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Gaslicht - Neue Edition
– 10 –

Das Spukhaus der toten Lady

Julia kann seinem verhängnisvollen Einfluss nicht entrinnen

Helen Perkins

Impressum:

Epub-Version © 2022 Kelter Media GmbH & Co. KG, Averhoffstraße 14, 22085 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © Kelter Media GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74099-246-0

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Im nächsten Moment wurde Julia klar, dass dieses unheimliche Spiel noch kein Ende genommen hatte. Der Park war anders, als sie ihn am Nachmittag kennengelernt hatte. Der Pavillon stand zwar, war jedoch nicht mit Efeu bewachsen. Und den Pool samt Badehaus gab es noch nicht. Sie fasste sich an den Kopf und versuchte das alles zu begreifen. Doch sie fand einfach keine Erklärung. Unvermittelt berührte sie etwas an der Schulter. Julia zuckte zusammen und wirbelte herum – aber da war nicht! Sie hörte leises Lachen, das der Wind heranzutragen schien. Eine Gänsehaut bildete sich auf ihrem Rücken. Sie verließ die Terrasse, betrat wieder das Haus. Sie wollte durch das Portal nach draußen und zur Straße. Auf irgend einem Weg musste sie diesen unheimlichen Ort doch wieder verlassen können! Kaum hatte Julia den Saal erneut betreten, da fühlte sie einen kalten Hauch, der ihr Gesicht streifte. Zugleich hörte sie eine geisterhafte Stimme: »Fort, fort von hier! Oder du bist des Todes!«

Es war eine klare Vollmondnacht. Der runde Himmelskörper schickte sein bleiches Licht ungefiltert zur Erde. Sein silberner Schein übergoß die spätsommerliche Umgebung von »Ivy-House« und ließ Kontraste und Konturen überdeutlich hervortreten.

Das Herrenhaus aus der Tudorzeit stand imposant und ein wenig trutzig auf dem weitläufigen Parkgrundstück am Rand des kleinen Dorfes Wulfingham, etwa zwanzig Kilometer westlich von London. Die Menschen im Dorf schliefen, in keinem der aus grauem Stein gebauten Häuser brannte noch Licht. Und auch in »Ivy-House« regte sich kein Leben. Etwas anderes aber, durch das belebende Licht des vollen Mondes angeregt, kam in Bewegung. Es begann in der Familiengruft der früheren Besitzer des großen Anwesens. Die Donahues hatten über Jahrhunderte hier gelebt, ihre sterblichen Hüllen waren in einem extra für diesen Zweck errichteten Gebäude beigesetzt worden, das sich auf dem Familienfriedhof befand. Der erste Donahue hatte diesen Totenacker anlegen lassen, der sich einige hundert Meter vom Haupthaus entfernt befand. Der Platz unter den großen alten Ulmen und Eichen wurde vom Mondlicht beleuchtet. Man konnte deutlich die Grabstellen erkennen, in denen weitläufigere Verwandte beigesetzt worden waren. An einer Mauer im hinteren Teil des Friedhofes fand sich eine Reihe mit Gräbern, die der Dienerschaft vorbehalten war. Der letzte Donahue war vor einem halben Jahrhundert hier beigesetzt worden. Sir Humphrey Donahue war ein alter Sonderling ohne Nachkommen gewesen und man hatte ihm die gleichen abstrusen Neigungen zugeschrieben wie seinen Vorfahren. In den letzten Jahren hatte er ganz allein in »Ivy-House« gelebt, denn niemand hatte mehr für ihn arbeiten wollen. In Wulfingham erzählte man sich schaurige Geschichten über ihn. Nach seinem Tod war das gesamte Erbe dem »National Trust« zugefallen und die Linie der Donahues hatte unwiederbringlich ihr Ende gefunden. Heute wurde das Herrenhaus von einem Hausmeisterehepaar mittleren Alters verwaltet, das in dem ehemaligen Pförtnerhaus lebte. Die Waldens waren mit ihrer Stellung zufrieden, sie kümmerten sich um alles, führten in den Sommermonaten die wenigen Besucher, die den Weg in das Dorf fanden, durch Haus und Park und hatten im Winter ihre Ruhe. Sie lagen in dieser Nacht in tiefem Schlummer und ahnten nichts von dem, was sich draußen abspielte.

