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THOMAS BAUER

Warum es kein islamisches Mittelalter gab

Das Erbe der Antike und der Orient

C.H.BECK

Zum Buch

Dem Islam wird gerne vorgeworfen, er sei im Mittelalter steckengeblieben. Was aber, wenn es gar kein islamisches Mittelalter gab? Thomas Bauer zeigt an zahlreichen Beispielen, wie in der islamischen Welt die antike Zivilisation mit florierenden Städten und Wissenschaften weiterlebte, während im mittelalterlichen Europa nur noch Ruinen an eine untergegangene Kultur erinnerten. Ein kleines Meisterwerk, das konzis, anschaulich und mit der nötigen Portion Gnadenlosigkeit unser Bild von einem reformbedürftigen «mittelalterlichen» Islam widerlegt.

Jahrhundertelang waren im Orient die antiken Städte lebendig, mit Bädern, Kirchen, Moscheen und anderen steinernen Großbauten, während sie in Europa zu Ruinen verfielen. Ärzte führten die Medizin Galens fort, Naturwissenschaften und Liebesdichtung blühten auf. Kupfermünzen, Dachziegel, Glas: Im Alltag des Orients gab es lauter antike Errungenschaften, die Mitteleuropäer erst zu Beginn der Neuzeit (wieder) neu entdeckten. Thomas Bauer schildert anschaulich, wie die antike Kultur von al-Andalus über Nordafrika und Syrien bis Persien fortlebte und warum das 11. Jahrhundert in ganz Eurasien, vom Hindukusch bis Westeuropa, eine Zäsur bildet, auf die in der islamischen Welt bald die Neuzeit folgte. Er widerlegt damit überzeugend die eingespielten Epochengrenzen und rückt eingefahrene Sichtweisen auf Orient und Okzident zurecht.

Über den Autor

Thomas Bauer, geboren 1961, ist Professor für Islamwissenschaft und Arabistik an der Universität Münster, Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste und wurde mit dem Leibniz-Preis der DFG ausgezeichnet. Mit seinem bahnbrechenden Buch «Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams» (2011) hat er weit über sein Fach hinaus gewirkt.

Inhalt

Vorwort

1. Das «islamische Mittelalter»: Sechs Gründe dagegen

1. Mangelnde Präzision

2. Fehlschlüsse

3. Mögliche Herabsetzung

4. Exotisierung

5. Imperialistischer Beiklang

6. Ein Begriff ohne sachliche Grundlage

2. Orient und Okzident im Vergleich: Von «Analphabetismus» bis «Ziffern»

Analphabetismus

Bäder

Chancen

Dachziegel

Erbsündenlehre

Feste

Glas

Homoerotik

Individualismus

Juden

Kupfermünzen

Liebesdichtung

Medizin

Naturwissenschaften

Ordal

Papier

Quellen

Religion

Sexualität

Tiere und Pflanzen

Urbanität

Verkehrswege

Witze

Xenophobie

Ysop

Ziffern

Zahlen

3. Auf der Suche nach dem ganzen Bild: Vom Mittelmeer bis zum Hindukusch

Epochenkonstruktionen

Merkmalsbündel

Die restringierte Antike

Die islamische Spätantike

Zwei Regionen in zwei Epochen?

Die ausgehende Spätantike als formative Periode

Das erste Jahrtausend als Epoche

4. Die islamische Spätantike: Die formative Periode der islamischen Wissenschaften

Das islamische Curriculum: Zwei Zeugen aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert

Das elfte Jahrhundert, ein saeculum horribile?

5. Das 11. Jahrhundert als Epochengrenze: Fazit und Ausblick

Warum es kein islamisches Mittelalter gab

Ein Blick auf Afrika

Und danach?

Bildteil

Zur Umschrift des Arabischen

Zur Angabe von Daten

Anmerkungen

1. Das «islamische Mittelalter»: Sechs Gründe dagegen

2. Orient und Okzident im Vergleich: Von «Analphabetismus» bis «Ziffern»

3. Auf der Suche nach dem ganzen Bild: Vom Mittelmeer bis zum Hindukusch

4. Die islamische Spätantike: Die formative Periode der islamischen Wissenschaften

5. Das 11. Jahrhundert als Epochengrenze: Fazit und Ausblick

Literatur

Bildnachweis

Personenregister

Bildteil

TAFEL I

Elfenbeinpyxis für den umayyadischen Prinzen al-Muġīra, Córdoba 968

TAFEL II

Papyrus über den Verkauf landwirtschaftlicher Produkte (Vorder- und Rückseite), Ägypten 753

TAFEL III

Blick auf «Haus XVIII» der ländlichen Siedlung Umm al-Ğimāl in Nordjordanien, 6.–7. Jahrhundert

TAFEL IVa

Glasflasche, die mit Applikationen eine Kamelfigur bildet, Syrien oder Ägypten, 7.–8. Jahrhundert

