Über das Buch:
Familie Byler ist eine angesehene amische Familie in Lancaster County, Pennsylvania. Der Vater Judah und seine beiden Söhne sind hart arbeitende, erfolgreiche Schafzüchter. Lettie, die Mutter, hält den großen Haushalt zusammen, unterstützt von ihren Töchtern Grace und Mandy. Heiratspläne liegen in der Luft.
Doch von einem Tag auf den anderen stürzt die scheinbar heile Welt der Amischfamilie in sich zusammen: Lettie verlässt bei Nacht und Nebel ihren Mann und ihre Kinder. Ihre Tochter Grace findet einen Abschiedsbrief, der mehr verschleiert als enthüllt. Warum war ihre Mutter in letzter Zeit so traurig und unruhig? Weshalb ist sie gegangen und wohin?
Für Grace beginnt eine Entdeckungsreise zu lang verschwiegenen Familiengeheimnissen.
Über die Autorin:
Beverly Lewis wurde im Herzen des Amisch-Landes in Lancaster, Pennsylvania, geboren. Sie hat 3 erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann Dave in Colorado/USA. Ihr Wissen über die Amisch hat sie von ihrer Großmutter, die in einer Mennoniten-Gemeinde alter Ordnung aufwuchs.
Kapitel 7
Lettie brach es fast das Herz, als sie ihrer Tochter nachschaute. Sie drückte ihre nackten Füße auf die Holzdielen, die die liebe Mandy jedes Jahr weiß strich. Mandy hatte viel mehr zu tun, seit Grace angefangen hatte, bei Eli im Naturkostladen zu arbeiten. Die Schaukel erzeugte mit ihrem gewohnten Quietschen ein Gefühl von Abgeschiedenheit und lenkte ihre Gedanken zu glücklicheren Tagen zurück.
Wir waren glücklich ... oder nicht?
Sie hatte auf dieser Schaukel – genau hier – gesessen, um die kleine Gracie zu wiegen, als sie noch ganz winzig gewesen war. Der erste Sommer nach ihrer Geburt hatte für sie aus Freude und Tränen bestanden ... und aus kostbaren Momenten, in denen sie ihre Tochter festgehalten und die winzige Gracie nach Belieben gestillt hatte. Sie war so glücklich gewesen, wieder ein zartes Baby in den Armen zu halten. Adam, der schon ein flachsblondes Kleinkind von anderthalb Jahren gewesen war, war oft zu ihr hinaufgekrabbelt und hatte sich neben sie gesetzt, seinen verschwitzten kleinen Kopf an ihren Arm gelehnt, und seine Haut war manchmal fast an ihr kleben geblieben, so eng hatte er sich an sie gedrückt. Sie hatten zu dritt geschaukelt und auf einen leichten Windhauch gewartet.
Manchmal waren die Nachbarn mit süßen, reifen Wassermelonen gekommen. Die einfühlsame Marian Riehl hatte zweifellos gehört, dass Lettie unter Wochenbettdepressionen litt. Marian und ihr Mann, Andy, hatten großzügige Scheiben des kalten Obstes für sie alle abgeschnitten, sich auf die Verandastufen oder das Geländer gesetzt und sie bis zur Rinde abgenagt. Manchmal hatten Judah und Andy ausprobiert, wer die Körner am weitesten spucken konnte.
Sie lächelte und erinnerte sich an den Spaß, den sie miteinander gehabt hatten. Sie hatten viel gelacht und sich lustige Geschichten erzählt. Marians kleine Becky war damals noch nicht geboren gewesen.
Becky, dachte sie jetzt. Nicht Rebekka, wie jeder angenommen hätte. Marian war zu ihr gekommen und hatte sie bei der Suche nach einem passenden Namen um Rat gefragt, als das winzige Baby erst drei Tage alt gewesen war. Anscheinend hatten Marian und ihr Mann sich nicht auf einen Namen einigen können, und Marian hatte auch Letties Meinung hören wollen, was ihr damals seltsam vorgekommen war. Andy Riehl suchte viel zu oft Gelegenheiten, um seinen Kopf durchzusetzen. Das bereitete Marian viel Kummer. Lettie fand an diesem Mann nicht viel, was ihr gefiel. Sie führen eine Ehe mit vielen Herausforderungen, dachte sie.
Sie verdrängte diese Erinnerung mit einem Achselzucken, als sie jetzt im Inneren des Hauses die Stimmen von Grace und ihren Großeltern hörte. Sie stieß sich mit der großen Zehe auf dem Verandaboden ab, um die Schaukel schneller zu bewegen, und wünschte, die Grillen wären an diesem Abend lauter. Ihr Zirpen würde das Gespräch von Mama, Dat und Grace sicher übertönen. Bald, sehr bald, würde das Lied der Grillen zurückkehren ... im Sommer.
Lettie atmete die kühle Abendluft ein. Sie brauchte dringend das Alleinsein und sehnte sich angesichts von Graces bevorstehendem, wichtigem Geburtstag noch mehr danach.
Wo sind die ganzen Jahre geblieben?
Oh, sie wusste es. Sie waren mit den Jahreszeiten davongezogen, Jahr für Jahr ... und den Weg aller guten und schönen Dinge gegangen.
Wie die Liebe ...
Sie konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wann sie und Judah das letzte Mal zärtlich zueinander gewesen waren – nicht einmal einen Kuss auf die Wange gab es mehr. Es war nicht so, dass sie geplant hätten, in ihrer Ehe an diesen Punkt zu kommen. Sie vermutete, dass sie sich beide unbemerkt nach und nach aus dem Herzen des anderen zurückgezogen hatten.
