Zeitlos mit Dir
Nini Schlicht
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de
abrufbar.
Veröffentlicht im Tribus Buch & Kunstverlag GbR
September 2020
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2020 Tribus Buch & Kunstverlag GbR
Texte: © Copyright by Nini Schlicht
Lektorat: Lisa Gausmann
Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Coverbild: Karina Droste
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und wird strafrechtlich verfolgt.
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Für meine Oma Alice,
die mir 1000 Geschichten schenkte.
Diese Geschichte schenke ich dir!
2018:
Ich wachte langsam auf.
Ich konnte richtig spüren, wie ich wieder zu mir kam. Wie das dämmrige Traumgebilde, in dem ich zuvor gefangen war, der Realität wich. Mein Körper fing an, die Umgebung um mich herum zu erspüren. Ich lag auf etwas Weichem, Flauschigem. Wenn ich mich leicht zur Seite drehte, gab mein Untergrund nach und passte sich meiner Bewegung an. Ebenso wie es eine gute Matratze tun sollte. Ich war nicht zugedeckt, aber der Raum war angenehm warm. War ich in einem Raum? Auf jeden Fall irgendwo drinnen. Es war absolut still um mich herum. Ich konnte kein einziges Geräusch hören. Keine typischen Autogeräusche von der Straße vor dem Haus oder Hundegebell, wie man es sonst in der kleinen Ortschaft, in der ich lebte hören konnte. Absolute Stille. Langsam kam wieder Leben in meinen Körper und in meinen Geist. Es fing an zu rattern. Niemals ließen mich meine Gedanken in Frieden. Nicht mal im Schlaf. Doch wenn ich schlief und langsam erwachte, spürte ich noch, wie jedes einzelne Wort nur gedämpft an die Oberfläche kam. So als würde jemand ein Kissen drauf drücken. Die Leichtigkeit in der ich mich befand während der Schlaf mich umhüllte, wich nun langsam den harten Zügen der Realität. Alles wurde klarer und deutlicher. Gefühle traten in ihrer ganzen Unbarmherzigkeit auf und empfingen mich wie eine alte Freundin. Ich versuchte, mich noch einen Moment lang auszuruhen, noch einen kurzen Moment lang einfach zu flüchten, vor dem Erwachen.
Doch dann schlug ich die Augen auf.
Ich war an einem mir vollkommen unbekannten Ort.
Im ersten Moment glaubte ich noch zu träumen. Vielleicht schlief ich ja doch noch und dies hier war nur eine ziemlich heftige Art zu träumen. Die Art Traum, in der alles so real erscheint. Ich hatte mal etwas darüber gelesen, meinte ich mich zu erinnern. Es sind Klarträume. Der Träumer ist sich dessen bewusst, dass er gerade träumt und kann die Träume steuern. Doch ist es tatsächlich derart realistisch? Ich setzte mich langsam auf. Es fühlte sich alles so real an. Ich war wach, ich träumte nicht. Zum Test kniff ich mich selber ziemlich doll in den Arm und es tat auch wirklich weh. Ich konnte Schmerz empfinden. Bisher war ich in meinen Träumen ausschließlich in der Lage gewesen, seelischen Schmerz zu spüren. Ich hatte Träume, in denen ich traurig war und dieses überwältigende Gefühl des Schmerzes, wenn man etwas oder jemanden verliert, konnte ich überdeutlich fühlen. Wenn ich erwacht war, hallte es noch den ganzen folgenden Tag in mir nach. Doch körperlichen Schmerz konnte ich bisher nie in einem meiner Träume empfinden. An der Stelle, an der ich mich gekniffen hatte, konnte ich noch die Abdrücke meiner Fingernägel erkennen. Ich saß auf einem ziemlich großen Himmelbett. Die Vorhänge waren seitlich ans Bettgestell gebunden worden, sodass ich in den Raum blicken konnte. Rechts von mir war ein großes Fenster, kachelförmig aufgeteilt. Es waren viele kleine Glasquadrate und oben war das Fenster abgerundet. Es fiel nur schwaches Licht hinein, so als wäre der Himmel wolkenverhangen. Vor mir erstreckte sich ein langer Raum, an dessen Ende ein Kamin fast die gesamte Wand einnahm. Es brannte kein Feuer im Kamin. Etwas schräg vor den Kamin platziert stand ein ziemlich altmodischer Ohrensessel in einem dunklen Grünton. Davor war ein kleiner runder Tisch, auf dem drei große Kerzen brannten. Eigentlich war hier alles ziemlich altmodisch eingerichtet. Alles in Erdfarben gehalten. Die Decke auf meinem Bett war braunrot und tatsächlich sehr flauschig und schwer. Der restliche Bettbezug war creme-weiß. Vor dem Bett und beim Kamin lagen sehr große Teppiche mit orientalisch aussehenden Mustern darauf. Der Boden bestand aus dunklem Parkett. Links von mir fand ich zwei Türen. Eine war fast direkt auf Betthöhe und eine hinten beim Kamin. An den Wänden hingen große Gemälde mit finster dreinschauenden Menschen aus vergangenen Zeiten.
