Über das Buch:
Ein Anruf genügt und Melissa befindet sich auf der Flucht. Ihrem Ehemann, der Liebe ihres Lebens, hinterlässt sie nur einen Zettel: „Such mich nicht. Und mach dir keine Sorgen. Ich liebe dich, Melissa.“

Es sind die tödlichen Schatten der Vergangenheit, die sie Hals über Kopf forttreiben, die sie ziellos flüchten lassen. Und es ist die gute Hand Gottes, die sie in Amish County Zuflucht finden lässt – im Haus einer außergewöhnlichen Mennonitin. Dort entdeckt Melissa einen Frieden, der weit mehr verspricht als einen Ausweg aus ihrer verzweifelten Lage ... Doch ist sie der Gefahr, in der sie schwebte, tatsächlich entkommen? Und wird sie ihren geliebten Ryan jemals wiedersehen?

Über die Autorin:
Beverly Lewis wurde im Herzen des Amisch-Landes in Lancaster, Pennsylvania, geboren. Sie hat 3 erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann Dave in Colorado/USA. Ihr Wissen über die Amisch hat sie von ihrer Großmutter, die in einer Mennoniten-Gemeinde alter Ordnung aufwuchs.

7

Elizabeth King versammelte ihre Kleinen um sich. „Wir sollten uns Gedanken über ein Geschenk für Tante Lela machen“, sagte sie nach dem Abendgebet zu ihnen. „Sie hat nächste Woche Geburtstag, und ihr wisst, wie sehr sie sich freut, wenn sie von euch selbst gemachte Geschenke bekommt.“

Vier flachsblonde Köpfe nickten eifrig. Mary Jane, sieben Jahre alt, grinste sie an. „Ich sticke ihr ein hübsches Deckchen für ihre Aussteuertruhe.“

Elizabeth wollte ihre Tochter nicht entmutigen und beschloss, auf das Deckchen und nicht auf Mary Janes Bemerkung einzugehen. „Also, ich an deiner Stelle würde es weiß machen.“

Ihrer Tochter schien dieser Vorschlag zu gefallen. „Gute Idee, Mama. Weiß passt zu allem.“

Die anderen Kinder sprachen davon, dass sie ein Bild malen oder vielleicht Geburtstagskekse backen wollten. Nach einer Weile gaben sie ihren Eltern einen Gutenachtkuss und gingen schlafen.

Alle bis auf Mary Jane. Da sie die Älteste war, blieb sie manchmal noch ein paar Minuten länger bei Mama, bevor sie zu Bett ging. „Es tut mir leid, wenn ich etwas Unüberlegtes gesagt habe“, murmelte sie.

„Was meinst du damit?“, fragte Elizabeth, die gemütlich neben ihr am Holzofen in der Küche saß.

„Na ja, du weißt schon ... das mit der Aussteuertruhe.“ Mary Jane, deren Augen so blau wie das Meer waren, schwieg kurz und atmete tief ein. „Es sieht ja nicht so aus, als würde Tante Lela in nächster Zeit heiraten.“

Elizabeth umarmte ihr Mädchen. „Das wissen wir nicht mit Bestimmtheit, oder?“

Mary Jane schüttelte langsam den Kopf. Ihre Augen waren groß und weit. „Glaubst du, Gott hat irgendwo einen Mann für sie?“

Elizabeth hatte keine Ahnung. Über dieses Thema hatten sie und Lela lange nicht mehr gesprochen. Soweit sie wusste, war ihre ältere Schwester zufrieden damit, ledig zu sein und allein zu leben. Sie suchte nicht unbedingt gesellschaftliche Veranstaltungen oder Orte auf, an denen man Witwer treffen könnte. Denn Witwer waren die einzigen Männer, die für Lela noch in Frage kamen, wenn man bedachte, wie alt sie war.

„Einen Mann für Tante Lela?“, wiederholte Elizabeth.

„Ja, Mama. Glaubst du, dass es einen gibt?“ Mary Jane wartete ungeduldig auf eine Antwort und zog die Stirn in Falten.

„Ich glaube, das müssen wir dem Herrn überlassen“, war die ganze Antwort, die Elizabeth ihr gab. Aber so wie sie ihre Älteste kannte, wusste sie, dass das Mädchen ihr diese Frage wieder stellen würde. Und wieder.

Mary Jane verfolgte in letzter Zeit ziemlich genau, was um sie herum vorging. „Du hast eine Tochter, die die Leute sehr gut beobachtet“, hatte Elizabeths Mutter vor ein paar Tagen erst bemerkt.

Das war wirklich wahr. Als ältestes von – bislang – vier Kindern war Mary Jane nicht besonders vorwitzig. Sie interessierte sich einfach für Menschen. Genauso wie Elizabeth.

„Zeit, schlafen zu gehen“, sagte sie und schob ihren Liebling sanft zur Treppe. Der Morgen begann bei ihnen immer früh, besonders da die zweite Alfalfa-Ernte auf sie wartete. Thaddeus wollte, dass sie um fünf Uhr morgen früh alle auf den Beinen wären, um die Kühe zu melken und bei der übrigen Arbeit auf dem Hof und im Haus zu helfen.

Bevor sie die Gaslampe in der Küche ausdrehte, huschte sie in das dunkle Wohnzimmer und warf einen Blick die Straße hinab zu dem kleinen Ziegelhaus ihrer Schwester. Es überraschte sie nicht, dass im Erdgeschoss die Lichter noch an waren, da ihre Schwester oft erst Stunden nach Elizabeth und ihrer Familie zu Bett ging. Sie musste schließlich auch nicht mit den Hühnern aufstehen. Immerhin war sie keine Bauersfrau.

Aber dass in dem Schlafzimmer im ersten Stockwerk, in Lelas Gästezimmer, das Licht brannte, überraschte Elizabeth doch sehr. Was macht sie denn jetzt am Abend in diesem Zimmer?, fragte sie sich. Lela hatte doch sicher aufgeräumt und alles sauber gemacht, nachdem ihr Bruder und seine Familie an diesem Morgen abgereist waren. Ihre Schwester sorgte immer dafür, dass das Haus sauber und ordentlich war. Deshalb fragte sich Elizabeth, was sie denn jetzt noch zu erledigen hatte. Besonders zu so später Stunde.