TAFEL V

Vier Kupfermünzen aus der Umayyadenzeit:1: fals aus Homs, um 685; 2: arabo-sassanidische Kupfermünze, Dārābˇgird (Südiran) 699; 3: bildloser fals des Reformtyps mit dem islamischen Glaubensbekenntnis; 4: fals aus Tiberias, um 734

TAFEL VI

Illustriertes Manuskript aus der Materia medica des Dioscurides mit Darstellung des Dills und des Kreuzkümmels, Samarkand 1083 (nach einer Vorlage aus dem 10. Jahrhundert)

TAFEL VII

Seite aus dem ältesten erhaltenen datierten Papiermanuskript, einem Lexikon schwieriger Ausdrücke der Prophetentradition, geschrieben 866

TAFEL VIII

Das älteste bekannte datierte Astrolab, gefertigt im Jahr 927

Vorwort

Nicht nur Kulturen, auch Bücher haben ihre formativen Perioden, und manchmal dauern diese ernüchternd lange, ehe sie ihr natürliches Ende erreichen. So auch im vorliegenden Fall. Der allererste Ausgangspunkt war Ärger, Ärger über die weit verbreitete Nachlässigkeit, mit der ein Begriff gebraucht wird, der mehr Schaden anrichtet, als sich diejenigen, die ihn verwenden, gewöhnlich bewusst machen. Wir haben gelernt, die Begriffe, mit denen wir über Menschen und Kulturen sprechen, sensibel abzuwägen. Viele alte Bezeichnungen wie «Mohammedaner» oder «Neger» werden mittlerweile penibel vermieden. Der Begriff des «islamischen Mittelalters» ist aber weitgehend unangefochten, auch wenn Marshall Hodgson schon in den 1970er-Jahren fundamentale Zweifel daran angemeldet hatte. Was aber bezeichnet der Ausdruck «islamisches Mittelalter» überhaupt? Welche Folgen hat er für unsere Wahrnehmung islamischer Kulturen der Vormoderne? Welche Konsequenzen hat er für kulturübergreifende Vergleiche?

Zunächst habe ich den Begriff «islamisches Mittelalter» mit Studenten diskutiert, die ihn sofort enthusiastisch und engagiert hinterfragten. Als mich nun Michael Borgolte zu einem Vortrag am 4. Februar 2014 in die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften nach Berlin einlud, machte ich die Frage «Gab es ein islamisches Mittelalter?» zum Thema. Weniger enthusiastisch war ich, als ich gebeten wurde, den Beitrag für eine kleine Buchreihe zum Mittelalter zu verschriftlichen. Ich befürchtete, dass mein Vortrag zu destruktiv war, um in Buchform hilfreich zu sein. Mittelalterhistoriker wie Michael Borgolte, Wolfram Drews, Almut Höfert und Jenny Oesterle haben eine kulturübergreifende Sichtweise auf das, was unglücklicherweise noch immer als «Mittelalter» bezeichnet wird, entwickelt, die in vielfacher Hinsicht neue Perspektiven für alle Seiten eröffnet. Wollte man hier den Spielverderber spielen, indem man Westasien kurzerhand in einer anderen Epoche als Europa verortete und damit kulturvergleichende Betrachtungen, zumindest für die Zeit vor 1050, als wenig aussichtsreich erscheinen ließ?

Allmählich zeigten sich aber, nicht zuletzt durch die Ansätze von Garth Fowden und eigene Forschungen zu der Zeit nach 1100, Auswege, die es nicht nur plausibel, sondern sogar geboten erscheinen ließen, auch die Zeit vor 1050 aus übergreifender Perspektive zu betrachten. Dieses Konzept musste nun wiederum auf ein tragfähiges theoretisches Fundament gestellt werden. Die diversen Schichten, aus denen sich der Text jetzt aufbaut, führen zu einer gewissen stilistischen Heterogenität, wechselnd zwischen hoffentlich nicht allzu polemischer Essayistik und hoffentlich nicht allzu trockener Fachwissenschaft, die sich aber doch zu einem Ganzen runden mögen. Das Buch besteht jetzt aus fünf Teilen. Der erste, essayistische Teil widmet sich der Dekonstruktion des Mittelalterbegriffs und zieht eine Bilanz des von ihm angerichteten Schadens. Der zweite Teil liefert einen kurz gefassten Vergleich, der in sechsundzwanzig Begriffen von A bis Z schlaglichtartig die unterschiedliche Entwicklung West- und Mitteleuropas einerseits und Westasiens andererseits während der konventionell als «Frühmittelalter» bezeichneten Periode beleuchtet. Als Drittes folgen Erwägungen darüber, wie eine sinnvolle Periodisierung erfolgen kann, ehe in einem vierten Teil die sogenannte «Blütezeit» des Islams als dessen formative Periode neu definiert wird. Ein Fazit und ein Ausblick schließen als fünfter Teil das Buch ab.