Nachdem ich den ersten Schock, an einem fremden Ort zu sein, so gut wie überwunden hatte, stand ich langsam auf und ging auf die Tür zu, die neben dem Bett war. Sie war verschlossen. Ich war hier eingesperrt. Vielleicht ging die andere Tür hinten auf? Ich lief auf den Kamin zu. Der Raum war durch einen halb zugezogenen Vorhang abgetrennt. Dadurch hatte ich vom Bett aus die Essecke nicht sehen können, die auf der rechten Seite stand. Ein weiteres Fenster von derselben Größe war zu sehen, vor dem ein großer Tisch aus Eichenholz stand. Die vier Stühle, die den Tisch umrundeten, sahen allerdings nicht sehr bequem aus. Die Rückenlehne war nicht gepolstert, sondern bestand aus zwei übereinander liegenden Querbalken, die kunstvoll verdreht waren. Da würde ich mich mit meinem knochigen Rücken schon mal nicht anlehnen können. Auf dem Tisch stand ein großer Korb mit Obst darin. An der Wand neben dem Kamin war ein sehr hohes Bücherregal. Überhaupt war die Decke sehr hoch. Selbst mit einer Leiter, würde man sie nicht berühren können. Ich steuerte die hintere Tür an und stellte fest, dass sie ebenfalls verschlossen war. Der Türgriff bestand, wie der von der ersten Tür neben dem Bett, aus einem großen Messingflügel. Langsam stieg eine gewisse Panik in mir auf. Die Art Panik, die man in verschlossenen, fremden Räumen eben bekam. Obwohl mir die ganze Situation noch immer surreal vorkam, breiteten sich die natürlichen Überlebensinstinkte aus. War ich entführt worden? So sehr ich es auch versuchte, ich konnte mich nicht daran erinnern, wie ich hierhergekommen sein könnte. Lag es vielleicht an der Panik, oder hatte ich irgendwelche Betäubungsmittel verabreicht bekommen, die zu einem Blackout geführt hatten? Ich ging hinüber zu dem Fenster, vor dem der Esstisch stand und sah hinaus. Man konnte sehr weit nach unten schauen. Der Raum, in dem ich mich befand, lag offensichtlich fast unter dem Dach.
Wenn man sich hier hinunterstürzen würde, konnte man auf keinen Fall überleben. Ich sah nirgendwo einen Griff, mit dem man das Fenster öffnen konnte. Da war keiner. Dieses Fenster, ebenso wie das andere, schienen gar nicht auf zu gehen. Welchen Sinn hatte es denn, ein Fenster zu haben, wenn man keine Frischluft ins Zimmer lassen konnte? Gab es hier keinen Griff, damit ich nicht rausspringen konnte? Vielleicht nur, um mich hier gefangen zu halten? Oder ging dieses Fenster einfach generell nicht auf? Meine Gedanken spielten verrückt. Ich hielt mich damit auf, mir minutenlang Gedanken über die Beschaffenheit des Fensters zu machen, anstatt darüber, wie ich hier herauskommen könnte. Die Überlegungen könnte ich mir allerdings auch direkt sparen. Fenster ohne Griffe und verschlossene Türen. Keine Möglichkeit zu flüchten.
Draußen erstreckte sich ein großer Park, dessen Ende ich nicht sehen konnte, da es nebelig war. Es wirkte, wie eine Wand aus Nebel, die jegliche Sicht versperrte. Ich sah mir das Gebäude, in dem ich war, so gut es durch das geschlossene Fenster eben ging, an. Es war eine Burg oder ein Schloss, das mitten im Wald oder im Nirgendwo zu sein schien. Abgeschieden von der Außenwelt ganz weit draußen. Vielleicht völlig unbekannt und niemand hatte es jemals gesehen. Prima! Das war doch die beste Art um sich Mut zu machen. Ich musste mich am Stuhl festhalten, denn ein heftiger Panikanfall kam über mich. Ich schnappte mit zittrigen Lippen nach Luft und hatte das Gefühl, als würde mein Herz gleich aus der Brust springen. Das wurde mir jetzt alles doch ein wenig zu heftig. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Man wachte doch nicht einfach an einem fremden Ort auf und hatte keine Ahnung wie man hierhergekommen war. Eigentlich war die Erinnerung an die ganzen letzten Tage weg. Was hatte ich denn bloß gemacht? Mein Verstand versuchte mit aller Macht, die derzeitige Situation zu erfassen, doch es war wie die Frage nach dem Huhn und dem Ei. Was war zuerst da? Oder wo war das Ende des Universums? Gab es überhaupt eins? Das konnten wir uns doch mit unserem beschränkten Geist gar nicht vorstellen. Immer noch nach Luft schnappend lief ich aufgeregt im Zimmer auf und ab, als würde das meine Situation verbessern. Doch das tat es nicht, denn ich fand keine Lösung. Im Grunde genommen konnte ich nur abwarten. Doch worauf warten? Auf meinen Entführer? Das half nicht, meine Panik zu bekämpfen. Ganz im Gegenteil. Tränen schossen mir in die Augen und ich fing unkontrolliert am ganzen Körper an zu zittern. Vielleicht war ich ernsthaft in Gefahr. Mein Leben lag in der Hand desjenigen, der mich hier eingeschlossen hatte. Ich bekam wahnsinnige Angst davor, dass jemand hier hineinkommen könnte und hoffte, dass niemand kam. Aber dann würde ich hier doch verhungern und verdursten. Das Obst würde mich jetzt auch nicht so lange am Leben halten. Es waren einige Äpfel, ich glaubte fünf Stück und eine Handvoll Weintrauben darin zu erkennen. Ich zählte auch drei Bananen und vier Birnen. Genervt über meine sinnlos im Kreis springenden Gedanken, schüttelte ich den Kopf. Ich hatte das Obst gezählt! Jetzt wusste ich genau Bescheid, wie viel Obst in dem Korb war. Wenn ich hier drin sterben sollte, hatte ich mich zuvor wenigstens gesund ernährt. Ich