„Kommst du ins Bett?“, rief Thaddeus leise.

„Ich komme gleich, Schatz.“ Sie trat näher an die Fensterscheibe und starrte die schmale Straße hinab, die im fahlen Licht der Mondsichel schwach zu sehen war. „Lieber Herr, bitte pass auf meine Schwester Lela auf. Und wenn es dein Wille ist, dann segne sie mit einem guten Ehemann“, flüsterte sie in die Fensterscheibe hinein.

* * *

Nur eine schmale Mondsichel war zu sehen, als Melissa das Holzschild gleich nach der Abfahrt nach Keamy in New Jersey erblickte. Ein breites Schild, hell beleuchtet, beschrieb Lancaster County in Pennsylvania als das Herz von Amischland – wo die Zeit stillsteht.

„Genau das, was ich brauche“, flüsterte sie leise bei sich. „Ein Ort, an dem die Zeit stehen geblieben ist.“

Sie hatte hier und da etwas über diese Gegend gehört, hauptsächlich über die Touristenattraktionen wie Dutch Wonderland und das berühmte Amischdorf. Ali und ihr Mann hatten vor ein paar Jahren ein ganzes Wochenende hier verbracht und hatten in den Geschäften, in denen allerlei handgearbeitete Produkte feilgeboten wurden, einen Einkaufsbummel unternommen. Diese Gegend war inzwischen eine beliebte Touristenattraktion. Wieder zu Hause hatten sie viel über Pferdeeinspänner und Leute erzählt, die in dieser altmodischen Kleidung herumlaufen. „Man kann seinen Augen kaum trauen, wenn man das sieht,“ hatte sie sich ereifert.

„Wie sehen sie denn aus?“, hatte Ryan lachend gefragt und war nicht sicher gewesen, ob sie nur einen Spaß machte oder nicht.

„Die Männer lassen sich einen Vollbart wachsen – aber ohne Schnurrbart – und sie tragen dunkle Hosen mit braunen Hosenträgern und weiße Hemden ... und Strohhüte“, hatte Ali geschildert.

„Was ziehen die Frauen an?“, hatte Melissa gefragt.

„Sie tragen lange, dunkle Kleider und Schürzen, und auf dem Kopf kleine weiße Netze, die Gebetshauben genannt werden.“

Melissa hatte damals nicht gewusst, was sie damit anfangen sollte, aber sie hatte aufmerksam zugehört. „Ich habe schon von Gebetshauben gehört“, hatte sie leise erwidert. „Bei den Hutterern tragen die Frauen so etwas auch auf dem Kopf.“

Ali schien über andere konservative christliche Gruppierungen nicht viel zu wissen und sich auch nicht sonderlich für sie zu interessieren. Viel lieber wollte sie über ihre Begegnung mit den Leuten plaudern, die sich mit Pferd und Einspänner fortbewegten. „Ihr solltet sehen, wie süß die Kinder sind!“, hatte ihre Freundin ausgerufen und beschrieben, dass die Mädchen einen Mittelscheitel haben, „ganz streng, ohne Locken und ohne irgendeinen Haarschmuck“ und lange Zöpfe, die um ihren kleinen Kopf gelegt sind.

Melissa hatte sich nicht sehr dafür interessiert, von diesen „seltsam aussehenden Menschen“ zu hören und schon gar nicht von dem neugierigen Gaffen, das ihre Freunde bei ihrem Besuch in Lancaster zweifellos betrieben haben mussten. Aber ein solcher Ort faszinierte sie jetzt doch. Sie sehnte sich nach Ruhe, wenigstens für diese eine Nacht. Als Erstes musste sie ein Motel finden und dann ein Telefon.

* * *

Zum ersten Mal, seit sie Connecticut verlassen hatte, wagte sie es, sich ein wenig zu entspannen. Ein leichtes Gefühl von Ruhe und Frieden legte sich um sie. Aber nur für kurze Zeit.

Südöstlich von Trenton, in der Nähe von Holland auf der Bundesstraße 276 zuckte sie bei einem Blick in den Rückspiegel entsetzt zusammen. Da waren sie wieder, die unverkennbaren Umrisse eines Buick, der immer näher kam.

Der Mut verließ sie. Wie hat er mich nur gefunden? Melissa war voller Angst. Grauen und Entsetzen ergriffen sie. Eine neue Panik raste durch ihre Adern und versorgte ihren Körper mit dem nötigen Adrenalin.

Sie hatte sich die verschiedenen Routen gemerkt, bevor die Sonne am Horizont untergegangen war und es zu spät wäre, um während des Fahrens auf die Karte zu schauen. Zwei Straßen standen ihr zur Auswahl: Sie konnte auf dieser Bundesstraße bleiben und schließlich auf die Bundesstraße 202 stoßen oder dieser breiten Bundesstraße folgen, bis sie auf eine weitere mehrspurige Straße und auf die Bundesstraße 30, an Exton und Gap vorbei, zu ihrem Ziel käme.

Sie fühlte sich völlig hilflos. Ein großes Entsetzen, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte, ergriff von ihr Besitz. Kampflos würde sie jedoch nicht aufgeben.

Die Tochter meines Vaters bis zum bitteren Ende ...

Sie weigerte sich, sich von ihrer Angst lähmen zu lassen. „Bitte, Gott, hilf mir“, murmelte sie und fragte sich jetzt, während sie kreuz und quer fuhr, ob Gott sich überhaupt für sie interessierte. „Wenn du wirklich irgendwo da draußen bist, dann hilf mir bitte.“

Plötzlich krachte es laut. Der Buick hatte von hinten ihr Auto gerammt. Melissa schrie auf. In einem schnellen Reflex drückte sie auf das Gaspedal und trat es bis zum Boden durch, ohne auf die Geschwindigkeitsbegrenzung zu achten. Hier ging es um Leben und Tod. Ihr Auto schoss davon und ließ den Buick für einen kurzen Augenblick hinter sich zurück. Aber sie wusste, dass der Buick mehr PS hatte als ihr Toyota.

Nur wenige Sekunden später war er wieder bis auf wenige Meter an sie herangefahren. Nur dass sie jetzt beide wie verrückt über die Straße rasten und bald die Kontrolle über ihre Autos verlören.

