Redwood Love – Es beginnt mit einem Blick

Aus tiefstem Herzen widme ich dieses Buch meiner Schreibgruppe – den Schicksen. Vonnie, Alison, Angel, Auria, Sarah, Dixie, AJ, Mac, Amy & Arial, ohne euch wäre das alles nicht möglich gewesen.

 

Und ich muss hier unbedingt meinen Neffen Connor erwähnen, der mit Autismus lebt und mich unablässig Stärke, Humor und Entschlossenheit lehrt.

1

Avery Stowe kniff die Augen zusammen und lehnte sich fast auf das Lenkrad, um in der Dunkelheit durch die dicken weißen Flocken hindurchsehen zu können, die das ruhige Redwood einhüllten. Solche Schneestürme gab es in San Francisco einfach nicht. Anscheinend hatte ihre Mom recht gehabt, darauf zu bestehen, dass sie vor ihrem Umzug ihren Camry gegen einen SUV tauschte. Ihr Wagen hätte keinen einzigen Winter in Oregon überstanden. Und selbst ihre kapriziöse Mutter musste mitunter mal recht haben. Mit der Betonung auf mitunter.

Avery war dankbar, sich nach zwei Tagen Reisezeit endlich dem Ziel zu nähern. Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Tochter Hailey, die im Kindersitz auf dem Rücksitz saß, und seufzte erleichtert, weil sie immer noch schlief. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Straße.

Seit sie die Staatsgrenze überquert hatte, waren bereits gute zehn Zentimeter Schnee gefallen. Das war Irrsinn. Hübsch, aber trotzdem Irrsinn. Und da Avery das warme, sonnige Kalifornien bisher nie verlassen hatte, war es auch ein Kulturschock. Aber … mit dem neuen Jahr sollte ein Neubeginn einhergehen. Sowohl sie als auch Hailey brauchten das.

Selbst wenn diese neue Stadt sie an Silent Hill erinnerte. Sie ertappte sich dabei, dass sie nach unheimlichen Zombie-Monstern Ausschau hielt, konnte aber keine entdecken.

Anscheinend wurden die Gehwege hier nachts hochgeklappt, denn nur die altmodischen Straßenlaternen an der zweispurigen Kopfsteinpflasterstraße spendeten noch Licht. Avery hatte geglaubt, ihre Mutter hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank – genau genommen keine einzige mehr –, als sie vor zehn Jahren hierhergezogen war, nachdem sie von einer Tante, von deren Existenz sie nicht einmal etwas gewusst hatte, mehrere Ferienhütten geerbt hatte. Ihre Mom allerdings war hier glücklich und ging davon aus, dass es Avery und Hailey genauso gehen würde.

Auf dem Papier wirkte es jedenfalls perfekt. «Nicht Silent Hill, nicht Silent Hill.» Aber mal ernsthaft – wo waren die Menschen?

Pittoresk gelegen zwischen der Küste und den Ausläufern der Klamath Mountains, war Redwood sowohl ein Touristenmagnet als auch eine charmante Kleinstadt mit ungefähr tausendfünfhundert Einwohnern. Und tatsächlich musste die Stadt einen einzigartigen Zauber besitzen, wenn es ihr gelang, die Aufmerksamkeit ihrer Mutter so lange zu fesseln. An der Straße zogen sich Reihen von kleinen Läden entlang. Es war, als reiste man zurück in eine Zeit, in der alles einfacher und schöner gewesen war. Wenn es hier nur Menschen gäbe.

Zehn Minuten später ließ der Schneefall nach. Avery lenkte den Wagen inzwischen über eine Privatstraße, die von Zypressen, Kiefern und jenen Redwood-Bäumen gesäumt wurde, denen die Stadt ihren Namen verdankte. Der Anblick war absolut atemberaubend, aber sie würde ihn erst später wirklich genießen können. Bei Tageslicht. Im Moment wirkte es in ihren Augen eher wie die Filmkulisse zu Freitag, der 13.

Vielleicht sollte sie aufhören, Horrorfilme zu schauen.

Sie fuhren an ein paar größeren Häusern vorbei, die noch weihnachtlich dekoriert waren. Fünf Kilometer weiter bogen sie zu den Ferienhütten ab. Sie parkte vor der ersten Hütte und sah sich um. Denk nicht an Freitag, der 13.

Keine gruseligen Filme mehr. Nie wieder.

Im gleichen Abstand zueinander standen hier fünf einstöckige Blockhütten. Schnee lag auf den Dächern. Die Hütten glichen sich aufs Haar, jede besaß eine kleine Veranda und ein einfaches Satteldach. Aus den Fenstern der ersten Hütte strahlte warmes gelbes Licht, Rauch stieg aus dem Schornstein auf. Und dort stand auch das Auto ihrer Mutter.

Zum ersten Mal in gefühlt zehn Jahren atmete Avery tief durch und schloss die Augen. Keine Sirenen oder Hupen. Keine Gespräche und kein Stress. Kein Ex und keine Schwiegereltern, mit denen sie streiten musste. Nur … Frieden.

Bis Jason mit seiner weißen Hockey-Maske auftaucht …

Okay, das reichte jetzt. Ab jetzt würde sie wirklich nur noch Komödien schauen.