So ist aus meinem Vortrag ein kleines Buch geworden. Dafür, dass sich die Suche nach einem neuen Publikationsort so problemlos gestaltete, danke ich dem Verlag C.H.Beck, insbesondere Herrn Dr. Ulrich Nolte. Für Rat und Anregung danke ich den Mitarbeitern der ALEA-Projektgruppe «Arabische Literatur Elfhundert bis Achtzehnhundert» sowie Frau Privatdozentin Dr. Nefeli Papoutsakis, Frau Dr. Monika Springberg-Hinsen und Herrn Dr. Andreas Neumann.

1. Das «islamische Mittelalter»: Sechs Gründe dagegen

Man vergleiche die beiden folgenden Sätze:

Karl der Große war ein bedeutender europäischer Herrscher der Tang-Zeit.

Hārūn ar-Rašīd war ein bedeutender nahöstlicher Herrscher des Mittelalters.

Beide Sätze sind gleichermaßen richtig. In der Tat fällt die Regierungszeit Karls des Großen (768–814) in die Zeit der chinesischen Tang-Dynastie (618–907), nicht anders als diejenige des abbasidischen Kalifen ar-Rašīd (786–809), in eine Zeit also, die in Europa unter der Epochenbezeichnung «Mittelalter», genauer: «Frühmittelalter», firmiert. Dennoch würde man Charlemagne nicht als tangzeitlichen Herrscher bezeichnen (ebensowenig wie ar-Rašīd). Die Tang-Zeit, scheint es, ist aus China nicht hinausgekommen. Dort, wo sich keine direkten oder indirekten faktischen Beziehungen zur Tang-Dynastie ergeben, wird der Begriff tangzeitlich nicht verwendet.

Mit dem Begriff «Mittelalter» verhält es sich deutlich anders. Er ist zunächst ebenfalls kulturspezifisch, bezeichnet nämlich den Abschnitt der europäischen Geschichte zwischen Antike und Neuzeit. Verwendet wird er aber auch, um mehr oder weniger gleichzeitige Perioden der nahöstlichen (seltener auch der ostasiatischen) Geschichte zu benennen. So enthält etwa der in der populären Reihe «50 Klassiker» erschienene Band Herrscher des Mittelalters Kurzportraits von dem genannten Hārūn ar-Rašīd, von Saladin (gest. 1193) und von Mehmet II., dem «Eroberer» (gest. 1481).[1] Ein chinesischer Kaiser ist übrigens nicht dabei. Für einen Historiker der islamischen Welt scheint es einigermaßen verwunderlich, den frühabbasidischen Kalifen ar-Rašīd und den Osmanensultan Mehmet Fatih in ein und derselben Epoche verortet zu sehen. Für den Autor des 50-Herrscher-Bandes und viele seiner Zunftgenossen stellt sich dagegen hier kein Problem. Sie gehen, wie übrigens auch zahlreiche Islamwissenschaftler, ganz selbstverständlich davon aus, dass es ein islamisches Mittelalter gegeben hat, dass es sinnvoll ist, den Begriff mittelalterlich zur Kennzeichnung der Kultur, der Literatur, der Wissenschaften sowie der gesellschaftlichen Verhältnisse in der islamischen Welt von Mauretanien bis Indien zu verwenden. Deshalb ist ar-Rašīd ein mittelalterlicher Herrscher, aber, genau wie Karl, kein tangzeitlicher.

Auch wenn die Anwendung des Begriffes Mittelalter auf islamische Gesellschaften von europäischen Wissenschaftlern nur gelegentlich, von US-amerikanischen und arabischen sehr selten und in populärwissenschaftlichen Publikationen so gut wie nie infrage gestellt wird, liegt die Problematik doch deutlich auf der Hand. Im Folgenden seien zunächst fünf Gründe genannt, weshalb die Verwendung des Mittelalterbegriffs, zumindest im Hinblick auf islamische Gesellschaften, vermieden werden sollte. Ein sechster ergibt sich, wenn in einem zweiten Teil gefragt wird, ob es denn während der ersten Jahrhunderte des sogenannten Mittelalters wenigstens genügend Gemeinsamkeiten zwischen den Lebensverhältnissen in Europa und denen im Nahen Osten gegeben hat, um die Einordnung in ein und dieselbe Epoche zu rechtfertigen.

1. Mangelnde Präzision

Auf Kritik am Mittelalterbegriff erhält man häufig die Antwort, dass dieser zwar nicht perfekt, aber doch ungemein praktisch sei. Er habe sich allgemein eingebürgert, und deshalb wisse jeder, der ihn gebraucht, was damit gemeint ist. Wir wissen doch, wovon wir reden, wenn wir Mittelalter sagen!