Das ist Wahnsinn, dachte sie. Wir werden das beide nicht überleben. Sie warf einen kurzen Blick auf ihr Handy. Man hatte sie davor gewarnt, es zu benutzen, aber ihr blieb keine andere Wahl. Sie musste Hilfe holen.

Wumm! Der Buick rammte sie erneut, gerade als sie nach ihrem Telefon greifen wollte. Der überraschende Aufprall drängte sie gefährlich weit nach rechts. Sie umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen, bog scharf nach links ab und verfehlte nur knapp den Straßengraben. Dabei hatte sie das Lenkrad zu stark herumgerissen, sodass das Auto zu schlingern begann.

Melissa trat mit voller Kraft auf die Bremse. Die Reifen quietschten auf dem Asphalt. Sie wusste, dass der Buick in den nächsten Sekunden in sie hineinrasen würde. Aber sie hatte keine andere Wahl. Es hieß entweder stehen bleiben oder umkippen.

Ihr Auto schlingerte bedenklich und vollzog fast eine 180-Grad-Drehung. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass der Buick in den Straßengraben schlitterte, um einer Kollision mit ihrem Auto auszuweichen. Der Mann hatte Mühe, sein Auto wieder unter Kontrolle zu bekommen, und raste an ihr vorbei. Er gab Vollgas und riss den Buick vor ihr wieder aus dem Graben.

Eine Sekunde später hörte sie einen lauten Knall. Der graue Buick ruckelte, neigte sich schwer zur Seite und sank wieder zurück in den seichten Graben. Jetzt vollends zum Stehen gekommen, starrte sie benommen und verwirrt auf das andere Auto. Was ... was war jetzt geschehen? Plötzlich begriff sie: Ihm war ein Reifen geplatzt!

Mit Tränen in den Augen trat sie aufs Gaspedal und steuerte schnell an dem Buick vorbei. Der Mann riss seine Tür auf. Statt sie wütend anzusehen, grinste er sie jedoch breit und anzüglich an, als wollte er sie verspotten.

Das war ihr gleichgültig. Sie war in Sicherheit ... wenigstens für den Augenblick.

Viele Kilometer später bog Melissa, immer noch zitternd, auf die Bundesstraße 202 ab. Selbst wenn der Mann seinen Reifen in Rekordgeschwindigkeit wechselte, würde er sie auf dieser Straße nicht finden. Er würde nie erraten, wohin sie fahren wollte. Nach Amischland – in das Land, in dem die Zeit stillstand.

* * *

Als sie auf der Bundesstraße 30 in Richtung Lancaster unterwegs war, erblickte sie ein paar Restaurants – Millers Smorgasbord und andere Gasthäuser, die immer noch geöffnet hatten und hungrige Touristen bedienten. Motels gab es in großer Auswahl auf beiden Seiten der Bundesstraße. Ausgelaugt und erschöpft war Melissa versucht anzuhalten, als sie vor dem Steamboat-Gasthaus das Schild „Zimmer frei“ las. Nicht abgelegen genug, entschied sie dann jedoch.

Der innere Druck ließ allmählich etwas nach. Ihre zusammengekniffenen Lippen entspannten sich; ihre Schultern schmerzten, waren aber bei weitem nicht mehr so angespannt wie vorher. Sie würde überleben. Wenigstens heute.

An der Kreuzung der Bundesstraße 30 und 222 folgte sie der Straße in Richtung Norden, nach Eden. Klingt, als ob das ein hübscher Ort sein könnte, dachte sie und überlegte, wo wohl all diese altmodischen Menschen lebten. Waren sie über die ganze Gegend verstreut ... wo?

Sie hielt an einem Schnellimbiss-Restaurant an, nutzte die Chance und ging hinein, um ihre müden Beine auszustrecken und um sich ein Sandwich und eine Tasse Kaffee zu kaufen. Bei der Kellnerin erkundigte sie sich nach Übernachtungsmöglichkeiten. „Wissen Sie, ob es abseits von den Hauptstraßen irgendwelche Gasthäuser oder Übernachtungspensionen gibt?“

„Hier gibt es jede Menge Häuser, in denen man übernachten kann“, erwiderte die junge Frau mit einem freundlichen Lächeln. „Was genau suchen Sie denn?“

„Etwas Ruhiges, abseits von der Straße und dem Lärm.“

Die Frau nickte. „Da Sie bereits hier abgebogen sind, könnten Sie noch ein Stück weiter bis zur Hunsecker Road fahren. Das Schild, an dem Sie abbiegen müssen, ist nicht zu übersehen. Dort werden Sie eine große Auswahl an Übernachtungsmöglichkeiten finden. Auch ein paar Privathäuser, die Zimmer vermieten.“

„Für eine ganze Woche oder auch nur für eine Nacht?“

„Ganz wie Sie wollen, denke ich. Der Sommer geht zu Ende. Sie dürften also keine Probleme haben, etwas Passendes zu finden.“

Sie bedankte sich bei der Frau und eilte mit dem Essen in der Hand zu ihrem Auto zurück.

* * *

Die Holzbretter klapperten, als sie ihr Auto verlangsamte und auf einer überdachten Brücke, die auf ihrer Straßenkarte als „Hunsecker Mill Bridge“ bezeichnet wurde, über den Conestoga River fuhr. Gelegentliche kleine Öffnungen an den Seiten der Brücke ließen ein schwaches Licht durchdringen.

Sobald sie wieder im Freien war, konnte sie sehen, wie über ihr die Sterne durch die Weiden und die anderen großen Bäume entlang der Straße funkelten. Sie dachte wieder an Ryans Pläne für einen romantischen Ausflug nach Vermont. Mitte Oktober war die ideale Zeit, um in dieses herbstliche Paradies zu fahren.

Melissa erinnerte sich an den Geruch nach Holzrauch, der die kühle, trockene Luft durchzog, an das Rascheln der Blätter unter ihren Füßen. Sie brachen gern in unbewohnte und bewaldete Gegenden auf und genossen eine Wanderung in die nahe gelegenen Green Mountains. Zu den Dingen, die sie am meisten liebten, gehörten Spaziergänge durch den Wald inmitten der Farnblätter und des bunt gefärbten Unterholzes. Dort hielten sie sich an den Händen und genossen es, zusammen zu sein. Immer wieder entdeckten sie abgelegene Gärten mit Schwalbenwurzgewächsen und Sonnenhut, gurgelnden Bächen, niedrigen Steinmauern und hübschen Wegen. In einer solchen Umgebung war die Natur zum Greifen nahe. Dieses Jahr würde sie ihren Ausflug nach Vermont schmerzlich vermissen. Aber ihre überstürzte Flucht hatte mehr als nur ihre Pläne für ein romantisches Wochenende über den Haufen geworfen. Alles war jetzt anders.