Lettie hielt sich die Hände vors Gesicht und wusste, was passieren würde, wenn sie so kühn wäre und Grace anvertrauen würde, was sie belastete. Aber nein, ihre Tochter könnte das nie verstehen. Und Judah? Ihr Mann würde ihre Enthüllung zweifellos als weiteren Anlass nehmen, sich noch tiefer in sich selbst zu verkriechen.
In Judahs eigener Welt ...
Obwohl sie die Sache seit dem Scheunenbau im letzten Monat von allen Seiten betrachtet und abgewogen hatte, bestand für sie kein Zweifel, dass sie sich auf dünnes Eis begeben würde, wenn ihr gut gehütetes Geheimnis ans Licht käme.
Nein, ein solches Risiko konnte sie nicht eingehen.
Ihr Mann, Jakob, hatte erst zehn Minuten gelesen, als Gracie in der Tür zum Flur erschien und langsam auf sie zukam.
„Einen Moment bitte, Jakob.“ Adah beugte sich auf ihrem Stuhl vor und schob ihre Klöppelarbeit hinter sich. „Gracie? Hast du Hunger?“
„Mama hat gesagt, dass sie mir etwas aufgehoben hat ...“
Meine Güte, das Mädchen sah aus, als würde es gleich weinen.
„Ach, iss doch einfach von uns etwas.“ Adah nahm das Kissen, das neben ihr lag, und stopfte es hinter sich, um das Geburtstagsgeschenk besser zu verbergen. Sie stand auf und bedeutete Grace, ihr in die Küche zu folgen. „Dein Dawdi hat mir gerade aus der Bibel vorgelesen, aber vielleicht kommt er und setzt sich zu uns. Dann kannst du ihm auch zuhören.“ Das sagte sie lauter und hoffte, Jakob würde diese indirekte Aufforderung verstehen.
Als er von seinem Platz aufstand, erhellte sich Graces Miene, und sie zog einen Stuhl heraus. Sie setzte sich und stützte den Kopf auf ihre Hände, während Jakob näher trat und seine Bibel auf den Tisch legte. „Ich habe euch in letzter Zeit nicht oft gesehen“, sagte Grace und sah zu ihm hinauf.
„Du bist so ein fleißiges Mädchen ... und arbeitest auch noch so viel bei Eli.“ Jakob setzte sich und lächelte sie an. „Was hast du mir heute mitgebracht?“
„Ach, komm schon“, rügte ihn Adah. „Sie muss dir nicht jeden Tag Kostproben mitbringen.“
Grace lächelte jetzt übers ganze Gesicht, was Adah sehr freute. „Ich bezweifle, dass du das gewollt hättest, was sie heute als kostenlose Proben verteilt haben, Dawdi.“
Er schaute sie verschmitzt an. „Wer weiß? Was war es denn?“
„Würziges Rinderdörrfleisch, so scharf, wie du es bestimmt noch nie gegessen hast.“
Jakob warf lachend den Kopf zurück. „Solange man etwas nicht probiert hat, kann man das nie so genau sagen, oder?“
Grace schüttelte den Kopf. „Ich habe dich davor verschont, Dawdi. Ich kann dir garantieren, dass du sonst furchtbare Magenschmerzen bekommen hättest.“
„Dann muss ich mich wohl bei dir bedanken.“ Er ergriff Graces Hand und drückte sie schnell. Dann ließ er sie los, strahlte aber immer noch übers ganze Gesicht.
Adah wärmte die Tunfisch-Makkaroni auf und stellte die Buttererbsen in einer kleineren Pfanne auf den Herd. Von ihrem Platz am Gasherd konnte sie Lettie nicht mehr draußen auf der Schaukel sitzen sehen, aber wenn sie schon ins Haus gegangen wäre, hätte sie sie gehört.
Während Adah die Makkaroni umrührte, fragte sie sich, was nötig wäre, damit alles wieder seinen gewohnten Gang ging. Als sie ihre Enkelin und ihren Mann liebevoll beobachtete, wie sie gemütlich am Tisch saßen und vom goldenen Licht der Gaslampe beschienen wurden, spürte sie einen leichten Kloß im Hals. Jakobs Haare waren von grauen Strähnen durchzogen, und in letzter Zeit musste er erst ein paar Sekunden stehen bleiben, wenn er aufstand, weil seine Beine ein wenig wackelig waren. Und ihre liebe Grace, die so voll jugendlicher Energie war, würde bestimmt in nicht allzu ferner Zukunft heiraten.
Sie wird zweifellos in die Fußstapfen ihres Bruders treten.
In dieser Minute legte sich die Wärme der Familie wie ausgebreitete Flügel über sie ... über sie drei. Adah wollte sich diesen angenehmen Augenblick durch nichts verderben lassen.
„Ihr kommt morgen zum Abendessen, ja?“, fragte Grace und durchbrach damit die Stille.
„Das lasse ich mir auf keinen Fall entgehen“, antwortete Jakob mit einem Blick auf Adah.
„Ich backe dir deinen Lieblingskuchen, Gracie“, sagte Adah. „Karottenkuchen mit Butterguss.“
„Mama mag es nicht, wenn um Geburtstage ein großes Aufheben gemacht wird“, bemerkte Grace unerwartet.
„Wenn du den Tag so feiern könntest, wie du möchtest, was würdest du dann tun?“, fragte Adah.
Grace sah auf die Tischplatte. „Lass mich überlegen. Ihr würdet mir natürlich alle ein Geburtstagslied singen.“ Sie hob langsam den Kopf. „Ich finde es so schön, wenn Mamas hübsche Stimme die anderen alle übertönt. Ja, das ist einfach herrlich.“
Diese fröhliche Seite an Lettie bekommen wir kaum noch zu sehen, dachte Adah.
„Und ich würde wahrscheinlich einen großen Teil des Tages mit Becky verbringen wollen.“ Grace kniff die Augen zusammen, als erwarte sie Einwände. „Und mit Adam.“
„Mit anderen Worten: Mit deinen besten Freunden“, sagte Adah.