Avery würde sicher eine Weile brauchen, um sich an die Stille zu gewöhnen, aber für Hailey lohnte sich der Umzug auf alle Fälle. Zu viele Reize führten bei ihr automatisch zu Wut- und Trotzanfällen. Das Stadtleben war nichts für sie. Vielleicht würde Hailey in dieser Umgebung besser zurechtkommen. Und es war auch ein Vorteil, ihre Mutter in der Nähe zu haben.

In ihrer Kindheit hatte Avery sich in ihrer Zwei-Personen-Kleinfamilie oft als die Erwachsene gefühlt, weil ihre Mutter ständig durchs La-La-Land tanzte. Doch an Liebe hatte es ihr nie gemangelt. Und im Moment brauchte Avery dringend Unterstützung.

Es war lange her, dass sie sich das letzte Mal auf jemanden hatte stützen können.

Avery warf einen Blick auf den Rücksitz, dann streckte sie den Arm aus, um leicht Haileys Knie zu berühren. «Hey, Liebling. Wir sind da.»

Sofort flatterten die dunklen Wimpern ihrer Tochter und hoben sich, um die blauen Augen zu enthüllen, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Alles andere hatte sie von Avery. Dichtes, braunes Haar und eine kurvige, schlanke Gestalt. Hailey war erst acht, aber bereits jetzt das Ebenbild ihrer Mutter.

Hailey musterte ihre Umgebung in der scheinbar fahrigen Art, an die Avery sich gewöhnt hatte, seit sie die Autismus-Diagnose ihrer Tochter bekommen hatte. Ihr Blick huschte über alles gleichzeitig, verweilte nirgends länger als den Bruchteil einer Sekunde. Einen Moment später quietschte sie und wedelte mit den Händen.

Gut gemacht, Mami, übersetzte Avery in ihrem Kopf.

Da Hailey zu den Autisten gehörte, die nicht sprachen – zumindest bis jetzt –, spielte Avery oft Dialoge in ihrem Kopf durch. Das half ihr, damit umzugehen.

Sie lächelte, froh, dass Hailey gefiel, was sie sah. «Grandma ist drin und wartet auf uns. Willst du dir unser neues Zuhause anschauen?» Zumindest würde dies ihr Zuhause sein, bis sie eine Wohnung oder ein kleines Haus mieten konnte – vielleicht nicht direkt neben Camp Crystal Lake.

Hailey quietschte erneut und machte sich ungeschickt an ihrem Gurt zu schaffen, bis sie ihn endlich gelöst hatte. Eilig stieg Avery aus dem Auto und fing ihre Tochter an der hinteren Tür ab, bevor sie losrennen konnte. Da sie sich erst einmal alles ansehen wollte, ließ sie die Koffer im Auto und führte Hailey die Verandastufen nach oben, wobei sie sorgfältig darauf achtete, ihre Tochter nicht öfter zu berühren als unbedingt nötig.

Die Tür schwang auf, bevor sie klopfen konnten. Als sie ihre Mutter im Türrahmen entdeckte, schnürten Tränen Averys Kehle zu. Justine Berry mochte kapriziös und unberechenbar sein, aber sie war immer für ihre Tochter da gewesen. Nach allem, was Avery und Hailey durchgemacht hatten, brauchte sie einfach … ihre Mom.

«Ich freue mich ja so, dass ihr hier seid!» Sie beugte sich vor, bis ihr Kopf auf einer Höhe mit Haileys schwebte, offensichtlich erfüllt von dem Wunsch, ihre Enkelin zu umarmen.

Andere nicht zu knuddeln, ging gegen die Natur ihrer Mutter, aber Avery kannte Haileys Grenzen. Sie hatte Justine tausendmal vorgewarnt, bevor sie losgefahren waren, nur für den Fall, dass ihre Mutter es vergaß. Ihre Mutter und die Vergesslichkeit gehörten zusammen wie beste Freunde.

Hailey schob ihre Großmutter zur Seite und rannte in die Hütte. Aus dem Weg, Oma. Ich habe Besseres zu tun.

Avery zuckte mit den Achseln. «Sie ist aufgeregt. Das ist gut.»

Schon im nächsten Augenblick schlossen sich die Arme ihrer Mutter um sie und drückten zu, bis sie nicht mehr atmen konnte. Der vertraute Duft von Patschuli stieg ihr in die Nase. Sie drängte die Tränen zurück, die ihr in die Augen stiegen, und lächelte. «Hi, Mom.»

«Wenigstens darf ich dich noch umarmen.» Mom trat zurück und strich sich über ihr wildes schulterlanges braunes Haar. Sie bevorzugte einen natürlichen Lebensstil, also hatten ihre Haare wahrscheinlich seit Jahrzehnten keine Pflegespülung oder Ähnliches mehr gesehen. Die feinen Falten um ihren Mund und ihre Augen waren tiefer als noch vor einem Jahr, als sie Avery zum letzten Mal in San Francisco besucht hatte, doch das machte ihre Mutter nur charmanter. Sie war eine Frau, die oft lachte und intensiv liebte. Vier Ex-Ehemänner waren der beste Beweis dafür. «Wie waren die Straßen?»