musste mich erst mal setzen, denn es fühlte sich so an, als wäre mein Herz gerade einen Marathon gelaufen. Davon musste es sich erholen. Ich ging wieder hinüber zum Bett und ließ mich auf die weiche Matratze fallen. Es gab mal eine Zeit, da hatte ich buddhistische Bücher über verschiedene Weisheiten gelesen. Bücher, in denen einem Sichtweisen über das Leben aufgezeigt wurden, mit denen man stressfrei und glücklich alt werden konnte. Es hatte auch wirklich geholfen. Ich wurde ein anderer Mensch. Hatte vieles positiver gesehen und es war alles irgendwie einfacher. Es bestand keine Gefahr mehr, in eine Depression zu verfallen, denn ich kam mit allem viel besser zurecht. Vor dieser glorreichen Entdeckung, steckte ich oft wochenlang in schlimmen Depressionen. Aber durch die Bücher hatte ich dann alles im Griff. Jetzt saß ich hier. Meine Atmung hatte ich zumindest wieder im Griff. Aber ich fühlte mich allein und hatte immer noch das Gefühl, gleich den nächsten Panikanfall zu bekommen. Situationen, die ich nicht kontrollieren konnte, machten mir Angst. Ich wollte hier raus und zwar sofort. Ich überlegte, ob ich mal an die Tür klopfen und mich bemerkbar machen, oder ob ich einen Stuhl gegen das Fenster werfen sollte. Den Gedanken mit dem Stuhl, verwarf ich allerdings gleich wieder. Das würde ich kraftmäßig bestimmt nicht hinbekommen. Ich hatte eher Untergewicht und bekam nicht einmal ein Gurkenglas auf. An die Türe zu klopfen, traute ich mich auch nicht, denn ich hatte Angst davor, dass jemand kommen könnte. Ich musste eine ganze Zeit lang tatenlos auf dem Bett gesessen haben, denn draußen war es bereits dunkel geworden. Das einzige Licht kam von den drei Kerzen auf dem Tisch, die immer noch brannten. Sie schafften es auch, den Raum soweit zu erleuchten, dass man noch alle Möbel gut erkennen konnte. Ich kauerte mich mit einem Kissen im Arm auf dem Bett zusammen. Ich wollte nicht einschlafen aus Angst, dass doch jemand kommen könnte und ich ihm hilflos ausgeliefert sein würde. Doch ich musste wohl doch irgendwann eingeschlafen sein.
Ein Feuer knisterte im Kamin.
In mir breitete sich ein wohliges Gefühl aus und das Geräusch der knackenden Holzscheite war sehr angenehm. Es erinnerte mich an gemütliche Winternächte in einer Holzhütte in den Bergen. Mit einem Kakao und einer Wolldecke in ein gutes Buch vertieft, während draußen Schnee liegt und es bitterkalt ist. Noch eingehüllt von dieser wundervollen Vorstellung tauchte in mir die Frage auf: Wieso erinnerte ich mich jetzt daran? Wie kam ich darauf? Das Knistern war so real, als würde tatsächlich ein Feuer in dem Kamin hier in meinem Schlosszimmer brennen. Meine Augen waren noch geschlossen, doch mein Geist war gerade hellwach aufgeschreckt. Jemand hatte den Kamin angemacht, jemand war hier.
Ich zögerte es sehr lange hinaus, meine Augen zu öffnen. Als könnte ich mit geschlossenen Augen jedes Unheil abwenden. Wie ein kleines Kind, das denkt: wenn ich nichts sehe, dann kann man mich auch nicht sehen. Doch dann schlug ich meine Augen auf. Ich blickte direkt in die Augen eines Mannes, der neben meinem Bett saß. Er hatte sich einen Stuhl von der Essecke geholt. Er saß dort mit einem Bein übergeschlagen und den Armen auf den Stuhllehnen gestützt, und sah mich direkt an. Mein Atem stockte und der Schock gab mir das Gefühl, dass mein Herz jeden Moment aufhören würde zu schlagen. Doch selbst in dieser Situation größter Panik, schossen mir Gedanken wie: „Was für ein wunderschöner Mann“, durch den Kopf. Er hatte schwarzes Haar, welches ihm wild um den Kopf herum stand. Seine Augen leuchteten grün. Dieses intensive Grün konnte man selbst bei dem schwachen Licht im Raum erkennen. Er lächelte mich ganz leicht an. Das Lächeln spiegelte sich auch in seinen Augen wider, was ihn sehr sympathisch wirken ließ. Er trug eine schwarze Lederhose, die an den Seiten geschnürt war und eng an seinen Beinen lag. Meine Augen begutachteten diesen fremden Mann, als hätten sie ein Eigenleben. Wahrscheinlich war es nicht besonders ratsam, meinen Entführer so offensichtlich zu begaffen, doch ich konnte nicht anders. Er trug ein weißes Hemd aus vergangener Zeit. Zumindest glaubte ich, dass es aus einer anderen Zeit stammen könnte, denn es sah sehr altmodisch aus. Obwohl es ziemlich warm im Raum war, hatte er noch einen dunklen Mantel über dem Hemd an. Ich lag auf der Seite und konnte mich nicht bewegen. Gut zu wissen, dass ich in Gefahrensituationen erstarre, anstatt etwas Sinnvolles zu tun, wie zum Beispiel weglaufen oder mich wehren. Ich wusste nicht, wie viel Zeit verstrich. Wie lange wir uns letztendlich einfach ansahen, ohne dass sich jemand bewegte oder etwas sagte. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Ewig gefangen in diesen grünen Augen. Langweilig wurde es zumindest nicht, denn ich war immer noch damit beschäftigt, meine Angst zu kontrollieren und mich in diesen Augen zu verlieren. Schließlich stand er langsam auf und trat an das Bettende, ohne den Blick von mir abzuwenden. Ich schaffte es mich ebenfalls aufzusetzen, da ich ihn nicht aus den Augen verlieren wollte und lehnte mich gegen die Kissen. Eines der Kissen, hielt ich wie ein Schutzschild vor meinen Körper.
