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Über die Autorin
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Gabi Neumayer, geboren 1962, lebt und arbeitet in Bergheim bei Köln. Sie schreibt vor allem für Kinder – unter anderem Science-Fiction-Geschichten, englische Lernkrimis, Bilderbücher und Bände für die Sachbuchreihe »Frag doch mal die Maus«.
Mehr Infos gibt es auf ihrer Homepage: www.gabineumayer.de.
Impressum
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-74726-6)
www.beltz.de
© 2015, 2016 Beltz & Gelberg
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte vorbehalten
Die Autorin wird vertreten durch die Autoren- und Projektagentur
Gerd F. Rumler, München
Neue Rechtschreibung
Einband- und Innenillustrationen: Alexander von Knorre
Lektorat: Isabelle Ickrath
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74543-9
Für abenteuerlustige Kinder, die nicht abwarten und Korallentee trinken wollen.

Inhalt

Das Schiff des Feindes
Die geheimnisvolle Flasche
Lilis Überraschung
Micks Überraschung
Mit Geduld und Spucke
Der unsichtbare Beobachter
Der Kapitän
Das letzte Wort
Ein leichtes Opfer
Sabotage!
Eine schlimme Nachricht
Helle Tage, dunkle Nächte
Eine schreckliche Entdeckung
Der blinde Passagier
Der Sturm
Verschollen im Nebel
Die Sache mit den Möwen
Die Insel
Sumpf und Dornen
Die »nasse Dunkelheit«
In der Falle
Auf Entermessers Schneide
Die Schatzkarte
Hals über Kopf
Ein neuer Kurs
Die Algenkollektion
Entert das Schiff!
Das große Seifenspektakel
In der Lichtbarriere
Carlos schlimmster Albtraum
Der Untergang
Das Geheimnis der Lichtbarriere
Handfeste Beweise
Ein Blick in die Unendlichkeit
Die Insel des Stinkreichen Siegfried
Die Galgenfrist
Der Notfallplan
Ohne Mick
Ausgeflogen
Der Stinkreiche Siegfried
Die Rückkehr des »Schwarzen Pfeils«
Endlich zu Hause!
Ein Fest und jede Menge Seemannsgarn
Und jetzt?
Der Verlierer
Epilog: Das Geheimnis des Listigen Lars
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Mick stopfte das Muschelbrötchen und den Dörrfisch am Stiel in die Schultasche, winkte seiner Mutter zu und rannte aus dem Haus. Der letzte Tag vor den Ferien und er kam wieder zu spät! Schon konnte er das ungeduldige Horn des Schulbootes hören, das ihn, seine jüngere Schwester Susa und die anderen Kinder von Rubinia zur Hauptinsel Saphira brachte.
Seit fast einem Jahr lief er jeden Morgen zu spät los. Immer hoffte er insgeheim, dass das Boot bereits abgelegt hatte, wenn er die Bucht erreichte, damit er nicht über das tiefe, schwarze Wasser fahren musste. Der frische Seewind riss ihm fast das Kopftuch herunter, blähte sein blaues Leinenhemd wie ein Segel auf und verscheuchte Micks düstere Gedanken. Schließlich war er ein Pirat und das Meer war sein Element!
Es war allerdings eine Schande, dass der zukünftige Überwinder des Mahlstroms und Bezwinger der Lichtbarriere überhaupt zur Schule gehen musste.
»Morgen, Mick!«, rief Bill der Buddler aus dem Nachbargarten. Er schwenkte einen Farbeimer. »Wenn du so weitermachst, wird man dich später einmal den Eiligen Mick nennen, mein Junge!«
»Morgen, Bill! Na, was suchst du denn heute?«
»Henriettes gutes Teeservice.« Bill starrte auf die zahllosen Buddellöcher, die seinen Garten aussehen ließen, als sei er von Maulwürfen heimgesucht worden. »Meine Frau wird mich über die Planke gehen lassen, wenn ich das Zeug nicht bald finde. Hat kein Verständnis dafür, dass ein alter Pirat nun einmal Schätze vergraben muss.«
»Viel Glück!« Mick rannte in halsbrecherischem Tempo die Klippe entlang. »Wenn du das Service heute Mittag immer noch nicht gefunden hast, helfe ich dir.«
»Guter Junge!«, rief Bill ihm hinterher und hob wieder den Eimer. »Kannst nicht zufällig erstklassige lila Farbe brauchen?«
Als Mick endlich die schwarze Flagge mit den zwei gekreuzten Stiften unter dem Buch flattern sah, läutete bereits die Schulglocke. Er sprang aus dem Boot, lief über den Strand und kletterte wie ein Krebs auf der Flucht vorm Kochtopf die Strickleiter des Schulschiffes hoch. Er wollte sich keuchend auf seinen Platz neben Lili sinken lassen – als er der Länge nach aufs Deck klatschte. Benommen rappelte er sich auf.