Avery schloss die Tür hinter sich. «Ein bisschen rutschig, aber nicht allzu schlimm. Wow, Mom. Diese Hütte ist toll.»

Sie sah absolut nicht aus wie in einem schlechten Horrorfilm.

Das gesamte Häuschen schien nur aus Holz und Stein und Glas zu bestehen. Rustikal, sauber und hübsch. In einer Ecke sorgte ein geziegelter Kamin für Wärme. Sofas mit kariertem Bezug und Kiefernholztische standen auf dem Massivholzboden. Das Wohnzimmer war geräumig und durch einen Tresen von der Küche getrennt. Am hinteren Ende des Raums öffneten sich große Panoramafenster und gaben den Blick frei auf einen im Mondlicht glänzenden kleinen Bach.

Hailey verschwand in einen kleinen Flur und quietschte. Avery wollte ihr folgen, doch ihre Mom stoppte sie, indem sie ihr eine Hand auf den Arm legte.

«In diese Richtung gibt es keinen Ausgang und nichts, wo sie reinkriechen könnte. Ich vermiete diese Hütten, also sind sie relativ einfach eingerichtet. Aber ich habe Vorräte für dich eingekauft.» Sie lächelte und umarmte Avery noch einmal. «Ich bin so froh, dass du da bist. Zehn Jahre, und erst jetzt schaust du dir meine Stadt an.»

Avery verdrängte die Schuldgefühle und nickte. Sie konnte die Vergangenheit nicht ändern. «Ich erinnere mich, dass du gesagt hast, du hättest eine Menge Arbeit in die Anlage gesteckt. Es ist wirklich schön.»

Mom seufzte. «Gute Handwerker und das geerbte Geld haben dafür gesorgt. Die Hütten sind fast das ganze Jahr über gut vermietet. Ich lebe über meinem Laden in der Stadt, aber wenn es okay für dich ist, würde ich heute hier übernachten.»

Außer den Hütten besaß ihre Mutter einen Secondhandladen, den sie Thrifty getauft hatte. Soweit Avery wusste, kümmerte sich jemand anderes um die finanzielle Seite der Geschäfte. Buchhaltung war nicht gerade die große Stärke ihrer Mutter. Sie hatte eine Menge Ideen und idealistische Träume, Zahlen und Details delegierte sie klugerweise an jemand anderen.

«Ich fände es wunderbar, wenn du über Nacht bleibst. Es ist sowieso schon recht spät.»

Wo sie gerade davon sprach, Hailey war seit einigen Minuten verdächtig still. Getrieben von Sorge und Argwohn, ging Avery den Flur entlang, nur um ihre Tochter schlafend auf einem der beiden Betten vorzufinden, wo sie sich, noch mit Mütze und Mantel bekleidet, zusammengerollt hatte.

Ihr Herz verkrampfte sich in tiefempfundener Liebe. Vorsichtig öffnete sie Haileys Mantel, ohne ihn ihr auszuziehen, weil sie ihre Tochter nicht wecken wollte. Sie zog ihr die Mütze vom Kopf und fuhr ihr sanft durch das dunkle Haar. Avery durfte Hailey nur wirklich berühren, wenn sie schlief, weil jeder Körperkontakt Hailey aufregte, manchmal so sehr, dass sie anfing zu schreien. Doch es gab diese ruhigen Momente am Abend, wo sie ihre Tochter in Ruhe betrachten und ihre perfekten kleinen Wangen streicheln durfte.

Erschöpft, wie Avery war, streifte ihr Blick die einfachen Holzmöbel und das Erkerfenster nur, als sie zurück in die Küche ging, wo ihre Mutter in einem Topf rührte. Vollkommen überrascht blieb sie in der Tür stehen.

Mom drehte sich grinsend um. «Ich habe Kakao gemacht. Setz dich einfach ins Wohnzimmer. Entspann dich. Du wirkst ziemlich erschöpft. Ich werde dir eine Tasse bringen.»

«Ist er … trinkbar?»

Mom schüttelte den Kopf, dann sagte sie: «Ich glaube schon.»

«Erinnerst du dich an …»

«Ein Mal. Nur ein einziges Mal habe ich ein Feuer verursacht, Avery!»

Zu erschöpft, um zu widersprechen, grinste sie, ließ sich in einen Sessel sinken und schloss die Augen. Erstaunlich, wie gemütlich dieser Sessel war. Das knisternde Feuer und der Geruch von Kakao beruhigten sie und erlaubten ihr, sich ein wenig zu entspannen. Dann schlief sie ein.

Als Avery wieder erwachte, zitterte sie, und die Tasse Kakao auf dem Beistelltisch neben ihr war kalt. Seltsame Stücke schwammen darin herum. Blinzelnd richtete sie sich auf. Ihre Mutter schlief auf dem Sofa neben ihr.

Wow. Wie lange hatten sie gedöst?

Sie nahm sich einen Moment, um sich zu strecken, bevor sie nach Hailey sehen würde. Schließlich stand sie auf und schaute zur Küche hinüber, um sicherzustellen, dass ihre Mutter den Herd ausgeschaltet hatte. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie abgelenkt wurde und es vergaß. Ein Blick beruhigte sie. Danach versuchte Avery, die Quelle des kühlen Luftzugs zu finden, der durch den Raum glitt. Sie erstarrte, als sie bemerkte, dass die Hintertür offen stand.