„Mein Name ist Adrian, ich freue mich dich kennen zu lernen, Amelie“. Seine Stimme klang so weich wie flüssiger Honig. Ich brauchte lange bis mir auffiel, dass er meinen Namen kannte. Meine Stimme fand ich nach wie vor nicht wieder. Er stand dort am Ende des Himmelbettes und sah mich weiterhin mit diesem sympathischen Blick an. Abwartend, ob ich etwas sagen wollte. Als eine für ihn angemessene Zeit verstrichen zu sein schien, sprach er weiter.
„Auf dem Tisch steht etwas zu essen und zu trinken für dich. Du hast bestimmt Hunger und Durst.“
Auf diese beiden Grundbedürfnisse hatte ich bisher gar nicht geachtet. Doch das leise Grummeln in meinem Magen verriet mir, dass ich tatsächlich Hunger hatte. An meine letzte Mahlzeit konnte ich mich überhaupt nicht mehr erinnern. Mein Entführer stand erwartungsvoll vor dem Bett. Aber ich machte auch weiterhin keine Anstalten etwas zu sagen. Seltsamerweise verspürte ich keine Angst mehr. Obwohl mir das selbst etwas zu vorschnell vorkam. Dieser fremde Mann gab mir vielleicht etwas zu essen und zu trinken, doch woher sollte ich wissen, dass keine Gefahr von ihm ausging? Trotz allem wurde ich ganz ruhig. Ich war selbst überrascht. Irgendetwas war mit diesem Kerl. Irgendetwas stimmte da nicht. Hatte er die Macht, andere Menschen zu verhexen? Einen gewissen Einfluss hatte er schon auf mich. Er schaffte es, dass ich mich etwas entspannte und diese krampfhafte Panik verlor. Vielleicht fühlte ich mich aber auch nur deshalb sicherer, weil ich jetzt wusste, wer mich gefangen hielt.
„Ich lasse dich erstmal wieder alleine. Iss ruhig, es ist nicht vergiftet, falls du das denkst.“
Ein verschmitztes Grinsen zeichnete sich auf seinen Lippen ab. Damit verließ er den Raum und ließ mich alleine. Ich ließ noch einige Minuten verstreichen, bis ich schließlich aufstand und zum Tisch ging. Dort stand ein großer, dampfender Topf mit einer Art Eintopf darin. Es roch wahnsinnig gut. Daneben lag ein frischer Laib Brot und ein Krug mit Wasser stand ebenfalls bereit. Besteck und Teller, sowie der Rest der Küchenutensilien sahen so aus, als wären sie dem Mittelalter entsprungen. Einer weit vergangenen Zeit. War ich in der Vergangenheit gelandet? Durch ein Wurmloch in der Zeit gereist? Ich schüttelte heftig den Kopf, um meine Gedanken wieder in geregelte Bahnen zu bringen. Eine Zeitreise war natürlich die Antwort meiner Fragen. Das Einleuchtendste. Dann war mein vermeintlicher Entführer nur ein Gentleman, der mich gerettet und aufgepäppelt hatte. Ich verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln. Meine derzeitige Situation war derart surreal, dass ich wohlmöglich jeden Moment anfing durchzudrehen. Ich setzte mich an den Tisch und aß diesen köstlichen Eintopf und ich starb nicht daran, weil er tatsächlich nicht vergiftet war. Ich versuchte mich zu konzentrieren um heraus zu finden, wie ich hierhergekommen war. Was hatte ich denn gemacht? Wo war ich? Was war dann?
