Roman
Ins Deutsche übertragen
von Michaela Link
Titel
Widmung
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Danksagung
Impressum
Roman
Ins Deutsche übertragen
von Michaela Link
Für meinen Agenten: Jim McCarthy.
Danke, dass Sie sich all den Schwierigkeiten gewidmet haben.
Ohne Sie wäre dieses Buch nicht möglich gewesen!
1
Eine Morddrohung ist kein Liebesbrief – selbst wenn die Person, die sie verfasst, immer noch behauptet, den Adressaten zu lieben. Allerdings hatte ich, die selbst einmal versucht hatte, jemanden zu töten, den ich liebte, vielleicht kein Recht, darüber zu urteilen.
Der heutige Brief kam genau zur richtigen Zeit – nichts anderes hätte ich erwarten sollen. Ich hatte ihn bisher vier Mal gelesen, und obwohl die Zeit knapp war, konnte ich nicht anders: Ich las ihn noch ein fünftes Mal.
Meine liebste Rose,
einer der wenigen Nachteile des Erwecktseins besteht darin, dass wir keinen Schlaf mehr benötigen; daher träumen wir auch nicht mehr. Es ist eine Schande, denn wenn ich träumen könnte, würde ich gewiss von dir träumen. Ich würde davon träumen, wie du riechst und wie sich dein dunkles Haar zwischen meinen Fingern anfühlt: wie Seide. Ich würde von der Glattheit deiner Haut träumen … und von der Wildheit deiner Lippen, wenn wir uns küssen.
Ohne Träume muss ich mich mit meiner eigenen Fantasie begnügen – was beinahe genauso gut ist. Ich kann mir all diese Dinge sehr präzise vorstellen, ebenso wie ich mir ausmalen kann, wie es sein wird, wenn ich dein Leben von dieser Welt nehme. Es ist etwas, das tun zu müssen ich zwar bedaure, aber du hast meine Entscheidung unausweichlich gemacht. Deine Weigerung, dich mir in ewigem Leben und ewiger Liebe anzuschließen, lässt mir keine andere Wahl. Ich kann doch nicht zulassen, dass jemand, der so gefährlich ist wie du, einfach weiterlebt. Und selbst wenn ich deine Erweckung erzwingen würde – du hast dir unter den Strigoi so viele Feinde gemacht, dass dich einer von ihnen gewiss töten würde. Wenn du aber ohnehin sterben musst, dann soll es durch meine Hand geschehen. Durch die Hand keines anderen.
Nichtsdestoweniger wünsche ich dir heute alles Gute für deine Prüfungen – nicht dass du Glück bräuchtest. Wenn sie dich tatsächlich dazu zwingen, sie abzulegen, verschwenden alle nur ihre Zeit. Du bist die Beste in dieser Gruppe, und von heute Abend an wirst du die Markierung deines Versprechens tragen. Das bedeutet natürlich, dass du eine umso größere Herausforderung darstellen wirst, wenn wir uns wiedersehen – was ich ohne jeden Zweifel genießen werde.
Wir werden uns wiedersehen. Wenn du deinen Abschluss hast, wird man dich aus der Akademie fortschicken, und sobald du dich außerhalb der Schutzzauber aufhältst, werde ich dich finden. Es gibt keinen Ort auf dieser Welt, an dem du dich vor mir verstecken kannst. Ich beobachte dich.
In Liebe,
Dimitri
Trotz seiner guten Wünsche fand ich den Brief alles andere als inspirierend. Ich warf ihn aufs Bett, machte mich auf den Weg und versuchte, seine Worte nicht zu sehr an mich herankommen zu lassen, obwohl es ziemlich unmöglich war, sich von etwas Derartigem nicht in Angst versetzen zu lassen. Es gibt keinen Ort auf dieser Welt, an dem du dich vor mir verstecken kannst.
Daran hatte ich keinerlei Zweifel. Ich wusste ja, dass Dimitri Spione hatte. Seit sich mein ehemaliger Lehrer und späterer Geliebter in einen bösen, untoten Vampir verwandelt hatte, war er auch zu einer Art Anführer unter ihnen geworden – das hatte ich sogar noch beschleunigt, als ich seine ehemalige Chefin tötete. Ich vermutete, eine Menge seiner Spione waren Menschen, die nur darauf warteten, dass ich den Schutz meiner Schule verließ. Kein Strigoi konnte vierundzwanzig Stunden am Tag Wache halten. Menschen konnten es jedoch, und erst vor kurzem hatte ich erfahren, dass jede Menge Menschen bereit waren, den Strigoi zu dienen: als Gegenleistung für das Versprechen, eines Tages verwandelt zu werden. Diese Menschen waren der Meinung, das ewige Leben sei es wert, ihre Seelen zu korrumpieren und andere zu töten, um selbst zu überleben. Diese Menschen machten mich ganz krank.
