Bernhard Lang
HIMMEL, HÖLLE, PARADIES
Jenseitswelten von der Antike
bis heute
C.H.Beck
Was haben Hades, Scheol, Hölle, Himmel und Paradies gemeinsam? Sie liegen im Jenseits, in den großen Gebieten außerhalb der irdischen Wirklichkeit. Für die einen gehören Jenseitswelten und ihre Götter zu den Illusionen vergangener Kulturen, für die anderen stehen sie bis heute im Zentrum religiösen Glaubens. Bernhard Lang erörtert die prominentesten Jenseitswelten der Geschichte, wie sie in den Zeugnissen der klassischen Antike, in Bibel und Koran sowie in der jüdischen, christlichen und islamischen Tradition beschrieben werden. Zur Sprache kommen auch die naturwissenschaftliche Kritik am Jenseitsglauben, Ansätze zu einer jenseitsfreien christlichen Theologie sowie die Sehnsucht, einen geliebten Menschen in einer anderen Welt wiederzusehen. Ob es jenseitige Welten gibt oder nicht, die Vorstellungen von ihnen bewegen die Menschheit seit Jahrtausenden und tun dies bis heute.
Bernhard Lang lehrte als Professor für Altes Testament und Religionswissenschaft in Tübingen, Paderborn, Paris IV (Sorbonne) und St. Andrews. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. Erhelle meine Nacht. Die 100 schönsten Gebete der Menschheit (5. Aufl. 2018) sowie Die 101 wichtigsten Fragen. Die Bibel (2013).
Einführung:
Eine kurze Geschichte des Jenseits
Mythos
Dogma
Kritik
I Antike:
Vom innerweltlichen zum außerweltlichen Jenseits
1 Tartaros, Limbus und Elysium
Der Götterhimmel: Zeus und die göttliche Weltregierung
Die Unterwelt
2 Oben und unten: Das Jenseits der Philosophen
Platon
Plutarch
Epikur und Lukrez
3 Kulturen der Gewalt, des Rechts und der Reflexion
II Antikes Judentum und frühes Christentum:
Himmel, Hölle und Gericht
1 Gottes Himmel und sein Personal
Gott als Besitzer der Welt – und sein Stellvertreter
Die regierenden Götter
Götter mit besonderen Aufgaben
Dienstbare Geister
2 Scheol und Himmel:
Das Jenseits der Toten in der Hebräischen Bibel
Die Scheol
Der Himmel
Der Himmel im Buch der Offenbarung
3 Die Hölle im Neuen Testament
Die Vernichtungshölle (nach ägyptischem Vorbild)
Die Hölle der ewigen Pein (nach griechischem Vorbild)
4 Antike Rechtskultur und die Kultur des Hellenismus
III Islam: Der eine Gott und die vielen Himmel
1 Jenseitswelten im Koran
Gott und Engel
Die Hölle
Paradies
2 Dichterische Erkundungen des Jenseits
Das kosmische Rahmenwerk
Die Jenseitsreise des Propheten nach dem «Buch der Leiter Mohammeds»
Al-Ma’arri schickt einen Dichter auf Jenseitsreise
3 Al-Ghazali: Eine Philosophie des Jenseits
4 Prophetie, Erotik und Askese
IV Das Christentum und die Revolutionen
des Weltbilds
1 Augustinus: Eine Philosophie des Jenseits
2 Dantes Göttliche Komödie: Eine Jenseitsdichtung
Zwei Tage in der Hölle (Inferno)
Vier Tage auf dem Berg der Läuterung (Purgatorio, Fegfeuer)
Ein Tag im Himmel (Paradiso)
3 Swedenborgs visionäre Erkundung des Jenseits
4 Theologie, Poesie und Naturwissenschaft
V Abschied vom Jenseits?
