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Toxikologie
Herausgegeben von
Hans-Werner Vohr
Beachten Sie bitte auch weitere interessante Titel zu diesem Thema
Eisenbrand, G., Metzler, M., Hennecke, F. J.
Toxikologie für Naturwissenschaftler und Mediziner
Stoffe, Mechanismen, Prüfverfahren
2005
Softcover
ISBN: 978-3-527-30989-4
Bender, H.F.
Das Gefahrstoffbuch
Sicherer Umgang mit Gefahrstoffen nach REACH und GHS
Dritte, völlig neu bearbeitete Auflage
2008
ISBN: 978-3-527-32067-7
Greim, H., Snyder, R. (Eds.)
Toxicology and Risk Assessment:
A Comprehensive Introduction
2008
ISBN: 978-0-470-86893-5
O’Brien, P. J., Bruce, W. R. (Eds.)
Endogenous Toxins
Targets for Disease Treatment and Prevention
2 Volumes
2009
ISBN: 978-3-527-32363-0
Smart, R. C., Hodgson, E. (Eds.)
Molecular and Biochemical Toxicology
2008
ISBN: 978-0-470-10211-4
Herausgeber
Prof. Dr. Hans-Werner Vohr
Bayer HealthCare AG
Immunotoxicology
Aprather Weg
42096 Wuppertal
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Print ISBN 978-3-527-32319-7
Epdf ISBN 978-3-527-63553-5
Epub ISBN 978-3-527-66003-2
Mobi ISBN 978-3-527-66002-5
Für Heide
Vorwort
„Warum noch ein Toxikologiebuch?“ wird mancher fragen. Tatsächlich gibt es sehr gute Bücher, die die Grundlagen der Toxikologie und auch Pharmakologie in die Tiefe gehend beschreiben. Da die Toxikologie ein sehr weites und komplexes Feld ist, führt dies zu recht umfangreichen Werken oder zu Büchern, die sich nur mit einem Teilaspekt der Toxikologie befassen. Will man ein Lehrbuch herausgeben, das Dozenten den Studierenden empfehlen können und in dem sie vielleicht auch selbst noch Kapitel finden, die für sie von Interesse sind, weil sie auch das eigene Arbeitsfeld tangieren, so steht man vor der Herausforderung, auf der einen Seite alle Fachrichtungen der Toxikologie ansprechen, sich auf der anderen Seite aber kurz fassen zu müssen, ohne oberflächlich zu erscheinen. Ein gutes Lehrbuch sollte außerdem der Kollegin/dem Kollegen nicht nur in den ersten Berufsjahren als Nachschlagewerk dienen, sondern ihr/ihm bei speziellen Problemen auch Hilfestellungen bieten. Dabei bestand der Anspruch an das vorliegende Lehrbuch von Anfang an darin, dass diese Hilfe unabhängig vom Arbeitsumfeld, wie Universität, Behörde oder Industrie, ausgewogen sein soll. Dank der Kollegen, die dieses Konzept mit Begeisterung aufgenommen und unterstützt haben, ist dieser Anspruch in hervorragender Weise umgesetzt worden. Es mag schon sein, dass es an einigen Stellen Lücken gibt, die man hätte schließen können, oder dass tatsächlich nicht sämtliche Felder der Toxikologie abgedeckt wurden, aber um das oben angegebene Ziel zu erreichen, müssen solche Kompromisse eingegangen werden. Die einzelnen Kapitel enthalten eine Vielzahl von Hinweisen auf weiterführende Literatur, so dass genügend Informationen für vertiefende Studien zur Verfügung stehen.
Zudem wurden Arbeitsgebiete der Toxikologie aufgenommen, die üblicher Weise eher in Büchern der speziellen Toxikologie zu finden sind, wie Ökotoxikologie, Immuntoxikologie, Toxikologie der Kampfstoffe, um nur einige zu nennen. Sämtliche Kapitel in den beiden Bänden sind von erfahrenen und angesehenen Kollegen geschrieben worden, wodurch das vermittelte Wissen in jedem Teilgebiet fundiert und auf dem neuesten Stand ist. Ich kann mich an dieser Stelle nur bei allen Kollegen herzlich für die tolle Zusammenarbeit bedanken, die es ermöglicht hat, dieses attraktive Werk in einer angemessenen Bearbeitungszeit fertig zu stellen. Dabei hoffe ich, dass sie es mir nicht verübeln, dass ich manchmal etwas hartnäckig nachhaken musste, wohl wissend, dass die Beiträge für die beiden Bände ganz und gar neben der täglichen Arbeit erstellt werden mussten. Somit an dieser Stelle nochmals meinen herzlichsten Dank!
