Rachel Cusk
Der andere Ort
Roman
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Suhrkamp
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Second Place bei Faber & Faber, London
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2021
Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2021.
Korrigierte Fassung, 2021.
© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2021
© 2021, Rachel Cusk
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Umschlagabbildung: Zeichnung von Pierre Charpin, ohne Titel, farbige Tinte, 2013
Umschlaggestaltung: Anzinger und Rasp, München
eISBN 978-3-518-76963-8
www.suhrkamp.de
Der andere Ort
Ich habe dir einmal erzählt, Jeffers, wie ich in einem Zug ab Paris den Teufel getroffen habe und wie nach dieser Begegnung das Böse, das für gewöhnlich ungestört unter der Oberfläche der Dinge schlummert, sich erhob und über jeden Bereich meines Lebens ergoss. Es war wie eine Verseuchung, Jeffers: Es hat alles erreicht und verdorben. Wie viele Bereiche das Leben hat, wurde mir wohl erst klar, als jeder einzelne davon seine Verderblichkeit offenbarte. Ja, du hast es immer gewusst, du hast darüber geschrieben, auch wenn die Leute nichts davon hören wollten und es ermüdend fanden, sich dem auszusetzen, was falsch und schlecht ist. Trotzdem hast du nicht aufgegeben und für jene, bei denen etwas schiefging, eine Zuflucht erschaffen. Und irgendwas geht immer schief!
Angst ist eine Gewohnheit wie jede andere, und Gewohnheiten töten ab, was für uns wesentlich ist. Aus meinen Jahren der Angst ist mir ein Gefühl von Leere geblieben. Ich lebte in der ständigen Erwartung, etwas könnte mich anspringen; ich fürchtete, den Teufel lachen zu hören wie damals an dem Tag, als er mich auf und ab durch den Zug verfolgte. Der Nachmittag war sehr heiß, und weil die Waggons so voll waren, glaubte ich, ich könnte ihm entkommen, indem ich einfach aufstand und mich woanders hinsetzte. Aber jedes Mal, wenn ich den Platz gewechselt hatte, saß er mir schon nach wenigen Minuten wieder hingefläzt gegenüber und lachte. Was wollte er von mir, Jeffers? Er sah entsetzlich fahl und aufgedunsen aus und hatte blutunterlaufene, gallegelbe Augen. Beim Lachen entblößte er seine dreckigen Zähne, einer genau in der Mitte war komplett schwarz. Er trug Ohrringe und seine lächerliche Kleidung war fleckig von dem Schweiß, der aus seinen Poren strömte. Je mehr er schwitzte, desto mehr lachte er! Und er redete pausenlos in einer Sprache, die ich nicht erkannte, aber es war laut und klang nach Fluchen. Man konnte es nicht einfach ignorieren, und doch taten die anderen Passagiere genau das. Er hatte ein Mädchen dabei, Jeffers, ein schockierend junges Ding, fast noch Kind, angemalt und kaum bekleidet. Sie saß mit geöffneten Lippen und dem weichen Blick eines stummen Tiers auf seinem Schoß, während er sie streichelte, und niemand sagte oder tat etwas dagegen. Stimmte es, war ich von allen Reisenden diejenige, die es am ehesten versuchen würde? Wollte er mich dazu bringen, war er mir deswegen durch die Waggons gefolgt? Aber ich war ja nicht einmal in meinem Land, sondern nur auf der Durchreise; ich war auf dem Rückweg in ein Zuhause, an das ich mit heimlichem Grauen dachte, deshalb war es wohl kaum an mir, ihn aufzuhalten. Es ist so leicht, sich ausgerechnet in dem Moment zu sagen, man zähle nicht, wenn die moralische Verpflichtung als Individuum sich offen zeigt. Hätte ich mich ihm widersetzt, wäre alles, was danach kam, vielleicht nie passiert. Doch ausnahmsweise dachte ich: Soll jemand anderes sich darum kümmern! Und so verlieren wir die Kontrolle über unser Schicksal.
