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ISBN 978-3-492-96372-5

Dezember 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2013

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Vorwort

Mit Furchtlosigkeit und Beharrungsvermögen, mit Kampfesmut und einer schier unerschöpflichen Ausdauer stellte Fritz Bauer sein Leben in den Dienst der Humanität. Das leidenschaftliche Eintreten für eine im besten Sinne aufgeklärte Gesellschaft ist ein Leitmotiv seiner Biografie. Dieses Leitmotiv ist erkennbar in seinem Einsatz für eine rationale Strafrechtspraxis, den er als junger Stuttgarter Richter zeigte. Präsent ist es auch in seiner hartnäckigen Verteidigung der Weimarer Republik als der ersten Demokratie auf deutschem Boden. Vor allem aber zeugt von seiner Parteinahme für die Aufklärung jener Kampf, den er in den Anfangsjahren der Bundesrepublik aufnahm und von dem er bis zu seinem frühen Tod im Epochenjahr 1968 nicht wieder abließ: Als Chef der Anklagebehörden zunächst in Braunschweig, später in Frankfurt am Main machte Fritz Bauer die nationalsozialistische Willkürherrschaft zu einem Gegenwartsthema in der jungen Bundesrepublik. Er zwang eine Gesellschaft zum Hinsehen, die weithin nicht willens war, ihre doch so offensichtlich gegenwärtige Vergangenheit in ihre Selbstbeschreibung einzuweben. Fritz Bauer führte die Bundesrepublik in die Auseinandersetzung mit einem zugleich bestürzenden und beschämenden Panorama des Unrechts. Im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965 fand der Kampf des Generalstaatsanwalts für die juristische Ausleuchtung der nationalsozialistischen deutschen Gesellschaft und die Ahndung ihrer Verbrechen seinen Höhepunkt.

Fortwährend sah sich Fritz Bauer Widerständen und Anfeindungen ausgesetzt. Er wurde ausgegrenzt, verfolgt und ins Exil gezwungen. Bekannt mit Willy Brandt, Kurt Schumacher und Theodor W. Adorno, blieb ihm der Standpunkt des Außenseiters doch ein vertrauter Ort. Man kann ermessen, welche Kraftanstrengungen ihm dieses rastlose Leben abverlangt hat.

Obwohl auch publizistisch tätig, wirkte Fritz Bauer in erster Linie in seiner Rolle als praktischer Jurist. Am Beispiel seiner Biografie lassen sich deshalb Freiräume zum couragierten Handeln gerade der Juristin und des Juristen vermessen. Alles Recht ist Menschenwerk, für seine Setzung, seinen Vollzug und seine Auslegung sind immer Menschen verantwortlich. Nie geschieht Recht von selbst. Stets ist es angewiesen auf Persönlichkeiten, die seine Verwirklichung zu ihrer Sache machen. In einer Zeit, in der eine juristische Aufarbeitung des Nationalsozialismus allenfalls sporadisch erfolgte, zeigte Fritz Bauer, was mit den Mitteln des Rechts möglich sein kann.

Besonders markant tritt Fritz Bauers Engagement durch und für das Recht hervor, kontrastiert man es mit einer in der damaligen Justiz weitverbreiteten Haltung. Gekennzeichnet durch eine große personelle Kontinuität über die Zäsur von 1945 hinweg, gründete die bundesrepublikanische Nachkriegsjustiz ihre moralische Selbstentlastung auf die kommode Legende, ihr habe letztlich bloß ihre richterliche Tugend zum Nachteil gereicht. Denn allein in ihrem treuen Gesetzesgehorsam, und damit völlig fremdbestimmt, sei sie der nationalsozialistischen Herrschaft verbunden gewesen. Ihre moralische Integrität sei darüber unbeeinträchtigt geblieben.

Nun sind die Bindungen, die das Gesetz dem Juristen auferlegt, diesem zwar eine alltägliche Erfahrung. Indessen veranschaulicht das Leben Fritz Bauers die Entfaltungsmöglichkeiten moralischer Freiheit gerade im Rahmenwerk des Rechts. Hier zeigt sich, was mit Mut, mit argumentativem Scharfsinn und nicht zuletzt mit einem unermüdlichen Arbeitseifer juristisch erreicht werden kann. Es liegt deshalb auf der Hand, dass man Fritz Bauers Biografie Vorbildhaftes entnehmen kann und nicht zuletzt auch Maßstäbe für eine Kritik, die sich das professionelle Wirken von Juristinnen und Juristen als ihren Gegenstand nimmt.