In der Familiengruft erklang ein leises Seufzen. Es hatte nichts Menschliches, schien vielmehr aus weiten Fernen herbeizuwehen, erfüllte das Totenhaus und verstärkte sich immer mehr. Zuerst war der Laut nur vage, verschwommen. Aber er nahm an Intensität zu und wurde deutlicher. Ein Name klang dabei heraus, als seufze eine verdammte Seele im Jenseits.

»Reginald…«

Das Seufzen und Stöhnen verstärkte sich, ein hoher, wimmernder Laut wie das Weinen eines kleinen Kindes kam hinzu. Es waren schaurige Laute, die das Totenhaus erfüllten. Ein schmales, nur handbreites Fenster in der Eingangstür ließ etwas von dem fahlen Mondlicht ins Innere der Gruft. Es erhellte schwach die mit Staub und Spinnweben bedeckten Ruhestätten und den steinernen Sarkophag, in dem sich Sir Humphrey Donahue zur letzten Ruhe hatte betten lassen. Viele Särge hatten ihren Platz in Wandnischen gefunden, messingfarbene Schilder nannten Namen und Lebensdaten der Verstorbenen. Sie waren ebenfalls mit einer dicken Staubschicht bedeckt und kaum zu entziffern.

Das Wimmern, Klagen und Stöhnen setzte sich fort und wurde noch intensiver. Immer wieder rief die geisterhafte Stimme einen Namen: »Reginald…«

Und dann wurde die Dunkelheit der Nacht durchbrochen. Es war der schwache Schein eines gelblichen Lichtes, der plötzlich aus den Wänden der Gruft drang und das Innere des Totenhauses erfüllte. Das Licht hatte seinen Ursprung bei einem Sarg, der an der hinteren Wand der Gruft in einer Nische stand. Dort glimmte das unnatürliche Feuer auf, wurde nach und nach heller und strahlte schließlich so stark, daß es den ganzen Raum in Helligkeit tauchte. Mitten in der Helligkeit entstand Bewegung, dort materialisierte sich etwas. Langsam wurden Umrisse sichtbar, die entfernt nach etwas Menschlichem aussahen. Das Seufzen und Stöhnen hatte sich noch verstärkt. Und dann stand eine Gestalt mitten in der Gruft. Das Licht verlosch auf einen Schlag, nur die Erscheinung war noch vorhanden. Sie stand ganz still und schien sich erst orientieren zu müssen. Es war der Geist einer Frau. Das lange, helle Haar hing ihr weit über die Schultern, sie trug ein bodenlanges, weitschwingendes Gewand, darüber einen Umhang. Ihr Gesicht war, wie die gesamte Gestalt, durchsichtig, doch gut zu erkennen. Es war ebenmäßig und feingeschnitten und erinnerte an die Bildnisse von adligen Damen aus einer früheren Zeit. Die Augenhöhlen aber gähnten leer und dunkel und zeigten, daß sich in dieser Figur kein Leben mehr befand, oder doch nur eine unheilige Kraft, die mit dem natürlichen Leben nichts zu tun hatte.

Die Frau schaute sich um. Wieder erklang ihr wehmütiger Ruf: »Reginald…« Wie aus den tiefsten Tiefen der Erde, hohl und spröde klang die Stimme. Doch ihr Flehen schien nicht erhört zu werden. Nichts tat sich. Die unheimliche Erscheinung war und blieb allein. Zeit verging, in der der Geist ausharrte, unbeweglich auf seinem Platz stand. Schließlich hob sie den Kopf und bewegte sich langsam auf die Tür des Totenhauses zu. Da die Erscheinung feinstofflich war, stellten Mauern kein Hindernis für sie dar. Ruhig, als sei die Wand der Gruft gar nicht vorhanden, glitt der Geist hindurch und gelangte so ins Freie.