Mein Mann Tony sagt manchmal, ich unterschätze meine Macht, und ich frage mich, ob zu leben für mich deswegen riskanter ist, so gefährlich wie für einen Menschen, der keinen Schmerz empfinden kann. Ich habe mir oft gedacht, dass gewisse Personen die Lehren des Lebens einfach nicht annehmen können oder wollen und dass sie für die anderen entweder ein Ärgernis sind oder ein Geschenk. Was sie auslösen, könnte man eine Störung nennen, oder auch eine Veränderung – entscheidend ist, dass sie etwas anstoßen, auch ohne es zu beabsichtigen oder zu wollen. Ständig stiften sie Unruhe, sie widersprechen, stören den Status quo und können es einfach nicht lassen. An sich sind sie, das darf man nicht vergessen, weder gut noch schlecht, aber wenn sie damit konfrontiert werden, können sie das Gute durchaus vom Schlechten unterscheiden. Ist das der Grund, warum in unserer Welt das Gute und das Schlechte Seite an Seite gedeihen können, Jeffers? Weil gewisse Menschen verhindern, dass das eine die Oberhand über das andere gewinnt? An dem Tag im Zug hatte ich beschlossen, so zu tun, als wäre ich keiner dieser Menschen, denn auf einmal erschien mir das Leben dort drüben hinter den Büchern und Zeitungen, die die Leute sich vors Gesicht hielten, um den Teufel nicht sehen zu müssen, so viel leichter!
Gewiss ist nur, dass sich danach viele Veränderungen ergaben. Um sie zu überstehen, brauchte ich all meine Kraft, meinen Glauben an das Richtige und meine Leidensfähigkeit, und trotzdem hätten sie mich fast umgebracht. Und dann wurde ich niemandem mehr lästig, sogar meine Mutter war eine Zeitlang der Meinung, sie könne mich gut leiden. Schließlich lernte ich Tony kennen und er half mir, mich zu erholen, und nachdem er mir ein friedliches, ruhiges Leben hier draußen auf der Marsch geschenkt hatte, fiel mir nichts Besseres ein, als an der Schönheit und der Ruhe herumzumäkeln und sie zu stören! Du kennst die Geschichte, Jeffers, denn ich habe sie woanders aufgeschrieben; ich erwähne sie nur, damit du siehst, wie sie mit dem zusammenhängt, was ich dir jetzt erzählen möchte. Ich hatte den Eindruck, ohne Immunität wäre die ganze Schönheit zu nichts gut, denn wenn ich sie zerstören konnte, konnte das jeder. Aber was für eine rätselhafte Macht ich auch besitze – sie ist nichts im Vergleich zur Macht der Dummheit. Das war und bleibt meine einzige Erklärung, denn ich hätte die Gelegenheit nutzen und hier draußen in idyllischer, ungestörter Ohnmacht leben können. In der Ilias erwähnt Homer die prächtigen Häuser und Berufe der Männer, die in der Schlacht dahingemetzelt werden, auch ihre extravaganten Rüstungen und ihre handgeschmiedeten Streitwagen und Schilde vergisst er nicht. Das schöne Kultivieren und Bauen, der ganze Besitz von Schwertern zerhackt und zertrampelt in den Sekunden, die es braucht, eine Ameise zu zertrampeln.
