Katherine May
Überwintern
Wenn das Leben innehält
Aus dem Englischen von Marieke Heimburger
Insel Verlag
All jenen, die schon einmal überwintert haben
Over the land freckled with snow half-thawed
The speculating rooks at their nests cawed
And saw from elm-tops, delicate as flowers of grass,
What we below could not see, Winter pass.
Über das Land gesprenkelt mit Schnee halb getaut
Krächzten sinnende Krähen von Nestern aus laut
In graszarten Wipfeln und sahen von dort
Was uns unten verborgen: Der Winter ging fort.
Edward Thomas, »Tauwetter«
PROLOG
Manche Winter beginnen mit Sonnenschein. Dieser begann an einem strahlenden Tag Anfang September, eine Woche vor meinem vierzigsten Geburtstag.
Ich feierte mit ein paar Freunden am Strand von Folkestone, der in den Ärmelkanal ragt, als strecke er die Hand aus nach Frankreich. Um eine richtige, große Party zu vermeiden, mir aber dennoch den Übergang in das nächste Lebensjahrzehnt zu erleichtern, hatte ich für die kommenden zwei Wochen mehrere Abende geplant, an denen ich mit diversen Freunden gut essen und trinken wollte, und dieser war der erste. Die Fotos von jenem Tag kommen mir heute absurd vor. Wie berauscht von meinem Älterwerden knipste ich den in das warme Licht des Spätsommers getauchten Küstenort. Den Waschsalon, an dem wir auf dem Weg vom Parkplatz vorbeikamen und der wie aus der Zeit gefallen wirkte. Die den Strand säumenden, pastellfarbenen Betonhütten. Unseren zusammengewürfelten Haufen Kinder, wie sie über den Wassersaum sprangen und im unfassbaren Türkis des Meeres planschten. Den Becher Gypsy-Tart-Eis, den ich mir genehmigte, während die Kinder spielten.
Von meinem Mann, H, gibt es keine Fotos. Das ist erst mal nichts Ungewöhnliches: Ich habe zig Fotos von meinem Sohn Bert und dem Meer gemacht. Ungewöhnlich ist die dann folgende Lücke in meinem Fotoordner. Das nächste Bild ist zwei Tage später aufgenommen und zeigt H, wie er im Krankenhaus liegt. Für die Kamera ringt er sich ein gequältes Lächeln ab.
H hatte bereits am Strand über Bauchschmerzen und Übelkeit geklagt. Ich maß dem nicht viel Bedeutung bei, schließlich schleppt so ein Kleinkind wie Bert in einem fort irgendwelche Keime ins Haus, von denen man Halsschmerzen, Ausschlag, eine verstopfte Nase oder eben Bauchweh bekommt. Und H hat auch kein großes Aufheben gemacht. Nach dem Mittagessen, das er nicht angerührt hatte, marschierten wir die Steilküste hinauf zum Spielplatz. H verschwand für ein paar Minuten. Ich fotografierte Bert, wie er im Sandkasten spielte, er hatte sich einen Schweif aus Meertang hinten in den Hosenbund gesteckt. Als H wiederkam, sagte er, er habe sich übergeben.
»O nein!«, sagte ich und versuchte dabei mitfühlend zu klingen, während ich gleichzeitig dachte, wie ungelegen mir das kam. Jetzt mussten wir den Ausflug sicher abbrechen, damit er sich zu Hause hinlegen konnte. Er hielt sich den Bauch, aber das fand ich unter den gegebenen Umständen nicht weiter beunruhigend. Ich hatte keinerlei Eile, den Rückweg anzutreten, und das muss ziemlich deutlich gewesen sein, denn unser Freund – einer unserer ältesten Freunde, ein Schulfreund – tippte mir auf die Schulter und sagte: »Katherine, ich glaube, H geht es wirklich nicht gut.«
»Ach ja?«, sagte ich. »Glaubst du?« Ich sah zu H, dessen schmerzverzerrtes Gesicht schweißnass glänzte. Ich sagte, ich würde das Auto holen. Ich kann mich noch gut an den Schrecken erinnern, den ich in jenen Minuten empfand.