Die Nacht war bereits weit fortgeschritten, der Mond hatte seinen höchsten Punkt schon hinter sich gelassen. Trotzdem gab sein silbernes Licht der Geistergestalt Kraft. Sie spürte, wie Leben sie durchpulste, und zugleich war da wieder der Wunsch, zu ihrem Geliebten zu gelangen, der schon so unendlich lange von ihr getrennt war. Die Erscheinung glitt durch den Park auf das Haupthaus zu. Kurz vor ihrem Ziel wandte sie sich nach rechts, wo sich die ehemaligen Pferdeställe befanden. Nun waren sie leer, ein paar alte Kutschen standen noch dort. Der Geist glitt an ihnen vorbei, durchscheinende Finger streiften die alten Lederpolster. Etwas wie Wehmut zeichnete sich in dem blassen Gesicht der Geisterlady ab. Sie verließ den Stall, betrat das Haupthaus. In dieser Nacht durchwanderte die Unheimliche alle Räume von »Ivy-House«. Sie war auf der Suche nach einer Person, die nicht mehr existierte, doch sie konnte ihre Sehnsucht einfach nicht stillen. Selbst im Tod fand sie allein, ohne den Geliebten, keine Ruhe.

Die meisten Zimmer des Landhauses waren der Öffentlichkeit zugänglich und nach dem Tod des letzten Donahue wieder so hergerichtet worden, wie sie einst in der Prunkzeit des Adelsgeschlechts gewesen waren. Für die geisterhafte Erscheinung waren die Möbel vertraut, sie fühlte sich hier mehr zuhause als draußen, wo so vieles anders geworden war.

Selbst durch versteckte Kellerkammern streifte der Geist in den Stunden der Dunkelheit, aber das Ziel seiner Sehnsucht erreichte er nicht.

Beim ersten Hahnenschrei, als im Osten schon der erste Widerschein von Helligkeit aufflammte, mußte der Geist in die Gruft zurückkehren. Voller Wehmut erklang noch einmal der sehnsüchtige Ruf nach jenem Reginald, der für sie nicht mehr zu erreichen war.

Morty Parson, der Zeitungsbote von Wulfingham, war zu dieser frühen Stunde schon mit seinem Rad unterwegs. Er mußte die Morgenzeitung verteilen, ehe er seinen zweiten Job als Kioskbetreiber antrat. Als er eben die Zeitung bei den Waldens in den Briefkasten schieben wollte, klang jenes sehnsuchtsvolle Flehen auf, das bereits die ganze Nacht durch »Ivy-House« geschallt war. Morty zuckte zusammen und verengte die Augen zu Schlitzen, um in der Dämmerung die Umgebung abzusuchen. Schon öfter war es vorgekommen, daß Kinder ihn auf seiner Runde auf den Arm nehmen oder ihm einen Schrecken einjagen wollten. In den Sommerferien waren die kleinen Monster besonders einfallsreich. Doch so genau er auch hinschaute, er konnte nirgends etwas erkennen. Er wandte sein Rad und wollte sich wieder in den Sattel schwingen, als er die durchscheinende Gestalt sah. Sie kam aus Richtung Haus und schwebte über den weitläufigen Rasen – direkt auf ihn zu! Als Morty das begriff, trat er wie besessen in die Pedale. Er kannte all die Geschichten, die sich um »Ivy-House« rankten, und er verspürte eine mörderische Angst vor dem, was er gesehen hatte. Was immer es auch war – er wollte es gar nicht wissen! An diesem Morgen beschloß Morty Parson, daß die Waldens in Zukunft ihre Zeitung an seinem Kiosk kaufen mußten, wenn sie eine haben wollten.