Ich möchte mit dir zu jenem Pariser Vormittag zurückkehren, bevor ich in den Zug mit dem aufgedunsenen, gelbäugigen Teufel stieg, Jeffers; ich möchte, dass du ihn vor Augen hast. Denn du bist ein Moralist, und nur ein Moralist wie du wird verstehen, warum der an jenem Tag gelegte Brand jahrelang weiterschwelen konnte, warum sein Glutkern unentdeckt blieb und sich im Verborgenen nährte, um sich, sobald meine Lebensbedingungen wiederhergestellt waren, an den neuen Umständen zu entzünden und abermals aufzulodern. Gelegt wurde dieser Brand an einem frühen Morgen in Paris, als eine verführerische Dämmerung die blasse Silhouette der Île de la Cité umhüllte und die Luft in jener absoluten Trägheit verharrte, die einem schönen Tag vorausgeht. Der Himmel wurde blau und blauer, grüne Wolken aus frischem Blattwerk standen reglos in der Wärme, Blöcke aus Licht und Schatten zerteilten die Straßen und erinnerten an die ewigen, urzeitlichen Formen, die auf Berghängen liegen und die das Gestein aus sich selbst hervorzubringen scheint. Die Stadt war still und fast menschenleer, als wäre sie selbst menschlich und dürfte sich nur in einem unbeobachteten Moment zeigen. Während der kurzen, heißen Sommernacht hatte ich in meinem Hotelbett wachgelegen, und als ich die Dämmerung zwischen den Vorhängen sah, stand ich auf und ging zum Fluss hinunter. Es erscheint vermessen, wenn nicht gar unsinnig, dir meine Erlebnisse schildern zu wollen, als wären sie von der geringsten Bedeutung, aber zweifellos steht dort unten am Fluss jemand, jetzt in dieser Minute, und begeht wie ich die Sünde zu glauben, alles geschähe aus gutem Grund und der Grund sei sie selbst! Aber ich muss dir meinen Geisteszustand an jenem Morgen vermitteln, meinen erhabenen Glauben an die Möglichkeiten, denn nur so wirst du verstehen, was sich daraus ergab.
Den Abend hatte ich in Begleitung eines berühmten Schriftstellers verbracht, der eigentlich gar nicht so bedeutend war, sondern einfach nur ein Mann mit viel Glück. Ich hatte ihn bei einer Vernissage kennengelernt, und dass er sich so sehr bemüht hatte, mich von dort loszueisen, schmeichelte meiner Eitelkeit. Obwohl ich zu der Zeit jung und wahrscheinlich auch ganz hübsch war, wurde mir nur selten sexuelle Aufmerksamkeit zuteil. Das Problem war meine stumme, hündische Loyalität. Der Schriftsteller war natürlich ein unerträglicher Egomane, ein Lügner noch dazu und nicht mal ein besonders guter; aber ich war für einen Abend allein in Paris, während in der Heimat mein kritischer Mann und mein Kind auf mich warteten, und so durstig nach Liebe, dass ich wohl aus jeder Quelle getrunken hätte. Wirklich, Jeffers, ich war ein Hund – ich trug ein erdrückendes Gewicht mit mir herum und konnte mich nur noch sinnlos winden wie ein gequältes Tier. Der Schmerz zog mich in die Tiefe, wo ich um mich schlug und strampelte, um mich zu befreien und an die leuchtende Oberfläche des Lebens zu schwimmen – zumindest sah sie von unten so aus. Als der Egomane und ich von Bar zu Bar und durch die Pariser Nacht zogen, erwog ich zum ersten Mal die Zerstörung des Lebens, das ich mir aufgebaut hatte – nicht ihm zuliebe, das kann ich dir versichern, sondern im Interesse einer gewaltsamen Veränderung, die er zu verkörpern schien und die mir bis zu jenem Abend nie in den Sinn gekommen war. Der von seiner eigenen Wichtigkeit dauerberauschte Egomane redete pausenlos von sich und schob sich Pfefferminzpastillen in den Mund, wann immer er sich unbeobachtet glaubte. Aber mir konnte er nichts vormachen, auch wenn ich es mir, das muss ich zugeben, gewünscht hätte. Er setzte sich mehrfach die Pistole auf die Brust, aber natürlich drückte ich nicht ab; ich spielte mit und glaubte es fast selbst, für ihn bloß noch mehr von dem Glück, das ihn offenbar sein Leben lang begleitet hatte. Um zwei Uhr morgens verabschiedeten wir uns vor dem Hotel, wo er mir auf unverhohlene, geradezu unhöfliche Weise zu verstehen gab, dass ich es in seinen Augen nicht wert war, für eine gemeinsame Nacht seinen Status quo zu riskieren. Ich ging ins Bett und klammerte mich an die Erinnerung seiner Aufmerksamkeit, bis das Dach über mir wegzufliegen schien, die Wände einstürzten und die Bedeutung meiner Gefühle mich umfing wie eine riesige, sternenklare Dunkelheit.