Aber die Menschen waren nicht der Grund, warum meine Schritte ins Stocken gerieten, während ich durch das Gras ging, das unter dem Einfluss des Sommers hellgrün geworden war. Es war Dimitri. Immer Dimitri. Dimitri, der Mann, den ich liebte. Dimitri, der Strigoi, den ich retten wollte. Dimitri, das Ungeheuer, das ich höchstwahrscheinlich würde töten müssen. Die Liebe, die wir miteinander geteilt hatten, brannte immerzu in mir, ganz gleich, wie oft ich mich antrieb weiterzuziehen, ganz gleich, wie fest die Welt davon überzeugt schien, dass ich tatsächlich bereits weitergezogen war. Er war immer bei mir, immer in meinen Gedanken, und immer zwang er mich, mich selbst zu befragen.
„Du siehst aus, als wärest du bereit, es mit einer ganzen Armee aufzunehmen.“
Ich tauchte aus meinen dunklen Gedanken auf. So fixiert war ich auf Dimitri und seinen Brief gewesen, dass ich auf dem Weg quer über den Campus nichts von der Welt wahrgenommen hatte, nicht einmal Lissa, meine beste Freundin, die sich mir gerade mit einem mild spöttischen Lächeln auf dem Gesicht anschloss. Es kam nur selten vor, dass sie mich irgendwie überraschte, denn wir teilten ein psychisches Band, das dafür sorgte, dass ich ihre Gegenwart und ihre Gefühle stets wahrnehmen konnte. Ich musste also ziemlich abgelenkt sein, um sie nicht zu bemerken, und wenn mich jemals etwas abgelenkt hatte, dann war es diese Morddrohung.
Ich schenkte Lissa ein Lächeln, von dem ich hoffte, dass es überzeugend wirkte. Sie wusste, was mit Dimitri geschehen war und dass er nur darauf wartete, mich zu töten, nachdem ich – erfolglos – versucht hatte, ihn zu töten. Nichtsdestoweniger machten ihr die Briefe, die ich jede Woche von ihm bekam, Sorgen. Und sie hatte schon genug Probleme mit ihrem eigenen Leben, ohne dass mein untoter Stalker auch noch auf die Liste kam.
„Irgendwie nehme ich es wirklich mit einer ganzen Armee auf“, stellte ich fest. Es war früh am Abend, aber im Spätsommer stand die Sonne zu dieser Zeit noch immer am Himmel von Montana und tauchte uns in ein goldenes Licht. Ich fand es zwar herrlich, aber als Moroi – ein friedfertiger, lebendiger Vampir – würde Lissa irgendwann durch das Licht geschwächt werden und sich unbehaglich fühlen.
Lachend warf sie sich das platinblonde Haar über die Schulter. Die Sonne ließ die helle Farbe in einem engelsgleichen Leuchten erscheinen. „Ja, wahrscheinlich. Ich dachte gar nicht, dass du dir solche Sorgen machen würdest.“
Ich konnte ihren Gedankengang verstehen. Selbst Dimitri hatte gesagt, dies wäre doch nur Zeitverschwendung für mich. Schließlich war ich nach Russland gegangen, um nach ihm zu suchen, hatte realen Strigoi gegenübergestanden – und eine ganze Anzahl von ihnen sogar eigenhändig getötet. Vielleicht hätte ich vor den bevorstehenden Prüfungen keine Angst haben sollen, aber all das Trara und die Erwartung der anderen lasteten plötzlich schwer auf mir. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Was, wenn ich es nicht konnte? Was, wenn ich nicht so gut war, wie ich dachte? Die Wächter, die mich hier herausforderten, mochten vielleicht keine echten Strigoi sein, aber sie waren immerhin geübt und hatten schon erheblich länger gekämpft als ich. Arroganz konnte mir eine Menge Scherereien eintragen, und wenn ich scheiterte, würde ich es vor all den Leuten tun, denen doch an mir lag. Vor all diesen Leuten, die solches Vertrauen in mich hatten.