Hannibal, Louis und Peter lachten dreckig, aber Micks Blick wanderte zu ihrem Anführer Carlo. Der grinste und zog ganz langsam das Bein zurück, das er Mick in den Weg gestellt hatte.
»Du miese Schiffsratte!«, zischte Lili und wollte sich auf Carlo stürzen.
Mick drückte sie zurück auf ihren Platz und setzte sich neben sie. Lili schüttelte seine Hand ab. »Warum lässt du dir das von dem Kerl gefallen?«
Mick schwieg. Lili war seine beste Freundin, aber er konnte ihr das nicht erklären. Er konnte es sich ja nicht einmal selbst erklären.
Die anderen Zuspätkommer hatten sich inzwischen hingesetzt, die Aufregung legte sich allmählich. Als Letzte trippelte Susa mit zierlichen Schritten zu ihrem Platz.
»Da wir nun endlich vollzählig sind«, begann ihre Lehrerin Pistolen-Pia und warf Mick dabei einen ihrer gefürchteten Blicke zu, »begrüße ich euch zum letzten Schultag vor den Ferien. Damit ihr die schulfreien Wochen noch mehr genießen könnt, werden wir heute einen kleinen Test schreiben.«
Mick ächzte, Lili stöhnte, Stevie verdrehte die Augen. Micks Erzfeind Carlo rammte sein Entermesser in den Tisch und alle anderen sahen betreten drein. Außer Gordon natürlich. Er wirkte wie immer so gelassen wie eine Seegurke.
»Dann wollen wir mal.« Pistolen-Pia ließ Susa die Blätter mit den Prüfungsaufgaben verteilen. »In Absprache mit euren anderen Lehrerinnen und Lehrern habe ich einen Test ausgearbeitet, in dem Fragen aus allen Bereichen vorkommen: Nautik, Piratengeschichte, Handarbeiten, Schiffspflege, Knotenkunde … Da sollte für jeden von euch etwas dabei sein.« Sie lächelte ihr berüchtigtes Haifischlächeln, vor dem sich schon Generationen von kleinen Piraten unter ihre Bänke geduckt hatten. Dann stellte sie sich mit verschränkten Armen vor den Mast: »Die Zeit läuft.« Mit einem Entermesser begann sie ihre Fingernägel zu reinigen.
Etwas später stieß Lili Mick in die Seite und deutete auf das Prüfungsblatt. »Welcher von diesen bescheuerten Knoten ist der Sprietsegel-Schotstek?«
»Keine Ahnung«, flüsterte Mick. »Vielleicht kann uns Gordon helfen.«
Lili stieß Gordon an und hielt vier Finger hoch für die vierte Frage. Gordon fummelte unauffällig an dem Seil herum, das er als Gürtel um sein rostfarbenes Hemd trug. Es dauerte eine ganze Weile, aber schließlich hatte das Seil eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem der Knoten auf dem Testbogen.
Mick kreuzte den richtigen Knoten an, dann wanderte sein Blick zu Carlo. Der schien bereits alle Fragen beantwortet zu haben. Er starrte mit einem glücklichen Grinsen in die Ferne. Mick folgte seinem Blick und sog scharf die Luft ein. Dort, vor der Grauen Klippe, lag das schönste Schiff, das er jemals gesehen hatte: ein mattschwarzer Schoner mit blutroten Segeln. Auf ihnen waren zwei gekreuzte Entersäbel über einem Sack Gold abgebildet: das Wappen von Carlos Familie.
Carlo bemerkte Micks Blick und tippte sich grinsend an die Brust.