Nein. Gott, nein.

«Mom!», schrie Avery, die bereits im Flur stand. Panik brachte ihr Herz zum Rasen.

Haileys Bett war leer.

Nein, nein, nein, nein, nein …

Sie eilte zurück ins Wohnzimmer, rannte gegen ihre Mutter und drängte sich an ihr vorbei.

«Was ist?»

Avery schob eilig ihre Füße in die Stiefel und griff nach ihrem Mantel. «Hailey ist weg. Wir sind eingeschlafen. Ich habe die Tür nicht verriegelt.» Ein Fehler, der ihr nicht hätte unterlaufen dürfen. Hailey machte so etwas ständig. Sie lief nicht wirklich weg … sie lebte einfach in ihrer eigenen Welt und hatte kein Gefühl für Gefahren.

Oh Gott. Ihre Tochter war dort draußen in der Kälte, mitten im Nirgendwo, und das nachts. Hier gab es Pumas, ganz zu schweigen von …

«Ruf die Polizei.»

Sie eilte zur Hintertür und einmal ums Haus, doch Hailey war weder auf der Veranda noch im Auto. Angst schnürte ihr die Kehle zu, als sie an der Hintertür erneut mit ihrer Mutter zusammenstieß.

«Da sind Fußspuren.» Mom band sich einen Schal um den Hals. «Sie ist direkt in den Wald gelaufen.»

Avery senkte den Blick. Eine Spur von kleinen Fußabdrücken führte von der Hütte weg, zwischen die dichtstehenden Bäume. Sie rannte los, um den Spuren zu folgen. Kälte brannte in ihrer Lunge, und als sie das Kiefernwäldchen erreicht hatte, waren ihre Finger taub.

Hailey war so klein. Sie würde bei diesen Temperaturen nicht lange durchhalten. Es musste mindestens zehn Grad unter null sein. Und Hailey konnte nicht sprechen. Wenn sie Hilfe brauchte, konnte sie nicht darum bitten. Avery hatte vor dem Umzug recherchiert. Sie wusste über die Pflanzen und Tiere Bescheid, die es hier gab. Sie wusste, dass ihre Tochter der Gefahr eines Raubtierangriffes ausgesetzt war und auch, um welche Tiere es sich dabei handeln konnte. Schwarzbären, Pumas und Luchse standen ganz oben auf dieser Liste. Hailey hätte keine Ahnung, wie sie sich verteidigen sollte.

Tränen verschleierten ihren Blick. Sie beschleunigte ihre Schritte, rannte, sodass der Schnee hinter ihr aufstob.

Bitte mach, dass alles gut ist. Bitte!

Plötzlich führte die Fußspur nach rechts. Avery folgte ihr, dann stockte ihr der Atem.

Hailey saß auf einem Baumstumpf, mit dem Rücken zu ihr. Sie trug immer noch ihren pinkfarbenen Mantel, aber keine Mütze. Ihre Erleichterung war unbeschreiblich.

«Hailey.» Avery eilte auf ihre Tochter zu und ging vor ihr in die Hocke. «Wir haben doch darüber gesprochen, Liebling. Du darfst nicht einfach weglaufen …»

Da war Blut. Eine Menge Blut. Vor Haileys Füßen. Vorne auf ihrem Mantel.

«Wo bist du verletzt? Wo bist du verletzt, Liebling?» Sie ließ ihre zitternden Finger über Haileys Kopf gleiten, an ihrem Hals hinunter bis zu ihrer Brust, um dann innezuhalten.

Ein pelziger, warmer Kopf schob sich aus Haileys halb geöffnetem Mantel.

Ein Schrei stieg in Averys Kehle auf, dann wurde ihr klar, dass es ein Hund war. Nein, ein Welpe. Ein kleiner, beiger Pelzball. Hailey wiegte ihn, streichelte seinen Kopf, ihr Blick ging unruhig hin und her.

Avery, die wusste, dass diese Bewegungen Ausdruck von Nervosität und Angst waren, zwang sich, ruhig zu sprechen. Hailey würde niemals einem Lebewesen weh tun, also musste sie das Tier hier draußen gefunden haben. «Du hast einen kleinen Hund gefunden. Es ist okay, Hailey. Ist er verletzt? Kommt daher das Blut? Darf Mami mal sehen?»

Sanft befreite sie das zitternde Pelzbündel aus der Umarmung ihrer Tochter. Das arme Ding jaulte. Vor Schreck über dieses Geräusch in der stillen Nacht fiel sie nach hinten auf den Po. Der Kleine konnte kaum älter sein als sechs Wochen. Und er wog höchstens dreieinhalb Kilo. Traurige, verängstigte braune Augen sahen sie an, und Avery schmolz dahin.

«Na, so was aber auch. Du bist ja anbetungswürdig.»

«Avery … sein Bein.» Mom, die inzwischen angekommen war, deutete mit dem Kinn auf den Hund und rammte ihre Hände in die Manteltaschen.