Besonders bedanken möchte ich mich auch bei dem Kollegen D. Schrenk, der nicht nur ein Kapitel in Band II übernommen hat, sondern überhaupt den Anstoß für das Werk gegeben hat. In der weiteren Entwicklung genannt sei der Wiley-VCH Verlag, der die Idee für die Bücher von Anfang an mit großem Interesse aufgenommen und verfolgt hat. Hier danke ich insbesondere Herrn Dr. Weinreich und Frau Dr. Nöthe, die mit großem Engagement das Konzept und die Aufteilung der Bände mitentwickelt, die Umsetzung begleitet und mich nach Kräften unterstützt haben. Der Dank gilt natürlich auch allen anderen helfenden und unterstützenden Händen bzw. Köpfen beim Verlag, die zum Gelingen beigetragen haben.
,Last but not least‘ danke ich meiner Frau, die manche krumme Formulierung glattgezogen hat und mir immer mit Rat und Tat zur Seite stand, wobei sie manchmal auch fast seelsorgerische Fähigkeiten entwickelt hat.
Hans-Werner Vohr
Wuppertal im Oktober 2009
Autorenverzeichnis
Maria Blettner
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Universitätsmedizin
IMBEI
55101 Mainz
Gerd Bode
Herzberger Landstraße 93
37085 Göttingen
Hermann M. Bolt
Leibniz-Institut für Arbeitsforschung
an der TU Dortmund
Ardeystraße 67
44139 Dortmund
Ellen Fritsche
Institut für umweltmedizinische
Forschung
AG Toxikologie
Auf’m Hennekamp 50
40225 Düsseldorf
RWTH Aachen
Universitätshautklinik
Pauwelsstraße 30
52074 Aachen
Klaus Golka
Leibniz-Institut für Arbeitsforschung
an der TU Dortmund
Ardeystraße 67
44139 Dortmund
Aniko Horvath
Charité Universitätsmedizin Berlin
Klinische Pharmakologie
und Toxikologie
Garystraße 5
14195 Berlin
Regine Kahl
Universität Düsseldorf
Klinikum
Institut für Toxikologie
Postfach 101007
40001 Düsseldorf
Eckhard von Keutz
Bayer HealthCare AG
PH PD P Toxicology
Aprather Weg
42096 Wuppertal
Alfonso Lampen
Bundesinstitut
für Risikobewertung (BfR)
Abteilung Lebensmittelsicherheit
Thielallee 88–92
14195 Berlin
Iris Pigeot
Universität Bremen
Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin
Linzer Str. 10
28359 Bremen
Elke Roßkamp
Querstraße 10
14163 Berlin
Gabriele Schmuck
Bayer HealthCare AG
PH PD P Toxicology
Aprather Weg
42096 Wuppertal
Richard Schmuck
Bayer CropScience AG
Alfred-Nobel-Straße 50
40789 Monheim
Ralf Stahlmann
Charité Universitätsmedizin Berlin
Klinische Pharmakologie
und Toxikologie
Garystraße 5
14195 Berlin
Helga Stopper
Universität Würzburg
Institut für Toxikologie
Versbacherstraße 9
97078 Würzburg
Hans-Werner Vohr
Bayer HealthCare AG
Immunotoxicology
Aprather Weg
42096 Wuppertal
Wim Wätjen
Universität Düsseldorf
Institut für Toxikologie
Universitätsstraße
40225 Düsseldorf
Hajo Zeeb
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Universitätsmedizin
IMBEI
55101 Mainz
1
Einführung in die Toxikologie
1.1 Historie
Sobald man jemandem erzählt, dass man Toxikologe ist bzw. in der Toxikologie arbeitet, kommt fast unvermeidlich der Hinweis auf Paracelsus (1493–1541). Paracelsus wurde als (Aureolus) Theophrastus Bombastus von Hohenheim 1493 in Egg bei Einsiedeln geboren und starb 1541 in Salzburg (siehe ). Er war Arzt („… Großen Wundartzney als von Einsiedlen, des lants ein Schweizer.“) und wurde berühmt, weil er für eine ganzheitliche Betrachtung von Krankheiten bzw. deren Ursachen eintrat. So hat er versucht, verschiedene Fächer wie Alchemie, Astrologie, Theologie und Philosophie bei seinen Heilverfahren mit einzubeziehen. Von Kollegen wurde er angefeindet für seine Einstellung „Die Wahrheit müsse nur deutsch gelehrt werden“ . Im Gegensatz zu seinen Kollegen hat er aufgrund dieser Einstellung auch zahlreiche Bücher in deutscher Sprache geschrieben, zu einer Zeit, als Latein als wissenschaftliche Sprache vorrangig herrschte. Im Zusammenhang mit der Toxikologie kennen viele natürlich seinen Ausspruch: „Alle Ding’ sind Gift und nichts ohn’ Gift; allein die Dosis macht, das ein Ding’ kein Gift ist.“
Bild von Paracelsus.