Mick war überwältigt vom Ausmaß dieser Ungerechtigkeit. Carlo würde nichts anderes mit diesem herrlichen Schiff anzufangen wissen, als mit seinen Kumpanen die Gegend unsicher zu machen und ansonsten faul an Deck zu liegen und sich zu sonnen. Über kurz oder lang würde das Schiff völlig heruntergekommen an einem Riff enden, wie es auch Carlos letztem Schiff ergangen war.
Wenn Mick nur ein eigenes Schiff hätte! Er würde es liebevoll kalfatern, jeden noch so kleinen Riss in den Segeln sofort flicken, täglich das Deck schrubben und einölen. Er würde damit Gegenden erforschen, die keiner der anderen Piraten je gesehen hatte.
Und vor allem würde er seinen großen Bruder finden … Doch darüber sprach er nie, nicht einmal mit Lili. Denn niemand außer ihm glaubte daran, dass Ben noch am Leben war.
Aber Mick hatte kein Schiff. Und es sah auch nicht so aus, als könnte er sich jemals ein solches Schiff leisten. Holz war selten und deshalb furchtbar teuer auf den Inseln im Vergessenen Meer. Carlo war der Einzige von ihnen, dessen Eltern so reich waren, dass sie ihm ein Schiff schenken konnten.
Mick schreckte aus seinen Gedanken hoch, als ihm Pistolen-Pia den Testbogen aus der Hand nahm. War die Stunde schon vorüber? Er hatte kaum die Hälfte der Fragen beantwortet.
Pistolen-Pia entließ wie jedes Jahr ihre Schülerinnen und Schüler mit der Ermahnung in die Ferien, sich auf ihren Spritztouren mit Booten und Flößen nicht zu verfahren, sondern sich an das zu halten, was sie bei ihr über Navigation gelernt hatten. Dann läutete sie die Schulglocke ein letztes Mal für die nächsten fünf Wochen. Alle stürzten sich zugleich auf die Strickleiter und machten, dass sie von Bord kamen.
Mick, Lili, Stevie und Gordon schlenderten den Strand entlang, in sicherer Entfernung von Carlo und seinen Leuten.
»Endlich Ferien!«, rief Stevie und betrachtete hungrig einen Krebs, der vor seinen Füßen ins Wasser krabbelte.
»Wurde auch Zeit«, meinte Lili. »Wir haben eine Menge vor.«
»Ach ja?«, sagte Stevie. »Heiliger Thunfisch, davon weiß ich noch gar nichts!«
Lili grinste. »Ich habe eine Riesenüberraschung für euch.« Diese Mitteilung entlockte sogar dem schweigsamen Gordon ein erstauntes Brummen. »Sie wird euch umhauen«, fuhr sie fort. »Aber noch ist sie nicht hundertprozentig sicher. Wir treffen uns morgen früh hier im Hafen, dann ist hoffentlich alles klar.«
Auch als die anderen protestierten, blieb sie hart. »Ich verrate euch nur so viel: Wenn alles gut geht, werden das die besten Ferien unseres Lebens.«
Und sosehr sie es auch versuchten, mehr bekamen sie an diesem Tag nicht aus ihr heraus.
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Während der Überfahrt nach Hause war Mick viel zu aufgeregt, um an das tödliche Wasser unter sich zu denken. Was für eine Überraschung mochte Lili für sie haben? Wieso konnten sie erst morgen Genaueres erfahren? Und von welchen Urlaubsplänen hatte Lili gesprochen? Bisher hatten sie doch noch gar keine Pläne gemacht!
Er war immer noch in Gedanken versunken, als er über die Klippe nach Hause ging. Plötzlich krächzte es dicht neben seinem Ohr: »Schnapsidee!«
»Hast du mich erschreckt, Penelope!« Mick zog den Rest seines Dörrfischs aus der Tasche. Die dicke Möwe ließ sich auf Micks Schulter nieder, verschlang den Fisch mit einem Bissen und sah ihn mit ihren kleinen schwarzen Augen erwartungsvoll an.
»Das war alles, mehr habe ich nicht«, sagte Mick. Er handelte sich damit einen vorwurfsvollen Blick ein. Penelope zog ihn mit dem Schnabel an den Haaren.