Aber noch etwas bereitete mir Kopfzerbrechen.
„Ich mache mir Sorgen: wegen des Einflusses, den diese Zensuren auf meine Zukunft haben“, sagte ich. Das war die Wahrheit. Die Prüfungen waren für eine Wächternovizin wie mich das Abschlussexamen an der St. Vladimir’s Academy. Wie ich sie bestand, gab den Ausschlag dafür, welchem Moroi ich als Wächter zugeteilt werden würde.
Durch unser Band spürte ich Lissas Mitgefühl – und auch ihre Sorge. „Alberta denkt, es bestünde eine gute Chance, dass wir zusammenbleiben können – und dass du nach wie vor meine Wächterin sein wirst.“
Ich verzog das Gesicht. „Ich vermute, Alberta hat das nur gesagt, um zu verhindern, dass ich die Schule verlasse.“ Ich war vor einigen Monaten von der Akademie abgegangen, um nach Dimitri zu suchen, und dann nach dem Teilerfolg meiner Mission an die Schule zurückgekehrt – etwas, das in meiner akademischen Akte allerdings nicht gut aussah. Außerdem war da noch die winzige Tatsache, dass mich die Königin der Moroi, Tatiana, hasste und wahrscheinlich alle Hebel in Bewegung setzen würde, um Einfluss auf meine Zuteilung zu nehmen. Aber das war eine andere Geschichte. „Ich vermute, Alberta weiß, dass sie mir nur unter einer einzigen Bedingung erlauben würden, dich zu beschützen: Ich müsste die letzte Wächterin auf Erden sein. Und selbst dann wären meine Chancen immer noch ziemlich gering.“
Vor uns wurde das Brüllen einer großen Menge laut. Einer der vielen Sportplätze der Schule war in eine Arena verwandelt worden, die es wahrscheinlich mit einer Einrichtung aus den römischen Gladiatorentagen aufnehmen konnte. Die Tribünen waren ausgebaut worden, und statt schlichter Holzsitze standen jetzt luxuriös gepolsterte Bänke dort, mit Markisen überdacht, die die Moroi vor der Sonne schützen sollten. Rings um den Platz flatterten Banner in bunten Farben im Wind. Ich konnte sie zwar noch nicht sehen, aber ich wusste, dass in der Nähe des Stadioneingangs irgendeine Art von Baracke erbaut worden war; mit flatternden Nerven warteten dort die Novizen. Der Sportplatz selbst war gewiss in einen Hinderniskurs für gefährliche Tests umgewandelt worden. Und nach dem ohrenbetäubenden Jubel zu schließen hatten sich bereits viele Zuschauer eingefunden, um diesem Ereignis beizuwohnen.
„Ich gebe die Hoffnung nicht auf“, sagte Lissa. Durch das Band spürte ich, dass sie es ernst meinte. Ihr unerschütterlicher Glaube und ihre Zuversicht, die selbst den schrecklichsten Martyrien standhielt, hatte sie schon immer ausgezeichnet. So stand sie in einem scharfen Gegensatz zu meinem gerade erst erworbenen Zynismus. „Und ich habe etwas, das dir heute vielleicht helfen wird.“
Sie blieb stehen, griff in die Tasche ihrer Jeans und förderte einen kleinen, silbernen Ring zutage, der mit winzigen Steinen bedeckt war, die wie Peridot aussahen.
Ich brauchte kein Band, um zu verstehen, was sie mir da anbot.
„Oh, Liss … Ich weiß nicht. Ich will keinen, ähm, unfairen Vorteil.“
Lissa verdrehte die Augen. „Das ist doch nicht das Problem, und du weißt das auch. Dieser Ring ist ganz okay, ich schwöre es.“
Der Ring, den sie mir anbot, war ein Amulett, getränkt in jene seltene Art von Magie, über die sie gebot. Alle Moroi besaßen die Kontrolle über eins der fünf Elemente. Erde, Luft, Wasser, Feuer oder Geist. Geist war das seltenste – so selten, dass seine Kontrolle im Lauf der Jahrhunderte in Vergessenheit geraten war. Dann waren Lissa und einige andere in letzter Zeit als Benutzer von Geist hervorgetreten. Im Gegensatz zu anderen Elementen, die ihrem Wesen nach körperlicherer Natur waren, knüpfte sich Geist an den Verstand und an alle möglichen psychischen Phänomene. Niemand verstand dieses Element zur Gänze.
