Schriftenreihe Mensch - Kultur - Gesellschaft

herausgegeben von Jürgen Nebel und Waltraud Rusch

Waltraud Rusch: „Das ist für alle sehr weit weg und nur noch Geschichte.“ Erinnerungen von Klaus Cutik 1924-2021

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

www.dnb.de abrufbar.

© 2022 Waltraud Rusch

Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7557-7566-9

Inhalt

Vorwort

Mit Klaus Cutik verband mich eine jahrzehntelange Freundschaft, die sich seit der 1980er Jahre langsam entwickelte. Unsere erste Begegnung - ich war eine junge Lehrerin in München und suchte Porzellanköpfe für Puppen zum Gestalten mit Kindern - fand in Küps bei Royal Porzellan statt, wohin mich die Firma Schiel (Perückenproduktion) schickte. So begannen die regelmäßigen Begegnungen. In der Phase meines Studiums, wo ich mich mit Porzellankopfpuppen des Jugendstils wissenschaftlich auseinandersetzte, erfuhr ich eine positive Resonanz und Unterstützung durch Klaus und Anneliese. Sie stellten hilfreiche Kontakte bei meinen vielfältigen Recherchen her.

Lange Gespräche auf der Terrasse auf Ibiza 2018

Der Kontakt blieb bestehen, auch nach meiner Zeit in München. Wir blieben privat miteinander verbunden und haben uns gegenseitig immer gerne und immer wieder besucht. Vor etwa 15 Jahren bot mir Klaus einen Teil von Annelieses Puppensammlung an. Hier befand sich auch eine vollständige Reihe der „Norman Rockwell Characterdolls“, die bei Royal Porzellan produziert worden waren. Meine Faszination und Neugier starteten die Recherchen zu und um diese 20 Figuren.

Hierzu gehörten u.a. lange dialogische Gespräche, die ich auf der Terrasse des Hauses auf Ibiza mit Klaus führte. Er berichtete weit mehr, als das, was für die „Norman Rockwell Characterdolls“ notwendig gewesen wäre. Dieses Mehr stelle ich nun allen, die Klaus Cutik gekannt und geschätzt haben, zur Verfügung. Es sind Erzählungen aus seinem Leben - Erinnerungen - , die sich sicherlich an der einen oder anderen Stelle verklären, aber auch interessante Zeitgeschichte offenbaren. Er sagte selbst: „Das ist alles sehr weit weg und nur noch Geschichte.“ Ich wählte dieses Zitat als Titel, da es aufzeigt, wie wach Klaus in Vergangenheit und Gegenwart lebte. Dabei ordnet er die Ereignisse in die Zeit der Geschichte und in die Zeit seines Lebens ein.

Ich habe versucht, diese mündlichen Erinnerungen in eine Schriftform zu gießen. Es geht dabei nichts verloren und die Inhalte sind für alle verständlich, fast so wie Klaus es uns erzählen würde. Die Teilabschnitte gliedern den Text in inhaltliche, nicht chronologische Zusammenhänge.

Seine Tochter Christina und ihr Mann Klaus haben dankenswerterweise mit Bildmaterial und ergänzenden Informationen einen wertvollen Beitrag geleistet.

Muggensturm, Februar 2022

Waltraud Rusch

Klaus Cutik

11. März 1924 in Kahla - 24. März 2021 in Küps

„Das ist für alle sehr weit weg und nur noch Geschichte.“

Mein Beruf

Ich bin an sich ausgebildeter Keramikgeschirrmodelleur. Darauf bin ich ganz stolz. Ich bin als Modelleur ausgebildet, zwar nicht für Figuren, sondern für Geschirr, also Tassen usw. Ich arbeitete bei einem Barockservice mit. Habe diese Dinger, diese Regenwürmer, haben wir immer gesagt, da rein modelliert. Das hat mir viel Spaß gemacht. Ich modellierte Körper auf der Scheibe, aber nicht in Ton, sondern in Gips. Da gibt es noch einen anderen Beruf, das sind die sog. Freidreher. Sie kriegen einen Klatsch Masse - Porzellan oder Ton - auf die Drehscheibe. Dann halten sie die Formen mit der Hand - irgendwelche Gefäße - meistens sind es Hohlformen, mitunter waren es auch Teller oder eine Schale. Ich lernte zum Teil in Blankenhain und machte auch dort meinen Abschluss.