Wissen wir das wirklich? Wann beginnt das Mittelalter überhaupt? Das Ende des Weströmischen Reichs im Jahre 476 kann schließlich nicht für die ganze Welt zur Epochengrenze werden. So eröffnet sich Raum für endlose Diskussionen. Wann beginnt das Mittelalter in Damaskus? Der übliche Vorschlag ist die arabische Eroberung 635, eineinhalb Jahrhunderte später. Wann hört das Oströmische Reich auf, römisch zu sein, um zum «Byzantinischen» Reich und damit mittelalterlich zu werden? War am Ende das Oströmische Reich schon früher mittelalterlich als Damaskus, das aber Teil des Reichs war? Je weiter wir nach Osten kommen, desto schwieriger wird es, eine halbwegs plausible Antwort zu finden. Die Frage, wann das Mittelalter endete, ist auch nicht einfacher zu beantworten. Jacques Le Goff etwa will Renaissance und Frühneuzeit nicht als eigene Epochen werten. Er plädiert vielmehr für ein sehr langes Mittelalter, das bei ihm bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts reicht.[2]

Das alles sind schlechte Voraussetzungen, um für Klarheit zu sorgen. Ein Beispiel: Im englischsprachigen Raum würde kaum ein Verleger für ein allgemeinverständliches Buch über die Geschichte der Medizin in islamisch geprägten Gesellschaften einen sperrigen Titel wie History of Medicine in Islamicate Societies before 1600 durchgehen lassen. Allgemein erwartet würde ein Titel wie Medieval Islamic Medicine. Das Buch gibt es tatsächlich, es ist ganz ausgezeichnet, und man darf die Autoren nicht für den Titel in Geiselhaft nehmen.[3] Er verdient aber dennoch nähere Betrachtung. Zunächst ist die sogenannte «islamische» Medizin die direkte Fortsetzung der antiken Heilkunst. Die Ärzte mussten die wichtigsten Werke Galens kennen, sogar den Hippokratischen Eid ablegen und nicht etwa auf den Koran schwören. Galen ist der eigentliche Begründer der «islamischen» Medizin und neben Aristoteles der von Arabern und Persern am intensivsten studierte griechische Autor. Einige seiner Werke sind nur in arabischer Übersetzung überliefert. Galen lebte von 129 bis 216 n. Chr., also lange vor jedem Mittelalter, muss aber natürlich in einem Buch über «islamische» Medizin breiten Raum bekommen. Später haben die arabischen Autoren auch persische und indische Einflüsse aufgenommen, aber in ihrer Essenz ist ihre Medizin eine konsequente Weiterentwicklung der Galenschen. Dies gilt auch noch für Dāwūd al-Anākī, einen berühmten blinden Mediziner und Philosophen aus Antiochia, Kenner des Griechischen und geistreichen Schriftsteller, der im Jahr 1599 in Mekka starb. Auch er darf in keiner «Geschichte der islamischen Medizin des Mittelalters» fehlen. Was aber ist das für ein Mittelalter, das von 200 bis 1600 reicht? Für Klarheit sorgt der Begriff Mittelalter hier jedenfalls nicht.

Weitere Unklarheit schafft die Bezeichnung islamisch. Viele der «islamischen» Mediziner waren gar keine Muslime, sondern Christen und Juden, und außer der populären heilkundlichen Tradition der sogenannten Prophetenmedizin hat die «islamische» Medizin gar nichts Islamisches an sich. Hier wird die Tatsache, dass die islamische Kultur als einzige nicht nach einem geographischen Raum benannt wird (weil sie sich über ein so großes, geographisch schwer fassbares Gebiet ausgebreitet hat), vollends zur Irritation. Marshall Hodgson (1922–1968) hat deshalb im Englischen den Terminus islamicate geschaffen, um Phänomene der islamischen Welt zu bezeichnen, die nicht direkt mit Religion zu tun haben.[4] Leider ist islamicate nicht gut ins Deutsche zu übersetzen und hat sich auch im Englischen bislang nur in akademischen Zirkeln verbreitet. Die Nachbarschaft der Begriffe Mittelalter und islamisch wirkt aber doppelt explosiv, ist es doch allgemeine Meinung, dass das Mittelalter ein ganz besonders religiöses, ja ein durch und durch religiös fanatisches Zeitalter gewesen sei. Unter diesen Voraussetzungen fällt es schwer, sich die mittelalterliche islamische Medizin als fortschrittlichen, säkularen Medizindiskurs vorzustellen, um den es sich aber zweifellos handelt.[5] Wenn man Begriffe überhaupt ernst nimmt, muss man feststellen, dass die mittelalterliche islamische Medizin weder mittelalterlich noch islamisch war. Fazit: Der Begriff Mittelalter trägt nichts zur Klarheit bei, ganz im Gegenteil.