Die Fertigung von Zaubern mit Geist war etwas, womit Lissa erst kürzlich zu experimentieren begonnen hatte – und sie war nicht sehr geschickt darin. Ihre größte Geistfähigkeit war das Heilen, daher versuchte sie immer wieder, heilende Zauber zu fertigen. Der letzte war ein Armband gewesen, das meinen Arm allerdings versengt hatte.
„Dieser Ring funktioniert. Nur ein wenig, aber er wird helfen, während der Prüfung die Dunkelheit fernzuhalten.“
Ihr Tonfall klang unbekümmert, aber wir wussten beide um den Ernst ihrer Worte. All die Gaben des Geistes hatten diesen Preis: eine Dunkelheit, die sich in Form von Wut und Verwirrung zeigte und die zu guter Letzt zu Wahnsinn führte. Eine Dunkelheit, die durch unser Band auch manchmal in mich einsickerte. Man hatte Lissa und mir erklärt, dass wir sie mit Zaubern und ihrer Heilkunst abwehren könnten. Auch das war etwas, das wir noch nicht gemeistert hatten.
Gerührt von ihrer Anteilnahme schenkte ich ihr ein schwaches Lächeln – und nahm den Ring an. Er verbrühte mir nicht die Hand, was ich als ein vielversprechendes Zeichen wertete. Der Ring war winzig und passte nur an meinen kleinen Finger. Als ich ihn überstreifte, spürte ich nicht das Geringste. Manchmal war das bei heilenden Zaubern so. Oder es konnte auch bedeuten, dass der Ring vollkommen unwirksam war. Wie auch immer, er hatte zumindest keinen Schaden angerichtet.
„Danke“, sagte ich. Ich spürte die Freude, die in ihr aufstieg, dann setzten wir unseren Weg fort.
Ich streckte die Hand aus und bewunderte das Glitzern der grünen Steine. Schmuck war keine besonders gute Idee, wenn es um die Art von körperlichen Prüfungen ging, die mir bevorstanden. Aber ich würde Handschuhe tragen, um ihn zu verdecken.
„Schwer zu glauben, dass wir nach diesen Prüfungen hier fertig und draußen in der realen Welt sein werden“, überlegte ich zwar laut, dachte über meine Worte aber nicht richtig nach.
Lissa versteifte sich, und ich bedauerte sofort, dies gesagt zu haben. Draußen in der realen Welt zu sein bedeutete, dass Lissa und ich eine Aufgabe in Angriff nehmen würden, bei der zu helfen sie mir vor einigen Monaten – unglücklich – versprochen hatte.
In Sibirien hatte ich erfahren, dass es möglicherweise einen Weg gab, um Dimitri wieder in einen Dhampir, wie ich einer war, zurückzuverwandeln. Es war eine wüste Theorie – wahrscheinlich eine Lüge –, und wenn man bedachte, wie sehr er darauf fixiert war, mich zu töten, gab ich mich keinen Illusionen hin. Mir bliebe gewiss nichts anderes übrig, als ihn zu töten, wenn es auf die Frage Er oder ich hinauslief. Aber wenn es eine Möglichkeit gab, ihn retten zu können, bevor das geschah, musste ich mehr darüber in Erfahrung bringen.
Bedauerlicherweise hatten wir bisher nur eine einzige Spur, wie wir dieses Wunder wahr machen konnten, und das war ein Verbrecher. Und nicht irgendein Verbrecher, sondern ausgerechnet Victor Dashkov, ein königlicher Moroi, der Lissa gefoltert und uns mit allen möglichen Gräueltaten das Leben zur Hölle gemacht hatte. Der Gerechtigkeit war Genüge getan worden: Man hatte Victor ins Gefängnis gesperrt – was die Dinge nur noch komplizierter machte. Wir hatten herausgefunden, dass er, solange ihm ein Leben hinter Gittern bestimmt war, keinen Grund sah, sein Wissen über seinen Halbbruder mit anderen zu teilen – und dieser Halbbruder war die einzige Person, die angeblich schon einmal einen Strigoi gerettet hatte. Ich war – wahrscheinlich unbegründet – zu dem Schluss gekommen, dass Victor uns die Information geben würde, wenn wir ihm das anboten, was ihm sonst niemand anbieten konnte: die Freiheit.