Warum müssen wir unsere eigenen Fiktionen so schmerzhaft durchleben? Warum leiden wir an dem, was wir selbst erfunden haben? Kannst du es mir sagen, Jeffers? Mein Leben lang habe ich mich nach Freiheit gesehnt, aber in Wahrheit habe ich nicht einmal einen kleinen Zeh freibekommen. Tony hingegen scheint frei zu sein, wobei seine Freiheit ziemlich unspektakulär aussieht. Im Frühling steigt er auf seinen blauen Traktor und mäht das hohe Gras; ich schaue zu, wie er in aller Ruhe und mit einem großen Schlapphut auf dem Kopf seine Runden zieht, hin und her im Motorenlärm und über sich den Himmel. Ringsum schwellen die Kirschbäume an, die kleinen Noppen an den Zweigen bemühen sich ihm zuliebe, zu platzen und aufzublühen, und wenn er vorbeifährt, schießt die Feldlerche empor, hängt sich trällernd in den Himmel und wirbelt herum wie eine Akrobatin. Währenddessen sitze ich da, starre vor mich hin und habe nichts zu tun. In Sachen Freiheit habe ich bislang nicht mehr geschafft, als unliebsame Dinge und Menschen loszuwerden, und seither ist nicht mehr viel übrig! Wenn Tony das Land bestellt hat, raffe ich mich auf, um für ihn zu kochen, gehe in den Garten, pflücke Kräuter und hole Kartoffeln aus dem Schuppen. Obwohl sie dort in kompletter Dunkelheit liegen, bilden sie um diese Jahreszeit Triebe aus; sie recken weiße, fleischige Ärmchen in die Höhe und wissen: Jetzt ist Frühling. Und manchmal betrachte ich eine und begreife, dass eine Kartoffel mehr vom Leben versteht als die meisten Menschen.
Am Morgen nach dem Abend in Paris stand ich auf und ging zum Fluss hinunter, fast ohne den Boden unter meinen Füßen zu spüren. Das grüne, glitzernde Wasser, die wettergegerbten Häuser aus hellbeigem Stein und die Morgensonne, deren Licht auf die Fassaden fiel und auf mich, die ich daran vorbeiging, sorgten für so viel Auftrieb, dass ich schwerelos wurde. Ich frage mich, ob geliebt zu werden sich genau so anfühlt; wobei ich die wichtige Liebe meine, jene, die man empfängt, noch bevor man weiß, dass man existiert. In dem Moment fühlte ich mich grenzenlos sicher. Was, frage ich mich heute, habe ich damals gesehen, was hat mir dieses Gefühl vermittelt, wo ich doch in Wirklichkeit alles andere als sicher war? Wo ich tatsächlich einen kurzen Blick auf eine Möglichkeit geworfen hatte, die wie ein Tumor wachsen, mein Leben zersetzen und mich einiges an Jahren und Substanz kosten würde, und nur wenige Stunden später dem Teufel gegenübersaß?