2. Fehlschlüsse

Damit ist bereits der zweite Punkt angesprochen. Die Bezeichnung Mittelalter ist nicht nur unklar, sondern auch mit einer langen Reihe von Vorannahmen verbunden, was denn mittelalterlich sei. Trügerisch ist die Hoffnung, man könne den Mittelalterbegriff retten, wenn man nur in aufopferungsvoller Forschungstätigkeit zeigt, dass die Vorannahmen, die den Begriff kontaminieren, falsch sind. Der Ausdruck selbst beruht auf einer unhaltbaren Prämisse, nämlich der, dass die tausend Jahre zwischen 500 und 1500 eine einzige Epoche bilden, die sich stärker von ihren Nachbarepochen Antike und Neuzeit unterscheidet als die Jahrhunderte innerhalb dieser Zeitspanne voneinander. Diese Vorstellung kann nur aufrechterhalten werden, wenn man viele der vielleicht oder tatsächlich falschen Vorannahmen beibehält. Ansonsten würde das Mittelalter so divers werden, so sehr seinen eigentümlichen Charakter verlieren, dass die Prämisse offensichtlich hinfällig wird. Mit anderen Worten: Es kann der Wissenschaft gar nicht gelingen, ein falsches Mittelalterbild zu korrigieren, ohne auf den Begriff zu verzichten, da der Begriff genau auf diesem falschen Bild gründet.

Um auf ein Beispiel zurückzukommen, das schon kurz angesprochen wurde: Das Mittelalter gilt als ausgesprochen religiöse, ja als die am stärksten von Religion beherrschte Epoche überhaupt. Man hat dies romantisch verklärt oder als schlimme Verdüsterung des Menschengeists verurteilt, aus der uns erst die Neuzeit erlöst habe. Wie auch immer, das Urteil ist gesprochen, und es ist sicherlich in dieser Verallgemeinerung nicht richtig. Mittelalterliche Bauern, Handwerker und Seefahrer waren wohl auch nicht frömmer als ihre Standesgenossen im neunzehnten Jahrhundert, und die Frühneuzeit mit ihren Reformationen und Religionskriegen war eine religiös aufgeregtere Zeit. Dass man in Indien im Mittelalter (sofern es dort eines gab) religiöser war als heute, ist ebenfalls stark zu bezweifeln.

Wie Albrecht Koschorke feststellt, ist die religiöse Aufladung des Mittelalters eine Nebenfolge der Konstruktion einer aufgeklärten und säkularisierten Moderne. «Wenn die Menschheit wahlweise immer aufgeklärter oder gottloser wird, dann muss sie zuvor unmündiger oder gottesfürchtiger gewesen sein.»[6] Das neunzehnte Jahrhundert war dies sicher nicht. «Mittlerweile wurde in großer Breite belegt, dass das neunzehnte Jahrhundert nicht einmal in Westeuropa, und schon gar nicht im Weltmaßstab gesehen, ein Jahrhundert verminderter religiöser Tätigkeit war.»[7] Aber auch ein Zurückgehen von Epoche zu Epoche liefert nur Bilder religiöser Brüchigkeit. «Das macht es nötig, wenigstens den Menschen des Mittelalters religiöse Geborgenheit zu attestieren.»[8]

Für einen Islamhistoriker stellt sich das Problem aber in verschärfter Form, weil ja nicht nur das Mittelalter, sondern schon islamische Kulturen per se als besonders religiös gelten, das islamische Mittelalter mithin ein Ausbund des religiösen Fanatismus gewesen sein muss. Tatsächlich wurde und wird dies immer wieder nicht nur von übelwollender Tagespresse, sondern auch von angesehenen Islamwissenschaftlern behauptet. G. E. von Grunebaum stellte 1963 für Muslime und Christen gleichermaßen die Diagnose: «Bis ans Ende des Mittelalters behauptete sich die Religion als das hauptsächliche Interesse des Menschen.»[9] Entsprechend düster ist das Bild, das der renommierte und einflussreiche Gelehrte vom Islam dieser Zeit entwirft:

Der Islam will das Leben in seiner Ganzheit umgreifen. Er fordert als Ideal ein Leben, in dem von der Wiege bis zum Grabe nicht ein einziger Augenblick im Widerstreit mit der religiösen Norm verläuft, das aber auch keine noch so kurzen Episoden enthält, für die eine religiöse Verhaltensnorm nicht existiert. Die Unterscheidung zwischen wichtigen Handlungen und unerheblichen Einzelheiten des Alltagsdaseins verliert ihre Bedeutung, sobald jeder Schritt als durch göttliches Gebot gestaltet und vorgeschrieben erlebt wird. Die Lebensbezirke, die religiöser Überwachung unterworfen, und jene, die ihr entzogen sind, lassen sich im Islam nicht als heilig und profan trennend beschreiben. Es gibt keinen Bereich, innerhalb dessen unsere Handlungen auf unser Geschick im Jenseits ohne Einfluß blieben.[10]