Als wir nach Hause kamen, glaubte ich immer noch nicht daran, dass wir es mit etwas Schlimmerem als dem Norovirus zu tun hatten. H legte sich ins Bett, und ich versuchte, Bert zu beschäftigen, der ja nun um seinen Nachmittag am Strand gebracht worden war. Zwei Stunden später rief H nach mir, und als ich nach oben ins Schlafzimmer kam, war er dabei, sich anzuziehen. »Ich glaube, ich muss ins Krankenhaus«, sagte er. Ich lachte überrascht auf.
Mit einer Kanüle im Handrücken saß H auf einem der Plastikstühle im Wartezimmer und sah hundeelend aus. Es war Samstagabend. In der Notaufnahme wimmelte es von Rugbyspielern, die ihre gebrochenen Finger bewunderten, Bierleichen mit lädierten Visagen und alten Menschen in Rollstühlen, deren Betreuer sich weigerten, sie zurück ins Seniorenheim zu bringen. Ich hatte Bert bei den Nachbarn abgegeben und versprochen, ihn in ein bis zwei Stunden wieder abzuholen, aber es dauerte nicht lange, bis ich eine Nachricht schrieb und fragte, ob er bei ihnen übernachten könne. Es war bereits nach Mitternacht, als ich H schließlich im Krankenhaus alleine ließ, und da hatte man ihn immer noch nicht auf eine Station gebracht.
Ich fuhr nach Hause und machte kein Auge zu. Als ich am nächsten Morgen wieder ins Krankenhaus kam, ging es H deutlich schlechter. Er war sehr matt und fiebrig. Die Schmerzen hätten im Laufe der Nacht zugenommen, erzählte er, doch gerade als er meinte sie nicht mehr aushalten zu können, sei Schichtwechsel gewesen, und keine der Krankenschwestern konnte ihm Medikamente zur Linderung geben. Dann sei sein Blinddarm geplatzt. Er hätte das gespürt. Er habe vor Schmerzen gebrüllt und sei von der Stationsschwester angegangen worden, er könne sich wohl nicht benehmen und würde furchtbar übertreiben. Der Mann im Nachbarbett sei aufgestanden und habe sich für ihn eingesetzt. Durch den Vorhang rief der Nachbar uns zu: »Dabei war ihm doch anzusehen, wie schlecht es ihm ging, dem armen Kerl.«
Aber von einer Operation war offenbar immer noch keine Rede. H hatte Angst.
Und dann bekam auch ich Angst. Ganz offensichtlich war während meiner Abwesenheit etwas sehr Gefährliches und Schreckliches passiert, doch es kümmerte keinen: Die Pflegerinnen und Ärzte bewegten sich mit einer Seelenruhe durch die Station, als bestünde keinerlei Eile – als solle jemand, dem ein inneres Organ platzt, sich bitte einfach entspannen und das klaglos hinnehmen. Schlagartig und sehr heftig wurde mir bewusst, dass ich H verlieren könnte. Er brauchte jemanden an seiner Seite, der für ihn kämpfte. Also blieb ich bei ihm, ohne mich um die Besuchszeiten zu scheren, und wenn seine Schmerzen unerträglich wurden, lief ich der Stationsschwester hinterher, bis sie ihm half. Normalerweise bringe ich es nicht mal fertig, mir eine Pizza zu bestellen, aber das hier war etwas anderes. Das hier war ich gegen sie, das Elend meines Mannes gegen ihre starren Routinen. Ich würde mich nicht geschlagen geben.
Um neun Uhr abends ging ich an dem Sonntag nach Hause und rief stündlich im Krankenhaus an, bis H endlich im OP war. Sollten sie mich doch für hysterisch und nervig halten. Dann lag ich wach, bis mein Mann wieder raus war aus dem OP und man mir sagte, es gehe ihm gut. Trotzdem konnte ich nicht schlafen. Es gibt Situationen, in denen schlafen sich für einen anfühlt wie fallen: Erst versinkt man in köstlicher Finsternis, und dann fährt man auf einmal hoch und sieht sich suchend in der Dunkelheit um. Doch alles, was ich in jener Zeit fand, waren meine eigenen Ängste: davor, dass mein Mann unerträglich leidet; davor, dass ich ihn verlieren könnte und dann alleine weiterleben, überleben müsste.