Der Demokrat und Patriot Fritz Bauer hat an der deutschen Geschichte mitgeschrieben und sie zum Guten hin beeinflusst. Es sollte uns ein gemeinsames Anliegen sein, die Erinnerung an sein Leben festzuhalten und sein Verdienst in würdigem Andenken zu bewahren. Das vorliegende Buch leistet hierzu einen wichtigen Beitrag.

Prof. Dr. Andreas Voßkuhle,

Präsident des Bundesverfassungsgerichts

Karlsruhe, im Mai 2013

1

Der Deutsche, der Eichmann vor Gericht brachte: Sein Geheimnis

Die schwere Eichentür in der Frankfurter Gerichtsstraße gibt kaum einen Laut von sich, als der 27-jährige Michael Maor sie öffnet und unbemerkt in das dunkle Gebäude hineinschlüpft. Den Weg haben sie ihm vorher genau aufgezeichnet. Rechts die steinerne Treppe hinauf, bis zum zweiten Stock, wo sich eine Fläche öffnet wie ein prunkvoller Vorplatz aus grünem Linoleum. Mondlicht scheint darauf. Der Blick fällt auf eine einzelne weiße Tür, die sich wie auf einem Podest vom Rest des Stockwerks abhebt, links und rechts davon wachen Säulen aus Marmor, die in der Dunkelheit nicht rotbraun aussehen, sondern schwarz. Du kannst es gar nicht verfehlen, haben sie ihm gesagt.

Der Auftrag des israelischen Ex-Fallschirmspringers: Fotografiere die Akte, die links auf dem Tisch liegt. Der Tisch steht im Büro des Frankfurter Generalstaatsanwalts Fritz Bauer. Es riecht nach Zigarren, die langen Gardinen sind zugezogen, an den Wänden hängt moderne Kunst. Und links auf dem Schreibtisch, säuberlich getrennt, liegt ein Stapel. »Auf den Unterlagen prangten SS-Runen«, erinnert sich Maor, »und gleich auf dem ersten Blatt klebte das Foto eines Mannes in Uniform.«

Es ist die Akte Adolf Eichmanns, des rasend ehrgeizigen Cheforganisators des Holocaust, der den millionenfachen Mord an den Juden bis ins kleinste bürokratische Detail geplant hat. Nur wenige Wochen nach dem nächtlichen Einsatz, am Abend des 11. Mai 1960, wird der israelische Geheimdienst Mossad den NS-Verbrecher in seinem Unterschlupf in Buenos Aires kidnappen, Eichmann wird betäubt und verkleidet in einer Uniform der Fluglinie El Al in der ersten Klasse eines Passagierflugzeugs nach Israel geflogen werden, es wird zu einem der bedeutendsten Strafprozesse des 20. Jahrhunderts kommen, zu einem prägenden Moment für die noch junge israelische Gesellschaft. Aber die entscheidende Spur liegt in Frankfurt.

Hier ist 1957 der Brief eingegangen, mit dem alles begonnen hat. Ein Mann namens Lothar Hermann, ein in Deutschland geborener Jude, der vor den Nazis nach Argentinien geflohen ist, schreibt darin, er habe entdeckt, dass Eichmann unter falschem Namen in einem Vorort von Buenos Aires lebe. Ein Zufall hat ihn darauf gebracht: Seine Tochter hat sich ausgerechnet in den Sohn des Massenmörders verliebt. Es gibt zu dieser Zeit noch kaum Stellen, an die sich der erschrockene Vater überhaupt wenden könnte: Die israelische Regierung konzentriert sich noch ganz auf die dringlichen Aufgaben der Landesverteidigung, die Amerikaner haben die Verantwortung für die Bestrafung von NS-Tätern unlängst an die Deutschen abgegeben, und in der deutschen Justiz sind viele Richter und Staatsanwälte selbst verstrickt. Nur in Frankfurt lässt der Generalstaatsanwalt bereits auf eigene Faust nach Eichmann fahnden.

Jener Generalstaatsanwalt Fritz Bauer ist eine Ausnahmegestalt, deshalb bekannt bis hin nach Argentinien und Israel: ein Sozialdemokrat jüdischer Herkunft, der 1936 gerade noch fliehen konnte und nach 1945 ausgerechnet in den Zweig des deutschen Staatsdienstes zurückgekehrt ist, der am stärksten von braunen Seilschaften durchsetzt ist, in die Strafjustiz, um für die Bestrafung von NS-Verbrechern zu kämpfen. Hierhin also hat Lothar Hermann die brisante Eichmann-Nachricht geschickt.