„Ja.“ Grace lächelte sie beide herzlich an. „Aber versteht mich nicht falsch, ich würde euch beide auch mitnehmen, wenn ich könnte.“
„Wohin willst du uns denn mitnehmen?“ Jakob beugte sich erwartungsvoll vor.
„Ans Meer. Eines Tages will ich es mit eigenen Augen sehen ... nicht nur auf Bildern in Büchern. Es muss etwas ganz Besonderes sein, die Meeresbrandung zu hören.“
„Und die Weite des Meeres zu sehen“, fügte Adah hinzu.
„Wenn ich mir vorstelle, dass ich ewig weit sehen kann ... bis ans Ende der Welt sozusagen.“ Grace begann, mit offenen Augen zu träumen. Das war etwas, was Adah nie zuvor an ihr aufgefallen war. Gott sei Dank ist sie aber nicht so eine Träumerin, wie ihre Mutter es immer war!
Jakob winkte mit der Hand. „Vielleicht könnte dieser englische Fahrer dich hinfahren, damit du den Horizont siehst. Wie heißt er doch gleich?“
„Martin Puckett?“, fragte Grace. „Er ist ein netter, lustiger Mann, finde ich.“
„Ja, den meine ich. Vielleicht kann Martin dich, Becky und Adam irgendwann ans Meer fahren.“
Das entlockte Grace ein glückliches Lächeln, aber es hielt nicht lange an, denn genau in diesem Moment hörte Adah, wie die Verandatür ins Schloss fiel. Graces Gesicht wurde blass, und sie sah Adah für einen Moment lang unsicher an.
Kapitel 8
Graces Geburtstag begann wie jeder andere Tag. Eine Ausnahme gab es jedoch: Sie wurde von Mandy geweckt, die ins Zimmer schlüpfte und ihr einen Kuss auf die Wange drückte. „Einen schönen Geburtstag ... und alles Gute für dein neues Lebensjahr, Schwesterherz!“, verkündete Mandy mit einem breiten Lächeln.
Grace sah aus schlaftrunkenen Augen zu ihr hinauf, streckte sich und gähnte. „Ach, du bist heute vor mir auf?“
Mandy setzte sich auf die Bettkante, und ihre langen, rotblonden Haare legten sich über ihre runden Schultern und fielen bis zu ihrer molligen Taille hinab. „Ich wollte die Erste sein, die dir zum Geburtstag gratuliert, Gracie.“ Sie versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken, schaffte es aber nicht. Mit einem leisen Lachen sagte sie: „Wir haben etwas Besonderes geplant.“
„Ehrlich?“
Mandy nickte heftig und ihre Augen leuchteten. Dann tat sie, als versiegele sie ihre Lippen, und flüsterte: „Mehr verrate ich aber nicht.“
Grace liebte ihre Schwester, die immer etwas Interessantes oder Geheimnisvolles auf Lager zu haben schien. „Der Tag wird wie im Flug vergehen, da bin ich sicher.“ Sie setzte sich auf und warf einen Blick auf den Wecker auf dem kleinen Tisch neben sich. „Ich muss mich für die Arbeit fertig machen.“
Mandy, die immer noch ihr langes, weißes Baumwollnachthemd trug, stand auf. „Musst du morgen auch arbeiten?“
„Nein, nicht dass ich wüsste.“
„Das ist gut ... dann könnten wir doch etwas miteinander unternehmen, nur wir zwei Schwestern, ja?“ Mandys verschlafene Augen funkelten.
„Was meinst du damit?“
Mandy ging zur Tür und drehte sich mit strahlendem Gesicht um. „Wie wäre es, wenn wir mit Willow zur Wiese hinausgehen und ohne Sattel auf ihr reiten? Das wäre ein herrlicher Spaß!“
Ihre Pferde waren dafür bestimmt, Kutschen und Marktwagen zu ziehen und nicht, um darauf zu reiten. Das wusste Mandy ganz genau. Einige Bischöfe waren strikt gegen das Reiten. „Glaubst du, Dat würde das erlauben?“, fragte Grace.
Mandy grinste verschmitzt. „Also ... wenn du es unbedingt wissen musst, ich habe schon etwas zu Mama gesagt.“
„Ja? Und?“
„Sie sieht keinen Grund, warum wir das nicht tun dürften, solange wir von der Straße wegbleiben ... du weißt schon, wir sollen uns nicht zur Schau stellen.“
„Also gut ... wenn Mama sagt, dass wir nicht angeben sollen, dann tun wir das nicht.“
Mandy winkte leicht mit den Fingern und verließ dann das Zimmer.
Grace sprang aus dem Bett und schloss die Tür. Sie nahm ihre Bürste und begann, die Bürstenstriche zu zählen, während sie sich die Haare bürstete. Was wird dieser Tag wohl bringen?
Eines wusste sie: Sie fühlte sich keine Sekunde älter als gestern, auch wenn der Kalender etwas ganz anderes sagte. Sie schlüpfte in ihren Bademantel, zog die grüne Jalousie ganz nach oben und setzte sich dann ans Fenster, um in den Psalmen zu lesen. Als sie fertig war, betete sie um Segen für den Tag und für alle Menschen, denen sie begegnete, und ging nach unten, um ein warmes Bad zu nehmen, bevor die restliche Familie aufwachte. Ihr Vater hatte viel Zeit und Geld investiert, um zwei moderne Badezimmer im Haus einzubauen. Eines auf ihrer Seite und eines drüben, wo Dawdi und Mammi wohnten. Manchmal wünschte sie sich auch oben ein Badezimmer ... gleich auf dem Gang nur wenige Schritte von Mandys Zimmer und ihrem Zimmer entfernt. Aber Dat hatte gesagt, sie müssten mit dem auskommen, was sie hatten. Mammi Adah war sehr glücklich darüber, dass sie ein modernes Badezimmer im Haus hatte. Sie genoss den Luxus einer schönen, großen Badewanne und die modernen Annehmlichkeiten, besonders in den Wintermonaten.