1 Der Siegeszug des Naturalismus
2 Natur und Gott im Pantheismus
3 Vom Existenzialismus zu einer Theologie ohne Jenseits
Rudolf Bultmann
Gotthold Hasenhüttl
Karl Rahner
Theologie ohne Jenseits
4 Wiedersehen im Himmel?
Dietrich Bonhoeffer
Karl Rahner – Fridolin Stier – Luise Rinser
5 Die Ordnung der Vernunft und die Ordnung des Gefühls
Literatur
I. Antike: Vom innerweltlichen zum außerweltlichen Jenseits
II. Antikes Judentum und frühes Christentum:
Himmel, Hölle und Gericht
III. Islam: Der eine Gott und die vielen Himmel
IV. Das Christentum und die Revolutionen des Weltbilds
V. Abschied vom Jenseits?
Bildnachweis
Dank
Abb. 16 Paradies und Himmel.
In idyllischer Paradieslandschaft (unten) – der neuen Erde – tummeln sich nackte Menschen und Engel, mehrfach beide in Gemeinschaft, während oben, im Himmel, die Engel Gott preisen. Nach Auffassung von Künstlern und Theologen der Renaissance können die Seligen, wenn sie wollen, zum Himmel emporschweben und sich dem englischen Chor anschließen. Bereits Augustinus könnte sich den Himmel so vorgestellt haben. – Der im 16. Jahrhundert entstandene Stich gibt einen nicht erhaltenen, von Hieronymus Bosch gemalten Altarflügel wieder.
Abb. 21 Eine Familie feiert ihr Wiedersehen im Himmel.
Die Vorlage dieses Stichs entstammt einer unvollendeten Serie von Illustrationen zu John Bunyan, Die Pilgerreise (1678/84). Bunyan lässt die Pilgerreise im Himmel enden, wo die Helden des Romans – das Ehepaar Christian und Christiane – einander wiederfinden. – Stich nach einer Vorlage von William Blake, 1808.
Das Jenseits entstand, als die Götter und die Toten aus dem Lebensraum der Menschen verdrängt wurden. Die frühe Menschheit teilte den eigenen Lebensraum mit Göttern, Geistern und Dämonen, auch mit den Toten. Dann wiesen frühe Denker den Göttern hohe, unzugängliche Berge als Wohnsitz zu, den Toten aber Höhlen und entlegene Schluchten. Solche Randzonen des menschlichen Lebensraums sind frühe Formen des Jenseits. Als Götter und Tote in immer weitere Ferne rückten, in überirdische und unterirdische Welten, bildete sich eine Jenseitsmythologie.
Mythos. Viel Aufmerksamkeit erhielt der Mythos einer jenseitigen Strafe für Verbrecher. Auch die Aussicht auf ein unbeschwertes zweites Leben, zunächst nur Königen und Helden, später aber allen zugänglich, beflügelte die Phantasie. Einmal geschaffen, wurde diese Mythologie zu einem lebendigen Thema, das, ähnlich wie die Begriffe «Gott» und «Seele», die Geschichte des menschlichen Geistes durch die Jahrtausende begleitete und zu bedeutenden kulturellen Leistungen anspornte.
Nichts rechtfertigt, das Jenseits zu verspotten, hat es doch den Menschen jahrtausendelang fasziniert, ihm Trost gespendet sowie Halt und Hoffnung geschenkt. Viele hat es auch bedrückt, erschüttert, in Angst und Schrecken vor jenseitiger Strafe versetzt und so Moral und Rechtsbewusstsein gestützt. Wer von der Existenz einer Höllenstrafe überzeugt ist, kann darauf verzichten, sich für erlittenes Unrecht zu rächen. Die Rache werden die höllischen Plagegeister übernehmen. Sigmund Freud bemerkte dazu: «An der Entwicklung der Religion glaubt man zu erkennen, dass … die Überlassung» der Rache an Gott und Jenseits «der Weg war, auf welchem sich der Mensch von der Herrschaft böser, sozialschädlicher Triebe befreite» (Zwangshandlungen und Religionsübungen, 1907). Freud bewertet die Hölle als kulturell fruchtbare Illusion.
Drei einander widerstrebende Haltungen bestimmten – und bestimmen bis heute – den Umgang mit dem Jenseits: die emotionale Phantasie, die dogmatische Mentalität und der kritische Geist.