Die ganze Woche hielt ich an seinem Krankenbett Wache, während Bert in der Schule war. Ich war da, als der Chirurg fast schon ehrfürchtig vom Entzündungszustand berichtete; ich war da, um mit wachsender Sorge zu beobachten, dass Hs Temperatur nicht sinken wollte und sein Blutsauerstoff sich nicht normalisierte. Ich half H dabei, kleine Spaziergänge auf der Station zu unternehmen, und sah ihm hinterher beim Schlafen zu. Manchmal nickte er mitten im Satz ein. Ich zog ihm saubere Sachen an und reichte ihm winzige Portionen zu essen. Ich versuchte, Bert zu beruhigen, der Angst um seinen Vater hatte, weil der an so vielen Schläuchen und Kabeln und piepsenden Geräten hing.
Irgendwo inmitten dieser Katastrophe tat sich etwas in mir auf, wie ein Riss. Ich verbrachte so viele Stunden im Auto auf dem Weg zum Krankenhaus und zurück; ich saß an Hs Bett, während er schlief; wartete in der Cafeteria, bis die Visite abgeschlossen war. Ich stand unter enormer Anspannung und war gleichzeitig dazu verdammt, ruhig zu bleiben. Die ganze Zeit musste ich anwesend und in Alarmbereitschaft sein – aber gleichzeitig war ich ein zum Nichtstun verdammter, überflüssiger Eindringling. Ich verbrachte Ewigkeiten damit, Löcher in die Luft zu starren und mich zu fragen, was ich tun sollte, während gleichzeitig alles in mir daran arbeitete, diese völlig neuen Erfahrungen irgendwie zu sortieren und in einen Zusammenhang zu bringen.
Und je tiefer dieser Riss ging, desto klarer wurde mir, was jetzt unvermeidlich auf mich zukam. Es fegte ja ohnehin bereits ein merkwürdiger, unaufhaltsamer Orkan durch mein Leben, und das hier war einfach noch eine seiner Auswirkungen. Erst vor einer Woche hatte ich meinen Job als Dozentin gekündigt – in der Hoffnung, abseits des ständigen Drucks und Lärms einer modernen Universität ein besseres Leben zu finden. Ein paar Monate musste ich jetzt noch durchhalten – und ausgerechnet am Anfang des Semesters, in der hektischsten Zeit, nahm ich mir nun Sonderurlaub, um meinen kranken Mann zu pflegen. Aber wer hätte es sonst tun sollen?
Außerdem hatte ich nach sechs Jahren mein erstes Buch veröffentlicht, und die nächste Deadline stand kurz bevor. Mein Sohn war nach den langen Sommerferien in die erste Klasse gekommen, und ich machte mir wie wohl jede Mutter Sorgen, ob er den Herausforderungen in der Schule gewachsen war. Ich steckte also mitten in einer Phase der Veränderung, und da tauchte auch noch deren große Schwester, die Sterblichkeit, auf und klopfte nicht nur an, sondern trat mit aller Macht die Tür ein.
An meinem dreißigsten Geburtstag hatte ich mich unversehens auf einer Trauerfeier wiedergefunden. Ich hatte mich mit einer Freundin in einem Pub verabredet, in dem – wie sich herausstellte, als ich mitten hineinstolperte – der letzte Akt einer irischen Beerdigung stattfand. Alle trugen Schwarz, in einer Ecke spielten zwei junge Frauen Geige und sangen Volkslieder. Ich hätte auf dem Absatz kehrtmachen und wieder rausgehen sollen, aber ich hatte Angst, meine Freundin würde mich dann nicht finden, und außerdem regnete es. Ich dachte, ich könnte einfach ein bisschen an der Tür herumlungern und würde nicht weiter auffallen. Obwohl, eigentlich weiß ich gar nicht genau, was ich dachte. Jeder vernünftige Mensch wäre gegangen und hätte der Freundin eine Nachricht geschickt. Aber ich blieb und dachte, das war mal wieder typisch für mich, dass das endgültige Ende meiner Jugend mit derartigen Vorboten des Todes garniert wurde.