Die Sonne schien. Ich konnte die sanfte Wärme auf meiner Haut genießen, da die Temperaturen eher mild waren. Mein Schal war riesig, viel zu groß für meine schmale Gestalt. Doch dieses riesige Wollmonster, das gerade dabei war mich zu ersticken, war offenbar in Mode. Es war ein Schlauchschal in hellgrau. Aber eins musste man ihm lassen, er hielt mich warm. Im Sommer konnte ich die Sonne nicht genießen. Sie verbrannte stets meine Haut und wenn ich keinen Hut trug, verglühte sie mir mein Gehirn. An besonders heißen Tagen wurde mir grundsätzlich schlecht oder schwindelig. Kurz gesagt, ich war eher so der Wintertyp. Hitze konnte ich nur schlecht vertragen. Man will sich kaum bis gar nicht bewegen und man schwitzt mehr als man trinken kann. Es kam generell nur selten vor, dass ich die Sonne begrüßen und mich an ihr erfreuen konnte. Doch nun stand ich hier am Waldrand, dick eingepackt in meinen schwarzen Wintermantel aus Filz mit dem hellgrauen Schal und den dicken Moon Boots und erfreute mich der Sonnenstrahlen. Ich musste einfach mal raus und alleine sein. In letzter Zeit war alles so hektisch gewesen und irgendwie anstrengend. Mein Chef hatte es sich in den Kopf gesetzt, gegen all die großen Buchketten anzukämpfen. Er wollte sich als ein kleiner, gemütlicher Buchladen beweisen. Außerdem hatte er mich von einer Buchmesse zur nächsten geschickt, um rauszufinden, was gerade angesagt war und was die Leute lesen wollten. Welche Autoren musste man einladen um Lesungen zu veranstalten. Ich war von Anfang an nicht davon ausgegangen, dass eine J.K. Rowling sich in einen kleinen Buchladen setzen würde, in den den ganzen Tag über nur maximal zehn Kunden kamen. Die meisten davon waren ohnehin Stammkunden, die nur wegen der neuen Kaffeemaschine kamen. Sie konnte diesen unfassbar leckeren Milchschaum erzeugen. Nichts desto trotz liebte ich diesen Laden, in dem ich jetzt schon seit fünf Jahren arbeitete. Genau wie mein Chef, hielt ich nicht besonders viel von diesen großen Buchketten. Wenn man dort hineinging, wurde man nicht persönlich begrüßt und erhielt auch keine individuelle Beratung. Die Mitarbeiter dort gaben Suchbegriffe in ihre Computer ein und konnten einem am Ende doch nichts Passendes anbieten. Mr. Barameus, mein Chef, informierte sich bei jedem Kunden wonach er suchte. Da er jedes einzelne Buch in seinem Laden kannte, hatte er immer sofort das passende Buch zur Hand, welches zu der Beschreibung passte. Kleine Buchläden hatten einfach ihren Charme und waren urgemütlich. Keiner meiner Freunde empfand so wie ich, wenn sie mich im Laden besuchten. Sie hielten ihn für einen altmodischen, verstaubten Ort. Sie glaubten der Laden würde sich nicht mehr lange halten. Außerdem hatten die meisten von ihnen jetzt E-Book Reader und luden sich ihre Bücher online runter. Diese Entwicklung hatte mir noch nie gefallen. Im Gegenteil, ich boykottierte sie wo auch immer ich konnte. Es ging nichts über ein Buch, das man anfassen und an dem man riechen konnte. Ja ich roch an Büchern und besonders der Geruch alter Bücher gefiel mir. Sie beinhalten nicht nur die Geschichte, die geschrieben steht, sondern jedes einzelne Buch hat ebenfalls seine ganz eigene Geschichte. Wann wurde es gedruckt? Durch wie viele Hände ging es seither? An welchen Orten war es schon gewesen? Welche individuelle Bedeutung hatte es für seinen Besitzer? Bei jedem meiner Bücher zuhause wusste ich noch in welcher Lebenssituation ich war, als ich es gelesen hatte. Wenn ich es zum Beispiel im Urlaub am Strand gelesen hatte, dann fühlte ich wieder die sanfte Meeresbrise auf meiner Haut und den Sand unter meinen Füßen. Der Buchladen bestand aus zusammengewürfelten, ziemlich alten Möbeln. Jedes Regal an der Wand war anders aufgebaut und unterschiedlich groß. Es stand ein Sessel, auf dem schon Karl der Große gesessen haben sollte, im Raum. Meine Interessen entsprachen generell nicht der breiten Masse junger Menschen von heute. Es könnte durchaus sein, dass ich in der falschen Zeit geboren wurde oder vielleicht sogar in der falschen Welt. Meine Freunde würden dies sofort unterschreiben. Sie liebten mich, doch verstehen konnten sie mich meist nicht. Das war aber auch in Ordnung so. Ich war es nicht anders gewohnt. Ich ging gerne mit ihnen ins Kino oder unterhielt mich über den neusten Klatsch und Tratsch. Für alle anderen meiner Interessen waren ja meine Bücher da. Dort fand ich die tiefsinnigsten Gespräche über Liebe und das Universum oder die ergreifendsten Beschreibungen über das geheime Leben der Bäume im Wald. Der Ausgleich macht es doch. Solange ich Zeit für mich hatte, war alles andere auch ertragbar.
Aber in letzter Zeit hatte ich eben diese Zeit für mich nicht mehr und ich bemerkte, dass sich dies negativ auf meinen Gemütszustand auswirkte. Deshalb stand ich jetzt hier am Waldrand und die Sonne strahlte mir ins Gesicht. Ich wollte fliehen, vor all den Buchmessen. Vor meinen Freunden, die ständig etwas von mir wollten und meine Gesellschaft benötigten, zum Trost oder zum Feiern gehen. Vor meinen Eltern, die mich drängten, doch endlich mal den passenden Mann zu finden, damit sie eine ebenso pompöse wie kitschige Hochzeit organisieren konnten, wie die von der kleinen Luisa nebenan. Vielleicht auch vor mir selbst, denn ich wusste nicht mehr, wer ich war.