Gerade hat der israelische Agent in Fritz Bauers dunklem Büro seine Fotoausrüstung aufgebaut, da zuckt er zusammen: »Plötzlich hörte ich Schritte, und Licht fiel durch den Türritz.« Michael Maor versteckt sich eilig hinter dem Schreibtisch, der Mensch auf dem grünen Linoleum draußen nähert sich mit langsamen, seltsam schlurfenden Schritten. Es scheint, als schleife er irgendetwas hinter sich über den Boden.

Maor verharrt – bis ihm klar wird, dass es die Putzfrau sein muss. »Sie war wohl ein bisschen schlampig«, glaubt er, denn die Frau erspart sich die Arbeit im verqualmten 60-Quadratmeter-Büro des Generalstaatsanwalts und schlurft weiter. »Ihr Glück«, sagt Maor später andeutungsreich: Ein Scheitern kommt für ihn in dieser Nacht nicht in Frage. Das Licht erlischt wieder.

Die Eichmann-Akte, deren Inhalt so an den Mossad übergeht, ist nicht zufällig offen liegen geblieben. Fritz Bauer selbst hat den nächtlichen Besucher eingeladen. Es ist eher eine klammheimliche Übergabe denn ein Einbruch – so diskret, dass niemand davon erfährt, nicht einmal Bauers engster Kreis von Juristen.

Schon oft hat Bauer erleben müssen, wie NS-Verdächtige vor ihrer Verhaftung gewarnt wurden durch Beamte, die brisante Informationen heimlich durchstechen. Bei der Polizei gibt es zahllose solcher undichter Stellen, die Fernschreiberleitungen dort, bei denen eine Meldung viele Augenpaare passieren muss, sind für Bauers kleines Team von Ermittlern in NS-Sachen deshalb tabu, wie sich Joachim Kügler, einer von ihnen, erinnert: »Wenn ich in meiner ganzen Zeit im Auschwitz-Prozess mal ein Fernschreiben aufgeben wollte, bin ich auf den Großmarkt gegangen und habe einen Gemüsehändler bemüht.«

Diskretion ist das oberste Gebot. Warnungen bekommen abgetauchte NS-Verbrecher in den 1950er- und 1960er-Jahren systematisch zugespielt, sogar über eine eigene Postille, den Warndienst West, den die Hamburger Dienststelle des Deutschen Roten Kreuzes – unter der Leitung eines ehemaligen SS-Obersturmbannführers – an Traditionsverbände der Wehrmacht und SS in verschiedenen Ländern verschickt. Die Quelle dafür sitzt direkt im Bonner Regierungsviertel, es ist die 1950 gegründete Zentrale Rechtsschutzstelle für NS-Verdächtige, die bis 1953 im Justiz-, danach im Außenministerium angesiedelt ist und von einem ehemaligen Staatsanwalt am NS-Sondergericht Breslau geleitet wird. Als Fritz Bauers Team einmal dem aktivsten Mann des nationalsozialistischen Euthanasie-Programms auf der Spur ist, Reinhold Vorberg, und bei einem Bonner Gericht die Erlaubnis zu diskreten Ermittlungen beantragt, da gibt sogar der Richter persönlich die sensible Information an einen örtlichen Rechtsanwalt heraus – und Vorberg kann nach Spanien fliehen.

Im Staatsapparat bilden frühere NS-Beamte nicht nur einzelne Netzwerke, sondern inzwischen wieder eine breite Front. Durch die Amnestiegesetze von 1949 und 1954 ist die Mehrheit der von den deutschen Gerichten bestraften NS-Täter bereits begnadigt. Ihre Strafen sowie die Urteile der Spruchgerichte sind aus den Strafregistern gestrichen. Anfangs hatten die Alliierten wie die deutschen Demokraten noch auf einen klaren Bruch gehofft. Eine Bereinigung zumindest des Staatsapparates. Doch seither haben die Beamtenverbände das Recht für fast alle früheren NS-Beamten erstritten, wieder eingestellt zu werden. Den Gerichten und Ministerien bis unterhalb der Staatssekretärsebene sieht man es an. Die Parteigänger des NS-Regimes sind in Justiz und Verwaltung in den 1950er-Jahren beinahe vollständig wieder eingerückt.

