Die Stereofotografie avancierte in den vergangenen Jahrzehnten zu einem teilweise viel genutzten Standardverfahren in etlichen wissenschaftlichen Disziplinen. Dies mag in erster Linie damit Zusammenhängen, dass die optische Methode einerseits recht leicht zu handhaben ist und andererseits spektakuläre Resultate zu liefern vermag. Wenn man sich moderne Anwendungsbereiche der Stereofotografie vor Augen führt, vergisst man oftmals deren weit in das 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition und deren langjähriges Bestehen. Bereits in der Gründerzeit mit ihrem aufstrebenden Bürgertum war man sich der Faszination des 3D-Bildes bewusst, und mit entsprechenden Stereokameras ausgerüstete Fotografen be reisten die ganze Welt, um das Geschehen in fremden Ländern bildlich festzuhalten. Das mühsam zusammengetragene Bildmaterial wurde dem interessierten Publikum später in eigenen Stereosalons vorgeführt. Als sich die Stereofotografie zu Beginn des 20. Jahrhunderts sukzessive in der Wissenschaft zu etablieren begann, stellte die Archäologie eine der ersten Disziplinen mit gehobenem Interesse an dem optischen Verfahren dar. Gerade die archäologische Forschung mit ihrer umfangreichen Untersuchung alter Bausubstanz vermag die in einem stereoskopischen Bild festgehaltene Tiefeninformation in mehrerlei Hinsicht für sich zu nutzen und damit die eine oder andere offene Frage zu beantworten.
Wie schon in zahlreichen Publikationen der näheren und ferneren Vergangenheit erörtert wurde, verfügt Österreich über zahlreiche bauliche Zeugnisse der alten römischen Kultur, welche vom 1. bis zum 5. Jahrhundert nach Christus weite Teile des heutigen Staatsgebietes beherrschte und anhand des Donaulimes ihre Abgrenzung gegen den germanischen Raum erfuhr. Entlang dieser markanten Grenzlinie begegnet man noch heute einer Vielzahl an Bauresten ehemaliger Militärlager und Wachttürme. Von vielen dieser einst für die Grenzsicherung so wichtigen Bauwerke sind nur mehr die Grundfesten erhalten geblieben. Einige Wachttürme jedoch konnten die Jahrhunderte nahezu unbeschadet überstehen oder erfuhren in jüngerer Zeit eine im Sinne des Denkmalschutzes vollzogene Restauration.
Die in Österreich befindlichen römischen Bauwerke wurden allesamt einer umfangreichen fotografischen Dokumentation unterzogen, wobei man jedoch bislang auf die Anwendung der stereoskopischen Methode zum bildlichen Festhalten der al ten Objekte gänzlich verzichtete. Das vorliegende Buch versucht dieses Defizit auszuräumen und präsentiert bedeutende römische Bauwerke der norischen und pannonischen Provinz im anaglyphischen 3D-Bild (Rot- Cyan-Bild). Zur Betrachtung des in Kapitel 3 vorgestellten Bildatlas ist die Verwendung einer Rot-Cyan- Brille notwendig, welche entweder aus dem Internet bezogen oder selbst hergestellt werden kann.
Dem im Mittelpunkt des Buches stehenden Bildteil geht eine kurze Einleitung voran, in der eine Definition wesentlicher Begriffe sowie ein knapper historischer Abriss des optischen Verfahrens geliefert werden. Ein anschließendes Methodenkapitel informiert über grundlegende Techniken der dreidimensionalen Bilderzeugung und -betrachtung. Letztlich soll der Leserkreis zur Herstellung eigener 3D-Bilder animiert werden.
Robert Sturm, 2021
Der im 19. Jahrhundert ins Leben gerufene Begriff der Stereoskopie (gr. stereos = hart, starr, fest; gr. skopein = prüfen, untersuchen) bezeichnet im Allgemeinen ein optisches Verfahren, bei dem mithilfe zweier Halbbilder ein dreidimensionales Abbild eines Objektes erzeugt wird. Die Halbbilder zeigen das Objekt aus zwei geringfügig unterschiedlichen Perspektiven und werden den optischen Sinnesorganen des Betrachters so präsentiert, dass jedes Auge getrennt auf das ihm zugewiesene Halbbild blickt. Dieser Effekt kann einerseits dadurch erzeugt werden, dass man die Halbbilder direkt nebeneinander platziert. In diesem Fall erhält man ein Stereogramm oder Stereopaar (engl, stereo poir), das unter Zuhilfenahme optischer Hilfsmittel (Stereobrille, Stereoskop) oder unter Anwendung sogenannter autostereoskopischer Blicktechniken (s. u.) inspiziert werden kann. Andererseits kann die räumliche Visualisierung eines Objektes auch durch simple Überlagerung der beiden Halbbilder erfolgen. Dabei wird jedes Halbbild mit entsprechender Farbinformation kodiert, wodurch die eine Abbildung eine rote Einfärbung, die andere hingegen eine grüne Einfärbung erhält. Als Resultat der Farbkodierung und Bildüberlagerung entsteht eine sogenannte Anaglyphe (gr. ana = über; gr. glyphein = schreiben, prägen) entsteht. Dieses optische Konstrukt kann nur mit einem entsprechenden optischen Hilfsmittel (Rot- Grün-Brille) betrachtet werden.
Während die Stereoskopie als allgemeiner Terminus im Zusammenhang mit der Erzeugung eines Raumbildes zu begreifen ist, bezeichnet die Stereofotografie die Generierung von dreidimensionaler Bildinformation mithilfe einer Kamera. Dieses optische Verfahren konnte sich bereits ab der Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgreich etablieren und verzeich- nete in der zweiten Hälfte jenes Säkulums beachtliche Erfolge. Die Herstellung zweier fotografischer Halbbilder, welche wiederum zu einem Stereopaar oder einer Anagly- phe kombiniert werden können, erfolgt entweder mit einer herkömmlichen einlinsigen (monobjektiven) oder einer speziellen zweilinsigen (biobjektiven) Kamera (s. Kap. 2.1). Unter dem stereoskopischen Effekt versteht man die räumliche Wahrnehmung eines Objektes durch gezielte Betrachtung zweier Halbbilder dieses Gegenstandes. Blicken linkes und rechtes Auge jeweils auf die ihnen zugeordneten Halbbilder, so werden korrespondierende Bildpunkte auf geringfügig unterschiedliche Positionen der linken und rechten Netzhaut (Retina) projiziert. Unter korrespondierenden Bildpunkten versteht man ganz allgemein jene Positionen auf den Halbbildern, welche den gleichen Punkt des Objektes abbilden. Diese Positionen erfahren aufgrund der unterschiedlichen Perspektive zwischen linkem und rechtem Halbbild eine minimale horizontale Verschiebung. Die oben beschriebenen Differenzen in der punktuellen Projektion haben die Aktivierung der Stereopsis (= Raumsehen) zur Folge, bei der im Gehirn ein räumlicher Eindruck des fotografierten Objektes entsteht.
Aus physiologischer Sicht kann die Stereofotografie als eine Form der optischen Täuschung bewertet werden, da die beiden Halbbilder im Gehirn letztendlich den gleichen Effekt erzeugt, wie er auch bei direkter Betrachtung des Objektes entsteht. Durch Variation spezieller physikalischer Parameter (s. Kap. 2.2) kann die räumliche Wahrnehmung unter Umständen noch deutlich verstärkt werden, so dass eine Überbetonung der Tiefeninformation entsteht.