Am Anfang steht die emotionale Phantasie; sie bildet die unerschöpfliche Quelle aller Vorstellungen, die sich Menschen über Jenseitswelten machen. Stets frei und ungebunden, lässt sie sich weder von der Dogmatik Vorschriften machen und in eine bestimmte Richtung drängen noch von ernüchternder Kritik beeindrucken und in die Schranken weisen. Älter als Dogmatik und Kritik, wurzelt sie in den tiefen, unbewussten Schichten der Seele. Sie begleitet die Menschheit seit ihren Anfängen, und der Augenblick ihres Verschwindens würde gleichzeitig das Ende des Menschseins bedeuten.
Dogma. Mit der frei schweifenden Phantasie unzufrieden, errichtet die dogmatische Mentalität aus den Bruchstücken mythologischer Überlieferung große Lehrsysteme. Verschiedene kulturell fruchtbare Vorstellungswelten werden in diesem Buch untersucht: die Vorstellungen der griechisch-römischen, der jüdischen und der christlichen Antike, islamische Vorstellungen, wie sie vor allem im Koran niedergelegt sind, sowie die sich wandelnden Jenseitsvorstellungen im Christentum. Altorientalische und altägyptische Anschauungen kommen nur zur Sprache, sofern sie für die behandelten antiken Sichtweisen von Bedeutung sind. Jenseitsvorstellungen in anderen Kulturen und Weltbildern – Hinduismus, Buddhismus, moderne Esoterik – mussten unberücksichtigt bleiben, hätten sie doch den Rahmen der knappen Darstellung gesprengt.
Sobald sich Jenseitsvorstellungen mit literarischer Phantasie verbinden, erreichen sie ihre edelste, eindrucksvollste Gestalt. Dann entstehen Werke wie Vergils Aeneis, das Buch der Leiter Mohammeds oder Dantes Göttliche Komödie. Wahrscheinlich gehen Dantes vielstufiger Himmel und seine vielstufige Hölle auf islamische Vorbilder zurück – Dichter kennen keine trennenden Grenzen zwischen den Religionen. Die Dogmatik trennt, die Phantasie verbindet. Der Synthese von Dogmatik und Dichtung verdankt sich auch – fünf Jahrhunderte nach Dante – das visionäre Werk Emanuel Swedenborgs.
In Kreisen traditionalistischer Christen und Muslime hat sich bis heute ein ausgeprägter Jenseitsglaube erhalten. Wird er angegriffen und als intellektuell nicht auf der Höhe der Zeit stehend abgewertet, dann verteidigen ihn seine Anhänger mit Hinweis auf die Bedeutung der Tradition: Mit dem Glauben an ein Jenseits hätten die Menschen Jahrtausende gelebt, und diesem Glauben verdankten sie Geborgenheit. Warum soll man einen bewährten Glauben nicht bewahren? Warum ihn preisgeben und gegen neue, kaum etablierte Meinungen einiger Modernisten eintauschen? Als Hüter und Deuter überlieferten Glaubensguts gehen viele – doch keineswegs alle – Theologen mit den Jenseitsvorstellungen der Vergangenheit vorsichtig um. Sind sie, den Traditionalismus verschärfend, Fundamentalisten, beschränken sie sich nicht auf die Verteidigung der Tradition, sondern greifen Andersdenkende an, verunglimpfen sie und suchen sie aus der Glaubensgemeinschaft, der sie angehören, auszuschließen. In diesem Punkt besteht kein Unterschied zwischen dem Denken und Handeln von christlichen und islamischen Fundamentalisten.