Mick lachte. »Warum behalte ich dich nur, kannst du mir das mal sagen? Du bist gefräßig und frech, und alles, was ich sage, hältst du für eine Schnapsidee.« Penelope schlug mit den Flügeln und krächzte, als wollte sie sagen: »Irgendeiner muss dir ja die Wahrheit sagen.«
»Ah, Mick, da bist du ja!« Bill der Buddler winkte. Er hatte schweißüberströmt auf seiner Veranda Schutz vor der gleißenden Sonne gesucht. »Das Gartentor ist offen.«
Mick bahnte sich einen Weg zwischen Löchern und Erdhügeln hindurch. Bill hing erschöpft in einem alten Rattansessel, einen Spaten aus seiner umfangreichen Schaufelsammlung auf dem Schoß. Um ihn stapelten sich die Buddelfunde vom Vormittag: ein Dosenöffner, eine kleine Holzkiste voller glänzender Knöpfe, ein ausgestopfter Haikopf. Das Teeservice konnte Mick allerdings nicht entdecken.
Bill deutete auf den Haikopf. »Gut, dass ich den wiedergefunden habe«, ächzte er. »War ein Geschenk von Tante Gulda. Wenn sie nächsten Monat kommt, hängt er wieder über dem Kamin im Wohnzimmer.« Er schüttelte sich. »Grässliches Ding.«
Mick kicherte.
»Schön, dich mal wieder lachen zu sehen.« Bill legte Mick seine große Hand auf den Kopf. Das hatte sein Bruder Ben auch immer getan, wenn er ihn trösten wollte.
»Das Teeservice«, brachte Mick mit rauer Stimme heraus. »Weißt du wenigstens ungefähr, wo du es vergraben hast?«
Bill kratzte sich am Kopf. »Tja – vielleicht beim Schuppen? Wenn ich doch nur eine Karte gezeichnet hätte …«
»Schnapsidee!«, krähte Penelope. Mick musste lachen. »Stell dir nur mal vor, eines Tages würde ein Schatzsucher diese Karte finden. Na, der würde vielleicht eine Überraschung erleben!« Er griff sich den Spaten und machte sich neben dem Schuppen an die Arbeit.
Eine halbe Stunde später hatte er einen Zinnkrug und eine Kiste mit Weihnachtskugeln ausgegraben. Das Teeservice hatte er aber noch nicht entdeckt. Da ertönte von der Veranda her ein lautes Tock-tock-tock. Kurz darauf rief Bills Frau, Holzbein-Henriette, dass er Pause machen und ein Glas Seegraslimonade trinken sollte.
Mick rammte den Spaten in die Erde, um später an derselben Stelle weiterzugraben. Doch der Spaten stieß mit einem dumpfen Klacken auf Widerstand. Vorsichtig zog Mick ihn aus dem Boden. Hoffentlich hatte er das Service nicht beschädigt!
»Die Limonade wird warm!«, rief Bill.
»Komme gleich!« Mick bückte sich und begann, die Erde mit den Händen wegzuschaufeln. Kurz darauf war Bill bei ihm. »Hast das verflixte Service gefunden, was?« Doch als Mick seinen Fund freigelegt hatte, sagte Bill: »Wenn das ein Teeservice ist, bin ich ein Leuchtturm.«
Mick drehte das Ding hin und her. Es war eine Flasche aus milchigem, gelbem Glas, verschlossen mit einem Wachspfropfen. So leicht, wie sie war, musste sie eigentlich leer sein. Aber wer machte sich die Mühe, eine leere Flasche mit einem Pfropfen zu verschließen?
»Was ist das?« Mick hielt Bill die Flasche hin. Der nahm sie, kratzte die Erde ab und hielt sie gegen die Sonne. »Keine Ahnung«, meinte er, »scheint aber etwas drin zu sein.« Er drückte Mick die Flasche in die Hand. »Du hast sie gefunden, also gehört sie dir. Jetzt komm Limonade trinken.«
Mick lief hinter ihm her. »Wollen wir sie nicht öffnen?«
»Ist jetzt deine Flasche. Kannst damit machen, was du willst.«
»Dann machen wir sie auf.«
Mick, Bill und Henriette standen um den Gartentisch herum. Penelope hockte auf dem Wachspfropfen, der nun neben der Flasche lag. Die Limonade wurde warm und wärmer, aber niemanden kümmerte das. Denn vor ihnen lag ausgebreitet der Inhalt der geheimnisvollen Flasche: eine Landkarte!