Wahrscheinlich hätte sie das handgeschriebene Schild übersehen, das zwischen dem Briefkasten und der kleinen roten Flagge aufgestellt war, wenn ihre Scheinwerfer nicht direkt auf die Worte Zimmer frei gefallen wären, die in großen, fetten Buchstaben darauf geschrieben standen.

Melissa bog vorsichtig in die Auffahrt ein, blieb mit laufendem Motor hinter ihrem Lenkrad sitzen und konzentrierte ihre ganze Aufmerksamkeit auf das saubere Ziegelhaus mit einem Giebel an der einen Seite. Die Wiesen breiteten sich nach beiden Seiten aus und ließen das Haus dadurch recht klein aussehen. Als sie den Motor abstellte, konnte sie durch das Autofenster die Grillen zirpen hören. Was für ein Friede! Am liebsten wäre sie einfach ruhig sitzen geblieben und hätte zum weiten Himmel und zur hellen Mondsichel hinaufgeschaut.

Das Licht auf der Veranda begrüßte sie. Sie sah, dass ein hübscher geflochtener Kranz mit zartem roten Salbei, der mit Efeu und anderem Grün durchzogen war, den Gast willkommen hieß. Mehrere Lampen brannten noch im Haus.

Ist es zu spät, oder kann ich noch klopfen?, überlegte sie.

Melissa schaute auf ihr Armaturenbrett, wie spät es war, und stellte fest, dass es schon fast einundzwanzig Uhr war. Sie zögerte und überlegte, was sie selbst von einem Besuch so spät am Abend halten würde – wenn sie noch zu Hause wäre. Aber das Schild am Briefkasten besagte, dass hier ein Zimmer frei war, und jetzt, da sie sich das Haus ansah, entdeckte sie auch ein Schild im Fenster.

Sie stieg aus dem Auto und eilte die Verandastufen hinauf. Dabei wurde ihr bewusst, dass sie es überhaupt nicht mehr eilig haben musste. Hier im Hinterland von Lancaster County war sie in Sicherheit. Sie hob die Hand und wollte gerade läuten, als die Tür aufging und eine Frau, die nicht viel älter war als Melissa selbst, sie mit einem herzlichen Lächeln begrüßte. „Hallo“, sagte die Frau. „Suchen Sie ein Zimmer?“

„Ehrlich gesagt, ja“, erwiderte Melissa und bemerkte die kleine netzförmige Haube, den Haarknoten darunter, den hoch geschlossenen Kragen, das Oberteil mit Biesen und das lange, fließende Kleid mit winzigen lavendelfarbenen Blüten. Genau die Kleidung, die Ali so eifrig beschrieben hatte. „Ich bleibe vielleicht nur eine Nacht, wenn Ihnen das recht ist.“

„O ja ... Natürlich. Bleiben Sie so lang oder so kurz Sie wollen.“ Die Fliegengittertür wurde geöffnet, und Melissa wurde ins Haus gebeten. „Bitte fühlen Sie sich wie zu Hause.“

„Danke.“ Melissa kam sich komisch vor, weil sie den Namen der Frau nicht kannte, aber sie fragte auch nicht danach. Stattdessen folgte sie der schlanken, brünetten Frau die Treppe hinauf, wo ihr das freie Zimmer gezeigt wurde, das sie gern nahm. Der günstige Preis überraschte sie. Dreißig Dollar pro Nacht, einschließlich Frühstück. Falls sie sich entscheiden sollte, länger zu bleiben, bekäme sie das hübsche, gemütliche Zimmer zu einem Spottpreis.

„Ich heiße Lela Denlinger“, stellte sich die freundliche Frau vor.

„Ich bin Melissa.“ Sie nannte absichtlich nur ihren Vornamen. „Ich nehme an, Sie haben ein Telefon?“, fragte sie und hoffte, sie wäre nicht in ein amisches Haus geraten, in dem Telefone ein Tabu waren.

Lela lächelte amüsiert und deutete zum Telefon in der Küche. „Oh, meine Güte, ja. Sie können es gern jederzeit benutzen. Mein Haus ist Ihr Haus ... solange Sie hier bleiben wollen.“

Das war nun wirklich nicht die Art Empfang, die sie erwartet hatte. Erleichtert eilte Melissa zum Auto, um ihr einziges Gepäckstück zu holen. „Ich bin mit wenig Gepäck unterwegs“, erklärte sie, als Lela einen Blick auf ihren kleinen Koffer warf.

„Haben Sie keine Scheu, sich mit allem zu bedienen, was Sie im Kühlschrank finden“, bot Lela an.

So viel Freundlichkeit hatte Melissa bei Fremden noch nie erlebt. Je mehr sie mit Lela plauderte, umso mehr mochte sie diese ländliche Unterkunft und auch die Besitzerin. Sie hatte einen sicheren Ort gefunden. Endlich eine Zuflucht.

* * *

Sie wartete, bis es ganz still im Haus war. Dankbar stellte sie fest, dass Lela eine Lampe im Wohnzimmer und in der Küche hatte brennen lassen. Endlich hatte sie Zugang zu einem „sicheren“ Telefon. Sie kramte in ihrer Hosentasche, fand die wichtige Nummer und wählte sie schnell.

Zu ihrer großen Enttäuschung meldete sich nur ein Anrufbeantworter am anderen Ende der Leitung. „Bitte hinterlassen Sie nach dem Signalton eine Nachricht oder rufen Sie unter folgender Nummer an: 555-0097“, wies die Stimme auf dem Tonband sie an.

Nun ja, das ist wahrscheinlich besser als gar nichts, dachte Melissa. Im schwachen Licht der Küche sprach sie deutlich ins Telefon und las die ausgebleichte Nummer ab, die auf Lela Denlingers Telefon gedruckt war. Seufzend legte sie auf, hundemüde, erschöpft ... aber seltsamerweise mit einem tiefen Frieden im Herzen.

