Individuelle und gesellschaftliche Ursprünge der Neurose

(Individual and Social Origins of Neurosis)

Erich Fromm
(1944a)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk[1]
Aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel.

Erstveröffentlichung unter dem Titel Individual and Social Origins of Neurosis in der American Sociological Review (Jahrgang IX, Nr. 4) im August 1944. Eine deutsche Übersetzung von Rainer Funk unter dem Titel Individuelle und gesellschaftliche Ursprünge der Neurose erschien erstmals in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, GA XII, S. 123-129.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der Textfassung in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, GA XII, S. 123-129.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1944 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2016 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2016 by Rainer Funk.

Die Geschichte der Wissenschaft ist eine Geschichte von irrtümlichen Aussagen. Doch diese irrtümlichen Behauptungen, die den Fortschritt des Denkens kennzeichnen, haben eine besondere Qualität: sie sind produktiv. Auch sind sie nicht einfach Irrtümer, sondern vielmehr Behauptungen, deren Wahrheitsgehalt von falschen Vorstellungen verhüllt ist, die also in irrtümliche und inadäquate Vorstellungen gekleidet sind. Sie sind rationale Visionen, die die Saat der Wahrheit enthalten. Diese Saat soll wachsen und zur Blüte kommen im ständigen Bemühen der Menschheit, zu einer objektiv gültigen Kenntnis über Mensch und Natur zu gelangen. Viele tiefe Einsichten über den Menschen und die Gesellschaft haben ihren ersten Ausdruck in Mythen und Märchen gefunden, andere in metaphysischen Spekulationen, wieder andere in wissenschaftlichen Annahmen, die sich schließlich nach ein oder zwei Generationen als nicht haltbar erwiesen haben.

Warum die Entwicklung des menschlichen Denkens auf diese Weise vor sich geht, ist unschwer zu erkennen. Es ist das Ziel jedes menschlichen Denkens, zur ganzen Wahrheit