Kaum kehrt Moira, Übersetzerin und frisch getrennt, nach Jahren in das Tessiner Dörfchen Montagnola zurück, wird ein Toter in einer Nevèra, einem der dort typischen historischen Eiskeller, gefunden. An den polizeilichen Ermittlungen beteiligt ist auch Moiras Jugendliebe Luca Cavadini, inzwischen leitender Rechtsmediziner des Kantons, der sie bald als Dolmetscherin um Hilfe bittet. Die Befragungen in der Dorfgemeinschaft gestalten sich schwierig, doch bald wird klar, dass es im beschaulichen Tessin nicht gar so friedlich zugeht, wie es zunächst den Anschein hat.
Mascha Vassena wurde 1970 geboren, studierte Kommunikationsdesign, war Mitherausgeberin einer Literaturzeitschrift und organisierte Poetry Slams. Nach dem Studium arbeitete sie als freie Journalistin und Redakteurin in Hamburg. Für ihre Texte erhielt sie mehrere Auszeichnungen, u. a. den Hamburger Literaturförderpreis und ein Stipendium der Akademie Schloss Solitude. Von ihr sind bislang der Erzählband Räuber und Gendarm sowie fünf Romane erschienen. Neben dem Schreiben hält sie Workshops für Autor:innen und ist als freie Literaturagentin tätig. Seit 2004 wohnt sie mit ihrer Familie am Luganer See und möchte nie mehr weiter als einen Spaziergang vom Wasser entfernt leben.
MORD in
MONTAGNOLA
Moira Rusconi ermittelt
EICHBORN
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen.
Die Figuren und die Handlung dieses Romans sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
© Mascha Vassena 2021. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb.
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Jan Wielpütz, Bergisch Gladbach
Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille
unter Verwendung eines Motivs von © Anton_Ivanov/shutterstock
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-2061-8
www.eichborn.de
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Anfangs war er vor allem wütend gewesen. Aber die Zeit hatte ihn mürbe gemacht. Es drang kaum Licht durch die Türritzen bis auf den Grund seines Gefängnisses, und obwohl draußen die Sonne schien, war es hier unten kühl und klamm. Nachts fror er, trotz der Decke, die man ihm gegeben hatte, und die Fesseln machten ihn wahnsinnig. Er konnte nicht einmal aufrecht stehen, nur sitzen, und das Metall hatte seine Handgelenke inzwischen aufgerieben – zwei glühende Armreife, die sich täglich tiefer in sein Fleisch fraßen. Am schlimmsten war allerdings, dass er nicht wusste, wie lange er hierbleiben musste. Inzwischen war er sich nicht mehr sicher, ob er jemals wieder hier herauskommen würde oder ob seine Welt für immer aus einer Steinmauer bestehen würde, die sich in einem Kreis von viereinhalb Metern Durchmesser um ihn schloss.
Manchmal glaubte er zu träumen, so irreal erschien ihm seine Situation. Er hätte gerne die Wände berührt, um sich ihrer Echtheit zu versichern, doch die Kette, die an einem Ring im Boden befestigt war, hielt ihn zurück und verkleinerte seinen Aktionsradius auf wenige Meter. Er musste gebückt im Kreis gehen, um sich etwas Bewegung zu verschaffen, doch nach einiger Zeit schmerzte sein gebeugter Rücken dermaßen, dass er es aufgab. Stattdessen versuchte er, ein wenig Gymnastik zu treiben und die Blutzirkulation in Gang zu halten, indem er sich auf den Rücken legte und wie ein Käfer mit den Beinen strampelte.
Wer hätte gedacht, dass man so schnell seine Würde verlieren konnte? Seine Notdurft verrichtete er am äußeren Rand seines Bewegungsradius, möglichst weit von seinem Schlafplatz entfernt. Es gab nichts hier unten, was ihm Trost geboten hätte. Nichts, womit man sich ablenken konnte. Er war nie gut darin gewesen, mit sich selbst alleine zu sein. Wenigstens ein paar Zeitschriften hätte man ihm geben können, ein Brettspiel oder etwas zum Schreiben. Doch man wollte ihn bestrafen, ihn leiden lassen, und das auf unbestimmte Zeit.
Er war schon so weit, dass er dankbar für den heißen Tee war, der ihm in einer Thermoskanne gebracht wurde. Wenn er zwei bis drei Tassen getrunken hatte, fiel er in einen traumlosen Schlaf, erlöst davon, die Zeit bewusst wahrnehmen zu müssen, und erlöst von seinen Gedanken, die hier unten in der Einsamkeit und Stille endlos umeinanderkreisten.
Wahrscheinlich war dem Tee ein Schlafmittel beigemischt. Am liebsten hätte er die ganze Zeit so verbracht, ohne Bewusstsein. Doch das würde seinen Aufenthalt hier unten zu bequem machen und seine Strafe zu sehr erleichtern. Der Tee reichte nie, um sich für länger als einige Stunden aus der Wirklichkeit zu verabschieden. Dennoch gelang es ihm nicht, ihn so einzuteilen, dass er den ganzen Tag in einem angenehmen Dämmerzustand verbringen konnte. Er war zu gierig darauf, zumindest für kurze Zeit seine Lage vollkommen auszublenden.