8

Ryan erwachte am Samstag durch die Schreie der Seemöwen in der Ferne. Das Morgenlicht schien durch die Ritzen in den Jalousien ins Zimmer und verkündete das Ende einer qualvollen Nacht. Sein Schlaf war unruhig und in keinster Weise erholsam gewesen. Auf seinem Radiowecker leuchtete in roten Ziffern: 5:33. Jede Hoffnung, noch einmal einzuschlummern, verflüchtigte sich, als er einen Blick auf Melissas Seite des Bettes warf. Wie viele Male war er in dieser Nacht aufgewacht, hatte sie gesucht und jedes Mal nur eine neue Enttäuschung erlebt, wenn er registrieren musste, dass sie nicht da war.

Er schlüpfte in seinen Bademantel, zog den Gürtel zusammen und ging die Treppe hinunter, um Kaffee zu kochen. Das übliche Morgenritual. Daisy folgte ihm in die Küche und verschwand dann durch die Hundetür, während Ryan Kaffee mahlte. Das Blubbern der Kaffeemaschine durchbrach die Stille und ahmte die Geräusche eines normalen Tages nach. Aber der heutige Tag war alles andere als normal.

Als er vollständig aufgewacht war, arbeitete sein Verstand erneut auf Hochtouren, sobald er an Melissa dachte, die irgendwo da draußen war und davonlief ... aber wovor lief sie davon?

Daisy kam durch die Hundetür wieder ins Haus und richtete ihren Blick erwartungsvoll auf Ryan. Sie trabte zu ihrer Futterschale und schnaubte ein wenig verächtlich über das unappetitliche Frühstück. Dann schlurfte sie missmutig ins Wohnzimmer und suchte sich einen Platz, an dem sie gewiss irgendwann ein Sonnenstrahl erreichen würde.

Ryan schenkte sich seinen Kaffee ein, nippte daran, verzog das Gesicht und kippte dann den restlichen Inhalt in den Ausguss. Er ging wieder die Treppe hinauf, um zu duschen. Dabei ließ er noch einmal seine hektische Aktivität und die vielen Telefonanrufe vom Vorabend Revue passieren. Am Ende hatte er die Polizei angerufen. Gegen einundzwanzig Uhr hatten daraufhin zwei Polizisten an seine Tür geklopft und sich benommen, als hätten sie alle Zeit der Welt. Sobald sie im Haus waren, schnüffelten sie überall herum und stellten die üblichen Fragen. Als sie Melissas „Abschiedsbrief“ sahen, sprach der Blick, den sie miteinander wechselten, Bände.

In der nächsten Stunde veränderte sich der Tenor des Gesprächs dramatisch. Statt eine schnelle Suche nach seiner Frau in die Wege zu leiten, begannen sie, Ryan wie einen Verdächtigen zu behandeln.

Frustriert und niedergeschlagen ließ Ryan ihre bohrenden Fragen über sich ergehen. Schließlich sagte einer der Polizisten frei heraus: „Es gibt kein Anzeichen für irgendein Verbrechen, Mr. James. Den Menschen in diesem Land steht es frei zu kommen und zu gehen, wann sie wollen. Es sei denn ... Sie haben uns nicht alles gesagt.“

Ryan war froh, als sie endlich wieder aufbrachen. Sie versprachen, „die Augen offen zu halten“, dann spazierten sie zur Haustür hinaus. Er war auf sich allein gestellt.

Später rief Denny zurück, wie er versprochen hatte, und bestand darauf, trotzdem zu kommen, um der sprichwörtliche Freund in dieser „Zeit der Not“ zu sein. Ryan war irgendwie erleichtert, aber letztendlich spielte es doch keine besondere Rolle, ob Denny zu Besuch kam oder nicht. Nur Melissas sichere Rückkehr konnte sein Leben wieder in Ordnung bringen.

* * *

Bevor er unter die Dusche stieg, drehte Ryan das Wasser auf und stellte die richtige Temperatur ein. Dann holte er sich das schnurlose Telefon und legte es auf den Rahmen der Duschwand.

Für alle Fälle.

* * *

Mehrmals war Melissa in dieser Nacht aufgewacht. Kalter Schweiß breitete sich auf ihrem ganzen Körper aus. Jedes Mal, wenn ihr ihre Situation bewusst wurde, überrollte sie eine neue Welle der Angst. Noch etwas verwirrt setzte sie die gestrigen Ereignisse wie Puzzleteile zusammen: die unerwartete Begegnung im Restaurant in der Innenstadt von Mystic, ihre verzweifelte Flucht.

Mühsam setzte sie sich im Bett auf. Ihr Kopf pochte bei der geringsten Anstrengung. Was muss Ryan nur von mir denken?, überlegte sie. Sie sank wieder auf ihre Kissen zurück. Er muss vor Sorgen ganz verzweifelt sein. Bei mehr als einer Gelegenheit war sie versucht gewesen, ihn anzurufen, hatte der Versuchung aber widerstanden.

Da kam ihr der Gedanke, per E-Mail Kontakt zu Ryan aufzunehmen. Das müsste doch ungefährlich sein, oder? Diese Idee gab ihr neue Hoffnung. Sie erinnerte sich aber, dass sie von Leuten gelesen hatte, die über das Internet Viren verbreiteten –, dass es Möglichkeiten geben musste, die Spur zu solchen Leuten zurückzuverfolgen. Wenn die Behörden Hacker ausfindig machen konnten, dann könnte ihr Aufenthaltsort auch entdeckt werden. Der Mut verließ sie erneut.

In der Ferne weckte das Klappern von Pferdehufen auf dem harten Asphalt ihre Neugier. Jetzt hörte sie noch etwas ... was war denn das für ein Geräusch? Sie strengte ihre Ohren an und lauschte gespannt. Ein irgendwie bekanntes und doch fremdes Geräusch – ja, sie hatte richtig gehört: Es war das Klappern von Wagenrädern.

Was in aller Welt war hier los?

Sie sprang aus dem Bett. Ohne sich Hausschuhe anzuziehen, trat sie ans Fenster ihres Zimmers und spähte hinunter auf die Straße. Erstaunt sah sie ein Pferd und einen Einspänner vor dem Haus vorbeifahren. Wohin waren sie nur zu dieser frühen Stunde unterwegs?