Grace nahm das Shampoo und wusch ihre Haare heute besonders sorgfältig, damit sie glänzten und sauber waren.
Was hat Henry für meinen Geburtstag geplant?
Sie unterdrückte den Wunsch, eine fröhliche Melodie zu summen. Ob Henrys Schüchternheit, die schon fast an Unsicherheit grenzte, ihn daran hindern würde, mit ihr zu feiern?
Heute wollte sie früh mit dem Frühstück anfangen, obwohl Mama bestimmt schon etwas geplant hatte. Trotzdem wollte Grace den Tag auf dem richtigen Fuß beginnen, um sicherzustellen, dass alles so lief, wie sie es sich wünschte.
Bei besonderen Geburtstagen wie dem sechzehnten, dem Alter, ab dem man zum Singen gehen und sich von Jungen nach Hause bringen lassen durfte, hatte ihre Mutter sie mit selbst gebackenen Waffeln und besonderen Soufflés oder Zimtschnecken und einem Schuss Schokosirup in ihrem Kaffee überrascht.
Sie hatte viele glückliche Erinnerungen an köstliche Geburtstagsfrühstücksessen mit ihrer Familie. Sie erlaubte sich zu summen. Ein paar Minuten werden nicht schaden, dachte sie.
Ihre Gedanken wanderten wieder zu Henry, der von all den jungen Männern, die sie kannte, am besten aussah. Er sah so gut aus, dass sie sich manchmal zwicken musste. Warum hat er ausgerechnet mich gewählt?
Ihr hatten schon mehrere junge Männer gesagt, dass sie hübsch sei. „Sehr hübsch sogar“, hatte Yonnie ihr an einem der kurzen Abende, an denen er im letzten Jahr mit Grace spazieren gegangen war, direkt ins Gesicht gesagt. Solche Komplimente waren der schlichten, amischen Lebensweise fremd ... denn sie konnten leicht zu Eitelkeit führen.
Als sie an Yonnies sonderbare Art dachte, musste sie lächeln. Schon damals hatte er sich nicht die Mühe gemacht, mit einem Pferd oder Einspänner zum Singen oder zu den anderen Treffen der jungen Leute zu fahren. Sie waren immer zu Fuß gegangen. Noch nie in ihrem Leben war sie so viel gelaufen. Grace hatte manchmal gedacht, wenn die Bischöfe je Wind davon bekämen, würden sie vielleicht diese Art, einem Mädchen den Hof zu machen, fördern. Dadurch konzentrierten die jungen Leute ihre Aufmerksamkeit bei der Brautschau mehr auf ihren eigenen Kirchenbezirk.
Es kursierten viele Geschichten über junge Männer, die in mehrere Mädchen verliebt waren. Deshalb vermutete sie, dass es nicht ungewöhnlich war, dass Yonnie sich Zeit ließ, um sich zu entscheiden. Und nach dem, was Mammi Adah einmal über Mamas eigene Jugendjahre angedeutet hatte, fragte sich Grace, ob Yonnie und ihre Mutter nicht sogar einiges gemeinsam hatten.
Die liebe Mama ...
Grace stieg aus der Wanne und zog sich an. Dann umwickelte sie ihre Haare mit einem Handtuch. Sie öffnete die Tür und wäre fast mit Adam zusammengestoßen, der direkt davorstand. „Meine Güte, du hast mich erschreckt!“
Er grinste sie mit verschlafenen Augen an.
„Du schläfst ja noch halb.“ Sie trat auf den Gang hinaus.
„Das sieht nur so aus. Es war eine anstrengende Nacht im Schafstall.“ Er verschwand im Badezimmer und schloss die Tür. Im nächsten Augenblick hörte sie, wie er das Wasser laufen ließ, um sich zu rasieren. Eine Sekunde später ging die Tür wieder auf und er steckte den Kopf heraus. „Jemand ist ein Jahr älter geworden, und das bin eindeutig nicht ich!“ Leise und noch etwas verschlafen lachte er in sich hinein und schloss die Tür.
Grace freute sich über den Humor ihres Bruders, als sie durch die Küche und das Wohnzimmer zum Gang eilte und dann die Treppe hinauflief. In ihrem Zimmer rieb sie ihre Haare mit dem Handtuch trocken und steckte sie zu einem Knoten nach oben. Sie war froh, dass ihre Haare nicht so dick und schwer zu bändigen waren wie Beckys oder Mandys Haare, die allerdings die schönste Farbe besaßen, die sie je gesehen hatte – wie eine Mischung aus sonnenverwöhnten Erdbeeren und frisch geerntetem Weizen. Ihre Schwester stach zweifellos aus jeder Menge heraus. Als Mandy erst vierzehn gewesen war, hatte Mama sie ermahnt, weil sie sich oft heimlich zum Singen geschlichen und als älter ausgegeben hatte. „Das war doch nur ein harmloser Spaß“, hatte Mandy ihnen versichert, als sie erwischt worden war. Trotzdem hatte sie von Mama und von Dat einiges zu hören bekommen.
Obwohl zurzeit mehrere junge Männer Interesse an Mandy zeigten, war Grace nicht ganz sicher, ob ihre Schwester sich etwas aus einem von ihnen machte, und umgekehrt. Sie wusste nur das, was sie beim Singen sah, wo die Jungen Mandy umschwärmten. Die Beliebtheit ihrer Schwester war kein Geheimnis, aber trotz ihrer fröhlichen Geburtstagsbegrüßung sprach aus Mandys nachdenklichen, braunen Augen ein gewisses Unbehagen, das Grace in letzter Zeit öfter aufgefallen war.