Allerdings ist die Geschichte der Toxikologie wesentlich älter. Sie ist eng verknüpft mit dem Wissen über Heilkräuter, Drogen und Antidote, wie sie bereits in den ägyptischen Hochkulturen einige Tausend Jahre vor Christi Geburt beschrieben wurden. Und oft wurde das Wissen um die Giftigkeit eines Stoffes benutzt, um freiwillig und unfreiwillig Leben zu beenden. Neben Ägypten muss man sicherlich auch China erwähnen, wo knapp 3000 Jahre vor Christus bereits Werke über medizinisch bedeutsame Pflanzen, Zubereitungen und Drogen erschienen sind. Der Bogen lässt sich dann weiterspannen über Indien und Griechenland (Hippocrates, Theophrastos) bis zum römischen Reich, in dem um die Zeitwende herum das Werk „De Medicina“ von Aurelius Cornelius Celsus auch eine Liste mit Giften und Antidoten enthielt. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass Celsus in diesen Büchern der Hygiene und den Desinfektionsmitteln viel Platz eingeräumt hat, einem Wissen, das leider in den folgenden Jahrhunderten wieder verloren gegangen ist. Erst Ende des 15. Jahrhunderts wurde das Werk von Papst Nikolaus V. „wiederentdeckt“ . Der Originaltext kann in Latein, aber auch in englischer Übersetzung im Internet nachgelesen werden [1].
So bildet dieses Werk sozusagen die Basis nicht nur für die moderne Medizin, sondern eben auch der Toxikologie. Ob das Pseudonym „Paracelsus“ darauf hindeuten sollte, dass er bei seinen Studien durch Celsus beeinflusst wurde und so den wissenschaftlichen Grundstein für die Toxikologie als selbstständige Disziplin legen konnte, ist sehr umstritten. Es könnte auch ganz einfach die Übertragung des Namens ins Griechisch-Lateinische sein (lat. para: bei; celsus: hoch), was man dann etwa mit „auf der Höhe wohnend“ übersetzen könnte.
Auf dem weiteren Weg zu dem wissenschaftlichen Aufgabenfeld der Toxikologie, wie wir sie heute als eigenständiges Fachgebiet verstehen, müssen aber auch noch Namen wie Ramazzini, Pott, Plen(c)k, Bernard und Orfilia genannt werden. So begründete Bernadino Ramazzini (1633–1714) das Fachgebiet der Arbeitsmedizin (De morbis artificum diatriba: Über die Krankheiten der Handwerker) in gezeigt, wie Joseph Jakob Plen(c)k (1739–1807) das der forensischen Toxikologie (Elementa medicinae et chirurgiae forensis: Anfangsgruende der gerichtlichen Arztneywissenschaft).
Dem Londoner Chirurg Sir Percival Pott (1713–1788) gelang zum ersten Mal der Nachweis eines beruflich bedingten Krebsleidens. Er beschrieb 1775 die auffallende Häufung von Skrotalkrebs (Hodensackkrebs) bei Schornsteinfegern und erkannte, dass diese Krankheit durch Ansammlung großer Mengen von Ruß im Scrotum verursacht wurde. Der „Umweltfaktor“ Ruß in Kombination mit mangelnder Hygiene führte zu dem gehäuften Auftreten von Tumoren an der (Hoden)haut. Durch diese Arbeiten war zum ersten Mal eine chemisch induzierte Kanzerogenese beschrieben worden.
De morbis von Ramazzini.