Kritik. Der dogmatischen Mentalität steht der kritische Geist entgegen. Was die Dogmatik aufbaut und als geltende Lehre einschärft, wird von der Kritik infrage gestellt. Das ist bereits in der Antike geschehen, doch erst in der Neuzeit hat die Kritik das Jenseitsdenken frontal angegriffen und als Illusion verworfen. Wie die Dogmatik, erreicht auch die Kritik ihre überzeugendste Gestalt, wenn sie sich mit literarischer Phantasie verbindet. In der Antike pflegte Platon einen zugleich kritischen und spielerischen Umgang mit der Jenseitsmythologie, indem er das Jenseits als experimentelles Feld für das Denken begreift. Nimmt das Mythologische in der denkerischen Arbeit überhand, ruft Platon den sokratischen Vorbehalt ins Gedächtnis, was besagt: Kein verständiger Mensch nimmt Jenseitsmythen wörtlich. Moderne Kritiker des Jenseits finden selten Zugang zur Phantasie, was ihre Bücher oft als zugleich scharfsinnig und langweilig erscheinen lässt.
Auch abgesehen von emotionalen Bedürfnissen, auch ohne Rücksicht auf dogmatische Lehren und ihren Starrsinn und ungeachtet der Bedenken der Kritik gibt es Gründe genug, den kulturellen Schatz zu pflegen, den die Jenseitswelten, ihre Götter und weiteren Bewohner darstellen. Das vorliegende Buch dient der Erinnerung an dieses Kulturgut. Wie ein Museum führt es durch vergangene Zeiten, um schließlich in der Gegenwart anzukommen – ohne sagen zu können, wie die Geschichte weitergeht, falls sie nicht ihr Ende erreicht haben sollte. Gegen die Annahme eines Endes spricht die Wiederbelebung dogmatischer Systeme durch religiöse Traditionalisten, von denen einige, zu Fundamentalisten verhärtet, ihre Lehren mit der Waffe verteidigen – und damit erst recht den kritischen Geist auf den Plan rufen.
Die Antike ist nach üblichem Sprachgebrauch die den Mittelmeerraum beherrschende griechische und römische Kultur von etwa 800 v. Chr. bis 600 n. Chr. Aus der Antike stammt die anschauliche Dreigliederung der Welt: irdische Welt der Menschen, unterirdische Welt der Toten, überirdische Welt der Götter. Der unterirdische Bereich, im Innern der Erde lokalisiert, wird in vielen antiken Zeugnissen als eine bunte Welt mit Totenrichtern, Gefängnissen für göttliche und menschliche Verbrecher sowie angenehmen Gefilden der Seligen geschildert. Die überirdische Welt, beginnend auf hohen Gebirgen mit Fortsetzung bis zu Mond, Sonne und den Gestirnen, bietet nicht nur den Göttern einen Lebensraum, sondern auch jenen Menschen, die ein vorbildliches Leben geführt haben.
Unser Wissen über Jenseitswelten und Jenseitsschicksale beruht auf den Ausführungen antiker Autoren, ergänzt durch bildliche Darstellungen. Daher wird im Folgenden nicht einfach vom Hades oder vom Totengericht die Rede sein; vielmehr werden antike Zeugnisse angeführt, die darüber Aufschluss geben. Berichtet wird in dreierlei Gestalt: in Form des literarisch gestalteten Mythos – ein antiker Schriftsteller wie Hesiod greift aus zumeist volkstümlicher, mündlich umlaufender Erzählung einen Stoff auf und gibt ihn in eigener Gestaltung wieder; in Form des philosophisch reflektierten Mythos – ein Philosoph wie Platon bedient sich eines mythischen Stoffes zur Erkundung schwer fassbarer Wirklichkeit; und in Form von Kritik – ein Philosoph wie Lukrez verurteilt bestimmte Jenseitsvorstellungen als unsinnig, unwahr und schädlich.
Grundlegend für den antiken Mythos ist die anschauliche Gliederung des Jenseits in einen Götterhimmel und eine Unterwelt – «hoch oben» und «tief unten». Beide Bezirke befinden sich innerhalb der uns bekannten Welt, sind für lebende Menschen jedoch unzugänglich. Ein «außerirdisches Jenseits» entwickelte erst das Christentum in der Spätantike.
Der Götterhimmel: Zeus und die göttliche Weltregierung. Nach der Vorstellung antiker Menschen leben die Götter im Himmel, ihre Residenz liegt auf hohen, in die Wolken ragenden Bergen. Zeus, unbestrittener König der Götter und Menschen, hat seinen Sitz auf dem Olymp, mit 2918 Metern der höchste Berg im nördlichen Griechenland. Umgeben ist Zeus von einer Reihe anderer Götter – alle menschengestaltig und unsterblich.