Averys Blick glitt im Mondlicht über das Tier, um sich anzusehen, wovon ihre Mutter sprach. Die untere Hälfte des Hinterbeins war abgetrennt. Blut verklebte das Fell. Ihr Magen zog sich zusammen. Was konnte nur passiert sein?

Übelkeit stieg in ihr auf. «Du armes Ding.»

Hailey begann, sich heftiger zu wiegen.

Avery hob die Hand und umfasste den Arm ihrer Tochter. «Es wird alles gut, Liebling.»

Ratlos sah sie ihre Mom an. Sie hatte noch nie ein Haustier gehabt. Es war eiskalt hier draußen, und niemand wusste, wie lang dieser kleine Kerl schon im Wald war oder wie viel Blut er verloren hatte. Der rote Fleck im Schnee schien groß für so ein kleines Wesen. Der Hund trug weder Hundemarke noch Halsband. Er tat kaum mehr, als zu wimmern und zu zittern. Und sie musste auch Hailey wieder ins Warme bringen.

Ihre Mom wickelte sich den Schal vom Hals und gab ihn ihr. «Ich werde die O’Gradys anrufen. Ihnen gehört die Tierklinik in der Stadt. Geh schon. Ich bringe Hailey zurück in die Hütte …»

Hailey sprang auf und klammerte sich an Averys Jacke. Sie wimmerte kläglich, während ihr Blick durch die Gegend huschte.

«Sie will mitkommen.» Avery sah ihre Mom an. «Würdest du bitte ihren Mantel zumachen? Und dann ruf den Tierarzt an. Wir müssen los. Dieser kleine Kerl braucht Hilfe.»

***

Cade O’Grady starrte das kleine graue Kätzchen an, das Milch aus der Flasche in seiner Hand saugte. Der Fellball fand ohne Probleme Platz in einer seiner Hände. Wieder kochte Wut in ihm hoch, also atmete er tief durch und sah sich in seinem kleinen Klinikbüro um.

Es war spät, aber er hatte beschlossen, noch zu bleiben, um ein paar Akten auf den neuesten Stand zu bringen. Das war vor zwei Stunden gewesen, aber die besagten Akten warteten immer noch darauf, Beachtung zu finden. Nur gut, dass er geblieben war. Das winzige Kätzchen in seiner Hand wäre sonst gestorben, genau wie seine Mutter und Geschwister.

Was für ein Mensch stellte eine Kiste mit Kätzchen draußen vor einer Klinik in den Schnee? Cade hatte keine Ahnung, wie lang die Tiere den Elementen ausgesetzt gewesen waren – jemand hatte sie neben die Zwinger hinter der Klinik gestellt –, und das Kätzchen, das er gerade fütterte, hatte als einziges überlebt. Er knirschte mit den Zähnen, war so wütend, dass er den Mistkerl umbringen würde – wenn er ihn fand.

Glücklicherweise war dieses Kätzchen, das aussah wie eine Brasilianisch Kurzhaar, ein echter Kämpfer. Es hatte sofort angefangen zu fressen und brauchte keine Infusion. Temperatur und Blutdruck waren – angesichts der Umstände – in Ordnung gewesen, und er hatte keinen Hinweis auf Verletzungen gefunden.

Cade schloss die Augen und lauschte auf das Klicken des Anrufbeantworters am Empfang. Wenn es ein Notfall war, würde er angepiept werden, da er diese Woche Rufbereitschaft hatte. Animal Instincts war eine kleine Klinik, vor vierzig Jahren von seinem Vater gegründet. Nach seinem Tod hatten Cade und seine zwei Brüder die Praxis übernommen. Das war jetzt schon neun Jahre her. Kaum zu glauben.

Die Flasche war leer, also stellte er sie auf seinen Schreibtisch und musterte das Kätzchen. «Du bist wirklich süß.»

Es miaute zustimmend.

Er lachte zum ersten Mal an diesem Tag, dann rieb er sich den Hinterkopf. «Und so bescheiden. Ich glaube, ich nenne dich Candy. Verstehst du? Weil du so süß bist …»

«Miau.»

«Gut, dann wäre das geklärt.»

Das Kätzchen drehte sich ein paarmal um sich selbst, dann schlief es in seiner Armbeuge ein.

«Kann ich dir sonst noch etwas bringen? Ein Bier vielleicht?»

Es antwortete nicht. Sie. Sie antwortete nicht. Er sollte nicht mehr ‹es› zu dem kleinen Mädchen sagen.

Mit einem Kopfschütteln zog Cade eine Akte zu sich heran. Dann piepte sein Pager. Er fluchte. Gerade als er danach griff, hämmerte jemand an die Eingangstür.

Er sah auf das Kätzchen herunter. «Was für ein Scheißtag.»

Sie miaute schläfrig, als wollte sie ihm zustimmen. Wem sagst du das. Denk dran, was ich für einen Tag hatte.

Cade stand auf, legte Candy in eine mit Kissen ausgestattete Kiste, die auf einem Stuhl stand, und sah auf dem Weg zur Eingangstür auf seinen Pager. Das Hämmern wurde heftiger. Er erkannte die Nummer nicht, aber die Frau, die vor der Tür stand, war Justine Irgendwas. Sie führte einen Secondhandladen ein Stück die Straße runter.

Er schloss die Tür auf und öffnete sie. Zumindest schneite es nicht mehr. «Haben Sie mich angepiept?»