Bei der Suche nach Eichmann will die deutsche Polizei nicht helfen, das hat der Leiter der Auslandsabteilung des Bundeskriminalamts, der frühere SS-Untersturmführer Paul Dickopf, Fritz Bauer bereits im Juli 1957 wissen lassen. Die Taten Eichmanns seien politischen Charakters, weshalb eine Fahndung laut Interpol-Statut nicht möglich sei. Von den 47 leitenden Beamten des BKA im Jahr 1958 sind 33 frühere SS-Angehörige, und als Fritz Bauer sie im Jahr 1960 an einen runden Tisch bittet, um sich für die Ermittlungen gegen mutmaßliche Auschwitz-Täter abzusprechen, da schicken sie ausgerechnet einen Abteilungsleiter vor, der einst als SS-Sturmbannführer in Russland für die Verschleppung von Zivilisten in Konzentrationslager verantwortlich war. So ist zu dieser Zeit die Lage: Polizisten, die in der Bundesrepublik zum Teil wieder in leitenden Positionen tätig seien, hätten in geradezu »erschreckendem Ausmaß« an NS-Verbrechen mitgewirkt, resümiert im Jahr 1960 der Leiter der frisch gegründeten Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, Oberstaatsanwalt Erwin Schüle. Dass auch er selbst einst Mitglied in der NSDAP und in Hitlers Schlägertrupp SA war, wie erst später bekannt wird, ist da eine fast schon passende, traurige Pointe.

Sogar in Buenos Aires sind untergetauchte Nazis von wachsamen, gut vernetzten Kameraden umringt. Das macht die Fahndung nach Eichmann zu einer besonders schwierigen Aufgabe. Der deutsche Botschafter in Argentinien, ein Mann namens Werner Junker, der schon für die Nazis Diplomat war, pflegt regen Kontakt zur rechten Exilszene, auch zu persönlichen Bekannten Eichmanns. Fritz Bauer kann zwar nicht wissen, dass der Bundesnachrichtendienst bereits seit 1952 über Eichmanns Tarnnamen und Wohnort in Argentinien verfügt, was die Agenten für sich behalten – »b(itte) alles zu Eichmann sorgfältig sammeln«, vermerken die Nachrichtendienstler in einer Akte, die erst Jahrzehnte später geöffnet werden wird, »wir brauchen das noch«. Aber er weiß bereits genug, um von ihnen keine Hilfe zu erwarten und sich schon gar  nicht in die Karten schauen zu lassen: Im deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion leitete Reinhard Gehlen die Ostspionage – und nun den Geheimdienst der Bundesrepublik. Um sich schart er dort alte Kameraden.

Wie Bauer es schafft, Adolf Eichmann, den prominentesten noch lebenden Nazi, in Haft und vor Gericht zu bringen, das ist deshalb eine Geschichte davon, wie er es trotz alledem schafft – und es ist eine Geschichte von notgedrungen einsamen Entscheidungen. Anfang November 1957 trifft Bauer sich erstmals an einem unbekannten Ort mit dem Vertreter des Staates Israel in Deutschland, Felix Schinnar, um ihn über die Spur zu Eichmann nach Buenos Aires zu unterrichten. Nur der hessische Ministerpräsident Georg August Zinn, ein befreundeter SPD-Genosse, sei eingeweiht, betont Bauer bei dieser Begegnung. Dabei müsse es unbedingt bleiben. Zu viel stehe auf dem Spiel. Bauer plant, den strafvereitelnden deutschen Apparat stillschweigend zu umgehen.

Kurz darauf, im Januar 1958, geht auf seinen Tipp hin erstmals ein Mossad-Agent in Buenos Aires auf die Suche nach Eichmann. Doch das mutmaßliche Eichmann-Haus in der Calle Chacabuco 4261 erweist sich als klein und ärmlich; einen Unterschlupf für einen mächtigen Nazi stellt man sich anders vor. Der israelische Agent kehrt ernüchtert zurück, ohne die Sache genauer geprüft zu haben.

Bauer drängt danach weiter: Bei einem zweiten Treffen mit einem israelischen Verbindungsmann am 21. Januar 1958, diesmal in Frankfurt, lässt er sich das Versprechen geben, dass der Mossad die Spur zu Bauers Tippgeber Lothar Hermann zurückverfolgen werde. Bauer stellt dem israelischen Agenten dafür sogar ein fingiertes Dokument aus, mit dem sich der Israeli als vermeintlicher Beamter des Generalstaatsanwalts ausweisen soll.