Melissa erhaschte einen Blick auf die Fahrerin: eine junge Frau in einem schwarzen Kleid und einer Schürze und mit einer kleinen weißen Haube auf dem Kopf. Neben ihr saß ein Mädchen, das ähnlich gekleidet war. Sie vermutete, dass es amische Frauen waren, die friedliebende Glaubensgemeinschaft, von denen Ali und ihr Mann nach ihrem Besuch in dieser Gegend so begeistert erzählt hatten.

Das ist, als wäre ich mitten in einen Jane-Austen-Film versetzt, dachte sie und genoss diesen Anblick. Sie blieb staunend stehen und schaute dem Wagen und dem Pferd nach, bis sie aus ihrem Blickfeld verschwunden waren.

Nun wandte sie sich vom Fenster ab und betrachtete ihr Zimmer im Morgengrauen. Das Bett – unübersehbar eine kostbare Antiquität – wurde von einem großen Messingrahmen am Kopf- und am Fußende geziert. Daneben erinnerte sie der glatte und elegante Sekretär aus Kirschbaumholz an eine Kommode in Oma Clarks Haus. Sie sah Oma vor sich, die von antiken Möbeln begeistert war und sich so freute, als sie dieses „Schmuckstück“ fand.

Seufzend setzte sie sich in einen geblümten Sessel in einer gemütlichen Nische mit eingebauten Bücherregalen und einer glänzenden Stehlampe aus Messing. Dieses Zimmer war sogar noch geräumiger als ihr eigenes Zimmer zu Hause. Auf einer Seite des Raumes befand sich ein zweiter Schlafplatz: ein Einzelbett stand versteckt hinter handbemalten Blumenvorhängen aus hellem Gelb und Violett. Ein kleiner Kaffeetisch, in einem kräftigen Gelb bemalt, bildete die Mitte des Sitzbereichs.

Sie lehnte sich zurück und fühlte, wie ihre Muskeln sich in dem Sessel entspannten. Trotz ihrer Sorgen und Angst wusste sie, dass sie mit ihrer Unterkunft eine gute Wahl getroffen hatte. Nach einer Weile nahm sie eines der vielen Bücher hinter sich zur Hand. Als sie darin blätterte, stellte sie fest, dass der Autor ein mennonitischer Pastor war. Lela war also Mitglied dieser konservativen Gruppe? Melissa war neugierig, mehr über diese Gruppe und ihr Leben zu erfahren, und las mehrere Kapitel, bevor sie das Buch wieder ins Regal zurückstellte.

Dann ging sie auf Zehenspitzen zurück zum Bett und betrachtete den handgearbeiteten Teppich unter ihren Füßen. Wie war sie nur in einem solch märchenhaften Bauernhaus gelandet? Und was für ein Mensch war Lela Denlinger? Die Frau war ungewöhnlich freundlich gewesen und hatte Melissa wie einen sehnlich erwarteten Gast, ja, wie eine Verwandte begrüßt. War das typisch für diese Leute?

Ein erneutes Klappern auf der Straße lockte sie wieder ans Fenster. Vor dem Haus rollten mehrere Einspänner, wie von unsichtbarer Hand geführt, die Straße entlang. Eine nicht zu leugnende Ruhe legte sich über sie, als sie diese Szene beobachtete, und einen Augenblick lang fühlte sie sich sicher. Sicher, zum ersten Mal, seit Ryan sich gestern Morgen mit einem liebevollen Kuss von ihr verabschiedet hatte.

Sicher ...

Viel zu schnell kamen ihr die beunruhigenden Umstände wieder in den Sinn, die sie in diese idyllische Gegend geführt hatten. Sie wusch sich, zog sich für den Tag an und fragte sich, wann wohl das Telefon für sie läuten würde.

9

Denny bestieg die 747 mit Flugziel Providence, Rhode Island. Er war in Denver losgeflogen und musste jetzt in Atlanta umsteigen. Eine lächelnde brünette Flugbegleiterin begrüßte ihn und bot ihm aus einem dicken Stoß eine Zeitschrift zu lesen an. Denny klopfte auf die Taschenbibel in seinem Hemd. „Ich habe selbst alles dabei, was ich brauche“, sagte er mit einem Lächeln.

„Das sehe ich“, erwiderte sie glatt und begrüßte die nächsten Fluggäste, die an Bord kamen.

Denny schob sich durch den schmalen Gang und manövrierte seinen kräftigen Körper zu einer Sitzreihe auf halber Höhe des Ganges. Als er seinen Platz fand, runzelte er die Stirn und überprüfte noch einmal seine Flugkarte und Sitznummer. Er war sicher, dass sein Reisebüro einen Sitz am Mittelgang gebucht hatte. Bei seiner Körpergröße verlangte Denny immer einen Platz am Mittelgang.

Oh, Mann, seufzte er. Vielleicht hat Gott einen Grund dafür ...

Sein Leben mit dem Herrn hatte ihn eines gelehrt: Wer mit Jesus Christus lebt, kann damit rechnen, dass unerwartete Dinge geschehen. Für einen Christen gibt es keine Zufälle. Selbst bei kleinen Irritationen stellt sich später oft heraus, dass Gott mit seinen großartigen Absichten am Werk war.

Denny quetschte sich also auf den mittleren Sitz zwischen dem Platz am Gang und dem am Fenster. Während er zuschaute, wie die übrigen Fluggäste ihren Platz suchten, ließ er das Gespräch mit Ryan von gestern Abend Revue passieren. Denny hatte gegen zweiundzwanzig Uhr noch einmal angerufen und erfahren, dass Melissa immer noch vermisst wurde.

„Ich komme trotzdem“, hatte Denny erklärt. „Du brauchst in dieser Situation Hilfe, Mann.“ Zu seiner Überraschung hatte Ryan eingewilligt, aber Denny hatte den Verdacht, dass sein Freund einfach zu sehr mit seinen Sorgen beschäftigt war, zu erschöpft gewesen war, um zu widersprechen. Ihm sollte das recht sein. Er versicherte Ryan, dass er sich ein Auto mieten würde, um ihm die zweistündige Fahrt zum Flughafen und zurück zu ersparen. Aber Ryan hatte darauf bestanden, zu kommen und Denny persönlich vom Flughafen abzuholen.