Dass eine solch absurde Vorstellung von vormodernen islamischen Gesellschaften völlig jenseits der Realität ist und allenfalls für einige asketische Gemeinschaften und Individuen gültig war, hätte auch der umfassend gebildete und belesene Gelehrte einsehen können, wäre es nicht zu einer Kernschmelze zwischen den Begriffen Islam und Mittelalter gekommen. Tatsächlich kamen in der islamischen Vormoderne die allermeisten Menschen, wie überall sonst auch, ihren religiösen Pflichten mehr oder weniger gewissenhaft nach, allein schon aus sozialer Konformität. Frömmer und von Religion stärker durchdrungen als nichtislamische oder nichtmittelalterliche Menschen waren sie aber nicht. Ganze Lebensbereiche «islamischer» (im Sinne von islamicate) Gesellschaften zeigten sich als vollständig oder weitgehend weltlich. Arabische und persische Dichter schufen die großartigste Weindichtung aller Zeiten, selbst ansonsten fromme Religionsgelehrte genossen, ja dichteten frivole, gelegentlich ziemlich obszöne Verse und besangen den Lebensgenuss in schöner Natur inmitten hübscher Jünglinge. Herrscherlobgedichte und Herrscherratgeber waren lange vor Machiavelli so machiavellistisch wie dieser. Persische Maler illustrierten Liebesepen, Glaskünstler gestalteten Weinpokale, Mediziner und Naturwissenschaftler forschten unbeeinflusst von religiösen Dogmen.

Vorannahmen über das Wesen des «mittelalterlichen» Islams wirken sich auch auf die Interpretation von Artefakten aus. So hat etwa die al-Mughīra-Pyxis, eines der bezauberndsten Kunstwerke, die uns aus al-Andalus der Umayyadenzeit erhalten sind, eine ganze Reihe widersprüchlicher Deutungen erfahren. Die Elfenbeinpyxis (15 × 8 cm) wurde im Jahr 357/968 für al-Muġīra, den jüngsten Sohn des Kalifen, wohl in der Hauptstadt der Umayyaden von al-Andalus, Madīnat az-Zahrāʾ bei Córdoba, geschaffen. Der Musikhistoriker Henry George Farmer stellt das auf Tafel I gezeigte Medaillon unter die Überschrift «Darstellung weltlicher Freuden ‹Musik, Weingenuß und Wohlgeruch›».[11] Einigen Kunsthistorikern schien dies zu hedonistisch, und sie wollten darin lieber eine politische Botschaft sehen. Eine Deutung als Darstellung der Rivalität zwischen den Dynastien der Umayyaden und Abbasiden hat sich in den Medien weitgehend durchgesetzt, weil sie aus heutiger Sicht so plausibel erscheint. Ich halte sie für weniger wahrscheinlich, weil die vom Betrachter aus gesehen rechte Figur offensichtlich gleichrangig mit der linken ist. Erwägenswert ist auch eine astrologische Deutung.[12] Nur eine religiöse Deutung ist ausgeschlossen, obwohl man gerade eine solche bei einer «mittelalterlichen» Repräsentation von Herrschaft erwarten sollte.

Insgesamt zeichnen sich vormoderne islamische Gesellschaften durch eine oft erstaunlich hohe Ambiguitätstoleranz aus, also durch die Fähigkeit der Menschen, Mehr- und Vieldeutigkeit nicht nur hinzunehmen, sondern auch als Bereicherung zu empfinden, verschiedene, selbst schwer miteinander in Einklang zu bringende Auslegungen der normativen Texte nebeneinander bestehen zu lassen, Widersprüchliches und Gegensätzliches auszuhalten, ein Nebeneinander unterschiedlicher Weltsichten zu ertragen.[13] Einiges davon wird später noch ausführlicher thematisiert werden. Hier sei schon einmal festgehalten: Der Begriff islamisch ist schon irreführend, wenn er eine Kultur und nicht eine Religion bezeichnen soll, führt aber vollends zur Katastrophe, wenn er zusammen mit dem Wort Mittelalter erscheint. Ergebnis ist die, wie ich es anderswo genannt habe, Islamisierung des Islams, die ein Konnotationsknäuel erzeugt, das auch von den tapfersten Wissenschaftlern nicht mehr entwirrt werden kann.[14]

3. Mögliche Herabsetzung

«Mittelalter» war nie ein unschuldiger Begriff. Von Anfang an schwang die diffamierende Absicht mit, die lichte Welt der Antike und die wiedererleuchtete der Renaissance einem Zeitalter der Finsternis entgegenzusetzen. Ohne diese Absicht hätte sich der Begriff nicht durchgesetzt. Seine negative Konnotation ist nicht erst später hinzugekommen, sondern war ihm von Anfang an eingeschrieben. Dass diese Konnotation zu Fehlschlüssen über die als Mittelalter bezeichnete Epoche führt, wurde schon erwähnt. Dank seines Diffamierungspotentials kann der Begriff aber auch epochenunabhängig verwendet werden. Je deutlicher es ist, dass er ohne realen zeitlichen Bezug verwendet wird, desto wirkungsvoller ist die Diffamierung.

