Giorgio Agamben

Der Gebrauch der Körper

Aus dem Italienischen von Andreas Hiepko und Michael von Killisch-Horn

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Giorgio Agamben

Giorgio Agamben, geboren 1942, lehrt heute als Professor für Ästhetik an der Facoltà di Design e Arti der Universität Iuav in Venedig, an der European Graduate School in Saas-Fee sowie am Collège International de Philosophie in Paris. Sein Werk ist in zahlreiche Sprachen übersetzt. Im S. Fischer Verlag sind zuletzt erschienen ›Nacktheiten‹ (2010), ›Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform‹ (2012), ›Das unsagbare Mädchen. Mythos und Mysterium der Kore‹ (2012, gemeinsam mit Monica Ferrando), ›Opus dei. Archäologie des Amts‹ (2013), ›Die Macht des Denkens‹ (2013), ›Stasis. Der Bürgerkrieg als Paradigma‹ (2016), ›Die Erzählung und das Feuer‹ (2017) sowie ›Was ist Philosophie?‹ (2018).

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Giorgio Agambens Homo Sacer ist eines der wegweisenden Werke der politischen Philosophie der letzten Jahrzehnte, in dem er mit überwältigendem Ehrgeiz die tiefsten Grundlagen des westlichen politischen Denkens untersucht. Mit dem neunten und letzten Band in dieser Reihe reflektiert Agamben die Herausforderungen und Auswirkungen seines Werkes und beschreitet gleichzeitig neue Wege. Dabei nutzt er Aristoteles' Diskussion über Sklaverei als Ausgangspunkt für ein radikales Umdenken des Selbst, er fordert eine vollständige Überarbeitung der westlichen Ontologie und untersucht das Konzept der »Lebensform«, das in vielerlei Hinsicht die treibende Kraft hinter dem gesamten Homo Sacer-Projekt ist. Ein wahres Meisterwerk eines der größten lebenden Philosophen.

Impressum

Deutsche Erstausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »L’uso dei corpi« im Verlag Neri Pozza

© 2014 Neri Pozza

 

Für die deutschsprachige Ausgabe

© 2020 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstraße 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Vorwort, Prolog, Intermezzo I, Teil III und Epilog wurden von Andreas Hiepko übesetzt, die Teile I und II sowie Intermezzo II von Michael von Killisch-Horn.

 

Covergestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hissmann, Hamburg

Coverabbildung: akg-images / Erich Lessing

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-403581-9

Ein Junge aus Sparta, der einen Fuchs gestohlen und unter seinem Rock verborgen hatte, wollte – weil sie die Schande der Dummheit beim Diebstahl mehr fürchten als wir die Strafe – lieber erdulden, dass er ihm den Bauch zerfleische, als sich zu verraten.

Montaigne, Essais, I, XIV

[…] ist der gestohlene Fuchs, den der Junge unter seinen Kleidern verbarg und der ihm die Weiche zerfleischte […]

V. Sereni, Appuntamento a ora insolita

[D]er freie Gebrauch des Eigenen [ist] das schwerste.

F. Hölderlin

Vorbemerkung

Wer die bislang erschienenen Bände dieses Werks gelesen und verstanden hat, weiß, dass er vom vorliegenden weder einen Neuanfang noch einen Abschluss erwarten darf. Der überkommenen Vorstellung, dass eine Forschungsarbeit mit einer pars destruens zu beginnen und mit einer pars construens zu enden habe und sich die Teile formal und inhaltlich voneinander unterscheiden müssen, muss nämlich entschieden widersprochen werden. Bei einer philosophischen Untersuchung ist es nicht nur unmöglich, die pars destruens von der pars construens zu trennen – Letztere geht sogar restlos in Ersterer auf. Hat die Theorie einmal das Feld nach Maßgabe des Möglichen von allen Irrtümern bereinigt, ist ihr Zweck erfüllt: Von der Praxis getrennt, verliert sie ihre Daseinsberechtigung. Die von der Archäologie zutage geförderte archè hat mit den Arbeitshypothesen, die sie aufhebt, nichts mehr gemein: Vollständig sichtbar wird sie erst, wenn diese obsolet geworden sind. Sie außer Kraft zu setzen ist ihr Werk.

