Für Jolanda
Alles lief wie am Schnürchen. Leuchtende Fackeln wiesen Gästen den Weg vom Parkplatz an der Schlossmauer zur hell erleuchteten Orangerie. Meine Schwestern hatten den halben Samstag damit verbracht, den imposanten Raum mit den bodentiefen Fensterfronten für das große Fest zu dekorieren. Das ABC-Team, wie mein Vater meine älteren Schwestern früher nannte, arbeitete in seltener Eintracht. Beate, die Älteste und Strategischste unter uns Geschwistern, kümmerte sich um die großen Linien und kleinlichen Bedenken, Carla, die Mittlere, deckte mit ihren Töchtern den kulinarischen Teil der Veranstaltung ab. Sie taten alles, um Anja, die Jüngste des Trios, am heutigen Abend zu unterstützen. Meine Aufgabe als kleiner Bruder war deutlich umrissen: Ich war zuständig für alles, was schwer, schmutzig, schmierig oder Strom war. Hoch über den Köpfen meiner hektisch umherschwirrenden Familie balancierte ich auf einer Leiter unter dem Glasdach, um die letzten mit LEDs beleuchteten Luftballons über der langen Tafel zu befestigen.
Anja, die Hauptperson, sprang noch immer in Unterwäsche herum. Sie zog die Tischdecken gerade, die meine drei Nichten höchstpersönlich mit wasserbasierter Tinte eingefärbt hatten, nahm letzte Änderungen in der Sitzordnung vor, kontrollierte die Speisen am kalten Büffet und die Qualität des Rotweins. Anja bestand darauf, dass alles so sein sollte wie beim ersten Mal. Auch wenn alles anders war.
Gereizt wies sie Beate in die Geheimnisse moderner Digitalfotografie ein: »Du musst einfach abdrücken«, tönte sie. »Die Kamera ist idiotensicher.«
Normalerweise war Anja selbst dafür verantwortlich, familiäre Ereignisse für die Ewigkeit festzuhalten. An diesem besonderen Tag sollte meine in technischen Dingen ahnungslose Schwester Beate die Chronistenpflicht erfüllen.
»Und wofür ist dieser Knopf?«, fragte sie.
»Du musst es nicht verstehen, du musst es einfach tun«, ranzte Anja Beate an.
Gewöhnlich vermied ich familiäre Vollversammlungen. Bei drei älteren Schwestern war ich mitten im Zickenkrieg aufgewachsen. Ironische Sticheleien, giftige Seitenhiebe und inquisitorische Nachfragen waren für mich vertrautes Terrain. Eine der Schwestern fand sich immer bereit, nachzufragen, ob ich endlich einen anständigen Job oder wenigstens eine feste Freundin gefunden hatte. Dabei wären mir ein fester Job und eine unanständige Freundin lieber. Vorsichtig schob ich mich aus der Gefahrenzone, bevor die geballte schwesterliche Nervosität einen neuen Fokus suchte.
Die Geladenen trafen tröpfchenweise und überpünktlich ein. Der erste Teil der Zeremonie würde im Garten stattfinden. Keiner der Gäste ließ sich durch Nieselregen, kalte Füße und matschigen Untergrund die Stimmung verderben. Niemand wollte sich den besonderen Anlass entgehen lassen. Statt Champagner wurden warmer Punsch und heiße Schokolade mit Schuss ausgeschenkt. An den Feuerkörben, einzige Wärmequelle an diesem viel zu kalten Maiabend, wurde aufgeregt getuschelt. »Warst du schon mal bei so was dabei?«, klang es aus vielen Kehlen.
Draußen herrschte angespannte Erwartung, drinnen regierte die Panik. Carla ziepte, zerrte und zog am Kleid herum. Anjas schmaler Körper ertrank in dem ausladenden Hochzeitskleid aus weißem Tüll, das jede Frau automatisch in ein Sahnebaiser verwandelte. Seit sie die imposante Robe hoffnungsvoll erstanden hatte, hatte sie deutlich Gewicht verloren. Anja rang um Fassung.
»Du musst das nicht durchziehen«, sagte ich.
»Ich werde mich köstlich amüsieren«, antwortete Anja trotzig. »Seit Monaten freue ich mich auf diesen Moment.«
Meinen Schwestern in Krisensituationen zu widersprechen, war ein risikoreiches Unterfangen. Als Jüngster der Familie hatte ich in dieser Beziehung einen schmerzhaften Lernprozess durchlaufen.
»Die Gäste werden unruhig«, befand Beate diktatorisch. »Wir müssen anfangen.«
»Bist du so weit?«, fragte Clara.