Auch diese zweite Mossad-Mission endet jedoch in einer Enttäuschung. Wie sich herausstellt, ist Lothar Hermann fast blind, auch wohnt er schon seit Jahren nicht mehr in Buenos Aires, sondern einige Stunden entfernt in der Stadt Coronel Suarez. Auf sein Wort will sich der Mossad lieber nicht verlassen. Überhaupt verspürt man dort nur noch wenig Lust, sich von Fritz Bauer noch ein drittes Mal zu einer Lateinamerika-Expedition drängen zu lassen. Die Buenos-Aires-Spur steht damit kurz davor zu erkalten – wenn Bauer nun nicht eine seltsame Nervosität wahrnehmen würde.

Der deutsche Botschafter in Buenos Aires teilt Bauer am 24. Juni 1958 mit, seine Nachforschungen nach Adolf Eichmann seien sämtlich ergebnislos verlaufen. Zugleich aber: Es sei auch nicht wahrscheinlich, dass Eichmann sich in Argentinien aufhalte. Vielmehr sei er vermutlich im Orient. Dieselbe merkwürdige Botschaft hört Bauer nun auch von einem zweiten Altrechten: Der BKA-Abteilungsleiter Paul Dickopf sucht Fritz Bauer sogar eigens in dessen Büro auf – was er sonst nie tut –, um ihm von einer Suche in Argentinien abzuraten. Dort sei Eichmann definitiv nicht. Bauer sieht sich in seinem Gefühl, auf der richtigen Fährte zu sein, eher bestärkt, und als schließlich, drittens, auch der Leiter der Zentralen Stelle in Ludwigsburg, Oberstaatsanwalt Erwin Schüle, sich im August 1959 meldet und mitteilt, auch er habe erfahren, dass Eichmann sich nicht in Südamerika, sondern vielmehr im Nahen Osten befinde, da besinnt sich Bauer auf eine List.

Auf der einen Seite wiegt er die Nervösen in Sicherheit. In einer Reihe von Pressemitteilungen erweckt Bauer von Herbst 1959 an den Eindruck, als konzentriere er seine Ermittlungsbemühungen tatsächlich ganz auf den Nahen Osten. In einer ersten, wie die Eichmann-Expertin Bettina Stangneth schreibt, »offensichtlich komplett erfundenen« Pressemitteilung erklärt Bauer, man gehe davon aus, dass Eichmann im Stab eines Scheichs als »Beauftragter westdeutscher Firmen tätig« sei, wobei es freilich des Juristen Höflichkeit verbiete, diese Firmen beim Namen zu nennen. Selbst der Mitarbeiter Bauers, der in Frankfurt offiziell für die Eichmann-Akte zuständig ist, ein Oberstaatsanwalt, tappt völlig im Dunkeln, als er dem hessischen Justizminister Anfang Oktober 1959 die Auskunft gibt, Eichmann habe sich wohl bis vor Kurzem in Ägypten aufgehalten.

Am Tag vor Weihnachten 1959 lädt Bauer sogar mit großer Geste zu einer Pressekonferenz, danach schicken die Nachrichtenagenturen eine Sensationsmeldung über den Draht: »Über die zuständigen Bonner Ministerien wird Generalstaatsanwalt Bauer schon Anfang 1960 ein Ersuchen um Auslieferung Eichmanns an das Emirat in Kuwait richten.« Es mag zwar alles nur gespielt sein – die Pressekonferenz ist reine Inszenierung, mit dem Mossad abgestimmt –, aber es wirkt. Auch in argentinischen Zeitungen kann man nun lesen, auf welchen Abwegen der Frankfurter Generalstaatsanwalt angeblich wandelt. Es wirkt wie eine Entwarnung.

Auf der anderen Seite treibt Bauer die Israelis an, sich im Stillen weiter an Eichmann heranzupirschen, jetzt erst recht. Die Regierung in Jerusalem zögert noch. Sie hat politische Bedenken. Eine Ergreifung Eichmanns in Argentinien ohne den offiziellen diplomatischen Vorlauf – der jede Chance auf einen Erfolg zunichte machen würde – wäre international ein Affront, eine Verletzung der argentinischen Souveränität; schwierig für den jungen jüdischen Staat, der Anerkennung sucht. Fritz Bauer reist mehrmals zu Gesprächen nach Israel, um die Entscheidungsträger dort umzustimmen: im März 1958, im Sommer 1959 und ein drittes Mal Anfang Dezember 1959. Schließlich greift er sogar zu einer Drohung. Er, Bauer, werde nicht davor zurückschrecken, entgegen seines eigenen Kuwait-Theaters doch noch einen Auslieferungsantrag an Argentinien zu stellen, wenn die Israelis nicht endlich ihre Unschlüssigkeit überwänden. Dann jedoch wäre Eichmann gewarnt.