Sie eilte in die Klinik, gefolgt von einer Frau, die er nicht kannte, und einem kleinen Mädchen von vielleicht acht Jahren. «Ja, das war ich.» Justine schob sich ihr dunkles, vom Wind zerzaustes Haar aus dem Gesicht.

Er schloss die Tür, um den kalten Wind auszusperren, der von den Bergen heranwehte.

Die andere Frau hielt ihm etwas entgegen. Einen Welpen in einem Wollschal.

Cade musterte das Blut auf dem pinkfarbenen Mantel des kleinen Mädchens. Verdammt. Eilig setzte er sich in Bewegung und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. «Hier entlang.»

«Ich werde hier draußen warten», sagte Justine, deren Gesicht eine verdächtig grünliche Farbe zierte. «All dieses medizinische Zeug … hier draußen bin ich besser aufgehoben.» Sie ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen, als wollte sie ihre Aussage bekräftigen.

Im ersten Behandlungsraum zog Cade sich Handschuhe an, drehte sich um und griff nach dem Tier. «Was ist passiert?»

«Ich bin mir nicht sicher. Hailey hat ihn vor ungefähr einer halben Stunde im Schnee gefunden.» Die Frau sprach schnell, aber ihre Stimme war ruhig. Anscheinend störte das Blut sie nicht.

Vorsichtig setzte er den Welpen auf den Tisch und löste den Schal, um die Situation besser beurteilen zu können. Gelber Labrador. Männlich. Augen halb geschlossen. Lethargisch. Unterernährt. Ungefähr fünf oder sechs Wochen alt. Zitternd. Bein unter dem Knie abgetrennt. Das Blut war geronnen, die Wunde blutete kaum noch.

So eine verdammte Scheiße!

Er biss sich auf die Wange, dann zwang er sich, die Frau anzusehen. «Kommen Sie hier rüber und halten Sie ihn fest, während ich Verbandmaterial hole, bitte.»

Sein harscher Tonfall sorgte dafür, dass kakaobraune Augen sich weiteten. Sie wandte sich an das Mädchen. «Könntest du dich auf den Stuhl setzen, Liebling? Ich bleibe gleich hier drüben.»

Das Mädchen antwortete nicht. Stattdessen bewegte es nervös seine Arme und mied jeden Blickkontakt. Einen Augenblick später setzte es sich auf einen Stuhl in der Ecke. Es stand wahrscheinlich auch unter Schock.

Als die Frau sich langsam dem Untersuchungstisch näherte, entfernte sich Cade, um eine Infusion mit Kochsalzlösung zu holen und sie in der Mikrowelle zu erwärmen. Zusätzlich holte er eine Heizdecke, steckte sie ein und schob sie unter den Welpen. Er griff sich ein Otoskop und lehnte sich vor, um die Ohren des Hundes zu untersuchen.

«Wie lange war er draußen?»

Sie verlagerte ihr Gewicht, und ein fruchtiger Duft breitete sich aus. Nach irgendwelchen Beeren. «Ich weiß nicht. Wir …»

«Sie wissen es nicht», wiederholte er dumpf, bevor er das Maul des Welpen untersuchte. Das Zahnfleisch war bleich, aber die Zähne in Ordnung.

Er führte ein Thermometer ein, um die Temperatur rektal zu messen, und musterte die Frau. Er kannte nicht jeden in Redwood, aber sie hatte er ganz sicher noch nie gesehen. Sie hatte ein hübsches, pausbäckiges Gesicht. Lockiges braunes Haar ergoss sich unter der Mütze bis auf ihre Schultern. Sie musste ungefähr im selben Alter sein wie er. Ende zwanzig. Sie kaute so heftig auf ihrer Unterlippe, dass sie bereits leicht geschwollen war.

Gut. Sie sollte sich ruhig schuldig fühlen. Ein neues Haustier unbeaufsichtigt draußen zu lassen, war verantwortungslos. Außerdem zeigte der Welpe Anzeichen von Vernachlässigung. Sein Bein sah aus, als wäre er in eine Bärenfalle geraten. Da sie mit Justine gekommen war, musste er davon ausgehen, dass sie eine idiotische Touristin war, die eine der Hütten gemietet und keine Ahnung hatte, wie gefährlich die Berge sein konnten – oder die Tiere, die von den Bergen herunterkamen.

«Ist er geimpft? Hat er andere Probleme?»

«Ich bin mir nicht sicher. Er ist nicht …»

«Gibt es überhaupt irgendetwas, was Sie wissen?», blaffte er.

Sie klappte den Mund zu und sah zu ihrer Tochter hinüber, die inzwischen an die Decke starrte.

Sein Tonfall tat ihm sofort leid, aber verdammt, einen Hund zu vernachlässigen war wirklich das Letzte. Und er hatte das schon so oft gesehen. Leute besorgten sich ein Haustier, weil es süß war oder sie sich einsam fühlten, hatten aber keine Ahnung, wie viel Verantwortung damit einherging. Und dann wurden die Tiere ausgesetzt oder ins Tierheim gesteckt und vergessen.