Das brüchige, vergilbte Papier war an den Seiten eingerissen. Mick erkannte die Windrose, die zeigte, wo Norden, Süden, Osten und Westen war. Außerdem gab es Umrisse von mehreren Inseln mit Bildern von Palmen und Tieren darauf und Wellen dazwischen. Eine der Inseln war mit einem dicken, roten Kreuz markiert.
Mick nahm vorsichtig die Karte hoch und drehte sie um. In einer krakeligen Schrift stand dort etwas geschrieben: »Diesiges ist das Verdeck …« Mick versuchte mühevoll, die Wörter zu entziffern. Er zupfte dabei an seinem Kopftuch – wie immer, wenn er angestrengt nachdachte.
»Was für eine Sauklaue!«, sagte Henriette. »Könnte glatt deine Schrift sein, Bill.«
Bill lachte dröhnend. »Ich denke, das heißt ›Versteck‹.«
»Ja.« Mick buchstabierte weiter: »… das Versteck von Beute meiniger, die ich gestammelt … gesammelt habige in meinigen Lagen.«
»Meinigem Leben«, half Bill.
»Ist bedacht … bewacht von nasser Dunkelheit …« Mick sah sich Hilfe suchend um.
»Das lese ich auch«, sagte Bill. »Was meinst du, Henriette?« Doch seine Frau deutete nur stumm auf das Ende des Blattes. Die Karte war unterschrieben mit »Der Listige Lars«.
»Da hol mich doch …!«, rief Bill. »Bist ein Glückspilz, Junge!«
Der legendäre Schatz des Listigen Lars! Mick wurde ganz schwindelig. So viele hatten schon vergeblich danach gesucht. Und er, Mick, hielt die Schatzkarte in der Hand, mit der er ihn finden würde! Dann konnte er ein Schiff kaufen und sich auf die Suche nach Ben machen und die Lichtbarriere erforschen und … Lili und die anderen würden vielleicht Augen machen!
Mick stieß einen Jubelschrei aus, packte den verdutzten Bill am Arm und tanzte mit ihm über die Veranda. Henriette lachte und schlug mit ihrem Holzbein den Takt dazu. Und Penelope flatterte krächzend um sie herum.
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Die Sonne ließ frühmorgendliche Schatten über den Sand tanzen, als Mick, Lili, Stevie, Gordon und Susa sich im Hafen von Saphira trafen. Mick sah seinen Freunden an, dass keiner von ihnen gut geschlafen hatte. Lilis geheimnisvolle Überraschung hatte sie wach gehalten. Und dabei wussten sie ja noch nicht einmal etwas von der Schatzkarte! Am liebsten wäre er sofort damit herausgeplatzt. Aber er wollte sich nicht vordrängeln. Lili war zuerst dran.
Sie ging voraus, während Susa versuchte, die zeternde Penelope von ihrem Brotbeutel fernzuhalten. Mick hatte sich zunächst geweigert, Susa mitzunehmen. Wer wollte schon seine kleine Schwester dabeihaben, wenn er sich mit seinen Freunden traf? Aber sie hatte angedeutet, sie wüsste, was mit den Seeigelplätzchen aus Mamas Geheimvorrat passiert war. Darum durfte sie an diesem Tag ausnahmsweise mitkommen.
»Wo wollen wir denn hin? Und müssen wir unbedingt hier entlang?« Stevie rümpfte demonstrativ die Nase, als sie am Imbiss des Fettigen Frederick vorbeikamen. Stevie war aus der Wirtschaft seiner Eltern, »Zum Fidelen Freibeuter«, nur die feinsten Essensdüfte gewohnt und tat das auch bei jeder Gelegenheit kund.
»Abwarten und Korallentee trinken«, erwiderte Lili geheimnisvoll. Sie liefen an dem Platz der zwölf Palmen vorbei, ließen die würzig duftenden Hütten der Bierbrauer hinter sich, schreckten an der Stillen Senke einen Schwarm schnatternder Papageien auf und bogen schließlich zu den Badebuchten ab. Dann erreichten sie die Weiße Bucht, deren Sand glänzte wie frische Kokosraspeln.
»Na, was sagt ihr?«, fragte Lili.
»Heiliger Thunfisch!«, entfuhr es Stevie.
»Wie hast du denn …«, stotterte Susa.
»Da hol mich doch …«, brummte Gordon.