Am 6. Dezember 1959 notiert Israels Ministerpräsident David Ben-Gurion in sein Tagebuch: »Ich habe vorgeschlagen, (Fritz Bauer) möge niemandem etwas sagen und keine Auslieferung beantragen, sondern uns seine Adresse geben. Wenn sich herausstellt, dass er dort ist, werden wir ihn fangen und hierher bringen.« Damit ist die Entscheidung gefallen. »Isser wird sich darum kümmern«, fügt Ben-Gurion noch hinzu. Isser Harel, der israelische Geheimdienstchef, leitet persönlich die Mossad-Operation.

Fritz Bauer versorgt die Israelis weiter mit Beweismitteln gegen Eichmann – dafür bestellt er den 27-jährigen Michael Maor nachts in sein Büro. Aber welche Fortschritte der Mossad macht, das erfährt er von nun an nicht mehr. Nach Wochen der Funkstille, am 22. Mai, ruft ein israelischer Kontaktmann schließlich bei Bauer in Frankfurt an, er bittet um ein Treffen am nächsten Tag und verspricht, dass er »vielleicht« eine gute Nachricht haben werde. Man verabredet sich in einem Frankfurter Restaurant. Doch zur vereinbarten Uhrzeit taucht der Israeli nicht auf. Bauer steigert sich von Minute zu Minute in eine größere, fieberhafte Unruhe hinein, halb aus Vorahnung, halb aus Besorgnis – bis nach einer halben Stunde der Israeli, die Hände noch ölig von einer Reifenpanne, zur Tür hereinkommt und sofort mit der Nachricht herausplatzt.

Fritz Bauer habe bei der Umarmung Tränen in den Augen gehabt, schreibt Isser Harel in seinen Erinnerungen. Erst zweieinhalb Stunden später erfährt auch der Rest der Welt, dass Eichmann verhaftet und bereits in Israel eingetroffen ist; durch eine Erklärung David Ben-Gurions, der um 16 Uhr Ortszeit in Jerusalem vor die Knesset tritt.

Dass hinter all dem die Initiative eines einsamen deutschen Staatsanwalts steckte, erfährt die Welt nicht. Bauer will es so. Er hütet das Geheimnis eisern, denn er, der an allen Vorschriften vorbei gehandelt hat, wäre sein Amt in Deutschland sonst auf der Stelle los.

Der Jerusalemer Generalstaatsanwalt Haim Cohn schreibt Bauer: »Ich brauche nicht zu sagen – und sowieso kann ich es brieflich nicht –, wie sehr wir Ihnen verbunden sind, nicht nur in Dankbarkeit, sondern auch in dem Bewußtsein der Gemeinsamkeit des Zieles und des Erfolgs.«

Wie sehr muss es Bauer quälen, als 1960 die ganze Welt nach Jerusalem schaut, wo der Eichmann-Prozess in einem riesigen Theatersaal auf die Bühne kommt. Der Prozess wird von der israelischen Justiz als Medienereignis inszeniert, als eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust, die das bis dahin herrschende Schweigen in der Gesellschaft aufbricht. Davon hat auch Fritz Bauer geträumt, wie er seinen Mitarbeitern in Frankfurt einmal anvertraut, wobei er nur bedauere, dass das israelische Gericht zur Todesstrafe greifen wolle, auch weil Eichmann dann künftig nicht mehr als Zeuge zur Verfügung stehe.

Nur kurz macht Bauer den Versuch, die Adenauer-Regierung dazu zu bewegen, zumindest einen symbolischen Auslieferungsantrag an Israel zu stellen – einfach um zu dokumentieren, dass eine Anklage Eichmanns dringender aus dem Munde der Deutschen kommen müsste als aus dem Munde der Israelis. Aber Bonn lehnt ab. Und Bauers Versuch imponiert nicht einmal denen, die ihm wohlgesinnt sind: Fritz Bauer sei »Jude, also gilt die ganze Sache ja nicht«, schreibt Hannah Arendt damals an ihren Freund Karl Jaspers.