Was den Leser erwartet, sind Überlegungen zu einigen Begriffen – Gebrauch, Erfordernis, Weise, Lebens-Form, Untätigkeit, destituierende Kraft –, die die Untersuchung von Anfang an geleitet haben. Sie kann, wie jedes Werk der Dichtung oder des Denkens, nicht abgeschlossen, sondern nur sich selbst überlassen (und womöglich von anderen fortgesetzt) werden.

 

Einige der hier veröffentlichten Texte sind zu Beginn der Untersuchung, also vor fast zwanzig Jahren geschrieben worden, der Großteil der übrigen im Laufe der letzten fünf Jahre. Der Leser wird Verständnis dafür haben, dass in einem Buch, dessen Abfassung sich über einen solch langen Zeitraum erstreckt hat, Wiederholungen und gelegentliche Unstimmigkeiten kaum zu vermeiden sind.

Prolog

1. Bemerkenswerterweise geht bei Guy Debord die nüchterne Erkenntnis der Dürftigkeit des Privatlebens mit der mehr oder weniger bewussten Überzeugung einher, dass der eigenen Existenz und der seiner Freunde etwas Einmaliges und Exemplarisches eigne, das erinnert und mitgeteilt zu werden verlangt. Schon in Critique de la séparation spricht er von der Unmöglichkeit, »die Heimlichkeit des Privatlebens, von dem man lediglich armselige Zeugnisse besitzt [cette clandestinité de la vie privée sur laquelle on ne possède jamais que des documents dérisoires]« zu überliefern (Debord, S. 49); dessen ungeachtet ziehen in seinen frühen Filmen und noch in Panégyrique immer wieder die Gesichter der Freunde an uns vorüber: die Gesichter Asger Jorns, Maurice Wyckaerts, Ivan Chtcheglovs und sein eigenes neben denen der Frauen, die er liebte. Und als ob dies nicht genug wäre, tauchen in Panégyrique auch die Häuser auf, in denen er lebte, die Nr. 28 der via delle Caldaie in Florenz, das Landhaus in Champot, der square des Missions étrangères in Paris (eigentlich 9, rue du Bac, seine letzte Pariser Adresse, wo er auf einer Fotografie von 1984 auf einem ihm offensichtlich gefallenden englischen Ledersofa im Salon sitzend zu sehen ist).

Dies ist so etwas wie der zentrale Widerspruch, den die Situationisten nicht aufzulösen vermochten, und zugleich etwas sehr Kostbares, das wieder aufgegriffen und weiterentwickelt zu werden verlangt – nennen wir es die dunkle, uneingestandene Ahnung, dass gerade der nicht mitteilbaren, nicht selten lächerlichen Heimlichkeit des Privatlebens ein genuin politisches Element innewohnt. Denn es – das heimliche Leben, unsere Lebens-Form – ist uns so vertraut und geht uns so nah, dass wir, wenn wir es zu fassen versuchen, nur die undurchdringliche, ermüdende Alltäglichkeit in Händen halten. Doch vielleicht hütet gerade diese homonyme, promiske und lichtscheue Präsenz, an der jede Biographie und jede Revolution scheitern müssen, als Kehrseite des arcanum imperii das Geheimnis der Politik. Guy, der so klug und gewandt sein konnte, wenn es galt, die entfremdeten Daseinsweisen in der Gesellschaft des Spektakels zu beschreiben und zu analysieren, ist völlig arg- und wehrlos, wenn er über seine Lebensweise Auskunft zu geben versucht, wenn er den blinden Passagier, der ihm auf seiner Reise bis zuletzt nicht von der Seite wich, schonungslos betrachten und entzaubern möchte.