Den locus classicus liefert Der Spiegel vom 12. Februar 1979, der kurz nach dem Sturz des Schahs und der Rückkehr Ayatollah Chomeinis nach Iran am 1. Februar erschien. Das Titelbild zeigt einen säbelschwingenden Krieger auf einem Pferd, hinter ihm eine Frau, die komplett in ein tschadorartiges Gewand eingewickelt ist. Der Titel lautet: «Zurück ins Mittelalter», der Untertitel: «Iran: Der Islam fordert die Macht». Im Heft lesen wir dann: «Etwas Wundersames vollzieht sich da vor den Augen des immer noch fortschrittsgläubigen Westens wie der fortschrittsgierigen Dritten Welt: An der Schwelle zum 21. Jahrhundert scheint das 35-Millionen-Volk der Perser, gerade erst von der Despotie eines maßlosen Emporkömmlings befreit, mittels einer religiösen Zeitmaschine um 1300 Jahre zurück in die islamische Urgesellschaft zu fliegen, treten religiöse Dogmatiker mit dem Anspruch auf, weltliche Herrschaft zu erobern.»[15]

Titelbild

«Zurück ins Mittelalter»: «Der Spiegel» Nr. 7 vom 12. Februar 1979 deutet die Iranische Revolution als Rückkehr in ein nie ganz überwundenes islamisches Mittelalter.

Hier sind alle Klischees beieinander: Das Mittelalter ist das Gegenteil von Fortschritt. Es ist alles sehr religiös, und eine Trennung von Religion und weltlicher Macht gibt es nicht. Das stimmt zwar historisch nicht, aber mit dem Mittelalter ist ja auch keine reale Epoche gemeint, sondern ein überzeitliches Phänomen der Rückständigkeit und des religiösen Fanatismus. Deshalb können zum Beispiel auch die USA zurück ins Mittelalter, obwohl es, wie selbst die eifrigsten Verfechter des Begriffs nicht leugnen werden, zumindest in den USA kein Mittelalter gegeben hat. Als Donald Trump aber meinte, Foltermethoden wie Waterboarding seien effizient und ihr Einsatz gegen Terroristen sei gerechtfertigt, entgegnete die Westfalenpost: «Trump will die Barbarei bekämpfen – und greift selbst zu barbarischen Mitteln. Amerika ist auf dem Weg zurück ins Mittelalter, weil es andere, wie der Islamische Staat, auch sind.»[16]

Es bedarf keiner langen Suche, um zahllose weitere Belege für einen derartigen Gebrauch des Begriffs und des «Zurück-ins-Mittelalter»-Diskurses zu finden. Schnell landet man auf antiislamischen Hass-Seiten im Internet, in denen wir etwa erfahren, dass aus Deutschland «binnen weniger Jahre ein muslimisches Land wird, ein Land, in dem eine Art islamisches Mittelalter Einzug hält, die Frauen Kopftücher tragen müssen, die Männer brutale, ungehobelte Machos sind, Frauen rechtlos sind, das Faustrecht auf den Straßen herrscht, Meinungs- und Pressefreiheit nicht mehr zählt, die Despotie die Demokratie verdrängt, Beten wichtiger ist als Arbeiten, Fanatiker unser Leben bedrohen».[17] Natürlich sind solche Aussagen an Absurdität schwer zu überbieten, was vielen ihrer Leser auch bewusst sein dürfte. Sie zeigen aber, wie vergiftet der Begriff gerade im Zusammenhang mit dem Islam ist.

Das Mittelalter ist allerdings nicht vollständig negativ konnotiert. So finden sich auch Internetseiten, die ihren Lesern ein ganz wunderbares «Zurück-ins-Mittelalter»-Erlebnis versprechen. Aber diese Seiten, die Ritteressen, Mittelaltermärkte und ähnliche Spektakel ankündigen, haben immer Europa im Blick. Ein Zurück ins islamische Mittelalter ist dagegen stets ein Sturz in den Abgrund.

4. Exotisierung

Wie Valentin Groebner in seinem Essay Das Mittelalter hört nicht auf zutreffend feststellt, war das Mittelalter «zu keiner Zeit ein sicher begrenzter und eingezäunter Ort in der Vergangenheit», sondern vielmehr «ein Werkzeugkasten oder eine Spielzeugschachtel von Instrumenten und Materialien, mit denen man Kontraste herstellen kann, neue Argumente aus alten bauen, vermeintliche Kontinuitäten neu zusammensetzen und wieder auseinandernehmen und rekombinieren.» Deshalb bleibe das Mittelalter immer auch eine «Chiffre für Alterität – und zwar im Sinn jener Begriffsprägung, die wir bei Petrarca und den Humanisten kennengelernt haben: als jene urtümliche, dunkle Periode, die das zivilisierte Europa hinter sich habe, in der sich andere aber noch befänden». So spreche auch der Historiker Emmanuel Le Roy Ladurie von einem «deeply medieval Ruhollah Khomeini».[18] Die Ferne des «Orients» ist zunächst geographisch bedingt (obwohl er mit modernen Verkehrsmitteln nicht schwer zu erreichen ist). Der Mittelalterbegriff bringt ihn aber auch noch in eine zeitliche Ferne: «Das Mittelalter, das sind die Anderen.»[19]

Das Faszinierende am Mittelalterbegriff ist nun, dass er die Anderen gleichzeitig zu den Eigenen machen kann. Die Tangzeit ist nur da, wo China ist. Also ist Karl der Große nicht tangzeitlich. Im Prinzip sollte es sich mit dem Mittelalter ebenso verhalten. Es ist (ursprünglich) nur da, wo Europa ist, also nicht bei den Maya und den Azteken und nur selten in China. Wenn wir den Begriff aber auf die islamischen Gesellschaften des Nahen Ostens und Mittelasiens anwenden, usurpieren wir diese Kulturen für die eigene Geschichte, die dadurch zum universalen Modell gemacht wird. Der Begriff Mittelalter distanziert und usurpiert also gleichzeitig, wovon im folgenden Abschnitt ausführlicher die Rede sein soll.