»Ich habe gehört, Sie hätten Eichmann gefangen«, sagt einmal ein junger Frankfurter Freund zu ihm. Da hat Bauer offenbar nicht ganz an sich halten können mit seinem Eichmann-Geheimnis, er hat es einer Freundin zugeflüstert, woraufhin auch sie es offenbar nicht ganz für sich behalten hat. »Wo haben Sie das her?«, fragt Bauer den Freund erschrocken.

Darauf will der zwar nicht antworten. Aber allein schon der Umstand, dass Bauer nicht abstreitet, sagt ihm viel.

»Wie steht’s denn mit Simon Wiesenthal?«, hakt der junge Freund nach. »Es heißt doch immer, er habe die Spur von Eichmann aufgetrieben.« Da lacht Bauer leicht und sagt: »Ja, er nennt sich ja auch Eichmann-Hunter. So kann er sich auch nennen, gefangen hat er ihn allerdings nicht. Gejagt, ja.«

Wie groß Bauers Rolle im Zentrum der Jagd auf Eichmann wirklich gewesen ist, erfährt die Welt erst im August 1968, als die israelische Zeitung Maariv das Geheimnis lüftet und ein Vertrauter Ben-Gurions, der Schriftsteller Michael Bar-Zohar, die Geschichte bestätigt. Die Israelis haben so lange gewartet, bis Fritz Bauer keine Nachteile mehr erleiden kann; bis er gestorben ist.

Das ganze Drama, das sich zu Lebzeiten Fritz Bauers weithin im Verborgenen abspielte, wird dann erst Jahrzehnte später langsam aufgedeckt. Das ist verblüffend. So viele positive Identifikationsfiguren hat die deutsche Nachkriegsgeschichte nicht aufzuweisen. So viele Beispiele für Zivilcourage hat auch die Juristenschaft nicht.

Fritz Bauer hat es virtuos verstanden, von der kleinen Bühne des Gerichtssaals aus große politische Debatten zu entfachen – am meisten sicherlich in dem von ihm initiierten großen Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963 bis 1965, »der sich in vieler Hinsicht wie eine Ergänzung zum Prozeß in Jerusalem liest«, wie Hannah Arendt damals schrieb. Vor allem in diesem Zusammenhang ist Bauers Name heute bekannt: Nicht nur den Eichmann-, auch den Auschwitz-Prozess hätte es ohne ihn nicht gegeben. Der Mann, der die Deutschen mit ihrer Geschichte konfrontierte, hatte dabei auch selbst eine faszinierende Geschichte, doch haben die beiden hervorragenden wissenschaftlichen Arbeiten über ihn – Matthias Meuschs 2001 erschienene Dissertation Von der Diktatur zur Demokratie. Fritz Bauer und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Hessen (1956 – 1968) und Irmtrud Wojaks 2009 erschienene Habilitationsschrift Fritz Bauer 1903 – 1968. Eine Biographie – sie einem breiteren Publikum nur wenig zugänglich machen können. Und vor allem sind weiße Flecken geblieben.

Auf Formularen nennt Bauer sich in der Nachkriegszeit »glaubenslos«, über seine Jugend schweigt er beharrlich, zu anderen Juden hält er sogar auffallend Distanz – deshalb nahm man bislang an, Fritz Bauer, der aus einer assimilierten jüdischen Familie stammte, habe nie viel mit seiner jüdischen Herkunft verbunden. Neue Quellen erzählen jedoch eine andere Geschichte. Als Heranwachsender hat er zum Judentum durchaus ein lebendiges Verhältnis, in der kleinen jüdischen Welt Württembergs engagiert er sich gern, und noch 1945 nennt er sich selbst stolz einen Juden. Erst als er 1949 aus dem Exil nach Deutschland zurückkehrt, beginnt er, diesen Teil seiner Biografie peinlich vor der Öffentlichkeit zu verbergen – was viel über das damalige Klima in der Bundesrepublik aussagt.

Bauers Studienjahre in der Weimarer Republik, während derer er sich in einer jüdischen Studentenverbindung engagierte und seine Bundesbrüder zum Widerstand gegen den zunehmenden Campus-Antisemitismus aufstachelte, waren bisher großteils unbekannt. Auch die heftigen Auseinandersetzungen mit Antisemiten, in die Bauer bereits als junger Amtsrichter geriet, schlummerten bislang unentdeckt in Gerichtsakten.