 

2. In girum imus nocte et consumimur igni (1978) beginnt mit einer Kriegserklärung an die Gegenwart, auf die eine schonungslose Analyse der Lebensbedingungen folgt, die die Konsumgesellschaft im letzten Stadium ihrer Entwicklung weltweit durchgesetzt hat. Ungefähr in der Mitte des Films bricht die kaltblütige, bis ins Einzelne gehende Beschreibung jedoch ab: An deren Stelle tritt die melancholische, fast schon weinerliche Beschwörung von Erinnerungen und persönlichen Ereignissen, die die erklärtermaßen biographische Absicht von Panégyrique vorwegnehmen. Guy beschwört das nicht mehr existierende Paris seiner Jugend herauf, in dessen Straßen und Cafés er mit seinen Freunden unermüdlich auf die Suche ging nach jenem »unheilvollen Gral, den niemand wollte [Graal néfaste, dont personne n’avait voulu]«. Obgleich dieser nur »flüchtig erblickte«, nie »gefundene« Gral fraglos eine politische Bedeutung hat, weil jene, die ihn suchten, »es verstanden, das falsche Leben im Licht des richtigen zu begreifen« (Debord, S. 252), ist der dunkle, melancholische Ton der Wiedererweckung, in die Zitate aus dem Buch Richter, von Omar Khayyam, Shakespeare und Bossuet eingeschaltet sind, ebenso unbestreitbar: »Auf der Hälfte des Wegs des wahren Lebens wurden wir von einer dunklen Melancholie umgeben, die aus den vielen spöttischen und traurigen Worten sprach im Café der verlorenen Jugend [À la moitié du chemin de la vraie vie, nous étions environnés d’une sombre mélancolie, qu’ont exprimée tant des mots railleurs et tristes, dans le café de la jeunesse perdue]« (ebd., S. 240). Von dieser verlorenen Jugend sind Guy die Unordnung, die Freunde und die Geliebten in Erinnerung geblieben (»wie sollte ich mich nicht an die bezaubernden Gauner und stolzen Mädchen erinnern, mit denen ich in diesen Elendsvierteln wohnte […] [comment ne me serais-je pas souvenu des charmants voyous et des filles orgueilleuses avec qui j’ai habité ces bas-fonds […]]« – S. 237), während auf der Leinwand Bilder von Gil J. Wolman, Ghislain de Marbaix, Pinot-Gallizio, Attila Kotanyi und Donald Nicholson-Smith zu sehen sind. Gegen Ende des Films bricht sich der autobiographische Impuls noch einmal Bahn: Der Blick auf Florenz, quand elle était libre, ist durchwirkt mit Einblicken in Guys Privatleben und mit den Bildern der Frauen, mit denen er in den sechziger Jahren in dieser Stadt zusammenlebte. Dann sieht man in schneller Folge die Häuser, in denen Guy wohnte, impasse de Clairvaux, rue St. Jacques, rue St. Martin, ein Pfarrhaus im Chianti, Champot und, ein weiteres Mal, die Gesichter der Freunde, die den Worten von Gilles’ Lied in Les visiteurs du soir lauschen: »Tristes enfants perdus, nous errions dans la nuit […]«. Wenige Einstellungen vor dem Ende, eine Sequenz mit Bildern von Guy mit 19, 25, 27, 31 und 45 Jahren. Der unheilvolle Gral, auf dessen Suche sich die Situationisten begeben hatten, betrifft nicht nur die Politik, sondern auch die Heimlichkeit des Privatlebens, dessen »armselige Zeugnisse« vorzuzeigen sich der scheinbar schamlose Film nicht scheut.

 

3. Die autobiographische Absicht verriet übrigens schon das Palindrom, das dem Film seinen Titel gab. Kurz nachdem er seine verlorene Jugend beschworen hat, kommt Guy darauf zu sprechen: Nichts würde die Verschwendung besser zum Ausdruck bringen als jener »antike Satz, der ein aus Worten gebautes auswegloses Labyrinth ist, so dass er Form und Inhalt des Verlusts auf vollkommene Weise in Einklang bringt: In girum imus nocte et consumimur igni. ›Wir irren des Nachts im Kreis umher und werden vom Feuer verzehrt.‹«