Ich musste eine ganze Weile ziellos umhergestreift sein, denn als ich wieder zur Straße hinaufstieg, waren die Läden geöffnet und die sonnigen Schluchten voller Menschen und Autos. Weil ich Hunger hatte, achtete ich auf die Schaufenster und hielt nach einem Geschäft Ausschau, wo ich etwas zu essen kaufen könnte. Für so etwas habe ich kein Talent, Jeffers; ich habe Schwierigkeiten, meine eigenen Bedürfnisse zu erfüllen. Wenn ich sehe, wie andere bekommen, was sie wollen, indem sie Forderungen stellen und sich vordrängeln, verzichte ich lieber und ziehe mich zurück. Dann schäme ich mich für ihre Bedürftigkeit, und für meine. Das klingt nach einer lächerlichen Eigenschaft, aber ich habe immer schon gewusst, dass ich im Krisenfall die Erste sein werde, die totgetrampelt wird; wobei mir aufgefallen ist, dass Kinder auch so sind und sich für ihre körperlichen Bedürfnisse schämen. Doch wenn ich Tony erkläre, dass ich nicht um meinen Anteil kämpfen und als Erste untergehen würde, lacht er und sagt, das glaube er nicht. So viel zum Thema Selbsterkenntnis, Jeffers! Aber wie auch immer – an dem Morgen waren in Paris nicht viele Menschen unterwegs, und in der Gegend um die Rue du Bac, wo ich gestrandet war, gab es absolut nichts zu essen. Stattdessen waren die Geschäfte voll mit ausgefallenen Textilien, Kuriosem aus der Kolonialzeit und Antiquitäten, die einen gewöhnlichen Menschen mehrere Monatsgehälter gekostet hätten, und einem besonderen Geruch, der wohl der Duft des Geldes war. Im Vorübergehen betrachtete ich die Auslagen in den Fenstern, als dächte ich daran, so früh am Morgen eine große, geschnitzte Holzmaske aus Afrika zu kaufen. Die Straßen bildeten schnurgerade Schluchten aus Licht und Schatten, und ich achtete darauf, immer in der Sonne zu gehen, ohne weiteres Ziel oder Orientierung. Bald sah ich vor mir auf dem Gehweg ein Schild, und auf dem Schild ein Bild. Das Bild, Jeffers, zeigte ein Gemälde von L und warb für eine Ausstellung seiner Arbeiten in einer Galerie ganz in der Nähe. Schon aus der Ferne erkannte ich etwas darin wieder, auch wenn ich bis heute nicht sagen kann, was es war. Ich hatte vage von L gehört, wusste aber nicht mehr, wo und in welchem Zusammenhang, und auch nicht, wer er war oder was er malte. Trotzdem sprach er zu mir, dort auf der Pariser Straße, und ich folgte den Schildern, bis ich zu der Galerie gelangt war. Die Tür stand offen, ich ging ohne Zögern hinein.
Du wirst wissen wollen, Jeffers, welches Bild man als Plakatmotiv ausgewählt und warum es mich in der Weise berührt hatte. Oberflächlich betrachtet gibt es keinen besonderen Grund, warum Ls Werk eine Frau wie mich – oder überhaupt eine Frau – anziehen sollte, schon gar keine junge Mutter kurz vor der Rebellion, deren unstillbare Sehnsüchte sich in umgekehrter Form aus Ls Bildern herauszukristallisieren schienen, aus einer Aura absoluter Freiheit, die grundsätzlich, schonungslos und bis in den letzten Pinselstrich männlich war. Die Frage verlangt nach einer klaren, zufriedenstellenden Antwort, die es nicht gibt, außer dass diese Aura männlicher Freiheit sich in den meisten Darstellungen der Welt und der menschlichen Erfahrung wiederfindet und wir Frauen es gewohnt sind, sie in etwas für uns Erkennbares zu übersetzen. Wir holen ein Wörterbuch und lösen das Rätsel, wir meiden alles, was wir nicht deuten oder verstehen können, und auch das, was für uns bekanntermaßen tabu ist, und voilà – haben teil. Es handelt sich um einen Fall von fremden Federn, manchmal von glatter Nachahmung. Da ich mich ohnehin nie besonders weiblich gefühlt habe, hat sich die Angewohnheit der Nachahmung bei mir anscheinend tiefer eingeprägt als bei anderen, in dem Ausmaß, dass einige meiner Anteile in der Tat männlich zu sein scheinen. Erwiesenermaßen wurde mir von Anfang an und unmissverständlich klargemacht, alles wäre besser – stimmiger, so, wie es sein sollte –, wäre ich ein Junge. Gleichzeitig hatte ich für meine männlichen Anteile nie eine Verwendung gefunden, was L mir in der Zeit, von der ich dir berichten möchte, vor Augen führen sollte.