Da wurden sogenannte Hubel (Dieser Begriff hat sich in der Porzellanindustrie etabliert und steht für einen produktionsfertigen Werkstoff für das Drehen, Pressen und Rollen von Porzellan.) gedreht. Kaolin hat eine Kristallstruktur. Und zwar sind das - ich stelle mir das jedenfalls so vor - kleine Blättchen. Wenn die auf einer Drehscheibe durchgearbeitet werden, dann richten sich die Blättchen in eine Richtung. Dadurch wird es beim Brennen stabiler. Beim Gießen sind diese kleinen Blättchen durcheinander, die haben keine Struktur. Deshalb kann man nicht ganz dünne Stücke gießen, sie halten sich nicht im Brand. Ich drehte kleine Näpfchen. Diese wurden dann in eine Form hineingesetzt und es wurden Mokkatassen. Es wurde eine Schablone reingesenkt, die die Masse an die Gipsform anpresste.

Wolf Feldmann mit Klaus in der Fabrik Royal Porzellan in Küps

Die Mokkatasse war dann höchstens 2 mm dick, maximal, war richtig schön dünn, durchscheinend und hatte eine festgelegte Form, die sich beim Brand gut gehalten hat, weil vorher auf der Scheibe ein „Hubel“ gedreht worden war. Die Gipsform gibt die Außenform, die Schablone die innere Form einer Tasse.

Mit Pressen und Gießen geht das nicht. Das ist dann Keramik. Ich habe einmal mit einem Mann im Westerwald zusammengearbeitet. Er hatte einen einfachen Westerwälder Ton verarbeitet, der auch so hoch gebrannt wurde wie unser Porzellan. Ihn habe ich beneidet - er hatte einen Sohn, der Freidreher war. Dieser Sohn hat tolle Vasen gedreht. Durch das Freidrehen entstehen organische Formen. Diese Art der Verarbeitung wird bei Porzellan nicht angewendet. Ich habe noch zwei Väschen zuhause stehen.

Meine Herkunft

Ich gehöre zu der sogenannten dritten Generation. Mein Großvater war Handwerker und hat die Basis der Firma aufgebaut. Mein Vater hat das Aufgebaute verbessert und erhalten, vorwiegend erhalten und verbessert. Ich war dann derjenige, der in diesen „gebildeten reichen“ Verhältnissen aufwuchs. Meine Schulkameraden der Volksschule, ich war ja in den ersten vier Klassen in der Volksschule, sagten immer: „Ihr seid ja reich.“ Und ich sagte: „Ja, aber mein Vater muss viel mehr arbeiten als deiner.“ Ich hatte diese Erziehung wie man sich anständig verhält und sich benimmt.

Schule

Ich kam 1930 in die Schule. Ich hatte die ersten drei Jahre den gleichen Lehrer und kam 1934 in die vierte Klasse. Da waren die Nazis schon dran, wir hatten in einem Jahr drei Lehrer. Von 1933 auf 1934 wurden dann die Lehrer schon ausgetauscht. Das Schuljahr ging immer von Michaelis (29. September, Gedenktag Erzengel Michael), also Herbst - Herbst zu Herbst. Jetzt haben wir den Wechsel im Sommer. Ostern kriegten wir nochmals Zwischenzensuren.

Ich ging in Kahla, in meinem Geburtsort zur Schule.

Familie Cutik mit den Kindern Klaus, Ulrich und Gudrun vor dem Anwesen in Kahla

Geburt in Kahla

Ich bin ja in Kahla geboren worden - Hausgeburt. Als ich auf der Welt war, kam eine Säuglingsschwester, die meine Mutter unterstützte.

Klaus als Baby

Wir hatten außerdem noch ein Dienstmädchen. In meiner ganzen Jugend gab es immer ein Dienstmädchen, das bei uns im Haus wohnte. Sie haben sich sehr darum bemüht, so eine Stelle zu bekommen. Sie haben immer in der Küche gegessen und wir im Wohnzimmer. Die Dienstmädchen lebten auf dem Boden in einer saukalten Dachlcammer und waren glücklich, dass sie ihr eigenes Bett hatten, Die Dienstmädchen kenne ich heule alle noch mit Namen, mit Vornamen. Die erste hieß Hilde, Sie musste besonders auf mich aufpassen, weil ich mit vier, fünf Jahren immer noch in die Hosen machte. Ich hatte keine Zeit dazu, ich habe immer intensiv gespielt. Das wurde mir immer erzählt, ich weiß es nicht mehr. Ich kann mich nur noch daran erinnern, wie ich mit meinem Großvater zusammen frühstückte, Er wohnte 200 m weiter bergabwärts. Als ich zum Großvater ging, war ich ja schon älter (zwischen drei und sechs Jahren), da war er schon alt geworden, Anfang 70.