Ihr göttlicher, von besonderem Blut durchflossener Körper bedarf der Speise. Da ihnen Brot und Wein fremd sind (Homer, Ilias V 341), ernähren sie sich ausschließlich von den Götterspeisen Nektar und Ambrosia. Sehen wir einmal von dem fleißigen Schmied Hephaistos ab, so scheinen die Götter und Göttinnen keiner regelmäßigen Tätigkeit nachzugehen. Als Mitglieder einer Elite brauchen sie sich den Unterhalt nicht zu verdienen. Zum Zeitvertreib mischen sie sich in den trojanischen Krieg ein. Antike Autoren beobachten sie oft bei ihren Liebesaffären und schildern ihr Gelächter. Den grundlegenden Mythos, der alle olympischen Götter betrifft, verdanken wir Hesiods Theogonie (ca. 700 v. Chr.). Das Lehrgedicht berichtet, wie es zur Herrschaft des Zeus gekommen ist:
Am Anfang wurde die Welt von zwölf Titanen beherrscht – sechs Göttern und deren Partnerinnen. Führend unter den Titanen waren Kronos und dessen Gemahlin Rheia. Deren Sohn Zeus wollte sich an seinem Vater rächen, weil ihn dieser nach seiner Geburt hatte beiseiteschaffen wollen; überhaupt war ihm, Zeus, die Herrschaft der Alten verhasst. Daher rief er alle Götter seiner Generation zu sich auf den Olymp. Sie sollten gegen die Titanen Krieg führen. Wer mit ihm kämpfe, werde alle Privilegien und Ämter behalten, die er besitzt; wer aber über keine Rechte verfügt, werde solche durch ihn erlangen. Es kommt zum Krieg. Zwei Parteien stehen einander gegenüber: die Titanen auf dem Berg Othrys, Zeus und seine Anhänger auf dem Olymp. Nach zehnjährigem Waffengang ohne Entscheidung verfällt Zeus auf eine List: Er erinnert sich der drei hundertarmigen Riesen – der Hekatoncheires. Von riesenhafter Körperkraft, hat jedes dieser ungeschlachten Wesen fünfzig Köpfe und hundert Arme (Theogonie 147–153). Kronos hatte die Riesen in die Unterwelt gesperrt, doch Zeus befreit sie, reicht ihnen die Götterspeisen Nektar und Ambrosia und gewinnt sie als Helfer. So gelingt es Zeus, die Titanen zu überwältigen. Als unsterbliche Götter lassen sich die Besiegten aber nicht töten; so verbannt sie Zeus in die Unterwelt. Diese können sie nicht mehr verlassen, denn sie ist verriegelt, und die Gefangenen werden von den in die Unterwelt zurückgeschickten Riesen bewacht. Neben den Titanen hat Zeus einen weiteren Gegner, der sich ihm entgegenstellt: Typhoeús (reimt sich auf «Zeus»; andere Namensform: Typhon), ein hundertköpfiger feuerspeiender Drache. Diesen bezwingt Zeus in heroischem Zweikampf, um ihn zuletzt, den Titanen gleich, in der Unterwelt einzuschließen.
Nach seinen Siegen herrscht Zeus als König über die Götter (Theogonie 506). Allen Mitkämpfern gegenüber erfüllt er sein Versprechen. Eine der Göttinnen – Hekate, eine Tochter der Titanen – stattet er mit besonderen Privilegien aus, so dass sie Menschen Wohlstand schenken kann, Sieg über die Feinde und Weisheit bei der Ausübung des Richteramts (Theogonie 411–452). Nach dem Sieg beschäftigt sich Zeus hauptsächlich mit Göttinnen, schläft mit ihnen und zeugt so Söhne und Töchter. Seine Gattin aber ist Hera, mit der er nicht immer auf gutem Fuße steht. Daher bringen Zeus und Hera jeweils auch ohne den anderen ein göttliches Wesen zur Welt: Die Kriegsgöttin Athene entspringt dem Haupt des Zeus, während der göttliche Schmied Hephaistos von Hera ohne Beischlaf mit Zeus geboren wird.
