Das Sonnenlicht der
Kindheit hat immer
einen anderen Glanz.
Rafael Chirbes
Eine kurze Einführung in die Kindheitsbucht, die ersten Tiere erscheinen in der Wirklichkeit, aber auch in Hotel- und Häusernamen
Im Jahr 1967 begann der Mallorca-Boom, sowohl der deutsche wie der unsrige. Ich war noch klein, erst ein Jahr alt, aber meine Eltern und meine Schwester, die schon sieben war, redeten in diesem Sommer auf die Esel ein, die auf den trockenen goldfarbenen Wiesen herumstanden, uns zuhörten und schauten, als ob sie etwas wussten oder sich dachten oder immerhin ahnten.
»Esel heißt burro«, sagte mein Vater. Kam einer von uns dem jeweiligen Esel zu nah, mahnte mein Vater zur Vorsicht: »Provoziert ihn nicht, er schnappt sonst unweigerlich.« Ich habe aus dem Mund meines Vaters außer dem Namen meiner Mutter kein Wort so oft gehört wie unweigerlich.
Im Sommer des Jahres 1967 lebten wir im Nordosten Mallorcas, in der kleinen Bucht von Canyamel zwischen Cala Ratjada und Son Servera, in einem würfelförmigen Haus mit hellblauen Fensterläden. Das Haus hieß Le Bœuf, das Rind, keiner weiß mehr, warum.
Heute vermuten die Leute in Canyamel, und so auch mein Freund Juan, der Direktor des Hotels Laguna: weil das Le Bœuf einst von algerischen Auswanderern hier hingebaut worden war, den pieds-noirs, die in ihrer Heimat wie später auch in Frankreich behandelt wurden wie Dreck, also zogen sie an den Llevant und schauten von der anderen Seite auf das Meer. Das Haus steht heute noch an derselben Stelle, heißt aber nicht mehr Le Bœuf, es ist zugewachsen, und neben dem Haus ist eine Baubrache, in der, wie so oft in Spanien, und vermutlich im Jahr der großen Krise 2008, etwas angefangen und dann nicht beendet wurde. Es gibt dann noch ein paar bescheidene und ein paar bessere Ferienhotels, und bleiche Urlauber ziehen im Ort Frauen und Kinder hinter sich her, als sei auch dieser Urlaub, wie alles andere daheim in Deutschland, vor allem etwas, das bewältigt werden muss.
Im Jahr 1967 war es kahl und alleine, das Haus, so wie heute manchmal Häuser in preisgekrönten Fotografien im Algerien Albert Camus’ herumstehen, daneben nur ein paar wenige Häuser in zweiter Reihe. Unter Schweizer Führung lag direkt am Strand das Hotel Laguna, erbaut 1963, da waren aber nur die ersten drei Stockwerke fertig, dann war erst einmal kein Geld mehr da gewesen. Endgültig sechs Stockwerke hat es erst seit 1964. Meine Mutter hätte gerne im so verheißungsvoll dastehenden Laguna Urlaub gemacht, aber mit der Globalisierung des Reisewesens war es noch nicht weit her. Der Reiseunternehmer Alfred Erhart, der das Laguna baute, war Schweizer, sein Unternehmen Universal Reisen war ein Schweizer Unternehmen, also machten dort Schweizer Urlaub, keine Deutschen.