Das 1885 von dem französischen Physiologen Claude Bernard (1813–1878) veröffentlichte Buch zur Experimentalmedizin (Introduction à l’étude de la médicine experimentale: Einführung in das Studium der experimentellen Medizin) stellte zum ersten Mal Tierversuche als Möglichkeit vor, Zielorgane für toxische Substanzen zu ermitteln (target organ toxicity). Durch seine berühmten Untersuchungen an Fröschen konnte er die Blockade der neuro-muskulären Synapsen durch das Pfeilgift Curare nachweisen.
Mit dem Spanier Mateo-José Bonaventure Orfila (1787–1853) ist dann durch die Veröffentlichung seines Werkes Traité des poisons or Toxicologie générale (1813) der Weg der Toxikologie als eigenständige Wissenschaft endgültig geebnet worden.
1.2 Definitionen
Auch wenn sich die Toxikologie in den letzten Jahrzehnten außerordentlich gewandelt hat, stimmt die klassische Definition der Toxikologie als Lehre von den Giften und den Gegengiften unter Berücksichtigung der Dosis, d. h. der Menge eines Stoffes, die innerhalb einer bestimmten Zeit aufgenommen wird (Exposition), bis heute unverändert.
Die Bestimmung der Dosis und der exakten Exposition ist bei genauer Betrachtung nicht ganz einfach. Neben der Aufklärung des Zielorgans spielen für toxikologische Beurteilungen auch die Fachgebiete der Toxikokinetik, Toxikodynamik und des Metabolismus eine entscheidende Rolle.
Bestimmung des NOEL in der Toxikologie.
Heute untersucht die Toxikologie gesundheitsschädliche Auswirkungen von chemischen Substanzen oder Substanzgemischen auf Lebewesen, insbesondere auf den Menschen. Die Toxikologie befasst sich mit quantitativen Aussagen über Art und Ausmaß von Schadwirkungen. Dazu gehören das Wissen um die zugrunde liegenden schädlichen Wechselwirkungen zwischen den chemischen Stoffen und dem Organismus bzw. Zielorgan (Wirkmechanismen), den Expositionsweg, die Kinetik, die Expositionshöhe und -dauer sowie die Empfindlichkeit der exponierten Spezies.
Aus diesen Daten (Hazard) kann dann das Risiko (Gefährdung der Gesundheit) beim Kontakt mit einem chemischen Stoff abgeschätzt werden. Die Toxikologie geht dabei davon aus, dass es für jeden Stoff einen Grenzwert gibt, bei dem das Risiko einer Gefährdung gleich Null ist. Einzige Ausnahme dieser Annahme sind heute krebserzeugende (kanzerogene) und erbgutverändernde (mutagene) Substanzen, für die im Allgemeinen kein so genannter No-Effekt-Level (NOEL; siehe ), sondern nur ein Richt- oder Grenzwert bestimmt wird. Damit soll das Risiko auf ein gesellschaftlich akzeptiertes Maß reduziert werden.
Aus dieser Rolle heraus leistet die Toxikologie wichtige Beiträge bei der Entwicklung von Schutz- und Vorsorgemaßnahmen an Arbeitsplätzen sowie im privaten Bereich. Toxikologen beraten Ärzte bei der Erkennung und Behandlung von Vergiftungen und sie erheben Daten zur Langzeitexposition schädlicher Stoffe in der Umwelt (Epidemiologie). Die Toxikologie ist somit ein Gebiet, auf dem Wissenschaftler aus sehr unterschiedlichen Fachrichtungen, wie Biologie, Chemie, Medizin, Biochemie, Physik u. a., zusammen arbeiten. Aus dem Gesamtgebiet haben sich im Laufe der Zeit diverse Fachrichtungen herausgebildet. Die wichtigsten sind in dargestellt.
Übersicht der verschiedenen Fachdisziplinen in der Toxikologie.