Aber vielleicht konnte ich es ja im Wald finden. Vielleicht kam es dann zu mir zurück, nur für einen Moment, mein wahres Ich. Der reine Kern ohne das ganze drum herum. Mein Selbst, frei vom Ego, frei von allem, was andere in mir sahen. Der innere Kern, der tief verborgen lebte.
Ich lebte in Watermark, einer kleinen Stadt an der Westküste Schottlands.
Meine Stadt war bis ins 19. Jahrhundert ausschließlich ein kleines Fischerdorf gewesen. Auch heute noch drehte sich hier viel ums Angeln und um die Schifffahrt. Aber vor allem lebte der Ort vom Tourismus, denn er wurde auch als „Tor zu den Inseln“, benannt. Hier gab es kilometerlange Küstenstriche und unser Ort war umgeben von vielen Inseln, zu denen man von Watermark aus mit der Fähre fahren konnte. Früher fand ich es immer wahnsinnig spannend, dass so viele fremde Menschen aus allen Ländern in meine Stadt kamen um hier Urlaub zu machen. Ich bekam viel von anderen Kulturen mit und spielte mit Kindern aus aller Welt, wobei wir nur mit Körpersprache kommunizieren konnten. Heute war es mir meist einfach zu viel Trubel und es nervte nur noch. Vor allem die ewig gleiche Frage: „Ist es nicht wundervoll an einem Ort zu leben, wo andere Urlaub machen?“. Ja, Herrgott nochmal, es war wunderschön hier und ich mochte meine Stadt auch, aber es war auch etwas vollkommen Alltägliches für mich. Ich hatte die gesamten fünfundzwanzig Jahre meines Lebens hier verbracht und es war nichts Neues oder Spannendes mehr für mich. Ich hatte bereits des Öfteren darüber nachgedacht, von hier wegzuziehen. Vielleicht nach Edinburgh oder vielleicht auch ganz raus aus Schottland. Die Welt kennenlernen und viel reisen. Aber dann fing ich nach meinem Abitur im Buchladen bei Mr. Barameus an. Sehr zum Entsetzen meiner Eltern, die mir immer wieder einschärften ich könne doch mit meinem Wissen und meinem guten Abschluss studieren gehen und ganz groß rauskommen. Ich arbeitete bereits seit fünf Jahren hier und hatte selbst das Gefühl, dass dies hier nichts für die Ewigkeit sein konnte. Doch ich kam einfach nicht davon los. Das schöne Gefühl, morgens den Buchladen aufzuschließen und den Geruch von Büchern und Lavendel in der Nase zu haben, umschmeichelte meinen Geist. Ich hing an diesem Laden und alles andere erschien mir momentan einfach viel zu groß und erschreckend. Ich war ein Gewohnheitstier und hatte Angst vor Veränderungen. Aus diesem Grund hielt ich gerne an Altem und Bekanntem fest. So zogen die Tage ins Land. Ich durfte mich nun „Buchhändlerin“ nennen, nach erfolgreicher Ausbildung. Mir standen in diesem Berufsbereich viele Türen offen. Wenn ich zum Beispiel ein Studium im Bereich Bibliotheksmanagement oder Fachwirtin mit Schwerpunkt Buchhandel anstreben würde, könnten meine Eltern endlich wieder ruhig schlafen und ich könnte überall anfangen. Doch wie gesagt, jeden Tag aufstehen und wissen was einen erwartete, war etwas Schönes und Sicheres. Der Tag würde noch früh genug kommen, an dem sich etwas änderte. Ich wollte abwarten, wo das Leben mich hintrieb und ließ mich vom Schicksal leiten.
Meine beste Freundin Anne würde an dieser Stelle sagen: „Mensch, Amelie komm mal aus deinem Traumschloss raus und nimm dein Schicksal selber in die Hand.“
Anne war mehr so der realistische Typ, ganz im Gegensatz zu mir. Wir kannten uns seit der Kindergartenzeit. Sie und Tim, ihr fester Freund, waren meine längsten Freunde. Viele Freunde hatte ich nicht, aber die wenigen blieben beständig in meinem Leben. Ich saß schon mit Tim und Anne im Sandkasten, so etwas schweißt irgendwie zusammen. Obwohl die beiden dann irgendwann ein Paar wurden, hatte sich eigentlich nichts verändert. Sie besuchten mich oft im Buchladen und tranken den leckeren Kaffee mit dem Milchschaum und den Schokostreuseln. Wahrscheinlich war dies der einzige Grund, aus dem sie mich hier besuchten. Sie betonten immer wieder wie wenig reizvoll sie den Laden fanden und ob wir uns nicht im Starbucks treffen könnten. Da ich allerdings fast den ganzen Tag hier im Laden war und abends dann einfach nur nach Hause wollte, blieb ihnen nichts Anderes übrig als mich hier zu besuchen. Ich schloss mich ihnen auch sehr selten an, wenn sie an den Wochenenden tanzen gingen und die Clubs in den umliegenden Städten unsicher machten. Anne drängte mich immer mal mitzukommen, denn sie war der Meinung ich müsse bald mal einen Kerl kennenlernen und den würde ich nicht in Barameus Buchladen finden. Tatsächlich hatte sich mein Liebesleben bisher auf einen eher kläglichen Versuch mit Jonas, einem Typen aus meinem Jahrgang während der Abiturzeit, beschränkt. Anscheinend konnte ich einfach nichts mit den Typen aus dieser Zeit anfangen. Wenn ich mir meinem Traummann vorstellte, dann sah ich einen Gentleman, der einem die Türen aufhielt und sich respektvoll mit einem unterhielt. Einen Typ, der überhaupt gerne mit einem redete und gute Unterhaltungen schätzte. Das schien heutzutage ja aus der Mode gekommen zu sein. Ich gab Jonas dann schließlich den Laufpass, nachdem er mir folgenden Vorschlag unterbreitet hatte: „Ey, hab gehört deine Eltern sind übers Wochenende weg. Lass da mal zu dir gehen. Können wa endlich mal vögeln.“ Dann war ich eben altmodisch oder auch wählerisch und wahrscheinlich bis ans Ende meines Lebens alleine, aber so etwas wollte ich mir einfach nicht antun.