Einer beiläufigen Bemerkung Heckschers zufolge entstammt der zuweilen als »Teufelsvers« bezeichnete Satz in Wirklichkeit der emblematischen Literatur und spielt auf die vom Licht unwiderstehlich angezogenen Nachtfalter an, die in der Kerzenflamme verbrennen. Ein Emblem setzt sich aus einer Imprese – das heißt einem Wahlspruch oder Motto – und einem Bild zusammen; in den Büchern, die ich einsehen konnte, taucht das Bild der vom Feuer verzehrten Nachtfalter zwar häufig auf, jedoch nie im Zusammenhang mit dem fraglichen Palindrom, sondern mit Merksätzen, die vor leidenschaftlicher Liebe warnen (»so endet lebendige Lust mit dem Tod«, »so folgt auf rechte Liebe Qual«) oder, in einigen wenigen Fällen, von der Unbedachtheit in politischen oder militärischen Dingen (»non temere est cuiquam temptanda potentia regis«, »temere ac periculose«). In den Amorum emblemata Otto van Veens (1608) betrachtet ein geflügelter Amor die Nachtfalter, die sich in die Kerzenflamme stürzen, und die Imprese erklärt: brevis et damnosa voluptas.

Die Wahl des Titels lässt also vermuten, dass Guy sich und seine Gefährten mit Nachtfaltern vergleicht, die, in tollkühner Leidenschaft für das Licht entbrannt, dazu bestimmt sind, sich zu verlieren und vom Feuer verzehrt zu werden. In der Deutschen Ideologie – einem Werk, das Guy sehr gut kannte – bedient sich Marx in kritischer Absicht desselben Bilds: »So sucht der Nachtschmetterling, wenn die allgemeine Sonne untergegangen ist, das Lampenlicht des Privaten.« Umso bemerkenswerter ist es, dass Guy, der Warnung zum Trotz, diesem Licht auch weiterhin nachjagte, um die Flamme der singulären Privatexistenz auszuspähen.

 

4. Ende der neunziger Jahre lag – durch Zufall oder in ironischer Absicht – auf dem Ladentisch einer Pariser Buchhandlung der zweite, das Bildmaterial enthaltende Band von Panégyrique neben der Autobiographie Paul Ricœurs. Nichts ist aufschlussreicher, als den unterschiedlichen Gebrauch der Bilder zu vergleichen. Während die Abbildungen in Ricœurs Buch den Philosophen ausschließlich im Rahmen akademischer Veranstaltungen zeigen, so als ob er jenseits von ihnen kein Leben hatte, streben die Bilder in Panégyrique biographische Wahrhaftigkeit an, die das Leben des Autors in all seinen Aspekten betrachtet. In der knappen Vorbemerkung heißt es: »Das authentische Bild erklärt die wahre Rede […] man weiß dann, welches Aussehen ich hatte über die Jahre, welche Gesichter mich täglich umgaben und an welchen Orten ich gewohnt habe [L’illustration authentique éclaire le discours vrai […] on saura donc enfin quelle était mon apparence à différentes ages; et quel genre de visages m’a toujours entouré; et quels lieux j’ai habités].« Einmal mehr steht, trotz der augenscheinlichen Dürftigkeit und Banalität seiner Zeugnisse, das – heimliche – Leben im Vordergrund.

 

5. Als ich eines Abends in Paris Alice erzählte, dass sich noch immer viele junge Italiener für Guys Schriften interessierten und sich ein Wort von ihm erhofften, erwiderte sie: »Wir leben, das muss ihnen reichen [on existe, cela devrait leur suffire]«. Was meinte sie mit: on existe? In jenen Jahren lebten sie abgeschieden, ohne Telefon zwischen Paris und Champot: Den Blick in die Vergangenheit zurückgewandt, ging ihre »Existenz« vollständig in der »Heimlichkeit des Privatlebens« auf.

Und doch scheint der Titel des letzten, kurz vor dem Selbstmord im November 1994 für Canal plus produzierten Films Guy Debord, son art, son temps – trotz jenes wahrlich unvermuteten son art – keinesfalls ironisch gemeint zu sein: Bevor er sich mit unbändiger Heftigkeit den Schrecken »seiner Zeit« annimmt, wiederholt dieses geistige Vermächtnis mit derselben Arglosigkeit und denselben alten Fotografien die nostalgische Beschwörung des verflossenen Lebens.

Was bedeutet also: on existe? Die Existenz – dieser für die erste Philosophie des Abendlands in jedem Sinn grundlegende Begriff – steht in wesentlicher Verbindung mit dem Leben. »Zu sein«, heißt es bei Aristoteles, »heißt für die Lebewesen zu leben.« Und Jahrhunderte später wird Nietzsche noch deutlicher: »Das Sein – wir haben keine andere Vorstellung davon als ›leben‹.« Fernab jedes Vitalismus die innige Verflechtung des Seins mit dem Leben aufzudecken – das ist die Aufgabe, der sich das Denken (und die Politik) heute zu stellen haben.