Am Strand lag meine schöne Mutter, sie wendete sich zum mystischen Laguna um, das weiß mit seinen hübschen roten Fensterläden dastand, als wäre dies hier Miami oder die Côte, und wieder und wieder sagte meine Mutter traurig: »Es ist in Schweizer Hand, es ist nur für Schweizer.«
Weiter hinten wurde von Herrn Gero Gödecke aus Hannover gemeinsam mit dem aus Argentinien ausgewanderten Miguel Blanche das kleine Hotel Mi Vaca Y Yo (Meine Kuh und ich) erbaut. Hier nun würden wir in den folgenden Jahren wohnen, wenn wir nach Canyamel kamen. Anders als im Le Bœuf gab es in der Vaca Service. Miguel Blanche bewohnte in seinem Hotel ein winziges, gegen die Sonne abgedunkeltes, kühles, vertrauenerweckend nach Zigarrenrauch und einem süßen spanischen Herrenparfüm duftendes Apartment in Parterre mit Wuchtmöbeln, Zierdecken und einem Ölgemälde, das die argentinische Pampa zeigte. Mit weißem Hemd, Pullunder, nur matt schattierter Sonnen-/Weitsichtbrille, mit geöltem, nach hinten gekämmtem Haar und einem Schnurrbart patrouillierte er gemeinsam mit dem Schäferhund Chico durch den botanischen Vorgarten des Hotels. Miguel schnarrte mit dem Personal, mit den Gästen. Sah er mich, legte er seine behaarte argentinische Hand auf meinen damals noch sehr kleinen rheinischen Kopf und brüllte: »Caballero!« Lange lag die Hand auf dem Kopf. Endlich war etwas los. Meine einheimischen Freunde Patricia und Pedro machten seit zwei Stunden Siesta und noch eine weitere Stunde würden sie fehlen. Täglich von dreizehn Uhr bis sechzehn Uhr fehlten sie. Ich wusste, dass man sich mittags hinlegt. Mein Vater machte es daheim und im Urlaub auch so. Aber wieso fehlten Patricia und Pedro so lange?
Ich nahm an, dass sie unter einer Krankheit litten, offenbar wurden sie jeden Tag gewissermaßen ohnmächtig und mussten sich erholen, ich musste Rücksicht nehmen. Seine Hand auf meinem Kopf. Seine großen Augen glotzten durch die getönte Brille. Ich stand kerzengerade.
»Miguel?«
»Wo ist der Papa, Caballero?«
»Weiß nicht.«
»Was machst du?«
»Weiß nicht.«
»Du weißt nicht, was du machst? Wo ist die Mama, Caballero?«
»Weiß nicht.«
Dann beugte er sich herunter, ich durfte seinen Schnurrbart berühren, ein schwerer schwarzer Balken, von dem meine Schwester erzählt hatte, der Balken sei ein Tier, es sei aber tot. Ich hatte ihr nicht geglaubt, aber wer weiß, ich berührte den Balken immer nur vorsichtig.
Die Vaca war ein längliches, zweistöckiges Apartmenthaus, etwas weiter hinten im Ort, eine schmale Straße führte hinauf. In wenigen Jahren wuchs alles drum herum zu, und dass alles zuwuchs und Schatten und Sauerstoff spendete, das war das Ziel. Blüten, groß wie Fußbälle. Der Name für das Hotel Mi Vaca Y Yo wurde von Miguel Blanche der Legende nach in Sekunden erfunden, und zwar erst, als das Hotel Ende 1967 fertig gebaut war. Zwar gibt es in Canyamel die Theorie, dass die Vaca zu ihrem Namen kam, weil bis zum Bau der Vaca nun mal Kühe auf jener Wiese herumgestanden hatten (in ganz Canyamel standen bis dahin Kühe herum und eben Esel). Aber Miguel hatte die bessere Geschichte, und wer die bessere Geschichte hat, geht als Sieger vom Platz.
Die bessere Geschichte: In das Restaurant seines argentinischen Heimatdorfes in der Pampa kam eines Tages, als Miguel Blanche noch klein war, ein alter Mann, und zwar nicht alleine. Als der alte Mann das Lokal betreten hatte, wunderten sich der kleine Miguel und sein Vater über den gespannten Strick, den der Mann in der Hand hielt und der nach draußen führte. Er knurrte nach hinten, zog an dem Strick, und so folgte dem Mann ins Lokal eine Kuh.