Vorher soll noch kurz ein anderes Exotisierungsphänomen, ein noch älterer Fall von othering, angesprochen werden: das Byzantinische Reich. Heute geht man zunehmend dazu über, Völker, Länder und Religionen mit ihren Eigenbezeichnungen zu nennen, anstatt ihre oft (zumindest ursprünglich) diffamierenden Fremdbezeichnungen zu verwenden. Aus Obervolta ist Burkina Faso geworden, Berber wollen Amazigh genannt werden, der Begriff Zigeuner ist weitgehend verschwunden, und bei den Monophysiten setzt sich die korrektere Bezeichnung Miaphysiten allmählich durch. Die Byzantiner (und das islamische Mittelalter) gibt es dagegen immer noch. Allerdings hat kein Herrscher in Byzanz je geglaubt, er sei byzantinischer Kaiser, ja er hätte gar nicht verstanden, was damit gemeint sein soll. Alle verstanden sich und waren legitimerweise nichts anderes als römische Kaiser. Auch die Araber nannten Byzanz nie anders als Rūm, und selbst Mehmet Fatih nahm nach seiner Eroberung von Konstantinopel (das übrigens erst unter Atatürk offiziell zu Istanbul umbenannt wurde) den Titel Kaysar-e Rūm an, Kaiser von Rom. Nachdem man im Westen wieder einen eigenen Kaiser hatte, tat man zunächst das Oströmische Reich ab, indem man despektierlich von den «Griechen» sprach, ein Sprachgebrauch, der so lange gut ging, wie sich Europa nicht nur zum alleinigen Erben des Römischen Reichs stilisierte, sondern zum einzig legitimen Erben der Antike schlechthin, mithin auch zu dem der Griechen. Später, wohl im Laufe des 18. Jahrhunderts, mussten nicht nur das Oströmische Reich, sondern auch noch das griechische Kaisertum zum Verschwinden gebracht werden. Dies gelang durch die Erfindung des Terminus byzantinisch, nach dem Namen eines Ortes, der zu «byzantinischer» Zeit gar nicht mehr so hieß, sondern zu Konstantinopel geworden war. Der Begriff Byzanz ließ sich nun leicht mit all jenen negativen Konnotationen aufladen, die bald auch das «islamische Mittelalter» erhalten sollte. Westeuropa hatte es damit endgültig geschafft, sich terminologisch als Alleinerbe der Antike auszugeben.

5. Imperialistischer Beiklang

Dass der Begriff Mittelalter zutiefst eurozentrisch ist, versteht sich von selbst. Schließlich ist er in Europa für spezifisch europäische Verhältnisse geprägt worden, und hier wurde beschlossen, in der Historiographie die Epochen Europas als universell gültig und wichtig anzusehen und nicht diejenigen Chinas. Doch es kommt etwas hinzu, das dem Begriff aktuelle politische Brisanz verleiht. Indem anderen Kulturen gerne, ob berechtigt oder nicht, ein Mittelalter welcher Art auch immer zugeschrieben wird, geht diese Zuerkennung oft mit einer Verweigerung von Neuzeit und Moderne einher.[20]

Wir haben bereits gesehen, dass es sehr leicht ist, ins Mittelalter hineinzukommen, sei es von hinten oder von vorne. Umso schwerer ist es aber offensichtlich, aus dem Mittelalter wieder herauszukommen. 1983 hieß es in der Zeit: «Noch vor 20 Jahren war Mittelalter im Nordjemen. Seither hat sich das Land, auch mit deutscher Hilfe, um Anschluss an die moderne Welt bemüht.»[21] Vollends war der Jemen 1983 offensichtlich noch nicht in der Moderne angekommen, aber immerhin «um Anschluss bemüht». Heute, so muss man annehmen, ist der Jemen durch Saudisches Bombardement längst wieder zurück im Mittelalter.

Dass der Weg in die Moderne hart ist, dass der Islam irgendwo «zwischen Mittelalter und Moderne» steht, jedenfalls nicht «in der Moderne angekommen» ist, ist zu einem Topos geworden. Ein halbes Dutzend Beispiele mögen genügen: «Saudi-Arabien: Zwischen Mittelalter und Moderne» (Birgit Görtz 2011),[22] «Islam zwischen Moderne und Mittelalter» (Jan Keetman 2007),[2324252627