Die Idee war aus einer ganzen Anzahl von Gründen keineswegs narrensicher. Erstens wusste ich nicht, ob es überhaupt funktionieren würde. Das war doch eine ziemlich große Sache. Zweitens hatte ich keine Ahnung, wie man einen Gefängnisausbruch inszenierte, geschweige denn, dass ich wusste, wo sich sein Gefängnis überhaupt befand. Und zu guter Letzt gab es da noch die Tatsache, dass wir unseren Todfeind freilassen würden. Das war schon für mich niederschmetternd, aber für Lissa bedeutete es eine Katastrophe. Doch so sehr die Idee sie auch beunruhigte – und das tat sie –, sie hatte doch entschlossen geschworen, mir zu helfen. Ich hatte ihr während der letzten Monate Dutzende von Malen angeboten, sie ihres Versprechens zu entbinden, aber sie ließ sich gar nicht davon abbringen. Natürlich würde ihr Versprechen am Ende vielleicht keine Rolle spielen, wenn man bedachte, dass wir keine Möglichkeit hatten, das Gefängnis auch nur zu finden.
Ich versuchte, das verlegene Schweigen zwischen uns zu füllen, indem ich stattdessen erklärte, in Wirklichkeit davon gesprochen zu haben, dass wir ihren Geburtstag in der nächsten Woche stilgerecht würden feiern können. Meine Versuche wurden durch Stan unterbrochen, einen meiner langjährigen Lehrer. „Hathaway!“, blaffte er, während er sich uns vom Sportplatz aus näherte. „Nett von Ihnen, dass Sie sich uns anschließen. Kommen Sie jetzt mal auf der Stelle her!“
Alle Gedanken an Victor verschwanden aus Lissas Kopf. Sie umarmte mich schnell. „Viel Glück“, flüsterte sie. „Nicht dass du es brauchst.“
Stans Miene sagte mir, dass diese Zehnsekundenverabschiedung zehn Sekunden zu lange gedauert hatte. Ich schenkte Lissa ein dankbares Grinsen, dann machte sie sich auf den Weg, um unsere Freunde auf den Tribünen zu suchen, während ich hinter Stan hereilte.
„Sie haben Glück, dass Sie nicht zu den Ersten gehören“, knurrte er. „Die Leute haben sogar Wetten darauf abgeschlossen, ob Sie überhaupt auftauchen würden oder nicht.“
„Wirklich?“, fragte ich wohlgelaunt. „Welche Quoten wurden denn geboten? Denn ich könnte meine Meinung ja immer noch ändern und selbst eine Wette abgeben. Mir so ein kleines Taschengeld dazuverdienen.“
Mit zusammengekniffenen Augen warf er mir einen warnenden Blick zu, der keiner Worte bedurfte, während wir in den Wartebereich traten, der an das Sportfeld angrenzte und den Tribünen gegenüber lag. Es hatte mich in den vergangenen Jahren immer erstaunt, wie viel Arbeit in diese Prüfungen investiert wurde, und jetzt, da ich das Ganze aus der Nähe sah, war ich nicht weniger beeindruckt als früher. Die Baracke, in der die Novizen warteten, war aus Holz gebaut, komplett mit Dach. Das Gebäude sah aus, als sei es schon seit einer Ewigkeit Teil des Stadions gewesen. Es war in bemerkenswerter Geschwindigkeit errichtet worden und würde nach Ende der Prüfungen genauso schnell wieder abgebaut werden. Durch eine Tür, durch die drei Personen gleichzeitig gepasst hätten, konnte man einen Teil des Feldes sehen, wo eine meiner Klassenkameradinnen ängstlich darauf wartete, aufgerufen zu werden. Alle möglichen Hindernisse waren dort aufgestellt worden: Herausforderungen, um Balance und Koordination zu testen, während man gleichzeitig kämpfen und den erwachsenen Wächtern ausweichen musste, die hinter Gegenständen und Ecken lauern mochten. An einem Ende des Feldes waren Holzwände aufgestellt worden, die ein dunkles, verwirrendes Labyrinth schufen. Über anderen Bereichen hingen Netze und wacklige Podeste, geschaffen, um zu prüfen, wie gut wir unter schwierigen Bedingungen kämpfen konnten.
Einige der anderen Novizen drängten sich in der Tür zusammen und hofften, sich einen Vorteil verschaffen zu können, indem sie die Prüflinge vor ihnen beobachteten. Ich tat das nicht. Ich wollte blind hinausgehen, damit zufrieden, es mit allem aufzunehmen, was sie mir in den Weg warfen. Wenn ich jetzt den Parcours studierte, würde ich nur zu viel nachdenken und in Panik geraten. Was ich brauchte, war Gelassenheit.