Die Lage spitzte sich zu, als meine Freundin dazukam, die einer der bereits von der Bühne verschwundenen Musikerinnen verdammt ähnlich sah. Und das fand nicht nur ich. Die gesamte Familie des Verstorbenen verwechselte sie mit der verschwundenen Geigerin, alle umarmten sie, gaben ihr die Hand, klopften ihr auf die Schulter und bestanden darauf, dass sie auf einen Drink blieb. Meine Freundin hatte keine Ahnung, in was sie da hineingeraten war, ließ sich in der Annahme, es handele sich bei diesen Leuten einfach um ganz besonders gastfreundliche Iren, tatsächlich einladen und brachte es sogar fertig, sämtliche Fragen zu ihrem musikalischen Talent zu beantworten. Die anderen hielten sie vermutlich für wahnsinnig bescheiden, als sie sich selbst rundheraus jede Begabung absprach. Wir wurden nur deshalb irgendwann entlassen, weil wir Theaterkarten vorweisen konnten, die bestätigten, dass wir nun wirklich an einem anderen Ort sein sollten.
Das Ganze hatte etwas von einer eigens für mich inszenierten shakespearischen Posse. Im Rückblick war es aber durchaus eine kleine Hilfe für den schwierigen Übergang von einem Lebensjahrzehnt ins nächste. An meinem vierzigsten Geburtstag war H frisch aus dem Krankenhaus entlassen, und ich hatte sämtliche Feierlichkeiten abgesagt. Um zehn Uhr abends rief Bert nach mir, und kaum saß ich auf seiner Bettkante, übergab er sich. Und zwar einmal quer über mich drüber. Das ging fast die ganze Nacht so weiter. Aber das war dann auch egal, da ich es ohnehin aufgegeben hatte, noch auf Schlaf zu hoffen. Irgendetwas in mir hatte sich bereits verschoben.
Im Geflecht des Alltäglichen gibt es Lücken, und manchmal tun sie sich auf und man fällt durch sie hindurch ins Anderswo. Im Anderswo läuft alles in einem völlig anderen Tempo ab als im Hier und Jetzt, wo alle ständig immer weitermachen. Im Anderswo leben versteckte Geister, die nur ab und zu sehr kurz von den Menschen in der echten Welt gesehen werden. Anderswo existiert mit einer gewissen Verzögerung, man kann gar nicht richtig Schritt halten. Vielleicht habe ich mich ohnehin immer an der Grenze zum Anderswo bewegt, aber jetzt war ich dort so still und selbstverständlich gelandet wie Staub, der zwischen Bodendielen fällt. Und zu meiner Überraschung fühlte ich mich da wie zu Hause.
Der Winter war da.
*
Jeder durchlebt irgendwann mal einen Winter. Und bei manchen kehrt er immer wieder.
Winter ist nicht einfach nur eine kalte Jahreszeit. Auch im Leben kann es Phasen geben, die sich wie Winter anfühlen. Karge Phasen, in denen man sich ausgesondert, ausgeschlossen und ausgebremst fühlt, in eine Außenseiterrolle gedrängt. Das kann die Folge einer Erkrankung sein oder eines Lebensereignisses wie zum Beispiel des Verlustes eines geliebten Menschen oder der Geburt eines Kindes; aber auch das einer Demütigung oder eines Scheiterns. Man kann sich in einem Umbruch befinden und vorübergehend zwischen zwei Welten schweben. Manche derartigen winterlichen Phasen schleichen sich langsam an uns heran, manchmal begleiten sie das langsame Sterben einer Beziehung oder die schrittweise Zunahme der Zuständigkeiten für unsere alternden Eltern oder ganz allgemein den tröpfchenweisen Verlust von Zuversicht. Manche Winter brechen schlagartig ein, wenn man begreift, dass die eigenen Fähigkeiten nicht mehr benötigt werden, dass die Firma, für die man arbeitet, pleite ist oder dass der Partner sich in jemand anderen verliebt hat. Doch ganz gleich, wie sanft oder unsanft der Winter sich auf uns legt: In der Regel haben wir nicht darum gebeten, und er ist mit dem Gefühl von Einsamkeit und großem Schmerz verbunden.