Die unheimliche Geistererscheinung aber löste sich langsam auf. Und als die ersten Sonnenstrahlen sich in den Tautropfen auf dem weitläufigen Rasen um »Ivy-House« spiegelten, war der Spuk verschwunden, als habe er nie existiert…

*

Die Strahlen der milden Augustsonne fanden ihren Weg durch einen Spalt zwischen den Gardinen und kitzelten Robert Grahams Nase. Brummend drehte er sich auf die andere Seite und öffnete zunächst probehalber ein Auge. Der Wecker zeigte acht Uhr. Der junge Mann schloß das Auge wieder und beschloß, sich noch eine Weile dem süßen Schlummer hinzugeben. Doch daraus sollte nichts werden. Ein paar Minuten später wurde die Schlafzimmertür geöffnet und gleich darauf folgten die Vorhänge. Helles Morgenlicht erfüllte den Raum und machte es Robert unmöglich, noch einmal einzuschlafen.

Mit einem ungehaltenen Seufzer drehte er sich auf den Rücken und bedachte die junge Frau, die sich auf die Bettkante gesetzt hatte, mit einem scherzhaft grimmigen Blick.

»Ich wollte eigentlich noch ein bißchen schlafen.«

Julia Graham lächelte verschmitzt und es schien, als tanzten kleine, freche Teufelchen in ihren himmelblauen Augen. »Du alter Faulpelz! Es ist herrliches Wetter draußen. Und ich finde, wir könnten zusammen frühstücken, bevor ich losfahre.«

»Frühstück? Hört sich nicht schlecht an«, gab er zurück und verschränkte die Hände hinter dem Nacken. »Und wie willst du mich überreden, das bequeme Lotterbett zu verlassen?«

Ihr Lächeln vertiefte sich, als sie erwiderte: »Da habe ich schon eine gute Idee.« Sie beugte sich zu ihm hinunter und hauchte einen zarten Kuß auf seine Lippen. Julia und Robert waren ein Jahr verheiratet, und es schien beiden, daß sie noch immer so verliebt wie am ersten Tag waren. Das bewies der junge Mann in diesem Moment auch. Er hatte nämlich nicht vor, seine Frau so schnell wieder gehen zu lassen. Kurzerhand zog er sie in seine Arme und erwiderte ihren Kuß innig.

»Hey, du bist unfair!« protestierte sie. »Ich habe mich schon zurechtgemacht!«

Er gab sie frei und machte ein fragendes Gesicht. »Liebst du mich vielleicht nicht mehr? Früher warst du romantischer.«

»So?« Gleich bewies sie ihm das Gegenteil. Und um Robert auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen, griff sie nach einem Kopfkissen, und im Nu war die schönste Kissenschlacht entbrannt. Wie zwei ausgelassene Kinder tobten die beiden und lagen sich schließlich atemlos vor Lachen in den Armen.

»Du bist zumindest noch genauso frech wie früher«, japste Robert, und Julia meinte: »Das war es mir wert, jetzt muß ich noch mal ins Bad!«

Einige Zeit später saßen sie dann zusammen am Frühstückstisch, den die junge Frau wegen des angenehmen Wetters auf dem kleinen Balkon angerichtet hatte. Die Grahams lebten im Londoner Westend in einer kleinen, komfortablen Eigentumswohnung, die Julia von einer Tante geerbt hatte. Es war eine angenehme Wohngegend, ruhig und kultiviert. Gegenüber lag ein kleiner Park, in den Blättern der großen Bäume spielte geheimnisvoll ein leichter Sommerwind. Robert Graham war freier Schriftsteller und konnte sich seine Zeit einteilen. Er arbeitete am liebsten am späten Abend und dann bis in die Nacht hinein. Seine Frau war Fotografin. Sie arbeitete im Moment an einem Kalender, der besonders schöne, alte Herrenhäuser zeigen sollte. Zu diesem Zweck fuhr sie zeitig mit dem Auto übers Land und hatte schon einige Motive eingefangen, mit denen ihr Chef, der Leiter eines Bilderdienstes, sehr zufrieden war.