Also lehnte ich mich an eine der Barackenwände und beobachtete die Leute um mich herum. Offenbar war ich tatsächlich die Letzte, die aufgetaucht war, und ich fragte mich, ob einige Leute wirklich Geld verloren hatten: bei Wetten auf mich. Tuschelnd standen einige meiner Klassenkameraden in Gruppen zusammen. Andere machten Dehn- und Aufwärmübungen. Wieder andere standen bei Lehrern, die ihre Mentoren gewesen waren. Diese Lehrer redeten eindringlich auf ihre Schüler ein und gaben ihnen noch in der letzten Minute Ratschläge. Ich hörte immer wieder Worte wie Konzentrieren Sie sich und Ganz ruhig.
Beim Anblick der Lehrer krampfte sich mir das Herz zusammen. Noch vor nicht allzu langer Zeit hatte ich mir diesen Tag ganz anders ausgemalt. Ich hatte mir vorgestellt, dass Dimitri und ich beieinanderstehen würden; er hätte mir gesagt, dass ich dies ernst nehmen solle und nicht die Gelassenheit verlieren dürfe, wenn ich draußen auf dem Feld war. Alberta hatte seit meiner Rückkehr aus Russland eine Menge Zeit als meine Mentorin geopfert, aber als Hauptmann war sie jetzt selbst draußen auf dem Feld und mit allen möglichen Dingen beschäftigt. Sie hatte keine Zeit, hier hereinzukommen und mir die Hand zu halten. Freunde von mir, die mir vielleicht hätten Trost bieten können – Eddie, Meredith und andere –, waren mit ihren eigenen Ängsten beschäftigt. Ich war also allein.
Ohne sie oder Dimitri – oder, nun ja, ohne überhaupt irgendjemanden – durchströmte mich ein überraschendes, schmerzhaftes Gefühl der Einsamkeit. Dies war nicht richtig so. Ich hätte nicht allein sein dürfen. Dimitri hätte hier bei mir sein sollen. So hätte es sich abspielen müssen. Ich schloss die Augen und gestattete mir, so zu tun, als sei er wirklich hier, nur wenige Zentimeter entfernt, während wir miteinander sprachen.
„Keine Sorge, Genosse. Ich schaffe das mit verbundenen Augen. Zur Hölle, vielleicht werde ich es sogar so machen. Hast du irgendetwas, das ich benutzen kann? Wenn du nett zu mir bist, erlaube ich dir sogar, mir die Augenbinde selbst anzulegen.“ Da diese Fantasie aber stattgefunden hätte, nachdem wir miteinander geschlafen hatten, bestand eine starke Wahrscheinlichkeit, dass er mir später geholfen hätte, diese Augenbinde abzulegen – neben anderen Dingen.
Ich konnte das entnervte Kopfschütteln, das mir das eingetragen hätte, sehr genau vor mir sehen. „Rose, ich schwöre, manchmal fühlt es sich so an, als sei jeder Tag mit dir meine eigene persönliche Prüfung.“
Aber ich wusste, er hätte trotzdem gelacht, und der Blick des Stolzes und der Ermutigung, den er mir geschenkt hätte, bevor ich aufs Feld ging, wäre alles gewesen, was ich gebraucht hätte, um die Tests zu überstehen …
„Meditierst du?“
Ich öffnete die Augen, erstaunt über die Stimme. „Mom? Was machst du denn hier?“
Meine Mutter, Janine Hathaway, stand vor mir. Sie war einige Zentimeter kleiner als ich, hatte aber genug Power, um es mit jemandem aufzunehmen, der doppelt so groß war wie ich. Der gefährliche Ausdruck auf ihrem gebräunten Gesicht forderte jeden heraus, es mit ihr aufzunehmen. Sie schenkte mir ein schiefes Lächeln und stemmte eine Hand in die Hüfte.
