinte Jack, doch James McKenzie konnte die Befürchtungen seiner Frau durchaus nachvollziehen. Kura dachte wahrscheinlich gar nicht mehr an die Besitzverhältnisse auf der Farm, aber William Martyn waren spontane Handlungen zuzutrauen. Nun hätte James sich ebenso wenig erpressen lassen wie sein Sohn. Aber ihm war Kiward Station nie sonderlich wichtig gewesen. Für Gwyneira jedoch war es ihr Leben.

»Du kommst doch bald zurück«, erklärte sie jetzt ihrer verzweifelten Urenkelin. »Die Überfahrt geht ganz schnell, in ein paar Wochen kannst du wieder da sein …«

»In den Ferien?«, fragte Gloria hoffnungsvoll.

Gwyneira schüttelte den Kopf. Sie brachte es nicht übers Herz, das Mädchen zu belügen. »Nein. Die Ferien sind zu kurz. Überleg mal – selbst wenn die Überfahrt nur noch sechs Wochen dauert, könntest du in drei Monaten Sommerferien gerade mal herkommen und Guten Tag sagen. Und am nächsten Morgen müsstest du wieder weg.«

Gloria schluchzte. »Kann ich denn Nimue mitnehmen? Und Princess?«

Gwyneira hatte das Gefühl, die Zeit wäre zurückgedreht worden. Auch sie hatte wissen wollen, ob sie ihren Hund und ihr Pferd mitnehmen konnte, als ihr Vater ihr die Verlobung nach Neuseeland eröffnet hatte. Die junge Gwyn hatte allerdings nicht geweint. Und ihr künftiger Schwiegervater, Gerald Warden, hatte sie gleich beruhigen können.

Natürlich durften Cleo, ihr Hund, und Igraine, ihre Stute, mit auf die Reise in das neue Land. Aber Gloria ging nicht auf eine Schaffarm, sondern in eine Mädchenschule.

Gwyneira brach es das Herz, aber sie schüttelte wieder den Kopf.

»Nein, Liebes. Hunde erlauben sie dort nicht. Und Pferde … ich weiß nicht, aber viele Schulen auf dem Land haben Pferde. Nicht wahr, James?« Sie sah ihren Mann Hilfe suchend an, als wäre der alte Viehhüter ein Experte für Mädchenerziehung auf englischen Internaten.

James zuckte die Achseln. »Miss Bleachum?«, gab er die Frage weiter.