Das Bild war übrigens ein Selbstporträt, eines jener fesselnden Gemälde, auf denen L sich in einem Abstand zeigt, wie man ihn zwischen sich und einem Unbekannten wahren würde. Fast scheint er überrascht, das eigene Gesicht zu sehen; sein Blick ist so sachlich und mitleidslos, als betrachte er einen Fremden auf der Straße. Er trägt ein gewöhnliches kariertes Hemd und sein Haar ist zurückgestrichen und gescheitelt, doch trotz der Kälte in seinen Augen – eine kosmische Kälte und Einsamkeit, Jeffers – wirkt die Darstellung der Details, des zugeknöpften Hemds, der gescheitelten Haare, der ausdruckslosen, von Wiedererkennen unberührten Mimik menschlicher und liebevoller als alles auf der Welt. Bei seinem Anblick empfand ich Mitleid, Mitleid für mich und für uns alle, das wortlose Mitleid einer Mutter für ihr sterbliches Kind, das sie dennoch voller Zärtlichkeit kämmt und ankleidet. Es versetzte mir, könnte man sagen, in meinem seltsam erhabenen Zustand den letzten Ruck, und ich spürte, wie ich aus einem Rahmen herausrutschte, in dem ich jahrelang gelebt hatte, dem Rahmen menschlicher Verwicklungen unter bestimmten Umständen. In dem Moment tauchte ich aus meinem Leben auf und löste mich von meiner Geschichte ab. Ich hatte genug Freud gelesen und hätte daher wissen müssen, wie albern das alles war, doch anscheinend hatte ich Ls Bild gebraucht, um es wirklich zu sehen. Mit anderen Worten erkannte ich plötzlich, dass ich allein war, und auch, dass dieser Zustand, der sich mir nie zuvor offenbart hatte, ein Geschenk und eine Belastung zugleich war. Wie du weißt, Jeffers, interessiere ich mich sehr für die Existenz dessen, wovon wir noch keine Kenntnis haben, nicht zuletzt, weil es mir schwerfällt zu glauben, dass es überhaupt existiert! Wenn man kritisiert wurde, solange man denken kann, ist man mehr oder weniger unfähig, sich in einer Zeit und einem Raum jenseits der Kritik zu verorten, mit anderen Worten zu glauben, dass man tatsächlich existiert. Die Kritik erscheint wirklicher als man selbst; in der Tat scheint sie einen erst erschaffen zu haben. Ich glaube, viele Menschen tragen dasselbe Problem mit sich herum, und es führt zu allen möglichen Schwierigkeiten – in meinem Fall zu einer Trennung von Körper und Geist von Beginn an, als ich erst wenige Jahre alt war. Aber eigentlich wollte ich darauf hinaus, dass manche Bilder und Kunstwerke in der Lage sind, uns Erleichterung zu verschaffen. Sie stellen uns einen Ort zur Verfügung, an dem wir uns zeitweise aufhalten können, während alle anderen Räume von der Kritik besetzt sind, die immer schon da war. Die aus Wörtern gemachte Kunst schließe ich hier allerdings aus, denn sie hat nicht denselben Effekt, wenigstens nicht auf mich, weil sie, bevor sie mich erreichen kann, meinen Geist durchlaufen muss. Meine Wertschätzung der Wörter ist zwangsläufig eine geistige. Kannst du mir das verzeihen, Jeffers?