Tief im Kopenhagener Staatsarchiv, zusammengehalten von einem rot-weißen Faden, liegen seit Jahrzehnten auch Berichte darüber, wie Bauer als junger Mann im Exil wegen homosexueller Handlungen vernommen wurde. Dem Generalstaatsanwalt Fritz Bauer hätte diese Nachricht später, wäre sie je bekannt geworden, zum Verhängnis werden können – noch in den 1960er-Jahren wurde Homosexualität in Deutschland als Straftat verfolgt. Relevant ist sie heute nur noch deshalb, weil Bauer hier ein Geheimnis zu hüten hatte; ein weiteres. Vielleicht auch, weil sich seine antiautoritäre Ader dann noch ein bisschen besser verstehen lässt.

Halb Politiker, halb Bohemien, begrüßte er 1958 die Häftlinge in einem hessischen Gefängnis mit: »Meine Kameraden!« – unerhört in der Adenauerzeit. Als ihm einmal bei einer Podiumsdiskussion die Frage gestellt wurde: »Was kann man tun, um den allgemeinen Aggressionsdrang abzubauen, der unser Unglück ist?«, da rief Bauer in den Saal zurück: »Mehr Sexualität! Auch in der Literatur! Ich bin gegen das Verbot des Marquis de Sade!« Und als einmal gegen Ende der 1950er-Jahre einige Verleger, Ministerialbeamte und Journalisten zusammensaßen, um auf Einladung des SPD-Ministerpräsidenten Georg August Zinn über einen Entwurf für ein modernes hessisches Pressegesetz zu beraten, da kamen die radikalsten Vorschläge im Sinne einer kompromisslos verwirklichten Pressefreiheit in dieser Runde von dem dauerrauchenden, schlagfertigen Juristen mit dem leicht ungeordneten Haar – woraufhin ein ahnungsloser Journalist irgendwann fragte: »Verzeihung, von welcher Zeitung kommen Sie?«

Das war die Rolle seines Lebens: der Ankläger, der nicht aus Härte oder Vergeltungsdrang streitet. Sondern aus verzweifelter Liberalität. Er hat sein Land etwas aufgehellt in einer Zeit, in der es noch immer sehr düster war. Er hat es nachhaltig verändert, als Ankläger und als Strafrechtsreformer. Um zu begreifen, wie es dazu kam, kommen im Folgenden aber nicht nur Dokumente zu Wort, bekannte wie bislang unbekannte, sondern vor allem auch Zeitzeugen, die Fritz Bauer erlebt, die ihn teils geliebt, die unter seiner Verletzlichkeit und Unfähigkeit zu echter Nähe gelitten und die sich am Ende teils auch gegen ihn gewandt haben.

Nachts klingelt in seiner Wohnung oft das Telefon: »Judenschwein verrecke!«, bellen Unbekannte in den Hörer. Von Frühjahr 1964 an müssen die Räume, in denen der Auschwitz-Prozess stattfindet, vor jedem Prozesstag nach Sprengstoff abgesucht werden, Bauers Büro erhält eine Bombendrohung. Die Drohbriefe, die sich bei ihm häufen, füllen Aktenmappen, beschriftet mit »Zustimmende Zuschriften« oder »Irre Zuschriften.« Doch als die Schriftstellerin Ingrid Zwerenz ihn einmal gegen Ende der 1960er-Jahre für ein Buchprojekt bittet, anonyme Droh- und Schmähbriefe einzusenden, da signalisiert Fritz Bauer, dass er die Anfeindungen sogar mit Humor nehmen könne. Während Heinrich Böll, Günter Grass, Martin Walser und andere abwinken oder mitteilen, sie würden Hasspost prinzipiell sofort in den Papierkorb sortieren, schickt Fritz Bauer mit freundlichen Grüßen ein besonders skurriles Exemplar ein. Es ist eine Postkarte, beidseitig eng mit Schreibmaschine beschrieben. Der Absender nennt sich »Kölner Kreis«. Als Adressat steht auf der Karte »Oberstaatsanwalt Bauer«. Als Anschrift steht darunter nur »Charakterkopf I a, Frankfurt«.

Vielleicht findet Bauer Gefallen daran, dass der Postbote mit diesen wenigen Informationen genug anzufangen wusste, um das Schreiben zuzustellen. Vielleicht lässt ihn aber auch nur der krude Text der Karte schmunzeln. »Wir stellen uns unter einem Staatsanwalt einen Mann vor«, so lehrmeistert der anonyme Verfasser dort, »der für Ordnung, Moral und Sauberkeit im Staat eintritt!« Fritz Bauer aber tue das genaue Gegenteil.