Der Wirt brüllte: »Wer seid ihr denn?«
Der Mann brüllte: »Wer? Wir?«
»Wer sonst?«
»Wir sind meine Kuh und ich!«
Dann trank der Mann ein Bier, aß einen Teller Bohnen und ging mit der Kuh wieder hinaus. (Damals wurden noch nicht viele Worte gemacht.)
So weit die Legende. Tiere: Chico, der Hund, das Hotel Meine Kuh und ich, dann die Sache mit den Eseln. Wir waren fanatisch hinter Eseln her, wir umarmten und küssten sie. Wurden wir ihrer habhaft, zogen wir an ihnen und klopften auf ihnen herum, machten Fotos, lasen Bücher über sie, sogar Bücher, in denen sie laut Titel eine Rolle spielten und dann doch kaum vorkamen. In meinem Bücherregal steht heute noch eine schwere, alte Ausgabe von »Der Mann auf dem Esel« der britischen Historikerin Hilda Francis Margaret Prescott (1896–1972), erschienen Anfang der 1950er-Jahre. Mein Vater war an historischen Büchern so interessiert, wie er im Grunde an allem ständig interessiert war, aber Prescotts fast achthundert Seiten starkes, mit aufwendigen Landkarten versehenes Werk über Heinrich VIII. hatte ihn offenbar enttäuscht. Irgendwann einmal zog ich das Buch aus dem Regal und fragte ihn: »Gut?«
Er schaute über die Kante der Zeitung, wischte den Zigarettenrauch aus der Luft, er war in Gedanken, und wenn das so war (und es war oft so) und man störte ihn, benahm er sich, als habe man ihn geweckt. Er legte die Zeitung runter, er kam von weit her, er fragte: »Was ist das für ein Buch? Bring nicht die Bücher durcheinander!«
»Prescott, Der Mann auf dem Esel. Ist es gut?«
Er schob sich wieder hinter die Zeitung, ich hörte eine Weile nichts, er inhalierte, eine neue Rauchwolke, dann sagte er: »Esel kommen quasi nicht vor.«
Lebende Tiere spielten in unseren Urlauben eine große Rolle. Daheim am Niederrhein interessierten Tiere uns wesentlich, wenn sie tot und zubereitet worden waren. Lebend fanden wir vor allem die Vögel im Garten schön. Dann hatten wir noch einen störrischen Hund, dem ich mal den Rindermarkknochen abnehmen wollte, um ihn fertig abzunagen. Ich war damals noch klein, aber immerhin kurz vor der Einschulung, meine Mutter hörte das Geknurre und führte mich vom Hund weg, der immer, wenn ich mich linkisch näherte (»Na, alles okay?«), kurz aufhörte zu nagen und die Zähne fletschte.
Der Hund ging nicht gerne Gassi, er ging einige Schritte und setzte sich dann so lange auf den Bürgersteig, bis wir mit ihm wieder hineingingen. Meine Mutter blieb beim Warten auf den Hund mondän. Sie fuhr sich durch die dunklen Locken, zupfte an ihrem lilablauen Missonimantel herum, schaute auf den Hund herunter und machte einen schiefen Mund. Man sah sie auf der Bonhoefferstraße dann eine Weile auf den Hund einreden, der sie nicht anguckte. Dann zündete sie sich eine Zigarette an und rauchte sie in Ruhe zu Ende, während der Hund erst saß und sich dann hinlegte. Langsam schüttelte meine Mutter den Kopf und ging schließlich mit dem Hund wieder hinein.
Ging mein Vater mit dem Hund Gassi, hörte man ihn sogar durch das geschlossene Küchenfenster reden, denn mein Vater nahm dem Hund sein Verhalten übel, anders als meine Mutter fühlte er sich vom Hund provoziert. Zwar rauchte auch er, aber dabei schnauzte er auf den zwischen seinen O-Beinen herumliegenden Hund ein: »Allez-hop!« Er ging einige Schritte vor. »Woooooosses Herrchen? Geeeehdes Herrchen allein zum Rhein?« So weit reichte daheim das Interesse an den Tieren, die nicht die geliebten Vögel im Garten waren.