So wird die Welt von Zeus, dessen Geschwistern und der ersten Generation ihrer Nachkommen beherrscht. Die Zahl der Zeus umgebenden Götter ist kaum überschaubar. Jedoch lässt sich in den antiken Zeugnissen seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. die Tendenz beobachten, etwa zwölf Götter hervorzuheben. Nach einem Vorschlag von Georges Dumézil lassen sie sich nach den grundlegenden Funktionen der menschlichen Gesellschaft in drei Gruppen absteigenden Ranges gliedern: herrschende Götter, kriegerische Götter und das Leben ermöglichende Fruchtbarkeitsgötter. Zur Gruppe der weise herrschenden Götter gehören:
Zeus. – Den Götterkönig zeichnen Weisheit und kriegerischer Geist aus, seine Attribute sind Donner und Blitz. Den Römern als Jupiter bekannt.
Hades. – Herrscher über das nach ihm benannte Totenreich. Bruder des Zeus.
Poseidon. – Zuständig für das Meer. Bruder des Zeus. Sein lateinischer Name ist Neptun.
Apollon. – Jugendlicher Gott der Weissagung und der schönen Künste. Sohn des Zeus.
Von den mit dem Krieg verbundenen Göttern sind folgende Gestalten hervorzuheben:
Athena. – Kriegerische Schutzgöttin der Stadt Athen. Als Jungfrau nicht verheiratet.
Ares. – Der aggressive, blutrünstige Kriegsgott. Die Römer nennen ihn Mars.
Hephaistos. – Als Gott des Feuers und der Schmiedekunst stellt er Waffen her.
Mehrere Göttinnen dienen der Familie, der Liebe, der Natur und Fruchtbarkeit:
Aphrodite. – Verkörpert Schönheit, Liebesspiel und Fruchtbarkeit. Den Römern als Venus bekannt.
Artemis. – Lebt unverheiratet in der freien Natur unter wilden Tieren.
Demeter. – Göttin des Ackerbaus.
Hera. – Schützt Ehe und Frauen. Schwester und Gattin des Zeus.
Hestia. – Schützt Herd und Herdfeuer des Haushalts. Die Schwester des Zeus bleibt unverheiratet.
Aus der Reihe der Zwölfgötter sind heute noch vier Namen geläufig: Zeus als Gott sowie Jupiter (lateinisch für Zeus), Mars und Venus als Himmelskörper. Die Venus ist der blinkende Abend- und Morgenstern. Der Monat März trägt den Namen des Kriegsgottes Mars.
Die Unterwelt. Weit unterhalb der Erdoberfläche liegt nach antikem Glauben eine zweite Welt – die Unterwelt, bewohnt von den Toten. Das Totenreich wird manchmal als Tartaros bezeichnet, häufiger aber als Hades. Bewacht wird der Eingang des Hades von einem hundsgestaltigen mehrköpfigen Ungeheuer namens Kerberos, dessen Name an das drohende Knurren des Hundes erinnert. «Ein furchtbarer Hund behütet den Eingang. Grausam ist er und tückischen Sinns: Wenn einer hineingeht, heißt er mit Schwanz und Ohren ihn schmeichlerisch freundlich willkommen, doch er lässt es nicht zu, dass er wieder hinausgeht, lauert ihm auf und frisst ihn, den er am Ausgang gefasst hat». (Theogonie 769–773, Schirnding) Im Totenland herrschen der Zeusbruder Hades und dessen Gattin Persephone.