 

6. Die Gesellschaft des Spektakels beginnt mit dem Wort »Leben« (»Das gesamte Leben der Gesellschaften, in denen moderne Produktionsbedingungen herrschen, stellt sich als eine gewaltige Häufung von Spektakeln dar [Toute la vie des sociétés dans lesquelles règnent les conditions modernes de production s’annonce comme une immense accumulation de spectacles]«), und bis zuletzt beruft sich die Analyse des Buchs immer wieder auf das Leben. Das Spektakel, in dem »alles, was unmittelbar erlebt wurde, in eine Darstellung entweicht«, sei eine »konkrete Verkehrung des Lebens«. »Je mehr das Leben des Menschen zu seinem Produkt wird, umso mehr ist er von seinem Leben getrennt« (n. 33). Unter den Bedingungen der Gesellschaft des Spektakels ist das Leben »falsches Leben« (n. 48), »Überleben« (n. 154), »Pseudogebrauch des Lebens« (n. 49). Gegen das entfremdete, abgespaltete Leben bietet Guy etwas auf, das er »geschichtliches Leben« (n. 139) nennt. Dies sei bereits in der Renaissance als ein »freudiger Bruch mit der Ewigkeit« aufgetreten: »Im überschäumenden Leben der italienischen Städte […] erfährt sich das Leben als Genuss des Vergehens der Zeit.« Schon Jahre zuvor sagte Guy in Sur le passage de quelques personnes und in Critique de la séparation von sich und seinen Gefährten, dass »sie alles jeden Tag neu erfinden, Herren und Besitzer ihres eigenen Lebens werden wollten« (S. 22), dass ihre Begegnungen »Zeichen« gewesen seien, »die aus einem intensiveren Leben kamen, das noch nicht wirklich gefunden war« (S. 47).

Was dieses »intensivere« Leben sei, das vom Spektakel verkehrt oder verfälscht werde, oder auch nur, was unter »Leben der Gesellschaft« zu verstehen sei, wird an keiner Stelle erklärt; wer dem Autor terminologische Unstimmigkeiten oder Ungenauigkeiten vorwirft, macht es sich jedoch zu leicht. Guy wiederholt lediglich eine Grundhaltung unserer Kultur, in der das Leben nie als solches bestimmt, sondern von Mal zu Mal in bios und zoè, politisches und nacktes Leben, öffentliches Leben und Privatleben, vegetatives und relationales Leben geteilt und gegliedert wird, die allesamt nur in Bezug auf die übrigen bestimmt werden können. Und vielleicht ist es letztlich gerade diese Unbestimmbarkeit des Lebens, die es notwendig macht, dass es politisch entschieden werden muss. Und Guys Unentschiedenheit zwischen der Heimlichkeit des Privatlebens – das ihm im Lauf der Zeit immer flüchtiger und unbezeugbarer erschienen sein muss – und dem geschichtlichen Leben, zwischen der individuellen Biographie und der dunklen Epoche, in die sie sich, ob sie will oder nicht, einzuschreiben hat, zeugt von einer Schwierigkeit, die, zumindest unter den gegenwärtigen Bedingungen, von niemandem abschließend ausgeräumt werden kann. Wie dem auch sei, der unermüdlich gesuchte Gral, das Leben, das vom Feuer verzehrt wird, lassen sich keinem der Gegensätze zurechnen, weder der Idiotie des Privatlebens noch der unbeständigen Reputation des öffentlichen Lebens, und stellen so deren Unterscheidbarkeit selbst in Frage.