Mick sagte nichts. Er starrte das Schiffswrack an, das wie ein betrunkener Wal halb im Wasser, halb auf dem Strand lag. Dabei sah er weder die gezackten Löcher in den Planken, die das Riff hineingebissen hatte, noch die schmutzig grauen Segel, die in Fetzen von den Rahen hingen, oder die abgeblätterte Schiffsfarbe, die den Rumpf aussehen ließ wie eine schmuddelige Straßenkatze. Nein, er sah dieses Schiff vor sich, wie es einmal sein würde. Frisch gekalfatert und gestrichen, mit nagelneuen Segeln und einer Piratenflagge, die stolz am Mast wehte, während das Schiff seinen Weg durch sprühende Gischt und schaukelnde Wellen suchte.
»Ist das nicht Carlos alter Kutter?«, fragte Stevie.
Ja, das war das Schiff, das Carlo vor zwei Monaten bei spiegelglatter See zum Kentern gebracht hatte.
»Ich dachte, es wäre gesunken«, sagte Mick.
»Das dachte ich auch.« Lilis Augen glänzten. »Bis ich es gestern früh entdeckt habe. Carlo wollte sich offenbar die Arbeit sparen, die Wrackteile wie vorgeschrieben zu entsorgen, und hat es einfach hier versteckt.«
Stevie und Gordon waren inzwischen schon an Bord des Schiffs geklettert. »Wir werden neue Planken brauchen!«, rief Stevie und klopfte gegen ein geborstenes Stück Holz, das sogleich zerbröckelte. Gordon zupfte an einem Tau. »Die Takelage ist völlig hinüber.«
»Das ist doch nicht euer Ernst!« Susa musterte das Schiff mit Abscheu. »Ihr wollt doch dieses dreckige Wrack nicht wieder seetüchtig machen?«
»Was meinst du, Mick?« Lili legte Mick einen Arm um die Schulter. Alle Augen richteten sich auf ihn und am liebsten hätte Mick geschrien: »Fangen wir endlich an!« Aber er schüttelte Lilis Arm ab. »Auch wenn Carlo es jetzt nicht mehr haben will: Wenn wir es erst einmal flott gemacht haben, ändert er bestimmt seine Meinung.«
Lili blinzelte hinter ihren dicken Brillengläsern. »Wird er nicht.« Sie zog ein Stück Papier aus ihrem Ärmel und schwenkte es vor Micks Augen hin und her. »Weil seine Mutter – die eine sehr nette und vernünftige Frau ist, sollte man gar nicht meinen – mir dieses alte Schiff nämlich gestern Abend verkauft hat. Deshalb konnte ich euch noch nichts sagen. Ich hatte ja den Kaufvertrag noch nicht. Aber hier steht’s jetzt schwarz auf weiß: ›Für acht Käsekuchen verkauft an Lili, Tochter von Käsekuchen-Karin und dem Singenden Simon.‹«
»Es gehört uns!«, rief Mick. Er umarmte Lili und rannte zu dem Schiff, um bewundernd über seinen Rumpf zu streichen, wobei er sich einen Splitter in die Hand rammte.
»Es gehört uns!«, rief auch Stevie. Er tanzte auf dem schrägen Deck, bis er durch eine morsche Planke krachte.
»Es gehört uns!«, schrie Gordon. Er zog begeistert an einem Tau, das ihm mitsamt einem Segel auf den Kopf fiel.
»Es gehört uns!« Lili warf den Kaufvertrag in die Luft.
»Acht Käsekuchen?«, fragte Susa, aber niemand hörte auf sie.
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Sobald sie wieder zu Atem gekommen waren, redeten alle durcheinander. Was brauchten sie, um das Schiff seetüchtig zu machen? Woher sollten sie das Material bekommen? Wann würden sie in See stechen können? Und wohin sollten sie überhaupt fahren?
Als sie schließlich bei dieser Frage angekommen waren, konnte Mick sich einfach nicht länger zurückhalten. »Wie wäre es denn mit einer Schatzsuche?«, rief er grinsend.
»Ja, das wäre was!« Stevie lachte. »Aber so ganz ohne Schatzkarte …« Dann wurden seine Augen groß und größer. Auch die anderen wurden mit einem Mal ganz still, als Mick die Schatzkarte des Listigen Lars hervorzog und sie lachend in die Höhe hielt. »Nehmen wir doch einfach diese hier.«
In null Komma nichts hatten sich alle um ihn versammelt. Jeder wollte die Karte untersuchen, sie in der Hand halten und ihren Inhalt entziffern. Dann musste Mick erzählen: wie er die Karte gefunden, wie er mit Bill den Text entschlüsselt und wie Henriette schließlich die Unterschrift des Listigen Lars entdeckt hatte.