Aber er lässt sich nicht abwenden. Wir stellen uns das Leben immer so gerne als einen wunderbaren, endlosen Sommer vor und glauben, wir hätten als Mensch versagt, wenn es das nicht ist. Wir träumen von einem äquatorialen Dasein, stets nah an der Sonne, von einer einzigen, immer gleichen, warmen Jahreszeit. Aber so ist das Leben nicht. Allein unser Gefühlsleben durchläuft immer wieder stickige Sommer und dunkle Winter, macht Temperaturstürze mit, ist mal viel Licht ausgesetzt, mal viel Schatten. Selbst wenn es uns aufgrund einer gehörigen Portion Selbstdisziplin und schieren Glücks gelänge, ein ganzes Leben lang gesund und glücklich zu bleiben, so könnten wir dem Winter dennoch nicht vollkommen entgehen: Unsere Eltern werden älter und sterben. Freundschaften zerbrechen. Ganz allgemein richten sich so einige Machenschaften des Lebens gegen uns. Und irgendwie, irgendwo, irgendwann versemmeln wir eben doch auch mal irgendwas. Und schon pirscht sich der Winter an.
Ich habe diese Erfahrung bereits sehr früh gemacht. Ich gehöre zu den vielen Frauen meines Alters, deren Autismus jahrzehntelang unentdeckt blieb, und so verbrachte ich meine komplette Kindheit mehr oder weniger in einem Zustand der Kälte. Mit siebzehn rutschte ich in eine Depression, die mich monatelang lähmte. Ich war damals sicher, das nicht zu überleben. Ich wollte es auch gar nicht. Aber irgendwo tief in mir drin fand ich dann doch einen Funken Überlebenswillen, und ich staunte, wie hell er glomm. Mehr noch: Er stimmte mich seltsam optimistisch. Mein persönlicher Winter hatte alles in mir ausgelöscht und mich aufgesprengt. Alles in mir war vollkommen leer, ein weißes Blatt Papier, und ich erkannte meine Chance, ganz von vorne anzufangen. Ich machte einen neuen Menschen aus mir: einen, der hin und wieder unhöflich war und nicht immer das Richtige tat, einen, dessen großes, dummes Herz viel zu verletzlich war, aber auch einen, der seinen Platz in der Welt verdiente, weil er jetzt auch etwas zu geben hatte.
Jahrelang erzählte ich jedem, der bereit war, mir zuzuhören: »Mit siebzehn hatte ich einen Nervenzusammenbruch.« Den meisten war es peinlich, das zu hören, aber manche waren dankbar, eine Gemeinsamkeit mit mir festzustellen. So oder so war ich überzeugt dass über derlei Themen geredet werden musste und dass ich, die ich Strategien erlernt hatte, damit umzugehen, anderen davon erzählen sollte. Das bewahrte mich nicht restlos vor weiteren Tiefs und Abstürzen, aber es minimierte tatsächlich das Risiko. Ich entwickelte ein Gespür für meine Winterphasen – wie lange sie dauerten, wie breit sie sich machten, wie heftig sie zuschlugen. Ich wusste, dass sie vorbeigehen würden. Ich wusste, dass ich einfach nur herausfinden musste, wie ich am besten durch sie hindurchkam, bis der Frühling wieder einsetzte.
Mir ist klar, dass mein Anliegen gegen jede Regel für höflichen Smalltalk verstößt. Dass Menschen phasenweise nicht mit dem ganz normalen Leben zurechtkommen, ist in unserer Gesellschaft immer noch ein Tabuthema. Wir werden nicht dazu erzogen, unsere persönlichen Winterperioden als solche zu erkennen, geschweige denn, ihre Notwendigkeit anzuerkennen. Stattdessen tendieren wir dazu, solche Phasen als Demütigungen zu betrachten, als etwas, das wir besser vor anderen verbergen, wenn wir die Welt nicht schockieren wollen. Nach außen setzen wir eine tapfere Miene auf, und wenn wir allein sind, fallen wir in uns zusammen. Wir tun, als würden wir die Kämpfe der anderen gar nicht sehen. Wir tun, als wäre jede dieser Winterphasen eine beschämende Anomalie, die es zu verstecken oder zu ignorieren gilt. So haben wir es geschafft, aus einem völlig normalen Vorgang ein großes Geheimnis zu machen und all jene, die einen solchen Vorgang durchleiden, zu Aussätzigen zu degradieren, denen nichts anderes übrigbleibt, als sich aus dem täglichen Leben zurückzuziehen, um ihr Scheitern zu verbergen. Und das kommt uns teuer zu stehen. Denn Winter- und Ruhephasen bescheren uns einige der wichtigsten und einsichtsvollsten Momente überhaupt: Menschen, die solche Phasen durchlebt haben, gehen weiser aus ihnen hervor.