 

7. Ivan Illich hat darauf hingewiesen, dass der Begriff des Lebens (nicht »eines Lebens«, sondern »des Lebens« im Allgemeinen) gemeinhin als »wissenschaftliche Tatsache« betrachtet wird, die in keinerlei Beziehung zur Erfahrung des Einzelwesens steht. Es ist etwas Namenloses, Allgemeines, dass sowohl ein Spermium als auch eine Person, eine Biene, eine Zelle, einen Bären oder einen Embryo bezeichnen kann. Aus dieser »wissenschaftlichen Tatsache«, die so allgemein ist, dass die Wissenschaft meinte, darauf verzichten zu können, sie zu definieren, hat die Kirche den letzten Rückzugsort des Heiligen und die Bioethik den Schlüsselbegriff ihres ohnmächtigen Geschwätzes gemacht. Das »Leben« hat heute jedenfalls mehr mit dem Überleben als mit Lebendigkeit und individueller Lebensform zu tun.

Dass sich in ihm ein Residuum der Heiligkeit eingenistet hat, lässt das heimliche Leben, dem Guy auf der Spur war, noch undurchschaubarer werden. Auch wenn die situationistische Bestrebung, das Leben der Politik wiederzugeben, hier auf eine weitere Schwierigkeit stößt – an Dringlichkeit verliert sie deshalb nicht.

 

8. Was heißt, dass uns das Privatleben begleitet wie ein blinder Passagier? Zunächst einmal, dass es wie ein blinder Passagier von uns getrennt und uns zugleich untrennbar verbunden ist, da es wie ein blinder Passagier im Verborgenen mit uns die Existenz teilt. Diese Spaltung und diese Unzertrennlichkeit bestimmen in unserer Kultur seit jeher die Verfassung des Lebens: als etwas, das geteilt werden kann, um in einer medizinischen, philosophisch-theologischen oder biopolitischen Maschine jeweils neu verschränkt und zusammengesetzt zu werden. So begleitet uns nicht nur das Privatleben wie ein blinder Passagier auf unserer langen oder kurzen Reise, sondern das biologische Leben selbst und all das, was üblicherweise der sogenannten »Intimsphäre« zugerechnet wird: die Ernährung, die Verdauung, das Urinieren, der Stuhlgang, der Schlaf, die Sexualität … Die Last dieses gesichtslosen Gefährten ist so groß, dass ein jeder versucht, sie mit jemand anderem zu teilen – und doch verschwinden Fremdheit und Heimlichkeit nie ganz und bleiben auch in der innigsten Beziehung bestehen. Das Leben ist hier tatsächlich wie der gestohlene Fuchs, den der Knabe unter seinen Kleidern verbirgt und es nicht zugeben kann, obwohl er von ihm grausam zerfleischt wird.

Es ist, als ob jeder dunkel ahnte, dass gerade die Undurchdringlichkeit des heimlichen Lebens ein genuin politisches Element in sich birgt, das als solches schlechthin vermittelbar ist – wenn man es jedoch nachzuvollziehen versucht, entzieht es sich hartnäckig jedem Zugriff und hinterlässt nichts als einen lächerlichen, nicht mitteilbaren Rest. Insofern ist Schloss Silling, in dem die politische Macht keinen anderen Gegenstand hat als das vegetative Leben der Körper, die Chiffre der Wahrheit und des Scheiterns moderner Politik – die in Wirklichkeit Biopolitik ist. Wir müssen unser Leben ändern, das Politische in den Alltag tragen – auch wenn im Alltag das Politische unweigerlich Schiffbruch erleidet.

Und wenn, wie es gegenwärtig zu beobachten ist, der Niedergang des Politischen und der Öffentlichkeit nur noch Privatheit und bloßes Leben zulässt, muss das heimliche Leben, gerade weil es privat ist, öffentlich werden und seine nicht länger ärmlichen Zeugnisse (die es gleichwohl weiterhin sind) mit ihm unmittelbar zusammenfallen, mit seinen immergleichen Tagen, die einer nach dem anderen aufgezeichnet und live auf die Bildschirme der anderen übertragen werden.

Und doch, nur wenn es das Denken vermag, das politische Element zu finden, das sich in der Heimlichkeit der Einzelexistenz verbirgt, nur wenn es möglich wird, jenseits der Spaltung von Öffentlichem und Privatem, Politik und Biographie, zoè und bios die Umrisse einer Lebens-Form und eines gemeinsamen Gebrauchs der Körper zu umreißen, wird die Politik ihre Stummheit und die individuelle Biographie ihre Idiotie hinter sich lassen können.

Teil I Der Gebrauch der Körper