Bei meiner Schwester und meinem Binder kam auch jedes Mal eine Säuglingsschwester. Sie waren immer nur ein halbes Jahr im Haus. Meine Eltern freunderen sich mit ihnen an. Diese Freundschaften hielten lange. Es war eine Art Au-pair-Mädchen, das bei mir da war. Sie wurde dann die Schwiegermutter meines Bruders, Es war ein sehr junges Mädchen. Sie war erst 16, hat sich in Gütersloh in den Pfarrer verliebt, der Pfarrer auch wohl in sie. Fr war zehn oder fünfzehn Jahre älter. Das ging natürlich nicht. Sic wurde in ein anständiges Haus zur Ausbildung geschickt. 1924 wurde ich geboren. Da kam sie bei uns an.

Klaus int Kinderwagen

Ich bin übrigens in einer alten Porzellanmassemühle geboren worden. Da habe ich meinen Spaß dran. Dort wurde schon lange keine Masse mehr hergestellt. Ich war immer mal wieder dort gewesen, ein uraltes Gemäuer. Die Mühle gibt es heute noch. Damals nach dem 1. Weltkrieg war Wohnungsnot. In dieser alten Massemühle war im 1. Stock eine relativ große Wohnung ganz vornehm eingerichtet. Es gibt Bilder über die damaligen Tapeten. Meine Eltern hatten wunderschöne, extra angefertigte Möbel. Sie kamen später dann ins neue Haus, das 1927 gebaut wurde.

Die Erstgeborene war meine Schwester, da waren nur Dienstmädchen da. Es gibt eine Aufzeichnung meines Vaters über die ersten zwei Jahre seiner Ehe, die habe ich gefunden und dann übersetzt. Das kann ja kein Mensch mehr lesen, jedenfalls meine Enkel nicht. Eine ganz schwierige Schrift auch. Ich habe es zum 90. Geburtstag meiner Schwester in ein Fotobuch übersetzen lassen, gebunden und ihr geschenkt. Sie war sehr erfreut darüber. Da war sie noch ganz gut beisammen. Erst mit 92 hatte sie einen Schlaganfall.

Gudrun, Ulrich, Klaus mit Anneliese

Meine Eltern heirateten 1920. 1921 wurde die Schwester geboren und im März 1924 kam ich auf die Welt. Ich muss ein relativ schwieriges Baby gewesen sein, weil ich Pförtnerkrampf hatte.

Pförtnerkrampf

Den gibt es heute fast nicht mehr. Der Pförtner ist der Magenausgang. Es ist eine Krankheit, die hauptsächlich vererbt wird und besonders gravierend für Jungs ist. Bei Mädchen ist es nicht so schlimm. Die Krankheit tritt auch unterschiedlich stark auf. Bei mir wirkte es sich so aus: die Babys reagieren normal, kriegen ja ihre Muttermilch, die sich im Magen sammelt. Der Pförtner verkrampft sich und lässt keine Nahrung durch. Die Babys spucken die Nahrung wieder aus. Ich habe es bei meiner zweiten Tochter Ulrike erlebt. Die hat über zwei Meter weit gespuckt. Meine Frau - Ulrike war frisch geboren, drei oder vier Tage alt - hat gestillt, nimmt das Kind hoch, guckt ein bisschen, geht nicht weiter und die Kleine spuckt über das Bett. Alle drei Mädchen hatten das. Die zweite Tochter wohl am meisten. Bei unserem Sohn war es so schlimm, dass er in die Klinik musste.

Bei mir war es so, dass sie mich dann nach Jena in die Kinderklinik brachten. Da gab es einen Professor Ibrahim - ein Ägypter - der sich mit dieser Krankheit beschäftigt hat. Es wurde mir erzählt, dass sie mir die Muttermilch tröpfchenweise infiltriert hätten. Dadurch hätte ich überlebt. Ich bin dann durchgekommen. Ich war der ganze Stolz des Professors Ibrahim. Ich wurde alle Jahre bei ihm vorgestellt. Er hatte so schöne Spieltiere, einen großen Elefanten, da konnte man dran ziehen, da kam ein Ton raus. Der Professor war immer ganz stolz, dass ich mich so gut entwickelt hatte. Und diese Pförtnerleute, die sind im vegetativen Nervensystem sehr empfindlich. Das habe ich als junger Mann deutlich gemerkt. Nach dem Krieg - das muss noch in der Reichsmarkzeit gewesen sein, also vor 1948, 1947 muss das gewesen sein, da wurde ich nach Jena in die Klinik bestellt, in die Universitätsklinik. Ich wurde interviewt, die Akten waren noch da. Sie untersuchten mich nochmals und befragten mich, was ich so machte. Die Krankheit verwächst sich.