In unserer unablässig geschäftigen modernen Welt streben wir aber ständig danach, jede Art von Winter zu vermeiden. Wir wagen es nicht, seine volle Kälte zu spüren, und wir wagen auch nicht, anderen zu zeigen, wie sehr er uns zusetzt. Ein kurzer, knackiger Winter hin und wieder würde uns allen guttun. Wir müssen uns von dem Glauben verabschieden, dass derartige Lebensphasen irgendwie albern seien und schwachen Nerven oder mangelnder Willenskraft geschuldet. Wir dürfen sie nicht länger ignorieren oder versuchen, sie abzuschütteln. Es gibt sie, es gibt sie wirklich, und sie wollen uns etwas sagen. Wir müssen lernen, unsere Winter zuzulassen. Es liegt nicht bei uns, ob ein Winter einkehrt – aber es liegt bei uns, wie wir mit ihm umgehen.
*
Erstaunlich viele Romane und Märchen spielen im Schnee. Unser Winterwissen ist ein Fragment aus der Kindheit, fast wie angeboren. Tiere treffen viele sorgfältige Vorbereitungen, um die kalten, nahrungsarmen Monate zu überstehen: Die einen verkriechen sich monatelang in ihren Bau, die anderen ziehen in wärmere Gefilde. Bäume werfen ihr Laub ab. Das ist alles kein Zufall. Die Veränderungen, die im Winter stattfinden, haben etwas Alchimistisches. Ganz gewöhnliche Wesen machen wundersame Wandlungen durch, um zu überleben. Haselmäuse fressen sich fett, bevor sie in den Winterschlaf gehen, Schwalben fliegen nach Südafrika, Bäume stehen in den letzten Herbstwochen in Flammen. Es gehört nicht viel dazu, die strotzenden Frühlings- und Sommermonate zu überleben. Die wahre Pracht der Natur wird im Winter deutlich, wenn sie trotz magerer Zeiten erblüht.
Pflanzen und Tiere kämpfen nicht gegen den Winter an. Sie tun nicht so, als würde der Winter gar nicht einziehen, sie versuchen nicht, genauso weiterzuleben wie im Sommer. Sie bereiten sich vor. Sie passen sich an. Sie durchlaufen unglaubliche Metamorphosen, um den Winter zu überstehen. Winter ist die Zeit des Rückzugs von der Welt, der maximalen Ausnutzung knapper Ressourcen, brutaler Effizienz und Unsichtbarwerdung – aber genau da findet Verwandlung statt. Winter ist nicht Tod, ist nicht das Ende eines Lebens, sondern eine Bewährungsprobe.
Wenn wir aufhören, uns ständig nach Sommer zu sehnen, kann der Winter eine ganz wunderbare Jahreszeit werden, in der die Welt von sparsamer Schönheit ist und selbst der Asphalt funkelt. Eine Zeit zum Nachdenken, zum Erholen, zum langsamen Wiederaufladen, zum Aufräumen.
All das ist verdammt uncool, und wer die Dinge langsamer angeht, sich mehr unverplante Zeit und mehr Schlaf gönnt, wer sich einfach mal ausruht, handelt heutzutage fast schon radikal – dabei ist genau das doch lebenswichtig. Wir alle kennen solche Momente, in denen wir uns entscheiden müssen: Streifen wir unsere alte Haut ab oder nicht? Wer es tut, ist mehr als nackt, er ist wund, dem tut alles weh, und er kann sich eine ganze Weile nur um sich selbst kümmern. Und wer das nicht tut, dessen Haut wird verhärten.
Es ist eine der wichtigsten Entscheidungen im Leben.