Heute schmeckte der Tee anders. Es war dieselbe Sorte wie immer, Pfefferminz, aber der Aufguss hatte, obwohl gezuckert, einen bitteren Beigeschmack, der seinen Gaumen zusammenzog. Vielleicht war es diesmal ein anderes Schlafmittel.
Er setzte sich mit angezogenen Knien auf den Boden und wartete auf die Müdigkeit, und tatsächlich kam es ihm vor, als hätte er eine Zeit lang geschlafen, als er wieder zu sich kam. Doch er saß immer noch aufrecht da.
Sein Mund war so trocken, als hätte er Mehl gegessen. Er trank eine weitere Tasse von dem Tee, aber schon eine Minute später hatte er erneut unerträglichen Durst. Sein Herz raste. Er griff nach der Plastikflasche mit Wasser, die auf einmal so schwer wog, dass er sie nicht mehr hochheben konnte. Ausgerechnet jetzt musste er dringend pissen, verdammt! Er versuchte, aufzustehen, soweit es die Kette erlaubte, und zu dem Platz zu gelangen, an dem er sich erleichterte. Doch seine Beine gaben nach, und er fiel auf sein Gesicht.
Als er die Augen wieder öffnete, lag er auf einer Wiese, über sich einen blauen Himmel, an dem kompakte weiße Wolken dahinzogen. Er war frei! Welch eine Wohltat, endlich wieder Sonne auf der Haut zu spüren! Er genoss die Wärme, die über ihn floss, sein T-Shirt und seine Jeans durchtränkte und ihn vollkommen einhüllte. Nach einer Weile, von der er nicht wusste, ob sie Minuten oder Stunden dauerte, wurde die Sonne stechender, und er überlegte, sich in den Schatten einer Baumgruppe zurückzuziehen. Nur klebte sein Rücken im Gras fest, weil auf den Halmen winzige Saugnäpfe saßen. Die Sonne wurde unerträglich, und seine Mundhöhle war völlig ausgetrocknet. Dabei schien es in unmittelbarer Nähe einen Bach zu geben, denn er hörte ein leises Plätschern, was seine Qual noch steigerte. Mit aller Kraft riss er sich los, wobei Hautfetzen an den Saugnäpfen zurückblieben. Er stand auf und sah sich einem Mann gegenüber, der ungefähr halb so alt war wie er selbst, und obwohl er ihn bislang nur auf Fotos gesehen hatte, erkannte er ihn sofort. Er wusste nicht, wie es möglich war, dass der Mann nicht einmal eine Schramme aufwies, hatte er sich doch vor einen Zug gelegt und war von dessen Rädern säuberlich zerteilt worden.
Er wollte ihn fragen, was er hier zu suchen hatte, doch das, was aus seinem Mund kam, war nur unverständliches Gebrabbel. Der andere lachte, und da musste er selbst auch lachen, weil es so albern klang. Dann wurde das Gesicht seines Gegenübers plötzlich ernst.
»Leben ist das kostbarste Geschenk, und du hast es einfach sinnlos vergeudet«, sagte der Mann verachtungsvoll, und dann machte er einen Schritt nach vorne und schubste ihn. Er schrie und stürzte in eine blendende Helligkeit.
Jetzt war er wieder in seinem Gefängnis. Unter seinem Körper knackten bei jeder Bewegung die kleinen Körnchen des Fledermauskots. Nur waren es gar keine Körnchen, sondern winzige schwarze Käfer, die über ihn herfielen und bald seinen ganzen Körper bedeckten. Sie krochen in seinen Mund und seine Nase und jede andere Körperöffnung, und von dort breiteten sie sich in ihm aus. Er versuchte zu schreien, doch sie verstopften seine Kehle. Er spürte sie unter seiner Haut krabbeln und sah die winzigen Knötchen, die sich bewegten. Voller Panik und Ekel packte er den Plastiklöffel, den man ihm zum Essen gegeben hatte, und versuchte, damit seine Haut aufzukratzen. Plötzlich lösten sie sich auf und wurden zu einer Traurigkeit, die sich in seinem ganzen Körper verteilte.
Der Mann hatte recht: Er hatte sein Leben vergeudet. Er war nie der Mensch gewesen, der er hätte sein können. Er rollte sich zusammen und weinte um seiner selbst willen. Noch nie zuvor hatte er sich so verlassen gefühlt.
Jemand lachte. Als er hochblickte, stand auf der Treppe, die an der Wand entlang nach oben führte, wieder der andere. Er öffnete den Mund, und heraus kamen Dutzende kleine Fledermäuse, die durcheinanderflatterten und wuchsen und wuchsen, bis sie den gesamten Raum füllten. Ihre ledrigen Flügel strichen über sein Gesicht, und ihre hohen Schreie gellten in seinen Ohren. Dann verwandelten sich die Fledermäuse in Steine, die auf ihn herabprasselten und ihn unter sich begruben.