1.3 Toxikologie heute
Durch spektakuläre Unfälle in der Industrie, von denen einige in der aufgeführt sind, wurde das Interesse der Bevölkerung an toxikologischen Fragen geweckt und die Menschen für schädliche Einflüsse aus der Umwelt sensibilisiert. Umwelt- und zunehmend auch der Klimaschutz rückten immer mehr in den Fokus der Gesellschaft und damit auch der Politik. Auf diese Weise kamen auch die so genannten Altstoffe, d. h. Substanzen, die nicht nach den heute üblichen Standards toxikologisch untersucht wurden, aber seit Jahrzehnten in Verkehr sind, in das Blickfeld. Diese Sensibilisierung der Bevölkerung führte zu gesetzlichen Regelungen, durch die solche Altstoffe toxikologisch neu bewertet und eventuell vorhandene Datenlücken geschlossen werden müssen. In einer ersten Runde wurden Altstoffe erfasst, die ab 1981 auf den Markt kamen (Risikobewertungen gemäß Altstoffverordnung (EWG) Nr. 793/93). Diese Verordnung wurde Ende 2006 durch eine neue Verordnung ((EG) Nr. 1907/2006) des Europäischen Parlaments und des Rates zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH) ersetzt. Diese wurde am 29. 05. 2007 in einer korrigierten Form im Amtsblatt veröffentlicht und bezieht sich jetzt auch auf Substanzen, die vor 1981 in den Verkehr gebracht wurden. Da einer umfassenden toxikologischen Untersuchung solcher Altstoffe aber der ebenfalls inzwischen in der EU gestärkte Tierschutz entgegensteht, wird intensiv an alternativen Methoden (in silico; in vitro) geforscht.
Aber auch in Deutschland gab es Ereignisse, welche die Bevölkerung für toxikologische Fragestellungen zunehmend sensibilisiert haben. Einer der größten Altlasten-Fälle war sicher der in Dortmund-Dorstfeld. Hier wurde ein Gelände einer ehemaligen Kokerei (1962 geschlossen) von der Stadt erworben und 1979 als Bauland freigegeben. 1980 werden 216 Häuser auf das Gelände gebaut, das als unbedenklich eingestuft worden war. Schon bald nach dem Bezug der Häuser klagten die Bewohner über Geruchsbelästigungen im Haus, Kopfschmerzen, Hautveränderungen, Schlafstörungen oder Konzentrationsstörungen. Das damalige medizinische Institut für Umwelthygiene in Düsseldorf (MIU) wurde mit der Begutachtung beauftragt und stellte verschiedene toxische Stoffe in relative hohen Konzentrationen fest, u. a. Benzpyren von mehr als 0,5 mg je Kilogramm Erdreich und Benzol. Der Boden im Kern- und Randbereich des Baugebiets wurde daraufhin bis in eine Tiefe von 7 Metern ausgetauscht. Viele Einwohner zogen trotzdem weg. Für Entschädigungen und Sanierungen wurden insgesamt über 100 Mio. DM ausgegeben. Als direkte Folge entstand ein Umweltamt in Dortmund und ein Altlastenkataster betroffener Städte.
Wichtige Ereignisse (Unfälle), die zu einer Sensibilisierung der Bevölkerung bezüglich toxikologischer Fragestellungen geführt haben.
Wann | Wo | Was |
10. 07. 1976 | Seveso (Italien) | Bei der Firma Industrie Chimiche Meda Società Anonima (ICMESA) kam es bei der Produktion von 2,4,5-Trichlorphenol aus 1,2,4,5-Tetrachlorphenol und Natriumhydroxid zu einer Überhitzung des Kessels, was schließlich zur Freisetzung der Reaktionsprodukte führte. Durch die relative hohen Temperaturen entstand relativ viel TCDD, was neben anderen Symptomen bei den betroffenen Menschen zu Chlorakne führte. Besonders eingeprägt haben sich aber die Bilder Hunderter verendeter Tiere auf den Weiden. |
03. 12. 1984 | Bhopal, Zentralindien | Auf dem Gelände des US-Chemiekonzerns Union Carbide Corporation (UCC) in Indien drang aus ungeklärter Ursache Wasser in einen Tank mit Methylisocyanat (MIC), das dort zur Herstellung des Pflanzenschutzmittels Sevin gelagert war. So kam es zu einer exothermen Reaktion, bei der der gesamte Tankinhalt der giftigen Reaktionsprodukte in die Atmosphäre geraten ist. Mehrere Tausend Menschen starben bzw. wurden z.T. erheblich verletzt. |