In der Ferne hingegen, in Canyamel, trafen wir keine Tiere, sondern sie erschienen uns, Tiere aller Art, sie spielten eine Rolle, und wie man sehen wird, wird das nach meiner Rückkehr in die Bucht viele Jahrzehnte später wieder so sein: Ich werde mit Pferden und Eseln reden, mit Möwen, Kormoranen und Bergziegen, über einige Monate, die ich als inzwischen fünfzigjähriger Mann alleine in Canyamel verbringen werde, also ohne meine Frau, meine Tochter und meine Söhne. Ich werde, da ich nicht immer meinen alten und neuen mallorquinischen Freunden auf die Nerven fallen darf mit meinen vielen Fragen, Weisheiten und Gefühlen: mit diesen Tieren sogar das eine oder andere längere Gespräch führen. Außerdem werde ich beim täglichen Morgenbad im Meer, also meiner Schwimmtour zum Embarcador del Rei, plötzlich einem Delfin begegnen, immerhin sehe ich seine Flosse direkt vor meiner Schwimmbrille auftauchen. Wenn man die Flosse eines Delfins sieht, zumal, wenn man schon eine Dreiviertelstunde geschwommen ist, verharrt man nicht, niemand hat einem das wunderbare Ereignis angekündigt, und so ist man dann halt überrascht. Ein Delfin, wie romantisch. Dann, kurz danach schon, denkt man: Und wenn es die Rückenflosse von einem anderen Tier ist? Schnell schwimmt man an den Strand zurück. Angst macht dumm.
Miguel, der mit seinem Schnurrbart und mit Chico auf vielen unserer Urlaubsfotos herumsteht, meine Mutter, meinen Vater, meine Schwester im Arm, mich auf dem Arm, er war damals, Ende der 60er, Anfang der 70er, schon sehr, sehr alt, wie mir schien, Mitte vierzig. Heute sind alte Menschen immerhin von Weitem nicht mehr so gut von den Jungen zu unterscheiden, denn auch alte Menschen (allerdings keine alten Mallorquiner, nur alte Deutsche) tragen in unseren Sommern T-Shirts, auf denen »Rave Society« steht oder »Markisen Klaiber«, oder es steht dort »Elektro Loibl« und drunter eine Telefonnummer und »www.elektro-loibl.de«.
Vor Jahren kaufte mein Freund Juan Massanet, der Direktor des Laguna, die runtergekommene, verschimmelte Vaca. Es kam zu einer Totaloperation außen und innen, helle Farben, die alte dunkle Bar raus, eine neue weiße Bar rein, statt Bedienung ein Buffet und ein neuer Name: Canyamel Sun. Als ich Juan im Sommer 2016 sage, dass der alte Name Mi Vaca Y Yo schöner war als Canyamel Sun, fragt Juan mich, ob ich ihm den schönen alten Namen bitte erklären könne, denn: »Meine Kuh und ich – auf Spanisch, welcher Tourist soll sich diesen Namen merken, mein Freund, hm?«
»Wir haben ihn uns gemerkt, Juan.«
»Ihr seid ja auch verrückt gewesen. Ihr habt mit Eseln geredet. Kein Mensch kann mit einem Namen, in dem eine Kuh vorkommt, heute etwas anfangen. Leute, die mit Eseln reden und ganze Spanferkel verschlingen, die vielleicht. Sonst niemand.«
»Mi Vaca Y Yo ist ein poetischer Name, Juan. Die Poesie ist rätselhaft. Es ist nicht schlecht, wenn Dinge rätselhaft sind. Sie tragen ein Geheimnis in sich. Dinge, die ein Geheimnis in sich tragen, machen süchtig. Das Problem heute ist nicht, dass die Dinge zu rätselhaft sind, im Gegenteil: Es ist vieles zu banal. Das macht uns alle fertig, dich doch auch, Juan, ich weiß es.«
»Was redest du da?«
»Ich versuche es dir zu erklären.«
»Du bist verrückt.«
Dann schaut er traurig in sein Whiskyglas. Sofort verzeihe ich ihm alles. Still und zärtlich sitzen wir nebeneinander.