Und er war auch die Touristen leid. Eines der Praxis-Haustiere verdankte er einem dieser dämlichen Touristen, der sich nicht die Mühe gemacht hatte, seinen einjährigen dänischen Doggenrüden abzuholen, nachdem er sich ein Bein gebrochen hatte und behandelt werden musste.

Menschen waren wirklich schrecklich.

Cade war der jüngste der drei O’Grady-Männer und galt als der umgängliche Bruder. Er konnte gewöhnlich gut mit den Tierbesitzern umgehen, und er fand immer etwas zu lachen, selbst wenn er schlechte Laune hatte. Heute allerdings nicht. Er hatte den Bluthund des alten Mr. Kiser einschläfern müssen – das erste Tier, das er als Tierarzt behandelt hatte –, einen zweijährigen Retriever hatte er an eine Magendrehung verloren, und er hatte die Kiste voller toter Kätzchen neben der Hintertür gefunden. Na ja, eins lebte ja noch.

So viel zum heutigen Tag. Was für eine Scheiße! Er hatte einfach keine Geduld mehr – besonders nicht für eine Frau, die wahrscheinlich gerade ihrer Tochter das Herz gebrochen hatte, indem sie ihr Haustier in Gefahr gebracht hatte.

Er zog das Thermometer heraus und stellte fest, dass die Körpertemperatur zwar niedrig war, aber es war bei weitem nicht so schlimm wie befürchtet. Er steckte sich die Stöpsel seines Stethoskops in die Ohren und hörte Herz, Lunge und Bauch ab. Nichts Besorgniserregendes. Der Blutdruck war auch in Ordnung. Der kleine Kerl hob den Kopf und wimmerte, als Cade versuchte, sein Bein zu untersuchen.

«Ich weiß, Kleiner. Tut weh, hm? Du bekommst gleich was gegen die Schmerzen.»

Das Blut war geronnen, doch auch wenn die Wunde nicht infiziert aussah, würde der Hund operiert werden müssen, um den Rest des Beins an der Hüfte zu amputieren. Doch zuerst musste er sicherstellen, dass das Tier stabil war. Er würde ihm eine Infusion legen, Antibiotika geben und den Blutverlust ausgleichen.

Cade richtete sich auf und wandte sich mit verschränkten Armen der Frau zu. «Für den Moment ist er in akzeptabler Verfassung, was mich sehr überrascht. Die Vitalzeichen sind ein wenig niedrig, aber grundsätzlich normal. Wenn er sich in ein paar Stunden auch noch so gut hält, werden wir ihm den Rest des Beins amputieren. Er wird ein paar Tage hierbleiben müssen.»

Cade hielt inne und wartete darauf, dass sie etwas sagte. Als sie ihn in einer Mischung aus Sorge und Verwirrung anstarrte, schüttelte er den Kopf. «Das wird teuer, Ma’am.»

Auch wenn ihn das kaum interessierte. Wenn sie jetzt einfach ging und den Hund zurückließ, würde er trotzdem alles Nötige unternehmen, um den Welpen zu retten. Auf eigene Kosten. Sobald es dem Welpen wieder gutging, würde Cade versuchen, einen neuen Besitzer zu finden, oder er würde auch zum Praxis-Haustier werden. Auf jeden Fall würde er kein Tier einschläfern, nur weil es eine Beinverletzung hatte. So was tat er nur, wenn es keine andere Wahl gab.

Sie rieb sich die Stirn. «Kann er mit drei Beinen leben? Laufen, meine ich? Ich weiß nicht viel über …»

Cade knirschte mit den Zähnen. «Menschen kommen doch auch ganz gut mit nur einem Bein klar, oder? Er ist jung. Er wird sich daran gewöhnen. Ja oder nein, Ma’am?»

Überrascht sah sie ihn an. Mit ihren großen Augen, den vollen Lippen und der Stupsnase hätte sie ziemlich umwerfend sein können, wenn er nicht so gegen sie eingenommen wäre. «Ich … ich bin mir nicht sicher, was Sie wissen wollen.»

Er schloss kurz die Augen und betete um Geduld. «Die Heilung wird eine Weile dauern. Zusätzlich zur OP muss die Pflege bezahlt werden. Sind Sie dazu bereit? Wenn nicht, können Sie einfach gehen. Entweder er ist Ihr Hund, oder er ist es nicht.»

«Er ist …» Ihre braunen Augen huschten zum Behandlungstisch. Überraschung flackerte in ihnen auf. Dann schlug sie die Hand vor den Mund, und Tränen stiegen ihr in die Augen.

Cade bedachte sie mit einem kritischen Blick und drehte sich um.

Das kleine Mädchen streichelte den Kopf des Welpen, sie hatte ihr Gesicht an seinem Hals vergraben. Sie sagte nichts und schien auch nicht aufgebracht, aber dem Welpen gefiel auf jeden Fall, was sie tat. Sein Schwanz klopfte schwach auf den Tisch, und seine vertrauensseligen Augen ließen das Mädchen nicht aus dem Blick. Sie schienen bereits eine Verbindung zu haben, was es nur noch schlimmer machen würde, falls diese Frau jetzt ging und nicht mehr zurückkam.