Um einfach mal abschalten zu können, war ich hier gelandet. Am Rande des Waldes, in dem ich bereits als Kind viele Stunden am Tag verbracht hatte. In meinem übergroßen Schal und den Moon Boots wünschte ich mir, irgendwo da drinnen gäbe es eine geheime Tür, die zu einer anderen Welt führte.
Die Vorstellung, dass im Wald magische Wesen lebten die nur darauf warteten, dass ich endlich die verdammte Tür fand, verfolgte mich schon ein Leben lang. In meiner Vorstellung existierte dort eine Welt, die so harmonisch und vollkommen war, dass ich nie wieder zurückwollte. Ich würde einfach durch die Türe gehen und auf eine große Wiese kommen. Die Sonne dort würde vom Himmel strahlen und überall würden alle möglichen Tiere völlig frei herumlaufen. Hunde, Nashörner, Rehe und Meerschweinchen. Alle würden sich vertragen und dort friedlich miteinander leben. Es würden nur liebevolle und glückliche Menschen dort sein, mit denen ich mich sofort verstehen würde. Es wäre wie ein Heimkehren. Damals wollte ich gar nicht mehr aus dem Wald kommen, weil mich die Realität abschreckte. Ich wollte dortbleiben, in meinem Tagtraum, der mir so real vorkam. Auch heute noch sehnte ich mich nach diesem Ort. Doch mit den Jahren fiel es mir immer schwerer, mich hineinzuträumen. Vor allem in letzter Zeit, weil alles so stressig war. Es wäre einfach wundervoll, wenn ich durch die Tür im Wald gehen und alles hinter mir lassen könnte. Ich war durchaus zufrieden mit meinem Leben aber manchmal dachte ich, dass es doch noch mehr geben musste. Mehr als wir uns vorstellen können. Magie, fremde Wesen und übernatürliches. Meine Eltern würden jetzt sagen: „Du liest zu viel Fantasy, Amelie, daher kommen all die Hirngespinste.“ Ich las tatsächlich viel und auch oft Fantasygeschichten. Aber wer konnte einem mit Gewissheit sagen, dass es wirklich nicht mehr gab als alles was wir bereits kannten? Niemand konnte das. Ich glaubte fest daran. So musste es einfach sein, sonst wäre das Leben doch furchtbar langweilig.
Während meines Spaziergangs durch den Wald, hatte ich es auch tatsächlich geschafft meine Gedanken weitestgehend abzustellen. Ich genoss die gegenwärtige Situation und atmete die frische Waldluft ein.
Gedankenverloren wanderte ich immer tiefer in den Wald hinein, als ich plötzlich ein Geräusch hörte. Es klang als würde jemand hier sein. Das Knacken der kleinen und morschen Äste, die abseits der Wege auf dem Waldboden lagen, verriet mir, dass jemand im Unterholz war. Ich drehte mich mehrmals im Kreis, doch ich konnte niemanden sehen. Da ich der totale Angsthase war, lief ich nun schneller und ärgerte mich selbst über meine Panik. Es sollte doch ein entspannter Spaziergang werden und jetzt spielten mir meine empfindlichen Nerven einen Streich und ich bildete mir ein, jemand verfolgte mich. Als ich wieder auf den breiten Waldweg einbog, der Hauptroute durch den Wald, fühlte ich mich gleich sicherer. Mein Herz schlug ruhiger und ich atmete tief durch. Wären meine Sinne in diesem Moment noch so geschärft gewesen wie zuvor, wäre mir die Anwesenheit der Person unmittelbar hinter mir wohl aufgefallen. Doch ich war zu sehr damit beschäftigt, meine Atmung zu beruhigen und wägte mich in der Sicherheit der meist gut besuchten Hauptroute des Waldes. Ich wollte gerade wieder losmarschieren, als mich jemand von hinten packte und mir ein Tuch auf Mund und Nase drückte. Ich atmete einen durchdringenden und dennoch süßlichen Geruch ein. Eine Zeit lang versuchte ich mich mit aller Kraft zu befreien und strampelte und trat um mich. Doch der harte Griff, der mich festhielt blieb unnachgiebig. Dann wurde mir wahnsinnig schwindelig und ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Die Umgebung verschwamm und wich einem allumfassenden Nebel, der mich einhüllte und tief hinab sinken ließ in ein bodenloses Tal.
Ich war also entführt worden.
Gewaltsam gepackt, betäubt und hierher verschleppt. Aber warum? Warum gerade ich?