»Vielleicht ist der neue Name nicht besonders originell«, sagt er plötzlich. »Aber so heißt die Vaca jetzt nun mal. Ich kann den Namen nicht wieder ändern. Die Vaca heißt jetzt Canyamel Sun.« Er tut mir jetzt so leid, dass ich ihn umarme. Was maße ich mir an, meinem eingeborenen und hier sein Leben lebenden Freund mit blasierten Vorschlägen zu kommen? Ich Arschloch.
Juan erhebt sich, wie immer fasst er sich dabei kurz an den unteren Lendenwirbel und verzieht das Gesicht im Schmerz. (No sports.) Dann geht er in sein Büro und kehrt mit einer alten Kachel zurück, in eine Serviette verpackt: »Ein Geschenk. Diese Kachel habe ich bei der Renovierung gerettet, mein Lieber.«
Die Kachel ist hellblau, darauf in Dunkelblau eine tuscheartige Zeichnung, die davon erzählt, was es 1967 bedeutete, in den Urlaub zu fahren: ein Mann mit Pagenschnitt, Hut und im Anzug, untergehakt eine fast schon asiatische Märchenprinzessin, seine Frau mit einem Vogelkäfig (das Vögelchen kommt also tatsächlich mit in den Urlaub), etwas dahinter schwebt mit zwei Köfferchen und Flügeln das Kind. Unterhalb des Motivs das Signet der Vaca: die Kuh unter dem Sonnenschirm. Urlaub in der Vaca, so erzählt diese Kachel, auf die ich im Sommer 2016 starre wie auf ein Artefakt aus dem Bernsteinzimmer, das war damals, in den Jahren ab 1967 leicht, heiter und schön. Zwar war der massenhafte Andrang aus Nordeuropa nach Spanien wesentlich eine Erfindung des Diktators Franco gewesen, es sollte Geld ins Land. Aber die Menschen, wir, durften Vögelchen in Volieren mitnehmen. Kindern wuchsen Flügel auf dem Weg an diesen Traumort.
Ich umarme Juan und bitte ihn um Verzeihung für meinen blasierten Auftritt von eben. Ich denke an die mit Kuhfell überzogenen Barhocker aus der Vaca, an die Sodaflaschen mit dem Sprühhebel aus glänzendem Chrom, mit denen ich 1970 den Frauen aus Hannover, Düsseldorf und Bremen ins Gesicht sprühte, weil es jedes Mal eine Freude war, wie sie losquiekten und ein Aufruhr in dem schmalen, nach Rauch, Anisschnaps und Parfüm riechenden Raum losbrach. Ich, bei meinem Vater auf dem Arm, irgendwann einschlafend, den Kopf auf seiner Schulter, im Rauch, im Lärm, mit der Nase in seinem Eau de Toilette von Dunhill.
Es ist egal, wohin ich reiste in den Jahrzehnten seit meinem Abschied aus Canyamel: Der nur wenige Hundert Meter lange, durch bewaldete Hügel und prächtige Steilwände kinderbuchgleich akkurat eingegrenzte Ort, das Wasser, die Lagune, die lächerliche Ladenstraße, die Menschen von hier – Möglichkeit des Paradieses, Traumort, Kindheitsbucht.
Ich bin das Kind von der Kachel.