So früh am Morgen war noch keine Menschenseele in der Galerie, das Sonnenlicht fiel durch die hohen Fenster ein und bildete leuchtende Pfützen am Boden, und ich ging durch die stillen Räume und fühlte mich so glücklich wie ein Waldfaun am ersten Schöpfungstag. Die Ausstellung nannte sich eine »große Retrospektive«, was wohl bedeutet, dass jemand endlich so wichtig geworden ist, dass er sterben darf – dabei war L zu dem Zeitpunkt gerade einmal fünfundvierzig. Es gab mindestens vier Säle, und ich verschlang sie einen nach dem anderen. Und jedes Mal, wenn ich vor einen Rahmen trat – von der kleinsten Skizze bis zur größten Landschaftsansicht –, beschlich mich dasselbe Gefühl. Irgendwann war ich überzeugt, es unmöglich noch ein weiteres Mal fühlen zu können, doch es stellte sich zuverlässig ein, wieder und wieder und vor jedem neuen Bild. Wie soll ich es beschreiben? Es war ein Gefühl, Jeffers, aber es war auch ein Satz. Nach allem, was ich eben sagte, mag widersprüchlich erscheinen, dass ausgerechnet Wörter das Gefühl begleitet haben sollen. Doch nicht ich hatte sie gefunden, sondern die Bilder, irgendwo in mir. Ich weiß nicht, wem sie gehörten oder wer sie sprach; ich weiß nur, dass sie gesprochen wurden.
Auf vielen der Bilder waren Frauen zu sehen, vor allem eine, und meine Empfindungen bei ihrem Anblick kamen mir schon ein wenig bekannter vor, auch wenn sie mir damals seltsam schmerzlos und entkörperlicht erschienen. Da war die kleine Kohleskizze einer schlafenden Frau in einem Bett, ihr dunkler Kopf kaum mehr als ein zur Unkenntlichkeit verwischter Fleck zwischen zerwühlten Laken. Ich muss gestehen, dass angesichts dieser unübersehbaren Leidenschaft ein stummer, bitterer Schluchzer aus meinem Herzen aufstieg, schien sie doch all das einzuschließen, was ich im Leben nie erfahren hatte und vielleicht auch nie erfahren würde. Einige der größeren Bilder waren Porträts einer dunkelhaarigen, ziemlich drallen Frau, oft mit L an ihrer Seite, und ich fragte mich, ob der verwischte, vom Verlangen fast ausradierte Fleck im Bett dieselbe Person darstellen sollte. In den meisten Porträts trägt sie irgendeine Maske oder Verkleidung. Manchmal scheint sie ihn zu lieben, manchmal nur zu ertragen. Doch wenn sein Verlangen kommt, löscht es sie aus.
Am deutlichsten hörte ich den Satz aus den Landschaften heraus, und ebenjene Bilder waren es, die jahrelang in meinem Gedächtnis schwelten – bis zu der Zeit, von der ich dir nun berichten möchte, Jeffers, in der das Feuer erneut ausbrach. Die Religiosität von Ls Landschaften! Falls man die menschliche Existenz eine Religion nennen kann. Wenn er eine Landschaft malt, erinnert er sich daran, sie zu sehen, treffender kann ich dir seine Bilder und die Gefühle, die sie an dem Tag in mir auslösten, nicht beschreiben. Zweifellos könntest du das viel besser als ich. Aber du sollst verstehen, warum ich an einem anderen Ort und viele Jahre später, als ich mit Tony auf der Marsch lebte und mein Denken sich sehr verändert hatte, wieder an L und seine Landschaften denken musste. Inzwischen weiß ich, dass ich mich in Tonys Marsch verliebt habe, weil sie dieselbe Eigenschaft besitzt, die Anmutung von etwas Erinnertem, das Teil des lebendigen Moments und nicht von ihm zu trennen ist. Sie einzufangen, ist mir nie gelungen, und ich weiß auch nicht mehr, warum ich überhaupt auf die Idee gekommen war, sie müsse eingefangen werden; aber ein besseres Beispiel für den menschlichen Schicksalsglauben werden wir vorläufig wohl nicht zu fassen bekommen!
Sicher fragst du dich, Jeffers, welcher Satz es war, der so deutlich aus Ls Bildern zu mir sprach. Er lautete: Ich bin hier. Ich werde nicht sagen, was diese Worte meiner Meinung nach bedeuten oder auf wen sie sich beziehen, denn das wäre, als wollte ich sie vom Leben abhalten.