26. 04. 1986 | Tschernobyl (Ukraine; damals Sowjetunion) | Durch Planungs- und Bedienungsfehler kam es im Block IV des Kernkraftwerks von Tschernobyl zum GAU (größter anzunehmender Unfall; Kernschmelze und Explosion des Reaktors). Da das Dach des Reaktors bei der Explosion abgesprengt wurde, entzündete sich das Graphit, was dazu führte, dass große Mengen radioaktiver Materie in die Atmosphäre gelangten und mit der Luftströmung weit nach Westeuropa getragen wurden. 400000–800000 (je nach Quelle) so genannte „Liquidatoren“ erstickten das Feuer und kapselten den Reaktor mit einem „Sarkophag“ ein. Mehr als 50000 (WHO-Angaben) der Liquidatoren starben direkt an den Folgen der Strahlung. Von den Überlebenden leiden 90% noch immer unter z.T. schwersten Strahlenschäden. Wie viele Menschen weltweit insgesamt direct oder im Laufe der Zeit an den Folgen der Strahlung umgekommen sind bzw. Gesundheitsschäden davongetragen haben, ist umstritten. Schätzungen gehen aber immer in den 5-stelligen Bereich. |
01. 11. 1986 | Basel (Schweiz) | Bei den Löscharbeiten einer Lagerhalle für Pflanzenschutzmittel des Chemieunternehmens Sandoz im Schweizer Kanton Baselland liefen zusammen mit dem Löschwasser tonnenweise Chemikalien in den Rhein. Tiere und Pflanzen im Rhein starben, die Uferbepflanzung wurde großflächig vernichtet. Der rot gefärbte „Giftstrom“ floss den Rhein hinunter, tote Fische trieben bis zum Niederrhein. Die dem Rhein anliegenden Wasserwerke mussten ihre Wasserversorgung teilweise für mehrere Tage abstellen. |
Diese ganzen Entwicklungen haben auch zu neuen oder veränderten Arbeitsfeldern in der Toxikologie geführt; Immuntoxikologie, In-vitro-Modelle der Toxikologie, Altstoffbewertungen nach REACH, Endocrine Disruptor, Developmental Neuro- and Immunotoxicology, um nur einige Stichworte zu nennen, die in den einzelnen Kapiteln weiter ausgeführt sind.
Insgesamt stehen heute nicht mehr nur die Erkennung und Bestimmung toxikologischer Befunde im Vordergrund, sondern verstärkt der Aspekt der Gefahren- und Risikoabschätzung sowie die neuen Arbeitsfelder. Somit kann die Toxikologie heute auch als die Lehre über die Verhinderung gesundheitsschädlicher Wirkungen definiert werden.
Schwerpunkte toxikologischer Forschung:
Wie schon in dargestellt, steht mehr und mehr die Beurteilung von gesundheitlichen Risiken sowie die Beratung im Fokus der Arbeit eines Toxikologen. Das spiegelt sich auch in den aufgeführten Fachdisziplinen wieder, besonders natürlich bei der Umwelttoxikologie und der regulatorischen Toxikologie. Aber gerade solche beratende bzw. bewertende Tätigkeit setzt ein fundiertes Wissen toxikologischer Zusammenhänge und Vorgänge voraus. Leider führt der politische Druck manchmal auch zur Überregulation bei toxischen Substanzen, die einmal in das Bewusstsein der Bevölkerung gerückt sind/wurden. Solche Beispiele sind in diesen beiden Bänden mehrfach angesprochen und dargestellt. Es liegt in der Verantwortung eines gewissenhaften Toxikologen, mögliche gesundheitliche Gefahren nicht zu verharmlosen, aber auch nicht zu dramatisieren.
1.4 Stoffklassen
Auch, wenn die Übergänge in einigen Fällen fließend sind, kann man doch zwei Stoffklassen unterscheiden, die von toxikologischer Bedeutung sind. Da sind zum einen die natürlichen Stoffe, die man wiederum in geogene und biogene einteilen kann, sowie die künstlichen, also anthropogenen Stoffe.
Zu den geogenen Giften werden Metalle, Schwermetalle, einige Stäube, Radionukleotide und Gase gezählt. Zu den biogenen Giften gehören Substanzen, die Tieren oder Pflanzen meist einen Selektionsvorteil verschaffen, in dem sie Konkurrenten behindern oder zerstören oder Fressfeinde vergiften. Diese unterteilt man wieder in solche, die von Bakterien (Bakteriotoxine), Pilzen (Mykotoxine), Pflanzen (Phytotoxine) oder Tieren (tierische Toxine) produziert werden. Viele dieser Toxine waren Ausgangspunkt für die Entwicklung von Pharmaka oder Pflanzenschutzmitteln. Besonders bei Pharmaka ist in den letzten Jahren aber ein Trend hin zu körpereigenen Proteinen zu erkennen. So werden u. a. monoklonale Antikörper, Enzyme, Zytokine und ähnliche – meist biotechnologisch hergestellte – Proteine besonders für den humanen Pharmabereich entwickelt. Diese so genannten „biologicals“ stellen die Toxikologen heute vor ganz neue Probleme, die durch die klassische Toxikologie der kleinen Moleküle nicht mehr zu lösen sind.