Ich beschließe, nach Canyamel zurückzukehren. Alle erklären mich für verrückt, müssen dann aber einsehen, dass ich genial bin
Im Frühjahr 2015 sagte der italienische Premier Matteo Renzi im Angesicht der Flüchtlingskrise und so vieler Gestrandeter und Toter: »Das Mittelmeer ist eine Bestie.« Zur selben Zeit hörte ich, als ein Busfahrer der Linie 185 der Münchner Verkehrsgesellschaft den anderen ablöste, wie sich die beiden Männer über ihre Urlaube unterhielten. Der eine Fahrer sagte, er komme gerade aus Jamaika. »Supa, oder?«, fragte der andere. »Ja … scho«, sagte der eine, als habe er noch mal eben nachdenken müssen, während er den Bus die letzten Meter in die verregnete Haltebucht lenkte, aber auch so, als habe er im Grunde genommen keine rechte Erinnerung mehr an Jamaika. Der andere: »I fliag nach Vancouver mit der Soffi nexte Woch.« »Aa ned schlecht.« Ich kam gerade aus einem Redaktions-Hochhaus im Münchner Stadtteil Berg am Laim, den mein Freund Matthias so hässlich findet, dass er ihn Dreck am Stecken nennt. Ich dachte: Früher sind Busfahrer nicht in die Karibik oder nach Kanada geflogen. Gut, dass sie es jetzt tun, wenn sie wollen, die netten Leute der MVG, die mich immer überall in der Stadt aufsammeln und mitnehmen.
Ich hingegen werde nach Mallorca zurückkehren, ans Mittelmeer, das Menschen verschlingt und in dem andere, glücklichere Menschen baden. Ich werde nachschauen, ob es den Ort meiner Kindheit noch gibt, Canyamel, die Menschen von Canyamel, zum Beispiel Teo und María, die Freunde meiner Eltern, die damals so jung waren wie meine Eltern und die jetzt sehr alt sein müssen. Wenn sie noch leben. Ihre Kinder Patricia und Pedro, die jetzt so alt sein müssen wie ich, um die fünfzig. Wenn sie, was wahrscheinlicher ist als bei ihren Eltern, noch leben.
Ich möchte wissen, was aus der Vaca geworden ist, unserem kleinen Hotel, das ich in den Reiseportalen im Internet nicht mehr finde. Ich finde dort aber das alte Hotel Laguna, und es sieht auf diesen Bildern so schön aus wie immer. Stolz steht es am Strand mit seinen immer noch roten Fensterläden. Ein fabelhafter Sommerfrischler. Eine Ikone. Das Laguna behauptet offenbar die Stellung, und es gehört tatsächlich immer noch dem Unternehmen Universal Reisen, nicht irgendeiner Group. Es ist immer noch in Schweizer Hand. Aber Urlaub machen darf dort jetzt jeder. Jeder darf heute alles, reisen, schreiben, kaufen, Meinung sagen, alles fordern, alles zurückschicken, die Welt hat die Türen aufgerissen.
Zwei Vorhaben wurden mir in den letzten Jahren vergeblich ausgeredet, beide haben erst einmal nichts, dann doch vieles miteinander zu tun. Zum einen bewege ich mich seit nunmehr drei Jahren ohne eigenes Auto durch München und die Welt, zum anderen bin ich nach Mallorca zurückgekehrt.
Zunächst also legte ich den Schlüssel für den komfortablen Dienstwagen in die Hände des fassungslosen Herrn von der Leasingfirma. Ich mochte nicht mehr jeden Tag zwei Mal unter Hitlers Balkon am Münchner Prinzregentenplatz im Stau stehen und kaufte mir stattdessen ein neues schickes Fahrrad und ein Jahresticket bei den Münchner Verkehrsbetrieben. Wieso sollte man, nur, weil die anderen es auch tun, mit der vom BMW-Bordcomputer hämisch errechneten Durchschnittsgeschwindigkeit von zwölf Stundenkilometern zur Arbeit fahren und am Abend in Schwabing fünfundvierzig Minuten lang einen Parkplatz suchen? Als verzweifelte, tonnenschwer gepanzerte, dem Tode geweihte Kriechtiere kurvten meine Nachbarn und ich in unseren pfeilschnell gedachten, böse schauenden, total überkomplexen Todesmaschinen durch unsere Privilegiertenviertel mit ihren Altbaustraßen.