Er drehte sich wieder zu der Mutter um und zog fragend die Augenbrauen hoch, doch sie beachtete ihn gar nicht. Stattdessen beobachtete sie das Mädchen und den Welpen mit einem zögernden Lächeln, ihre Überraschung war offensichtlich. Wieso überraschte sie das? Kinder liebten Tiere. Und es war schließlich ihr Hund. Erschien logisch, dass das Mädchen sich aufregte, weil der kleine Kerl verletzt war.

Auch wenn dieser Moment gerade offenbar wichtig für sie war, konnte er nicht länger warten. Er musste die Infusion legen. «Ma’am?»

Sie zuckte zusammen, dann sah sie zwischen ihm und dem Tisch hin und her. Nach einer Sekunde sammelte sie sich und wischte sich über die Augen. «Ja. Er ist unser Hund. Tun Sie, was auch immer nötig ist, um ihm zu helfen.» Wieder wurde ihr Blick sanft. Sie trat näher an den Tisch heran und tippte dem Mädchen auf die Schulter. «Zeit zu gehen, Liebling. Der Doktor hier wird … ihm … helfen. Wir werden morgen nach ihm schauen, okay?»

Wie seltsam, dass sie nicht versuchte, ihr Kind zu trösten. Nicht den Arm um das Mädchen legte oder es drückte. Irgendwas. Blut klebte auf dem Mantel des Mädchens, und sie war zweifellos traumatisiert, weil ihr Hund verletzt worden war. Und doch stand diese Frau da, als hätte sie kein Herz im Leib und keinen Funken Mitgefühl.

Deswegen mochte er Tiere lieber als Menschen. «Wie heißt der Hund?»

«Oh. Ähm …»

Er seufzte. «Lassen Sie mich raten. Sie wissen es nicht.»

Für einen Moment flackerte Ärger in ihren Augen auf, doch dann sah sie wieder zu ihrer Tochter. «Sein Name ist …» Sie legte den Kopf schräg, und ihre schokoladenbraunen Augen nahmen einen versonnenen Ausdruck an. «Seraph. Er heißt Seraph.»

«Seraph?» Es gelang Leuten nur noch selten, ihn zu überraschen. Er hätte Lucky oder Champ oder irgendetwas in der Art erwartet.

«Das ist ein anderes Wort für Engel …»

«Ich weiß.» Zumindest dafür bekam sie ein paar Bonuspunkte. «Fahren Sie nach Hause. Ich werde Justine morgen früh nach ihren Daten fragen. Sie können ihn während der Öffnungszeiten besuchen.»

Sie nickte und kniete sich neben ihre Tochter. «Komm, Liebling. Wir werden ihn morgen wiedersehen.»

Sobald sie verschwunden waren, legte Cade die Infusion mit der warmen Kochsalzlösung, um den Hund ein wenig aufzuwärmen und die Antibiotika-Behandlung zu beginnen. Er nahm ein wenig Blut für ein Blutbild ab, um den Thrombozytenwert zu bestimmen, dann checkte er noch einmal die Vitalwerte. Der kleine Kerl hielt sich tapfer. Er war froh, dass es dem Welpen so gutging. Schließlich schob er einen Stuhl an den Behandlungstisch und nahm sein Handy heraus.

Drake würde sauer sein, aber das hier konnte nicht bis morgen früh warten. Der Hund musste operiert werden, und sein ältester Bruder war nun einmal der Chirurg der Klinik. Cade hätte auch selbst operieren können, aber er wollte seinen Tierarzthelfer nicht wecken, und außerdem war Drake besser.

«Ich habe keine Rufbereitschaft.»

Cade grinste. «Vielleicht habe ich dich ja einfach nur vermisst.»

Es folgte ein langer Moment des Schweigens. «Was willst du? Und damit meine ich, dass du besser bis zum Hals in Windhunden steckst, die meine chirurgischen Fähigkeiten brauchen. Es ist fast Mitternacht.»

«Ich habe hier einen Labradorwelpen, der eine Amputation braucht. Zählt das?»

Drake stöhnte. «Ist er stabil?»

Cade unterdrückte die Schimpftirade, die ihm auf der Zunge lag. Es war ja nicht so, als wäre er es nicht gewohnt, unterschätzt zu werden. «Ich bin kein Idiot, weißt du? Ich habe einen Abschluss und alles. Ich bin mir sogar sicher, dass ich Veterinärmedizin buchstabieren kann, wenn ich mich ernsthaft anstrenge …»

«Bin in zehn Minuten da. Bereite den OP vor.»

Cade schob sein Handy wieder in die Tasche und kraulte dem Welpen die Ohren, was ihm ein schwaches Schwanzwedeln einbrachte.

«Seraph.» Er schüttelte den Kopf. «Deine Besitzerin ist wirklich eine Nummer. Und ziemlich hübsch. Sie hat dir einen tollen Namen gegeben, selbst wenn sie dich draußen im Schnee gelassen hat, die fiese Hexe.»

Noch ein Wedeln.

«Ich muss jetzt den OP für meinen mürrischen Bruder vorbereiten, aber ich bin gleich zurück. Bleib einfach kurz hier liegen.» Er streichelte dem Welpen den Rücken. «Ich verspreche dir, dass wir dich in Ordnung bringen. Bald bist du so gut wie neu.»

Wedel, wedel.