Doch sie hatte mit ihrem eigenen Unbehagen zu kämpfen. Das Leben war einfach so unvorhersehbar. Besonders zwischen Dat und Mama. Sosehr sie sich auch wünschte, die beiden wären glücklicher miteinander, beobachtete sie bei Beckys Eltern eine ähnliche Distanziertheit. Sie machte sich allmählich Sorgen, dass viele Ehepaare keine enge Beziehung zueinander hatten.
Ich wünsche mir etwas viel Besseres ... falls ich je heirate.
Als sie Mama unten kochen hörte, eilte Grace wieder nach unten. Schon oben auf dem Treppenabsatz stieg ihr der verführerische Schokoladengeruch in die Nase. Kann das sein? Sie ging durchs Wohnzimmer in die Küche.
Als sie Grace bemerkte, versuchte Mama schnell, die Packung mit der ungesüßten Schokolade zu verstecken.
„Guten Morgen“, sagte Grace und versuchte, nicht zu breit zu grinsen.
„Du sollst dich doch nicht so anschleichen“, schimpfte Mama mit schelmisch funkelnden Augen. Die Traurigkeit der letzten Tage war wie weggeblasen.
„Ich liebe deine Schokowaffeln.“
Mama nickte und wandte den Blick nicht von Grace ab. „Ich habe dir einen Pfirsichkuchen für deine Mittagspause heute gemacht.“
Grace war erleichtert, dass ihre Mutter wieder wie früher sprach – und sich auch so benahm.
„Darauf freue ich mich schon. Denki, Mama.“
Mandy hatte also recht. Heute gab es viele Überraschungen!
* * *
Es war mitten am Vormittag, als Grace von den Dosen aufblickte, die sie gerade ins Regal sortierte, und den Haarschopf eines Mannes bemerkte. Als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um über das Regal hinwegzuschauen, erkannte sie überrascht, dass Henry Stahl den Laden betrat. Er hatte seine hellbraunen Haare ordentlich nach hinten gekämmt.
Sie schaute auf ihre Hände hinab und überlegte, was sie mit den Teedosen anfangen sollte. Und warum in aller Welt sie so zitterte.
Schnell stellte sie die Dosen ins andere Regalfach, um sie los zu sein, und ging durch den Gang, in dem verschiedene Vitaminpräparate angeboten wurden. Ihr Herz raste schneller, als sie ihn durch das Geschäft schlendern sah.
Meine Güte, er ist meinetwegen gekommen!
„Oh, Grace ... da bist du ja.“ Er sah sich mit einem nervösen Blick um. Während sie hier stand, fragte sie sich unweigerlich, warum er zu diesem unerwarteten Besuch seine schwarze Sonntagshose und Weste anhatte. Zu seiner üblichen Sonntagskleidung fehlte nur seine dünne, schwarze Fliege.
„Das ist aber eine nette Überraschung“, sagte sie leise.
Er atmete ein, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und warf die Schultern zurück. Er war mit seinen ein Meter fünfundachtzig ein ziemlich großer Mann. „Ich bin gekommen, um dir zum Geburtstag zu gratulieren.“ Er beugte sich näher vor und fügte mit leiserer Stimme hinzu: „Draußen wartet etwas auf dich ... in meinem Einspänner.“ Er deutete mit dem Kopf leicht zur Tür. „Einverstanden?“
Oh, das übertraf ja ihre kühnsten Erwartungen!
Sie warf einen kurzen Blick zur Verkaufstheke und sah, dass ihre Chefin ihr zunickte. „Wenn es nicht zu lang dauert.“
Als Henry schmunzelte, errötete sie noch mehr.
Draußen führte er sie um den Wagen herum, wo sie den neugierigen Blicken ihrer Kolleginnen entzogen waren. Sie war ziemlich sicher, dass Ruthie und die anderen sie durch das Ladenfenster beobachteten. „Ich habe ein Geschenk für dich.“ Er hob die Decke hoch. Darunter befand sich eine Schachtel, auf die die Worte „Uhr mit Glockenspiel“ gedruckt waren.
„Meine Güte, Henry!“ Grace traute ihren Augen kaum. Ein junger Mann kaufte seiner Freundin kein solches Geschenk, es sei denn, er stand kurz davor, ihr einen Heiratsantrag zu machen.
Grace schlug das Herz bis zum Hals, und für einen Moment hatte sie Mühe, klar zu denken.
„Ich kann sie gern für dich auspacken.“ Er nahm die Schachtel und drehte sie um, um ihr das Bild von einer schönen goldenen Uhr zu zeigen, deren Schlagwerk in einem Glasgehäuse zu sehen war.
„Nein ... lass sie lieber eingepackt, damit sie nicht kaputtgeht.“ Sie schüttelte den Kopf, bewunderte das Bild von der hübschen Uhr und hob dann den Blick, um ihm ins Gesicht zu schauen. „Sie ist wunderschön. Ich weiß gar nicht, was ich sagen ...“
Er ergriff ihre Hand. Es war das erste Mal, dass er das tat. Die Berührung seiner warmen, schwieligen Finger entlockte ihr ein breites Lächeln.
Plötzlich wurde sie sich bewusst, dass sie hier im hellen Tageslicht standen. Waren sie sich, wenn sie im Dunkeln spazieren gefahren waren, je so nahe gewesen? Sie war ziemlich sicher, dass dies nicht der Fall war. Aber ihr gefiel es, in seine sanften, braunen Augen zu schauen und seine Hand zu halten.
„Denki ... mir gefällt diese Uhr wirklich sehr, Henry“, sagte sie und war immer noch unsicher, weil irgendjemand sehen könnte, wie sie sich an den Händen hielten.