Meine Eltern waren nicht reich, ein Lösegeld erpressen würde also herzlich wenig bringen. Es konnte sich nur um einen kranken Menschen handeln, der aus Lust und Laune junge Mädchen entführte und sie hier gefangen hielt. Um weiß Gott was mit ihnen anzustellen. Bei diesem Gedanken trat wieder die alt bekannte Panik in mir auf. Ich rieb mir meine feuchten Hände und spürte meinen Herzschlag laut an meiner Schläfen pochen. Obwohl dieser Typ, der eben hier gewesen war, nicht so aussah, als wäre er verrückt. Ganz im Gegenteil, er wirkte selbstsicher und gefasst und schien ganz genau zu wissen, was er tat. Ich hatte ihn allerdings auch nur ein einziges Mal gesehen. Wie konnte ich mir da einbilden, ihn zu kennen und einschätzen zu können. Ein Teil von mir fand ihn sogar sympathisch und irgendwie anziehend. Das hatte bestimmt etwas mit dem Stockholm Syndrom zu tun. Mein Leben hing von ihm ab, vielleicht bekam ich die nächsten Jahre niemanden außer ihn mehr zu sehen. Da entwickelte man automatisch eine krankhafte Zuneigung. Doch was auch immer als nächstes passieren würde, ich musste mir überlegen wie ich mich verhalten sollte. Ich könnte mitspielen und tun was er wollte, um ihn nicht zu provozieren. Oder ich könnte ihn ganz bewusst provozieren und aus der Reserve locken. War es bereits ganz egal was ich tat? Hatte er vielleicht schon einen genauen Plan, was er mit mir anstellen wollte? Der Druck in meinem Kopf wurde immer größer. Wenn ich überfordert war bekam ich oft Migräne. So außer Gefecht gesetzt zu sein konnte ich mir grade nicht leisten. Um mich abzulenken schlenderte ich durch den Raum. Ich betrachtete das Bücherregal. Es waren sehr alte Bücher, aber in einem guten Zustand. Bei genauerer Betrachtung stockte mir der Atem. Diese Bücher hier müssten einige Millionen wert sein. Es waren Originalausgaben. Das erkannte ich mit geschultem Auge sofort. Ich nahm ein Buch heraus und hielt die Erstauflage von Jane Eyre, geschrieben von Charlotte Bronte, aus dem Jahr 1847 in den Händen. Ich liebte diese Geschichte und hatte sie bereits zweimal gelesen. Dieses Exemplar hier kostete über elftausend Pfund. Das wusste ich, weil ich mal nach Erstausgaben meiner Lieblingsbücher gesucht hatte. Mir wurde ziemlich schnell klar, dass ich niemals in den Besitz dieser Bücher kommen würde. Doch jetzt hielt ich eines in den Händen. Andächtig strich ich über den Buchrücken. Ich blätterte es vorsichtig durch und stellte fest, dass es wirklich in einem sehr guten Zustand war. Die Seiten waren relativ fest und nicht brüchig. Sein Besitzer wusste wohl ziemlich genau, wie diese Bücher zu erhalten waren. Ich war so vertieft in das Buch, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie jemand in den Raum gekommen war. Schemenhaft nahm ich eine Gestalt aus den Augenwinkeln wahr und sprang erschrocken zurück. Das Buch hielt ich fest vor meine Brust gedrückt.
„Schsch, nicht erschrecken, ich bin es nur.“
Der Typ, Adrian war glaube ich sein Name, hob beschwichtigend seine Hände. Es hatte eine gewisse Komik, dass mein Entführer, „ich bin es nur“, sagte. Ich stand jetzt an das Bücherregal gelehnt und Jane Eyre wie ein Schutzschild vor der Brust haltend da und konnte mich nicht rühren. Adrian sah hinüber zu dem Tisch und bemerkte, dass ich etwas gegessen hatte.
„Ich hoffe der Eintopf hat dir geschmeckt. Eintöpfe sind die Spezialität meiner Köchin. Sie kreiert sie in allen Varianten.“ Er hielt Smalltalk mit mir! Mutig geworden durch die surreale Situation, fand ich meine Stimme wieder.
„Ist das jetzt dein Ernst, dass du mir von den Spezialitäten deiner Köchin erzählst? Als wären wir hier in einem Hotel und ich hätte all inclusive gebucht.“ Ich sog erschrocken die Luft ein. Die Frage, ob ich mitspielen oder rebellieren sollte stellte sich nun nicht mehr. Aus Angst vor seiner Reaktion, trat ich noch einen Schritt zurück. Sein Blick erhellte sich, er schmunzelte über meine Worte. Doch im nächsten Augenblick sah er mich gequält und entschuldigend an.
„Amelie, es tut mir so schrecklich leid. Ich wollte dich nicht so erschrecken, aber ich dachte ich bringe dich erstmal hier bei mir in Sicherheit.“
So nannte er das also. In Sicherheit gebracht. Gewaltsam entführt und in Sicherheit gebracht, waren ja bekanntlich ein und dasselbe. Ich unterdrückte ein hysterisches Lachen und stieß dabei laut die Luft durch meine Nase aus. Doch bis auf diesen Laut fiel mir nichts weiter ein, was ich hätte sagen können. Es dauerte eine ganze Weile, in der wir uns nur betreten ansahen. Dann kam er ein paar Schritte auf mich zu.
„Ich will dir alles erklären, das verspreche ich dir. Aber was hältst du davon, wenn ich dir erstmal das Schloss zeige? Ein paar Räume weiter befindet sich ein Bad, falls du dich frisch machen willst.“