Ihren besonderen Charakter erhält die Unterwelt durch das Totengericht. Jeder Verstorbene muss es über sich ergehen lassen, es weist ihm entweder einen angenehmen oder einen unangenehmen Aufenthaltsort zu. Demnach gibt es in der Unterwelt einen hellen Bezirk des Lohns und einen dunklen Bezirk der Strafe. In seiner zweiten olympischen Ode kommt Pindar (6. Jahrhundert v. Chr.) auf das Gericht zu sprechen: Nach dem Tod prüft Rhadámanthys den Verstorbenen, und sein Richterspruch verdammt die Frevler zu ungeahntem Unheil, das Pindar nicht weiter beschreibt. Den Guten weist er die Gefilde der Seligen zu, wo sie – angeweht von kühler Meeresluft, geschmückt mit goldenen Blüten – unter der Herrschaft des Kronos ein müheloses, von Arbeit freies Leben genießen. Zwei Bewohner der Unterwelt kommen hier ins Spiel: Rhadámanthys und Kronos. Rhadámanthys, einer der Söhne des Zeus und sagenhafter König von Kreta, wurde nach seinem eigenen Tod zum Totenrichter bestellt. Kronos, in Hesiods Theogonie noch im Tartaros gefangen, gilt als Herrscher der Gefilde der Seligen, so dass der Groll, den Zeus gegen seinen Vater Kronos hegte, bei Pindar vergessen scheint.
Übergeht Pindar die den Frevler erwartenden Strafen, so zeugen Literaten und Künstler von dieser Seite des Totenreichs. Eine Vase aus der Zeit um 360 v. Chr. (Abb. 1) zeigt Hades (sitzend, links) und dessen Gattin Persephone (stehend, mit ihrem Attribut: zwei brennenden Fackeln) als Zeugen eines Strafvollzugs. Eine geflügelte Erinye – eine Rachegöttin – beschäftigt sich mit zwei jungen Männern. Nackt harren die Helden Theseus und Peirithoos ihrer Züchtigung. Sie wagten, als Lebende in den Hades einzudringen. Der Gott Hades täuschte ihnen Gastfreundschaft vor, bewirtete sie, doch als sie, entkleidet, schliefen, wurden sie gefesselt. Mehrere Einzelheiten verweisen auf diesen Mythos: Die Kleider der Frevler liegen sorgfältig gebündelt neben ihnen – samt Reisehut, Keule und Spießen. Persephones Fackeln beleuchten die Szene im dunklen Hades.
Abb. 1 In der Unterwelt.
Unter den Augen der griechischen Unterweltsgötter Hades (sitzend) und
Persephone (stehend mit Fackeln) bestraft eine Erinye zwei nackte, gefesselte
Sünder. Nach Vergil müssen die beiden – Theseus und Peirithoos – ewig im
Tartarus bleiben (Aeneis VI 601 und 618). – Moderner Stich nach einem
attischen rotfigurigen Volutenkrater, ca. 360/50 v. Chr.
Wenn die im Jenseits bestraften Frevler in den Blick kommen, fehlt selten ein Hinweis auf die prominentesten unter ihnen: Tantalos und Sisyphos. Dabei kommt es nicht auf die Mitteilung ihrer Vergehen an, sondern auf die anschauliche Beschreibung ihrer Pein. Während seines Besuchs in der Unterwelt konnte Odysseus Tantalos sehen,
der, schwere Qualen ertragend,
in einem Teiche stand, der ihm mit dem Wasser ans Kinn schlug.
Dürstend schien er und konnte zum Trinken es doch nicht erreichen,
denn sooft er sich bückte, der Greis, im Wunsche zu trinken,
so oft schwand es hinweg, verschluckt, und die Erde,
die schwarze,kam um die Füße hervor. Ein Dämon machte sie trocken.
Odyssee XI 582–587 (Hampe)
Eine andere Qual erleidet Sisyphos: Er muss einen gewaltigen Felsblock einen Hügel hinaufwälzen, doch kaum ist er oben angelangt, rollt der Block wieder zurück. Sisyphos schafft ihn wieder empor, in endloser Wiederholung. Der Philosoph Albert Camus hat den bekannten Satz geprägt, man müsse sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen – als Existenzialisten, der sich täglich seiner ermüdenden Aufgabe widmet und gleichzeitig weiß, dass am nächsten Tag alles wieder von vorne beginnt, so dass sich kein Fortschritt zeigt (Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde, 1942). Camus’ Roman Die Pest