Sein Blick wich nicht von ihren Augen. „Hast du einen Platz dafür?“
Sie überlegte, was eine angemessene Antwort auf diese Frage wäre. „Wahrscheinlich stelle ich sie in meinem Zimmer auf.“
Bis später ...
Er schwieg und sah sie nachdenklich an.
„Dann hoffe ich, dass ich sie irgendwann sehen werde ... bald.“ Nun strahlte sein Gesicht.
Sie wurde bei seinen Worten ganz aufgeregt. Er wollte also tatsächlich mit der Taschenlampe an das Fenster ihres Zimmers leuchten und sie besuchen. Falls er das täte, würden sie nicht länger als ein paar Minuten in ihrem Zimmer allein bleiben, da Mama ihr und Mandy immer ans Herz gelegt hatte, mit jungen Männern, die es ernst meinten, in der Küche zu bleiben. Andere Familien erlaubten jungen Paaren, stundenlang im Zimmer des Mädchens zusammen zu sein. Aber während einige Kirchenbezirke so etwas förderten, lehnten andere es ab. Solche Unterschiede in der Ordnung zwischen den einzelnen Kirchenbezirken konnten sehr verwirrend sein. Grace war froh, dass sie in diesem Bezirk aufgewachsen war, in dem junge Paare zur Vorsicht ermahnt wurden, wo die Leute offen über Gott sprachen und manchmal sogar laut beteten.
Sie glaubte den Grund zu kennen, warum in ihrer Kirche, die sich alle zwei Wochen in den verschiedenen Häusern traf, so viel Wert auf reine Motive und ein heiliges Leben gelegt wurde. Aber sie würde keinen Gedanken auf die Gerüchte über andere junge Leute verwenden. Nicht an diesem Tag, ihrem Geburtstag.
„Henry ... ich freue mich sehr. Ehrlich.“ Sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte, womit sie sein Herz noch mehr erreichen konnte, falls das überhaupt möglich war.
Er nickte und lächelte sie herzlich an.
Sie warf einen Blick zum Laden und erklärte, dass die Uhr ticken würde. Dann musste sie ein Lachen unterdrücken – so hatte sie sich nicht ausdrücken wollen! „Ach, ich hoffe, du verstehst, was ich sagen will.“
Wieder nickte er. Seine Augen waren fröhlich, aber er sagte nichts. Oh, wie gern hätte sie ihn laut und herzlich lachen hören!
Unbeholfen stieg Henry wieder in seinen schwarzen, offenen Wagen und ergriff die Zügel. „Ich wünsche dir einen schönen Tag, Grace.“
Sie errötete, als sie ihm nachwinkte und in den Laden zurückkehrte. Die anderen Mädchen versuchten, nicht breit zu grinsen, aber dieser Versuch misslang. Ruthie war am schlimmsten. Sie war zu fröhlich und bemühte sich zu sehr, sich ein Grinsen zu verkneifen. Jetzt wussten sicher alle, dass dieser Besucher – ihr gut aussehender Henry – ein Hochzeitsanwärter gewesen war.
Kapitel 9
Grace zählte die Stunden, bis sie nach Hause fahren konnte, und freute sich immer noch über Henrys Besuch und sein großzügiges Geschenk. Sie hatte keine Ahnung, wann er ihr die Uhr zu Hause vorbeibringen würde. Da er nicht der Typ war, der Aufsehen erregen wollte, bezweifelte sie, dass er tagsüber kommen würde.
Um ihre Aufregung im Zaum zu halten, konzentrierte sie sich auf ihre Inventurliste, hielt jeden Artikel im Sortiment fest und listete alles in alphabetischer Reihenfolge auf. Als sie bei Zink, einem wichtigen Mineral zum Aufbau eines starken Immunsystems ankam, lächelte sie. Zink half auch gegen Akne, erklärte Ruthie, die mit unreiner Haut kämpfte – „ich esse zu viel Schokolade“, hatte sie zugegeben, aber nachdem sie drei Monate lang Zink genommen hatte, war ihre Haut jetzt genauso glatt wie Graces.
Mama sagte oft: „Man ist, was man isst.“ Grace dachte an das viele gebratene Essen und die süßen Getränke, die die Spanglermädchen liebten, aber sie hatten trotzdem eine perfekte Haut. Widerlegte das nicht Mamas Worte?
Grace war bei dem, was sie aß, nicht übermäßig streng wie einige andere, die propagierten, dass man nur Gemüse, Körner und Salat essen sollte. „Hasenfutter“ hatte Adam im Spaß gesagt, als sie ihm erzählt hatte, welche Trends in punkto gesunde Ernährung gerade aktuell waren.
Beim Gedanken an Gemüse vermisste es Grace wie immer sehr, im Garten zu helfen. Sie genoss den Geruch nach frisch umgegrabener Erde ... und die Überlegungen, wohin sie die verschiedenen Gemüsesorten pflanzen sollte. Sie liebte es, am frühen Morgen Unkraut zu jäten und eine bunte Vielfalt an Erträgen zu ernten, um einen Teil des Gemüses selbst zu essen, einen Teil zu verkaufen und den Rest für den Winter einzumachen. Seit sie bei Eli arbeitete, musste sie das Unkrautjäten und die Pflege ihres Kräutergartens zum großen Teil Mandy überlassen, obwohl Becky manchmal kam, um Grace an ihren freien Tagen zu helfen.
Die vielen Stunden, in denen sie lange Reihen mit Salat, Bohnen, Rettich, Tomaten und Zucchini harkten und wässerten, waren von fröhlichem Lachen begleitet. Aber Mama lächelte kaum ... wenigstens in letzter Zeit nicht mehr. Oh, Grace konnte sehen, dass sie versuchte, diese Zeit zu genießen und Spaß zu haben, aber irgendwie schien Mama immer ein wenig zurückhaltend zu bleiben.