»Der Schatz des Listigen Lars«, hauchte Lili.
»Heiliger Thunfisch!«, flüsterte Stevie.
»Warum sucht Bill denn nicht selbst nach dem Schatz?«, fragte Gordon. »Wieso hat er dir die Karte einfach geschenkt?«
Mick zupfte an seinem Kopftuch. »Er hat genug Aufregung in seinem Leben gehabt, sagt er. Und außerdem könnte so ein Schatz mehr Ärger bringen als Nutzen. Bill will einfach seine Ruhe haben.«
»Mmmhmm.« Gordon brummte.
Auch Mick hatte ein merkwürdiges Gefühl bei Bills Erklärung gehabt. Aber vielleicht wurde er einfach allmählich alt und fühlte sich einer Schatzsuche nicht mehr gewachsen.
»Wie auch immer«, sagte Lili ungeduldig. »Hauptsache, die Karte gehört jetzt uns.«
»Und das sollte unter uns bleiben«, warf Stevie ein. »Sonst macht sich jeder einzelne Pirat im Vergessenen Meer auf die Suche.«
»Das versteht sich doch wohl von selbst, dass unsere Lippen versiegelt sind«, sagte Lili. Die anderen nickten ernst.
»Wer ist denn dieser Listige Lars überhaupt?«, fragte Susa und handelte sich damit vier fassungslose Blicke ein.
»Kinder!« Lili verdrehte die Augen. »Was bringen sie euch eigentlich heutzutage in der Schule bei?«
Mick knuffte sie in die Seite. »Susa war doch noch ganz klein, als die Sache mit Lars passiert ist.«
»Ich bin nicht klein!«
»Also, Susa«, begann Stevie, »mit dem Listigen Lars, das war so.«
Mick grinste. Stevie konnte erzählen wie niemand sonst. Oft vermischten sich bei ihm Wahrheit und Erfindung. Aber er sagte immer, dass es darauf nicht ankäme, sondern dass es nur wichtig sei, eine gute Geschichte zu erzählen.
Seine Eltern hatten dafür allerdings wenig Verständnis. Er hatte ihnen zum Beispiel einmal erzählt, dass nicht er, sondern ein schauriger, sabbernder Riesenkrake den Thunfischauflauf aus der Speisekammer gefressen hätte – was ihm eine Woche Spüldienst eingebracht hatte.
Doch hier hatte Stevie ein dankbareres Publikum vor sich. Seine Freunde lehnten sich gemütlich an ihr Schiff – ihr Schiff! –, Susa nahm ihre Schmuseschildkröte auf den Schoß, Penelope ließ sich auf Micks Schulter nieder und dann ging es los:
Die Geschichte vom Listigen Lars
Es ist noch gar nicht lange her, da war der Listige Lars auf allen Inseln im Vergessenen Meer bekannt – berüchtigt, sollte ich wohl besser sagen. Er hätte einem zweibeinigen Piraten ein Holzbein aufschwatzen können, und die Lichtbarriere hätte sich von ihm überreden lassen, ihm ihr Leuchten zu verkaufen, sagte man. Soweit ich weiß, hat Lars sogar einmal mit dem Seeungeheuer des Mahlstroms verhandelt. Es ging dabei um die versunkenen Schätze in den Goldwäldern … Aber das ist eine andere Geschichte.
Jedenfalls hatte der Listige Lars sich seinen Piratennamen schon in frühester Jugend verdient, und eigentlich hätte jeder, der sich auf ein Geschäft mit ihm einließ, es besser wissen müssen. Aber so sind Piraten nun mal: Wenn sie eine Chance auf eine wertvolle Prise wittern, lassen sie ihren Verstand über die Planke gehen.