Denny schloss einen Augenblick die Augen und dachte an Evelyn. Er vermisste sie. Er hoffte, sie würde aufbleiben und auf seinen Anruf an diesem Abend warten.

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als ein heruntergekommen aussehender Teenager mit Pickeln im Gesicht, in zerrissenen Jeans und einem schmutzigen T-Shirt sich seinen Weg zu Dennys Sitzreihe bahnte. Mit einem unverständlichen Murmeln deutete der Jugendliche auf den Fensterplatz neben Denny. Denny lächelte, kämpfte sich aus seinem Sitz hoch und trat in den Gang, damit der Junge zu seinem Sitzplatz gelangen konnte.

Ein harter Brocken!, dachte Denny. Er nahm wieder auf dem mittleren Sitz neben dem Jungen Platz, versuchte, seine Beine irgendwie unterzubringen, und machte sich bereit, ein Gespräch mit seinem abweisenden Reisegefährten zu beginnen. Plötzlich tippte ihn eine ältere Frau auf die Schulter. In der Hand hielt sie ihre Flugkarte für den Sitz am Gang. „Wollen wir tauschen?“, bot sie ihm mit einem belustigten Blick auf seinen riesigen Körperbau an.

„Nein, danke, ich fühle mich hier ganz wohl“, lehnte Denny ab und erwiderte ihr Lächeln. „Ich bin kleiner, als man mir ansieht.“

Der Jugendliche neben ihm brummte missmutig.

„Aber Sie brauchen doch Platz für Ihre Beine, junger Mann“, beharrte die Frau.

„Das passt schon“, erklärte Denny ihr. „Sie sind zusammenklappbar.“

„Wie Sie wollen“, nickte sie mit ihrer Singsangstimme und ließ sich auf dem Sitz am Gang nieder. „Sie sind ein lustiger Vogel.“

„Danke schön.“

Eine kleinere Katastrophe war abgewendet. Jetzt konnte es mit dem Abenteuer weitergehen. Er ließ sich Zeit und wartete auf den richtigen Augenblick. Als das Flugzeug immer schneller über die Startbahn rollte und schließlich abhob, war der Augenblick gekommen. Der Jugendliche umklammerte die Armlehne. Sein Gesicht nahm eine graugrüne Färbung an. Unverkennbar hatte der Junge Angst. Flugangst.

Denny beugte sich zu ihm hinüber und flüsterte: „Keine Angst, Mann. Gott wird nicht zulassen, dass uns etwas zustößt.“

Der Junge riss die Augen auf. „Was?“

„Wir können cool bleiben“, sagte Denny gelassen. „Meine Nummer ist noch nicht dran, und da du zufällig mit mir im selben Flugzeug sitzt, ist deine Nummer auch noch nicht dran.“

„Woher ... wollen Sie das wissen?“, murmelte der Junge.

„Sagen wir, ich habe da so meine Ahnung“, grinste Denny. „Außerdem gibt es einen bestimmten Grund, warum du neben mir sitzt.“

„Wer sind Sie?“

Er grinste den Jugendlichen an. „Ich bin dein neuer Freund.“

Stirnrunzelnd erwiderte der Junge Dennys Blick, dann huschte ein leichtes Grinsen über sein Gesicht. Sie witzelten hin und her, und innerhalb kürzester Zeit hatte Denny mit seinem entwaffnenden Humor den Jungen für sich gewonnen. Die Angst begann zu verschwinden, die Schultern entspannten sich, und der Junge öffnete sich langsam.

Der Durchbruch kam, als Denny erzählte, dass er mit John Elway im Trainingslager gespielt habe. Die Mauern um das Herz des Jungen bröckelten ab. Sie unterhielten sich eine ganze Stunde über Football, ehe Denny das Gespräch in eine ernstere Richtung lenkte.

Er erfuhr, dass der Junge Michael hieß und sein ganzes Leben von Pflegeeltern zu Pflegeeltern geschoben wurde. Michael war auf dem Rückweg von einem Besuch bei seiner Mutter in Atlanta, die es nach zwei Tagen kaum hatte erwarten können, ihn wieder loszuwerden. Sie hatte ihn so bald wie möglich wieder ins Flugzeug gesetzt und zu seinen neuesten Pflegeeltern zurückgeschickt.

Denny hörte ihm aufmerksam zu. Im stillen Gebet brachte er diese Situation vor Gott. Es überraschte ihn ganz und gar nicht, dass Michael einen Panzer aus Wut um sich aufgebaut hatte. Aber das Schwert der Erlösung war stärker. Denny war sich sicher, er würde mit Gottes wunderbarer Liebe die Ablehnung und den Schmerz durchbrechen.

Als die Flugbegleiterinnen mit dem Essen kamen, war Michael so weit, dass er zur Abwechslung einmal eine gute Nachricht vertragen konnte. Gott hatte den Weg dazu schon bereitet.

Als das Flugzeug sich der Landebahn näherte, hatte Denny tatsächlich einen neuen Freund gewonnen. Der junge Michael hörte aufmerksam zu, als Denny seine Taschenbibel aufschlug und ihm die gute Nachricht von Jesus erzählte.

„O ... Mann. Das ist so ... na ja, so krass“, erwiderte Michael. „Ich brauche Zeit, um darüber nachzudenken.“

„Das ist genial. Vielleicht könnten wir miteinander irgendwo einen Jugendgottesdienst besuchen, solange ich in Connecticut bin“, erwiderte Denny.

„Kirche?“, fragte Michael stirnrunzelnd.

„Natürlich, es tut bestimmt nicht weh, es einmal zu versuchen. Wenigstens ein einziges Mal.“

Michael dachte darüber nach. Dann erwiderte er: „Ich dachte nicht, dass das etwas mit Kirche zu tun hat.“

Denny verstand, was er meinte. „Ich war auch schon dort, Michael. Die Kirche ist ein Platz, an dem Leute wie du und ich sich treffen. Wie eine Clique – für Leute, die an Jesus glauben.“

Michael verzog das Gesicht, aber er schien diese unkonventionelle Erklärung zu akzeptieren.