Grace trat zum nächsten Regal und begann, die vielen Kräuter alphabetisch zu katalogisieren. Als Erstes kamen Alfalfa, Aloe und Anis. Sie weigerte sich, an einem so schönen Tag an deprimierende Dinge zu denken. Über Vergangenes, das man nicht ändern konnte, zu klagen war noch nie hilfreich gewesen. Außerdem sagte Mammi Adah immer, sich zu sehr in der Vergangenheit aufzuhalten könne besessen machen und womöglich sogar die Gegenwart zerstören.
Heute war Grace beim Aufwachen von Vogelgezwitscher und einem strahlend blauen Himmel geweckt worden. Schöner konnte man den Tag nicht beginnen. Die Vögel waren zu den Futterplätzen gekommen, die sie und Mandy an verschiedenen Stellen im Hinter- und Seitenhof aufgestellt hatten. Alle in der Familie waren begeisterte Vogelbeobachter und freuten sich über die Rotkehlchen, Finken, Eichelhäher und Meisen, die in der Nähe ihres Hauses Zuflucht fanden. Am begeistertsten war Mama. Ihre Lieblingsvögel waren die wilden graubraunen Trauertauben mit ihrem klagenden Ruf, die jedes Jahr zahlreiche Junge bekamen. „Aber nur die Männchen geben diese Töne von sich, die klingen, als würden sie trauern“, hatte ihre Mutter erklärt.
In letzter Zeit hatte es kräftig geregnet, und man konnte die Rotkehlchen beobachten, wie sie nach Würmern suchten und noch zahlreicher zwitscherten. Wenigstens stellte sich Grace das gern so vor. Wenn sie daran dachte, wie grün der Regen das Weideland für Dats Schafe gemacht hatte, war sie für die Feuchtigkeit doppelt dankbar.
Grace hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, warum ihr Vater einer von nur einer Handvoll Amisch in der Gegend war, die keine Milchbauern waren. Ihr Vater war ein sehr introvertierter Mann, und die Hingabe, mit der er rund um die Uhr seine Schafe pflegte, brachte ihm die Bewunderung der anderen ein. Grace beobachtete ihn gern, wenn er mit anderen Männern zusammen war, denn sie bekam dabei mehr Einblicke in die Gedanken ihres Vaters als bei den Familiengesprächen. Seine Zunge schien sich in solchen Situationen plötzlich zu lösen, wie Grace mit großem Erstaunen feststellte.
Inzwischen war sie bei den Kräutern, die mit einem G anfingen, angelangt. Dazu gehörte auch Ginseng, eines der Lieblingskräuter von Mammi Adah. Während sie die Fläschchen weiter ordentlich in einer Reihe aufstellte, hoffte sie, heute Abend ginge alles gut. Insgeheim dachte sie wieder über Henrys Besuch nach. Er ist tatsächlich hierhergekommen!
* * *
Als es an der Zeit war, nach Hause zu fahren, erblickte Grace ihren jüngeren Bruder, Joe, der in Dats Einspänner auf dem Parkplatz wartete. Joe winkte ihr zu und kaute an einem Strohhalm, der aus seinem Mund ragte, während er auf der rechten Seite der Familienkutsche saß. Er kam oft, um sie abzuholen, und genoss die Freiheit, mit der Kutsche unterwegs zu sein, als könne er es nicht erwarten, seinen eigenen Einspänner zu bekommen, sobald er im nächsten Jahr sechzehn wurde.
Der Nachmittag war ziemlich mild gewesen, und nur ein leichter Wind hatte geweht. Grace sah, dass im Westen über den großen Bäumen dunkle Wolken aufzogen. Sie warf ihre Tasche auf den Sitz, schwang sich in den Wagen und stellte fest, dass ihr Lieblingspferd vor den Einspänner gespannt war. „Schön, dass du mit Willow gekommen bist“, sagte sie mit einem Lächeln.
„Ich hatte nur sie und Sassy zur Auswahl, denn mit der neuen Stute ist Dat zum Schmied gegangen. Und Adam hat sich geweigert, mir sein Pferd zu überlassen.“
„Warum denn das?“
„Er hat gesagt, dass er noch etwas erledigen muss.“ Joe sah mit betont teilnahmsloser Miene auf die Straße.
„Das, was er erledigen muss, hat nicht zufällig mit heute Abend zu tun, oder?“
Joe verzog keine Miene. „Wieso, was ist denn heute Abend?“
„Ach, du ... weißt du das wirklich nicht?“
Er richtete den Blick immer noch auf die Straße und sagte: „Du sprichst in Rätseln, Gracie.“
Sie verkniff sich ein Lachen und drehte den Kopf, um die Landschaft zu bewundern. Sie war ziemlich sicher, dass Joe, Mandy und Adam unter einer Decke steckten.
Ein plötzliches Donnergrollen erregte ihre Aufmerksamkeit und sie beugte sich vor, um aus der Kutsche hinaus und an den Himmel zu sehen, an dem die schwarzen Wolken näher zogen. „Sieht so aus, als braue sich ein Gewitter zusammen.“
„Ein guter Regen kann nicht schaden, besonders nachdem wir den Mais frisch ausgesät haben.“ Joe verdrehte sich den Hals und betrachtete die Wolkenfront.
Ich hoffe, der Regen hört vor dem Abendessen wieder auf. Grace dachte an die Gäste, die heute Abend um den Tisch sitzen würden. Sie freute sich darauf, Becky und die Spanglerschwestern wiederzusehen.