Ich muss mich nicht mehr um den Wagen kümmern und ihn erst heimbringen und derlei Sachen. Ich muss nicht mehr im BMW-Innovations-Laboratorium zwei Stunden lang die Windjacken und Leichtmetallfelgen in der Auslage betrachten, während die Bordelektronik für meine 12-km/h-Fahrten neu programmiert wird oder mein Wagen seine Sommerreifen bekommt, mit denen er endlich wieder 250 km/h fahren könnte, wenn es nicht so viele andere Autos gäbe. Ich war mit Auto ein neurotischer Mensch, der sich mit anderen Menschen durchs offene Fenster anpöbelte.
»Fick dich!« – »Fick du dich!«
Dialoge wie dieser waren deprimierend. Die Langeweile ist eine tödliche Macht. Trump und der Brexit und die AfD, all dies passierte in diesen Jahren weniger aus Not. Es passierte aus Langeweile, aus klammernder, stumpfer Sinnlosigkeit. Die Leute werden dann paranoid. So konnte es nicht weitergehen.
Tatsächlich lag meinem Vorhaben, nach Canyamel zurückzukehren, nicht nur der Plan zur Rückeroberung des Kindheits-Paradieses zugrunde. Da war noch der Gedanke der Abrüstung, und die hatte beim Verzicht auf den Dienstwagen schon funktioniert. Canyamel war nicht nur eine sentimentale Chance, die furchtbar enden konnte. Sondern auch eine praktische. Ich wollte kein teures Haus mieten mit insgesamt zehn Leuten in abgelegenen Gegenden am Atlantik oder in der Toskana und dort dann jeweils in Supermärkten gigantische Einkaufswagen herumschieben.
Im Laguna zu wohnen, hieß, Zeit für sich zu haben. Es hieß, sich um nichts kümmern zu müssen, nicht zum Strand fahren zu müssen, weil es am Strand steht, kein Essen kaufen und kochen zu müssen, weil das Hotel das Essen kauft und es für einen kocht. Es hieß, keine Wäsche waschen zu müssen, weil das Hotel die Wäsche wäscht, und wenn man sich also bald langweilte und schon fünfmal in Artà war und siebenmal in Cala Ratjada, hieß es allerdings auch: Okay, dann jetzt doch mal das abendliche Entertainmentprogramm auf der Hotel-Terrasse, einschließlich des wöchentlichen Bingo-Abends. Es hieß kennenzulernen: Alte, Junge, Kinder, Kleinkinder, Babys, Deutsche, Schweizer, Beamte, Angestellte, Trauernde, Hoffende, Hessen, Storchenbeinige mit in der Mitte plötzlich gigantisch abstehenden, schwangerschaftsgleichen Bäuchen, Grippekranke, Durchfallkranke, Gesunde, Alleinreisende, Alleinreisende mit Kind, Alleinreisende mit Kind in der Gruppe, um sich kennenzulernen, einen Antifaschisten mit »Niemand-muss-Bulle-sein«-Shirt, einen möglicherweise Deutschnationalen, der jeden Tag mit einem weißen T-Shirt, auf dem schlicht »Deutschland« steht, böse sein Müsli reinbaggert, während seine Frau verängstigt am Käse herumschneidet, ein (!) Hipsterpärchen, das jede Kuchengabel im Laguna bestaunt, als sei es auf einem ironischen Flohmarkt. Es hieß auch: Konservative, Männer mit SPD-Stofftaschen, Steinalte mit Billy-Idol-Frisuren, sowieso Totaltätowierte, Freundliche, Bescheuerte, junge, hübsche Paare mit unfassbar niedlichen, schnullerspuckenden Kindern, Freche, Lustige, die brillanten Kafka-Biografien von Reiner Stach stoisch, mitunter wissend lächelnd am Pool Weglesende, Humorlose, geistig Behinderte, die als einzige Hotelgäste am Showabend mit dem galizischen Tom-Jones-Tribute-Sänger John Romero den Spaß ihres Lebens haben und tanzen, tanzen, tanzen, körperlich Behinderte, komplett Nicht-Behinderte, aber im Gegensatz zu den Behinderten Gehemmte – es hieß: andere Menschen, es hieß: Bevölkerung.