Ihr Gespräch fand ein Ende, als das Flugzeug die Räder ausfuhr und dann über die Landebahn rollte. Die Frau, die links neben Denny saß – die Frau auf dem Sitz am Gang – beugte sich zu ihm vor. „Sie sind ja ein richtiger ‚Billy Graham‘, junger Mann“, sagte sie, ohne von ihrer Stickarbeit aufzublicken. „Ich muss ehrlich sagen, dass ich so etwas noch nie so gehört habe.“

„Ich tauche einfach auf. Gott erledigt den Rest.“

„Alles klar“, erwiderte sie und steckte ihre Stickarbeit in ihre Tasche. Sie nahm die Informationsbroschüre aus der Halterung vor sich. Ihre Nervosität war nicht zu übersehen. Vielleicht befürchtete sie, Denny könnte als Nächstes ihr ein Gespräch über Gott und die Kirche aufdrängen.

Er grinste. Zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Die Frau hatte das ganze Gespräch mit angehört. Gottes Wort kehrt nicht leer zu ihm zurück, dachte er voll Freude.

Bevor sie das Flugzeug verließen, tauschten Denny und Michael ihre Telefonnummern aus. Der Rest lag in Gottes Hand. Denny verabschiedete sich nur ungern von Michael. Er schnappte seine Reisetasche und drückte dem Jungen seine Taschenbibel in die Hand. „Pass gut darauf auf, ja?“

„Klar.“ Die Augen des Jungen leuchteten dankbar. Der Missmut, mit dem er Michael anfangs begegnet war, war verschwunden.

Die nächste Herausforderung wartete schon auf Denny: Ryan und Melissa.

* * *

Ryan stand beim Ausgang und wartete. Es dauerte nicht lang, bis Denny auftauchte. Ryan staunte erneut über den großen und muskulösen Körperbau seines Freundes, der in einer grauen Hose und einem rotblauen Polohemd steckte und eine faszinierende Fröhlichkeit ausstrahlte. Das Bild von einem freundlichen grünen Riesen kam ihm in den Sinn. Nur das Grün fehlte natürlich.

Sie begrüßten einander, wie es nur gute Freunde können, auch wenn sie dabei überspielten, wie sorgenvoll die Situation diesmal war. „So ... du hast also immer noch alle Haare auf dem Kopf“, bemerkte Denny mit gespieltem Neid, als er Ryan aus einer kräftigen Umarmung losließ. „Oh! Warte mal!“ Er tat so, als untersuche er Ryans Kopf. „Ich sehe einen kleinen Hoffnungsschimmer ... hier kommt bald eine kahle Stelle.“

Ryan grinste. „Das träumst du vielleicht.“

„Weißt du, es ist eigentlich eine Frechheit, so mit seinen Haaren anzugeben, wenn du mit Leuten wie mir zusammen bist, deren Haarpracht sie einfach im Stich gelassen hat.“

„Und wie, glaubst du, komme ich mir vor?“, erwiderte Ryan gut gelaunt. „Neben dir sehe ich ja aus wie ein kleiner, mickriger Gartenzwerg.“

„Eifersucht bringt dich auch nicht weiter, mein Freund“, grinste Denny und ließ ihn los.

Es tat gut, miteinander zu lachen. Während sie so locker plauderten, steuerten sie auf den Parkplatz zu. Denny bestand darauf, sein Gepäck selbst zu tragen.

Als sie den Bronco SUV erreichten, öffnete Ryan die Heckklappe und warf Dennys Tasche hinein. Sie verließen den Parkplatz und fuhren in Richtung Autobahn. Ryan lenkte den Bronco auf die Autobahn 95 in Richtung Süden.

Sie unterhielten sich über Belanglosigkeiten, mehrere Kilometer lang. Doch die ausgesprochene Sorge um Melissa hing wie ein Damoklesschwert in der Luft. Denny war es schließlich, der dieses Thema ansprach, das Ryan so schwer auf dem Herzen lag. „Hat Melissa endlich angerufen?“

Ryan schüttelte den Kopf. „Ich warte immer noch.“ Er hob sein Handy hoch. „Alle Anrufe werden hierher umgeleitet.“

„Hast du irgendetwas Neues in Erfahrung gebracht, seit wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben?“

„Nein. Ich habe alle angerufen, die mir einfielen ... Sogar die Polizei.“

Denny seufzte hörbar. „Was willst du jetzt tun?“

„Ich kann nichts anderes tun als warten.“

„Hat sie so etwas früher schon irgendwann einmal gemacht? Ist sie schon einmal einfach auf und davon gelaufen?“

Ryan zögerte. „Hm ... ja. Bevor wir heirateten.“

„Wirklich?“

„Sie hatte kalte Füße bekommen oder so etwas. Ich wusste zwei Tage nicht, wo sie steckte.“

Denny schaute ihn überrascht an. „Was geschah dann?“

Ryan zuckte die Achseln. „Schließlich hat sie angerufen. Wir haben alles geklärt.“

Denny sprach einen Augenblick kein Wort. „Ist sie schon einmal davongelaufen, seit ihr verheiratet seid?“

„Nein, das ist das erste Mal.“

„Hat sie je damit gedroht?“, ließ Denny nicht locker.

Ryan schaute seinen Freund an. „Komm schon, Den, hör auf damit.“

Denny sagte nichts mehr.

Schließlich brach Ryan mit einer Entschuldigung das Schweigen. „Tut mir leid. Ich bin ziemlich gereizt, fürchte ich.“

„Meine Schuld. Ich bin manchmal wie ein Elefant im Porzellanladen“, erwiderte Denny. „Sie wird bald anrufen.“ Er drehte den Kopf zur Seite und schaute aus dem Fenster. Eine Weile schwieg er, dann sagte er: „Wie ich die Bäume hier vermisst habe.“

„Und ich vermisse deine Berge.“

„Ich habe auch dein Meer vermisst“, fügte Denny hinzu.

„Und ich deinen Wüstensand.“

Denny lachte. „Alles klar!“

„Was du kannst, kann ich auch“, erwiderte Ryan. Denny grinste ihn an. Aber je länger sie fuhren, umso bedrückender wurde die Stimmung wieder. Für den Rest der Fahrt bis nach Lord’s Point verlor keiner mehr ein Wort über Melissa. Ryan dachte jedoch an kaum etwas anderes als an seine Frau.