Bei den Pilzen sind Schimmelpilze von besonderem Interesse für Mediziner und Toxikologen. Sie können Allergien auslösen, zu Intoxikationen und/oder zu Infektionen (Mykosen) führen.
Bekannte Mykotoxine sind Aflatoxin, Fumonisin, Ochratoxin, Penicillin und Trichothecene.
Wurden bis in das 18. bzw. 19. Jahrhundert hinein im Handwerk, in der Agrarkultur und Medizin überwiegend mehr oder weniger saubere Extrakte tierischer und pflanzlicher Herkunft (Naturstoffe) eingesetzt, so änderte sich das mit der Weiterentwicklung der Chemie als selbständiges naturwissenschaftliches Fach. Erkenntnisse von Justus von Liebig begründeten den Aufbau der Agrarchemie und der organischen Chemie, somit auch der Pharmazie. Sein Wirken förderte außerdem die Kenntnisse in der anorganischen Chemie. Die erste Synthese eines natürlichen Farbstoffs, des Indigos, markierte 1878 den Beginn der industriellen Nutzung der Chemie während der aufblühenden Industrialisierung in Deutschland. Durch die weitere Entwicklung kam der Mensch mit einer ständig steigenden, heute praktisch unüberschaubaren Menge an synthetischen Produkten in Kontakt. Das reicht von den Lifestyle-Noxen (Drogen, Ernährung) über Industriechemikalien, Agrarchemikalien (Pestizide, Düngemittel), Baustoffe und Bauhilfsstoffe (besonders auch durch den Do-it-yourself-Bereich), Reinigungs- und Desinfektionsmittel bis hin zu den Pharmazeutika und Kosmetika. Die fortschreitende Entwicklung führt zu immer komplexeren Produkten, wie z. B. hochspezifischen Kunststoffen, der Nanotechnologie oder zu rekombinanten Arzneimitteln (biologicals). Dies ist eine Entwicklung, der sich auch die Toxikologie ständig anpassen muss.
So müssen einerseits die verschiedenen Produkte für die unterschiedlichsten Anwendungen untersucht und beurteilt, andererseits aber auch die diversen Effekte auf den Organismus bestimmt werden. Dazu gehören akute, subchronische, chronische Toxizität, Teratogenität, Embryotoxizität, Immuntoxizität, Allergenität, Pseudoallergenität, Reproduktionstoxizität, Mutagenität, Gentoxizität, Kanzerogenität, Neurotoxizität (inkl. Verhaltensänderungen), Reizwirkung (Haut, Auge, Schleimhaut) sowie spezifische Organtoxizität (z. B. Niere, Leber, Herz, Lunge).
Dieser enormen Vielfalt der klassischen und modernen Toxikologie wurde in den beiden vorliegenden Bänden Rechnung getragen. Während der erste Band die Grundlagen der Toxikologie aus heutiger Sicht darstellt, befasst sich der zweite Band mit den speziellen Substanzklassen. Dabei wurde insbesondere Wert darauf gelegt, dem Leser die verschiedenen Fachgebiete in der Toxikologie auch speziell im Zusammenhang mit gesetzlichen Vorgaben sowie kritischen Beurteilungen von Befunden näher zu bringen, ihm somit also nicht nur eine theoretische Betrachtungsweise, sondern eben eine angewandte Toxikologie zu bieten.
1.5 Entwicklung der molekularen Toxikologie
In den letzten Jahren hat sich besonders ein Begriff in der Naturwissenschaft eingebürgert, und zwar der Begriff in silico. Prinzipiell werden darunter alle computergestützten Modelle von Vorhersagen biologischer Reaktionen verstanden und zwar unabhängig davon, ob sie nun rein auf bekannte Daten zurückgreifen, um daraus Modelle zu entwickeln, oder ob sie auf Gewebeproben behandelter Tiere beruhen, die dann mit molekulartoxikologischen Methoden aufgearbeitet und analysiert werden. Zu den letzteren gehören besonders Proteinoder RNA/DNA-Chip-Analysen, also Proteomics und Toxikogenomics.