Menschen sind das, von denen sich viele schon seit Jahr und Tag hier im Laguna, dem Hotel des Volkes, einmieten, weil das Leben ist hart genug.
Schnell und vorsichtshalber beschloss ich, alles, was ich sonderbar oder unangemessen finden würde, mit Humor zu nehmen. Danach würde ich sicher auch mal wieder Lust auf ein Haus mit Freunden an der Atlantikküste haben, wie damals im wunderschönen St. Girons zwischen Biarritz und Bordeaux. Aber noch war nicht Danach, noch war Jetzt beziehungsweise Vorher: Und die Süchtigen dieser Welt wissen, dass die Minuten vor dem Kokain immer die besseren sind als die mit dem Kokain.
Der Plan zu dieser Vollpensionsreise klang nicht cool, und das Gute an fünfzig Lebensjahren ist dann, dass einem das, wie anderes auch, egal ist. Wer sein Leben jetzt nicht lebt, für den ist es bald zu spät. Trotzdem beschloss ich, dem Unterfangen einen durchdachten, ironischen Anspruch zu geben, mich also wichtigzumachen und die Sache anders zu verkaufen, nämlich als aufregende Rückkehr in meine Kindheitsbucht.
Viele Menschen halten Journalisten für kleine niederträchtige Gesellen, die immer eine Begründung brauchen, um ihre weinerlichen Tänze wie großes Ballett aussehen zu lassen. (Wir Journalisten selbst nennen es übrigens nicht Begründung, sondern Überhöhung. Die Überhöhung ist das ganz große Ding.) Menschen, die Journalisten für kleine niederträchtige Gesellen halten, sind bösartig und interessengesteuert. Außerdem haben sie meistens recht. Über die Rückkehr in meine Kindheitsbucht würde ich, wie ich mir vornahm, einen weinerlichen, gleichzeitig zynischen, desillusionierten und vor allem kalten, frustrierten und frustrierenden, letztlich vor allem unangreifbaren, total zermürbenden Text für meine Zeitung schreiben und behaupten, dass man so etwas nie tun sollte mit fünfzig Jahren, weil: Das Leben geht weiter, wir alle werden sterben, alles ist deprimierend. Den Kollegen schnarrte ich zu: »Hamburger Schule.« Sie nickten wissend.
In Wahrheit, so der Plan (der nicht aufging), würde ich während meiner Recherche jeden Tag zufrieden auf Redaktionskosten mit dem Auto vom verlotterten Canyamel aus an den wilden Strand von Cala Torta fahren, um mich dort mit den brillanten Kafka-Biografien von Reiner Stach zu zeigen, schließlich, um mich im Strandcafé mit anderen netten Leuten, die zu zehnt eine Finca nahe Artà gemietet hatten, anzufreunden.
Ins Laguna reiste ich also im Juni 2015 zunächst für eine Woche alleine, und zwar, um zu testen, ob meiner Frau all das hier später im Sommer zumutbar wäre oder ob sie hier im folgenden August, dem Hauptreisemonat, weinend mit dem Kind auf dem Zimmer sitzen würde, während ich unten kreischte: »Bingo!«
Dann wollte ich testen, ob es passieren könnte, dass sie unten »Bingo!« kreischte, während ich oben weinend mit dem Kind auf dem Zimmer sitze, weil mich jede Kiefer, Parkbank oder Telefonzelle in Canyamel an etwas erinnerte, das es nicht mehr gibt: Mein Leben als Kind.