Joe schnalzte mit der Zunge. „Willow ist heute irgendwie nicht ganz fit.“
„Nur heute?“ Sie verzog das Gesicht. „Sie ist immer langsam. Findest du nicht?“
„In ihrem Alter hat sie auch jedes Recht dazu.“
Sie lächelte und beobachtete, wie Willows Kopf sich bei jedem Schritt hob und senkte, und wie ihre lange, dicke Mähne im Wind flatterte. „Sie ist das beste Zugpferd, das es gibt.“ Grace erinnerte sich daran, wie Dat mit einem breiten Lächeln und gerötetem Gesicht die Stute das erste Mal nach Hause gebracht hatte. Sie hatten am Himmelfahrtstag gepicknickt, und Dat war mit der schönen, jungen Stute angekommen und hatte sie ihnen vorgeführt. „Schaut, was ich hier habe“, hatte er gesagt. „Diese Stute ist das sanfteste Pferd, das man sich nur wünschen kann.“ Innerhalb weniger Tage hatte die ganze Familie die Fuchsstute ins Herz geschlossen.
„Warum hast du ihr eigentlich damals den Namen Willow2 gegeben?“ Joe warf den Strohhalm auf die Straße.
„Weil sie immer anmutig war, egal ob sie trabte oder ihren Hafer fraß. Wie Weidenzweige, die sich elegant im Wind wiegen.“
Er zog an den Zügeln, um nach rechts in die Church Road einzubiegen. „Ja, ich glaube, ich verstehe, was du meinst.“
„Willow war einfach der perfekte Name ...“
„Für ein perfektes Pferd“, beendete Joe ihren Satz. Sie lachten, weil einer den Satz des anderen erahnen konnte und ihnen das schon öfter passiert war. Die vier Geschwister standen sich sehr nahe.
Grace hatte sich auch oft Gedanken über Beckys Beziehung zu ihren Geschwistern gemacht. Waren alle amischen Familien so eng verbunden?
Als Joe das Pferd und den Einspänner in die Einfahrt lenkte, sah alles sehr einladend aus. Der Rasen war sauber gemäht und ordentlich gepflegt, und der Weidenzaun hatte dank Mandy und Joe einen frischen weißen Anstrich.
Mama war vorne auf der Veranda und winkte ihnen zu. Als Grace sah, dass alles so freundlich vorbereitet war und Mama auf sie wartete, freute sie sich noch mehr.
„Mama wartet fast jeden Tag auf die Post“, sagte Joe leise, während sie zum Pferdestall fuhren.
„Woher weißt du das?“
„Ich bin ja schließlich nicht blind, oder?“ Er sprang aus dem Wagen und begann, Willow auszuspannen. Während er mit dem Pferd beschäftigt war, sagte Joe mit einem knurrenden Ton, der ihrem Vater alle Ehre gemacht hätte: „Übrigens alles Gute zum Geburtstag.“
Grace lachte laut. Ihr Bruder war einfach unberechenbar!
Lettie warf einen sehnsüchtigen Blick zur Schaukel auf der vorderen Veranda und hätte gern etwas Zeit gehabt, um sich eine Weile zu setzen. Bevor das Haus ganz voll ist. Mit einem Seufzen trat sie zur Schaukel und überlegte, dass sie sich vielleicht besser fühlen würde, wenn sie sich ein bisschen ausruhen könnte. Ich bin so müde.
Wie gern würde sie den letzten Brief ihrer Kusine Hallie Troyer aus Indiana noch einmal lesen, die anscheinend nicht die geringste Sorge der Welt hatte. Wenigstens schloss sie das aus ihren häufigen Briefen. Lettie schaute den Absender an: Nappanee, Indiana.
Sie war dankbar, dass Adam gefahren war und eine Geburtstagskarte gekauft hatte, die sie alle unterschreiben konnten. Sie hatte ihn auch gebeten, ein schönes Briefpapier und zwei hübsche Stifte als Geschenk für Grace zu kaufen.
Das liebe Mädchen.
Es gab Hinweise, dass ihre Mutter dem Geburtstagskind ein kleines Geschenk gemacht hatte. Warum muss meine Mutter sie so verwöhnen?, fragte sich Lettie, die fand, dass Grace schon viel zu alt war, um noch so mit Geschenken verwöhnt zu werden. Aber obwohl ihre Mutter streng amisch erzogen worden war, reizte sie die Grenzen so weit aus, dass man manchmal das Gefühl bekommen konnte, sie benähmen sich wie die eitlen, modernen Leute.
„Ich darf ihr nie wieder die Oberhand überlassen“, murmelte Lettie und schob Kusine Hallies Brief tief in ihre Tasche. Sie wünschte, sie könnte sich einfach hinsetzen und Hallie gleich einen kurzen Antwortbrief schreiben. Aber eines nach dem anderen.
Sie stand auf. Joe war mit Grace vom Naturkostladen zurückgekommen, und sie fragten sich wahrscheinlich, warum der Tisch noch nicht gedeckt war. Zweifellos machte sich Grace schon selbst in der Küche zu schaffen, es sei denn, sie war in ihrem Zimmer und bürstete sich die Haare und steckte sie neu nach oben. Es war nicht so, dass Grace sich etwas einbildete – ganz und gar nicht. Sie war eine der bescheidensten und liebsten jungen Frauen, die man sich vorstellen konnte und machte ihrem Namen3 schon von klein auf alle Ehre.
Lettie schaute wieder sehnsüchtig die Schaukel an, wusste aber, dass sie noch einen schnellen Anruf tätigen müsste. Hatte sie genug Zeit, zum Telefonhäuschen der Gemeinde zu laufen? Hoffentlich hielt der graue Himmel den Regen noch ein paar Minuten zurück.
Ach, ich hätte früher anrufen sollen, dachte sie, obwohl sie ganz genau wusste, warum sie es so lange vor sich hergeschoben hatte.
Sie betete im Stillen um Kraft ... sowohl für die Geburtstagsfeier als auch für alles, was die Zukunft bringen würde.
Dafür brauchen wir alle viel Kraft.
2 Willow heißt auf Deutsch: Weide.
3 Grace heißt auf Deutsch: Anmut, Grazie, Gnade.