„Hast du wirklich gedacht, ich würde nicht kommen, um dich zu beobachten?“
„Keine Ahnung“, gab ich zu und hatte irgendwie ein schlechtes Gewissen, weil ich an ihr gezweifelt hatte. Sie und ich, wir hatten im Laufe der Jahre nicht viel Kontakt zueinander gehabt, und erst durch die jüngsten Ereignisse – von denen die meisten schlecht gewesen waren – hatten wir allmählich begonnen, wieder eine Verbindung herzustellen. Die meiste Zeit wusste ich immer noch nicht, wie ich zu ihr stehen sollte. Ich schwankte zwischen der Sehnsucht eines kleinen Mädchens nach seiner abwesenden Mutter und dem Groll eines Teenagers, der von der Mutter verlassen worden war. Außerdem war ich mir nicht ganz sicher, ob ich ihr verziehen hatte, dass sie mich bei einem Schaukampf versehentlich geboxt hatte. „Ich hab angenommen, du hättest, du weißt schon, Wichtigeres zu tun.“
„Auf keinen Fall hätte ich dies hier versäumen können.“ Mit dem Kopf deutete sie auf die Tribünen, und ihre kastanienbraunen Locken umspielten ihr Gesicht. „Das Gleiche gilt übrigens für deinen Vater.“
„Was?“
Ich eilte zur Tür und spähte hinaus. Der Ausblick auf die Tribünen war nicht gerade fantastisch, dank all der Hindernisse auf dem Platz. Aber er war doch gut genug. Und da saß er: Abe Masur. Er war mit seinem schwarzen Bart und Schnurrbart und dem smaragdgrünen Schal, den er verknotet über seinem Smokinghemd trug, leicht zu entdecken. Ich konnte sogar gerade noch das Glitzern seines goldenen Ohrrings ausmachen. Er musste in dieser Hitze schier schmelzen, aber ich vermutete, dass mehr dazu nötig war als nur ein wenig Schweiß, damit er seinen protzigen Modestil aufgab.
Wenn die Beziehung zu meiner Mutter schon flüchtig war, so war die Beziehung zu meinem Vater praktisch nicht existent. Ich hatte ihn im Mai erst kennengelernt, und selbst da hatte ich lediglich nach meiner Rückkehr herausgefunden, dass ich seine Tochter war. Alle Dhampire hatten ein Elternteil, das ein Moroi war, und in meinem Fall traf dies auf meinen Vater zu. Ich war mir immer noch nicht sicher, wie ich ihn eigentlich fand. Sein Hintergrund blieb größtenteils ein Rätsel, aber es gab jede Menge Gerüchte, nach denen er mit illegalen Geschäften zu tun hatte. Außerdem benahmen sich die Leute so, als hielte sie die Angst vor gebrochenen Kniescheiben davon ab, ihm auch nur ansatzweise in die Quere zu kommen, und obwohl ich nur wenige Anzeichen dafür gesehen hatte, überraschte es mich doch nicht besonders. In Russland nannte man ihn Zmey: die Schlange.
Während ich ihn erstaunt anstarrte, kam meine Mom herbeigeschlendert. „Er wird glücklich sein, dass du es rechtzeitig geschafft hast“, bemerkte sie. „Er hat eine große Wette laufen, ob du wohl auftauchen würdest oder nicht. Er hat sein Geld auf dich gesetzt, falls du dich dann besser fühlst.“
Ich stöhnte. „Natürlich. Natürlich ist er der Buchmacher. Ich hätte es schon wissen müssen, als …“ Mir klappte der Unterkiefer herunter. „Redet er mit Adrian?“
Jepp. Neben Abe saß Adrian Ivashkov – mehr oder weniger mein Freund. Adrian war ein königlicher Moroi – und ein weiterer Benutzer von Geist – so wie Lissa. Er war verrückt nach mir (und oft einfach nur verrückt), seit wir uns das erste Mal begegnet waren, aber ich hatte immer nur Augen für Dimitri gehabt. Nach dem Fehlschlag in Russland war ich zurückgekehrt und hatte Adrian versprochen, ihm eine Chance zu geben. Zu meiner Überraschung waren die Dinge zwischen uns … ganz gut gewesen. Eigentlich sogar großartig. Er hatte einen Aufsatz für mich geschrieben, darüber, warum es eine kluge Entscheidung sei, mit ihm auszugehen. Der Aufsatz hatte solche Dinge eingeschlossen wie: „Ich werde das Rauchen aufgeben, es sei denn, ich brauche wirklich, wirklich eine Zigarette.“ Und: „Ich werde jede Woche romantische Überraschungen inszenieren, wie zum Beispiel: ein improvisiertes Picknick, Rosen oder einen Ausflug nach Paris – aber keins dieser drei Dinge, denn die sind ja jetzt keine Überraschungen mehr.“
Das Zusammensein mit ihm war nicht so, wie es mit Dimitri gewesen war, andererseits vermutete ich aber auch, dass keine zwei Beziehungen jemals genau gleich sein können. Schließlich waren es verschiedene Männer. Ich wachte immer noch ständig auf und litt unter dem Verlust Dimitris und unserer Liebe. Ich quälte mich wegen meines Unvermögens, ihn in Sibirien zu töten und von seinem untoten Zustand zu befreien. Trotzdem, diese Verzweiflung bedeutete nicht, dass mein Liebesleben ganz vorüber war – etwas, das zu akzeptieren ich eine Weile gebraucht hatte. Es war hart weiterzuziehen, aber Adrian machte mich tatsächlich glücklich. Und für den Augenblick war das genug.