Deshalb kam es dann auch zu dieser unseligen Wette, die dreiunddreißig Piraten insgesamt 99 Golddublonen kostete und an deren Ende der Listige Lars auf unerklärliche Weise verschwand … Aber der Reihe nach:
Gustav der Grübler hatte bei einem Geschäft mit dem Listigen Lars drei Golddublonen verloren. Seither grübelte er darüber nach, wie er sein Geld zurückbekommen konnte. Er setzte sich mit zwei anderen Piraten zusammen, die ebenfalls eine Menge Geld an Lars verloren hatten. Einige Tage später hatten sie einen wasserdichten Plan. (Das dachten sie zumindest.) Sie wussten, dass der Listige Lars eine Schwäche hatte: Er konnte keine Wette ausschlagen. Bisher hatte er zwar jede seiner Wetten gewonnen, aber die drei waren sicher, dass er diese nicht gewinnen konnte. Niemand hätte sie gewinnen können.
So suchten sie Lars auf und boten ihm ihre Wette an. Sie würden ihn auf der winzigen Insel der Wilden Wiebke einen Tag und eine Nacht lang aussetzen. Dort wohnte schon lange kein Mensch mehr. Wenn es Lars gelänge, in dieser Zeit die Insel unbemerkt zu verlassen, sollte er von jedem drei Dublonen bekommen. Sollte er es jedoch nicht schaffen, so müsste er jedem drei Dublonen zahlen.
Lars überlegte eine Weile und schlug dann ein. Er stellte nur zwei Bedingungen: Er wollte seinen kleinen Seesack mitnehmen und die Wetteinsätze sollten mit ihm auf die Insel der Wilden Wiebke gebracht werden. Die anderen lachten und nahmen die Bedingungen an, denn sie wussten, dass ihr Plan absolut wasserdicht war. Egal wie lange Lars sich vorbereiten, welche Tricks er sich ausdenken und was er mitnehmen mochte.
In den nächsten zwei Wochen verbreitete sich die Nachricht von der Wette wie eine Flutwelle. Als Einzelheiten von Gustavs Plan durchsickerten, wollten immer mehr Piraten einsteigen. Einer nach dem anderen gingen sie zu Lars, jeder setzte drei Dublonen – und Lars nahm all ihre Wetten lächelnd an und setzte dagegen.
Als der Tag der Wette gekommen war, hatten dreiunddreißig siegessichere Piraten gegen Lars gewettet. Auch niemand sonst glaubte, dass Lars eine Chance hätte. Denn Gustav der Grübler und seine Mitstreiter hatten vorgesorgt: Sie hatten die winzige Insel der Wilden Wiebke Zentimeter für Zentimeter durchkämmt. Jetzt gab es dort weder eine Hütte noch eine zugängliche Höhle oder irgendeinen anderen Unterschlupf mehr. Außerdem hatten sie es geschafft, so viele Schiffe, Boote und Flöße zu organisieren, dass sie in einer lückenlosen Kette das Ufer rund um die Insel absichern konnten. Tatsächlich wollte fast jeder im Vergessenen Meer Lars endlich einmal eine Wette verlieren sehen. Deshalb hatte Gustav am Ende sogar genug Schiffe, um sie in zwei Reihen um die Insel zu verteilen. Schließlich platzierte er noch eine Handvoll Beobachter am Ufer, die den Himmel im Auge behalten sollten. Er glaubte zwar nicht, dass Lars durch die Luft entkommen konnte, aber er wollte ganz sicher gehen.
Als Lars die Insel betrat – über der Schulter seinen kleinen Seesack, in den Armen die Kiste mit den Wetteinsätzen –, gab es nicht einen einzigen Piraten, der an seinen Sieg glaubte. Hunderte von Schiffen umzingelten die Insel der Wilden Wiebke und in jedem saß mindestens ein Pirat mit einem Fernrohr. Hunderte aufmerksamer Augen ließen keinen Zentimeter des Ufers oder des Himmels unbeobachtet. So verharrten sie den ganzen Tag und die ganze Nacht.
Als der Morgen graute und der Nebel sich verkroch, streckten die Beobachter ihre steifen Glieder, kletterten aus ihren Schiffen und betraten die Insel, um nach Lars zu suchen.
An dieser Stelle brach Stevie ab, nahm ein Krabbensandwich aus seinem Brotbeutel und begann, genüsslich zu kauen. Die anderen stöhnten auf. »Stevie!«, rief Lili. »Quäl uns nicht so!« Gordon brummte und Susa starrte Stevie mit großen Augen an. Mick grinste in sich hinein. Stevie hatte wirklich ein Händchen für Dramatik!