Bei diesen Techniken werden entweder die Protein- oder die RNA/DNA-Muster behandelter Zellen bzw. Gewebe (in vitro oder ex vivo) mit den entsprechenden Kontrollen verglichen. Die Induktion oder Repression bestimmter Gene durch eine Substanzexposition soll dann Vorhersagen toxikologischer Eigenschaften ermöglichen. Mehrere Hundert (Proteine) bis etliche Tausend (RNA/DNA)-Genexpressionen können heute mit diesen Methoden in einem Ansatz analysiert werden. Entsprechend aufwendig und komplex ist aber auch die Auswertung und Interpretation auf diese Weise gewonnener Daten. Die anfäng-lichen Hoffnungen, hier ein einfaches Werkzeug zur Verfügung zu haben, mit dem einmal langwierige und teure toxikologische Untersuchungen ersetzt warden könnten, haben sich bislang nicht erfüllt. Hierzu müssen zukünftig noch weit mehr Ringstudien und Validierungen auf den verschiedenen Arbeitsfeldern der Toxikologie durchgeführt werden, was aber nicht heißen soll, dass nicht auch heute schon Proteomics- und Toxicogenomics-Analysen als Labormethoden für mechanistische Fragestellungen oder zur Bestätigung von Befunden herangezogen werden.
1.6 In-vitro-Toxikologie
Wie vorher schon beschrieben, hat sich die Europäische Gemeinschaft in den letzten Jahren in ein Dilemma manövriert. Einerseits müssen nach der REACH-Verordnung alle Altstoffe, die auf dem Markt sind, in den nächsten Jahren nach heutigen Richtlinien neu bewertet werden, andererseits soll zunehmend auf Tierversuche verzichtet werden (u. a. Tierversuchsverbot für Bestandteile von Kosmetika). Datenlücken, die sich bei der Bewertung von Chemikalien nach REACH ergeben, müssen durch toxikologische Untersuchungen entsprechend aktuellen Richtlinien geschlossen werden. Dieses würde eine Vielzahl von Tierversuchen nach sich ziehen. Bei ca. 30 000 zu bewertenden Chemikalien wäre der Einsatz von Versuchstieren auch bei vorsichtigen Schätzungen enorm hoch. Die von der EU geforderte und z.T. schon beschlossene (Kosmetikverordnung) Vermeidung bzw. Verringerung von Tierversuchen steht dem allerdings zu 100% diametral entgegen. Aus diesem Dilemma kann man nur durch Entwicklung und Anerkennung von Alternativmethoden, insbesondere In-vitro-Methoden herauskommen. Die Entwicklung bzw. Anerkennung solcher Methoden für die Europäische Gemeinschaft hat das European Centre for the Validation of Alternative Methods (ECVAM) in Ispra, Italien, übernommen.
Obwohl verschiedene In-vitro-Methoden bei toxikologischen Untersuchungen heute schon routinemäßig, insbesondere für mechanistische Fragestellungen, bei vergleichenden Screenings und in der Forschung eingesetzt werden, haben sie es in die regulatorische Welt, d. h. als von Behörden voll akzeptierte Ersatzmethoden, bisher nur sehr begrenzt geschafft. Diese Methoden werden in den einzelnen Kapiteln ebenfalls kurz vorgestellt.
Insgesamt muss man zum jetzigen Zeitpunkt konstatieren, dass einfache, robuste und zuverlässige In-vitro-Methoden, die komplexere Endpunkte als Zelltod bestimmen, für den regulatorischen Einsatz kaum zur Verfügung stehen. Metabolismus, Verteilung in den Organen, Proteinbindungen, Interaktionen mit Rezeptoren, Enzymen, Hormonen, Blutfaktoren usw. sind in vitro nur schwierig und mit großem Aufwand, dann auch meist nur ansatzweise, nachzustellen. Insofern ist momentan nicht klar, wie die EU aus dem oben genannten Dilemma in nächster Zeit herauskommen wird, zumal in der EU anerkannte Alternativmethoden auch noch vom Rest der Welt akzeptiert werden müssen. Ein Bei-spiel für solche Schwierigkeiten ist der jüngste Streit zwischen EU und Amerika um Anerkennung der In-vitro-Bestimmung von hautreizenden Eigenschaften mittels künstlicher humaner 3D-Haut. Der in Europa validierte und anerkannte Test wird von Amerika wegen unzureichender Datenlage momentan noch abgelehnt.
1.7 Literatur
Keywords: Toxikologie, Historie, Paracelsus, Kanzerogenese, Grenzwert, Umwelt, gesundheitsschädliche Wirkung