Doch das bedeutete nicht zwangsläufig, dass ich auch wollte, dass er mit meinem Piratenmafiavater auf Tuchfühlung ging.
„Sein Einfluss wird ihm nicht guttun!“, protestierte ich.
Meine Mutter schnaubte. „Ich bezweifle, dass Adrian Abe allzu sehr beeinflussen wird.“
„Nicht Adrian! Abe. Adrian versucht, sich von seiner besten Seite zu zeigen. Abe wird alles vermasseln.“ Neben dem Rauchen hatte Adrian in seinem Traktat über unsere Beziehung geschworen, er werde das Trinken und andere Laster aufgeben. Ich blinzelte zu ihm und Abe auf der überfüllten Tribüne hinüber und versuchte dahinterzukommen, welches Thema denn so interessant sein mochte. „Worüber reden sie?“
„Ich glaube, dass ist gerade jetzt das geringste deiner Probleme.“ Wenn Janine Hathaway irgendetwas war, dann praktisch. „Mach dir weniger Sorgen um die beiden und mehr um diesen Parcours hier.“
„Denkst du, sie reden über mich?“
„Rose!“ Meine Mutter versetzte mir einen leichten Schlag auf den Arm, und ich zwang mich, den Blick wieder auf sie zu richten. „Du musst das ernst nehmen. Bleib ruhig und lass dich nicht ablenken.“
Ihre Worte waren dem, was Dimitri in meiner Fantasie gesagt hatte, so ähnlich, dass sich ein kleines Lächeln in meine Züge stahl. Ich war also doch nicht allein hier draußen.
„Was ist denn so komisch?“, fragte sie argwöhnisch.
„Nichts“, erwiderte ich und umarmte sie. Zuerst war sie steif und dann entspannt, und schließlich erwiderte sie meine Umarmung sogar für einen Moment, bevor sie zur Seite trat. „Ich bin froh, dass du hier bist.“
Meine Mutter war nicht der übermäßig liebevolle Typ, und ich musste sie überrascht haben. „Nun“, sagte sie, offensichtlich verwirrt, „ich habe dir ja gesagt, dass ich dies nicht versäumen wollte.“
Ich sah zu den Tribünen hinüber. „Was dagegen Abe betrifft, bin ich mir nicht so sicher.“
Oder … Moment mal. Mir kam ein seltsamer Gedanke. Nein, doch nicht so seltsam. Zwielichtig oder nicht, Abe hatte Beziehungen – Beziehungen, die weit genug reichten, um eine Nachricht zu Victor Dashkov ins Gefängnis zu schmuggeln. Abe war derjenige gewesen, der nach Informationen über Robert Doru gefragt hatte – das war Victors ebenfalls geistnutzender Bruder – , um mir einen Gefallen zu tun. Als Victor daraufhin die Nachricht geschickt hatte, dass er keinen Grund habe, Abe in dieser Hinsicht zu helfen, hatte ich die Unterstützung meines Vaters prompt abgeschrieben und sofort die Idee zu einem Gefängnisausbruch entwickelt. Aber jetzt …
„Rosemarie Hathaway!“
Es war Alberta, die mich aufrief, ihre Stimme tönte laut und klar über den Platz. Sie war wie eine Trompete, wie ein Ruf in die Schlacht. Alle Gedanken an Abe und Adrian – und ja, selbst an Dimitri – verschwanden plötzlich aus meinem Kopf. Ich glaube, meine Mutter wünschte mir noch viel Glück, aber der genaue Wortlaut entging mir, während ich auf Alberta zuschritt. Adrenalin schoss in meine Adern. Meine ganze Aufmerksamkeit war jetzt auf das gerichtet, was vor mir lag: Die Prüfung, die mich endlich zur Wächterin machen würde.