Wir hatten einen Vertreter, dessen Tochter studierte Medizin. Sie hat auf diesem Gebiet gearbeitet. Es wurde später eine Methode entwickelt, bei der diesen Kindern der Ringmuskel zerschnitten wird. Das ist eine Operation. Als mein Sohn da war, habe ich es wieder gesehen. Er ist nach Bamberg gekommen. Dort haben sie ihm den Bauch aufgeschnitten - das ist so ein großer Schnitt - der Ringmuskel wurde durchtrennt und anschließend passiert dann nichts mehr. Die Kinder entwickeln sich normal. Bei mir ist es so gewesen, dass ich das nur in den ersten Wochen hatte, dann verlor sich das. Bei meinen Töchtern war es ebenso. Sie hatten starke Beruhigungstropfen bekommen bevor sie gestillt wurden, damit sich der Magen entspannt. Es geht auch ohne Operation. Aber beim Sohn ging das dann nicht mehr. Es soll mit jedem Kind stärker werden. Bei meinem Enkelsohn, also beim Sohn meines Sohnes, der das geerbt haben sollte, ist die Krankheit nicht aufgetreten. Auch von meinen Töchtern hat keine erzählt, dass sie Probleme mit ihren Kindern hatten.

Nazizeit

Erst in den letzten Jahren hat mich meine Einstellung, die ich als Kind während der Nazizeit hatte, interessiert. Es hat mich nie irgendwie bewegt. Erst jetzt komme ich darauf, weil mich jemand gefragt hat, wie ich das erlebt hätte. Das ist für alle sehr weit weg und nur noch Geschichte. Ich habe ja die Umzüge der eisernen Front der SPD erlebt. Viele Nazis - glaube ich - hatten wir in Kahla nicht, obwohl Thüringen der erste Staat in Deutschland war, der eine Naziregierung hatte. Die Thüringer haben auch den Adolf Hitler zum Deutschen gemacht. Er war ja Österreicher und ist in Thüringen eingebürgert worden. Ich kann mich noch sehr gut an den 30. Januar 1933 erinnern. Ich kam mittags aus der Volksschule. Wir hatten in der Nähe einen Schreibwarenhändler, der für die Kinder sein Zeug verkaufte. Er war ein bekannter Nazi, ein harmloser Kerl, nicht fanatisch. Er steckte eine Hakenkreuzfahne raus. Das ist unvergesslich für mich. Das waren aufregende Zeiten. Es wurde die nationale Bewegung, alle waren begeistert.

Eine große Sache war z.B. der erste Spatenstich für eine Autobahn in der Nähe von Jena. Da wurde nur mit Schippe und Karre gearbeitet. Die Leute kamen in Arbeit. Ich habe - 1930/1931 muss das gewesen sein - erlebt, wie die Bettler an die Haustüre kamen. Meine Mutter hat mir erklärt: „Weißt du, Geld will und kann ich denen nicht geben, aber sie kriegen jedes Mal, wenn sie kommen, ein Butterbrot von mir.“ Da waren manche dabei, die haben es nicht gewollt. Aber die meisten haben es schon gebraucht. Es muss eine verrückte Zeit gewesen sein. Ich habe erlebt, dass es Obstläden mit tollem Obst gab, und keiner konnte es kaufen, nur gegenüber von unserem Haus die Direktoren der Porzellanfabrik. Und ich besuchte die Frau von dem einen Direktor, die mich sehr gern gehabt hat, ab und zu als Kind mit 6 oder 7 Jahren. Dort bekam ich immer riesengroße Apfelsinen. Das war so besonders, das gab es bei uns zuhause nicht. Wir kriegten Äpfel. Äpfel habe ich mein Lebtag nicht gewollt, bis ich 85 wurde. Erst dann habe ich angefangen jeden Morgen Äpfel zu essen.

Schule und mehr