Statt einer Antwort reichte Anja mir auffordernd ihren Arm. Normalerweise war es die Aufgabe des Vaters, die Braut ihrem Schicksal zu übergeben. In der Familie Morbach, die unter chronischem Männermangel litt, blieb dieses Amt an mir kleben. Arm in Arm, in angemessen feierlichem Schritt führte ich meine Schwester Richtung Garten. Anjas Fingernägel bohrten sich in meinen Oberarm. Ich spürte das Zittern ihres dünnen Körpers. Die Flügeltüren öffneten sich. Applaus brandete auf. Die Musik setzte ein. Anstelle eines Hochzeitsmarschs schmetterte Gloria Gaynor uns ein fröhliches »I Will Survive« entgegen. Mein Blick schweifte suchend über die Menge: kein einziger Mann unter den Gästen. Vielleicht war es normal, dass Anja nur Freundinnen eingeladen hatte, den großen Moment mit ihr zu feiern. Aber woher sollte ich wissen, wie man einen solchen Anlass beging, schließlich war das die allererste Scheidungsparty meines Lebens. Gefeiert wurde in der Orangerie des Schlosses Charlottenburg, am selben Ort, an dem Anja ihrem Exmann Joshi die ewige Treue geschworen hatte. Die Stewardess und der aufstrebende Internethändler hatten ihren gemeinsamen Weg in Rekordtempo zurückgelegt. Nach einem explosiven Kennenlernen folgten Blitzhochzeit, Blitzkrieg und Scheidungsdrama. Die Ewigkeit endete nach 22 Monaten vor dem Familiengericht Berlin Schöneberg.
»Willkommen im Club der alleinstehenden Frauen«, rief meine Schwester Beate fröhlich.
Der Schlachtruf bildete den Startschuss für das Spektakel. In letzter Sekunde rettete ich mich mit einem beherzten Sprung an die Seite, bevor die erste Ladung aus der Sprühdose Anja traf. Es war an der Zeit, das weiße Hochzeitskleid, das ihr kein Glück gebracht hatte, rituell zu zerstören. Einmal für den schönsten Tag ihres Lebens angeschafft, lieferte das teure Kleidungsstück den tastbaren Beweis für die größte Fehlentscheidung ihres Lebens. Violette Farbe spritzte auf die weiße Robe, dann grüne, gelbe, blaue. Anja griff in einen Farbklecks, die Spuren ihrer gelben Hände liefen über das Kleid, als wären es die Abdrücke eines leidenschaftlichen Liebhabers. Gloria Gaynor jubilierte, die Bässe dröhnten, das Lachen wurde lauter, Farbe tropfte vom Kleid, und Beate fotografierte fürs Familienalbum. Mithilfe ihrer Freundinnen ertränkte Anja ihren Liebeskummer in Acrylfarbe und Rotwein. Ich blieb das einzige männliche Wesen, das an der Zeremonie teilnehmen durfte.
»Das ist Tom, mein kleiner Bruder«, erklärte Anja. »Der zählt nicht zu den feindlichen Truppen.«
Das Dinner verbrachte ich eingeklemmt zwischen einer Stewardessenkollegin, die ihren Exmann konsequent als »mein kleines Regenwürmchen« bezeichnete, und Anjas Sandkastenfreundin Sanne, die der Runde ausführlich die Vorzüge eines Magerquarkfrühstücks erläuterte. Kein Wunder, dass sie bereits zweimal geschieden war. Vermutlich betrieb sie Sex nur, um Kalorien zu verbrennen. Nach zwei Stunden Sanne-Überdosis reichte es mir: »Ich bin gegen die Frauenquote«, platzte ich heraus.
Ich brauchte keine Statistik zu lesen, um zu wissen, dass in Deutschland mehr Frauen als Männer lebten. Mein ganzes Leben war ein einziger Frauenüberschuss. Neben Schwestern und Nichten bestand meine Familie aus den wechselnden Partnerinnen von Beate, die nur auf Frauen stand, einem chronisch abwesenden und einem frisch von mir geschiedenen Schwager. Den Erzieherinnen, Grundschullehrerinnen und Studienrätinnen meiner frühen Jahre folgten Kolleginnen, Chefinnen, Nachbarinnen, eine Kanzlerin. Das mit den Frauen war nicht so einfach. Privat nicht und beruflich noch viel weniger. Immer wenn ich kurz davor war, eine feste Stelle zu bekommen, konnte ich Gift darauf nehmen, dass mir fünf Minuten vor Bewerbungsschluss eine Frau den Job wegschnappte. Wenn Scheitern charakterbildend war, hatte ich in den letzten Monaten mehr Charakter entwickelt, als mir lieb sein konnte.
»Ich bin gegen die Frauenquote«, wiederholte ich noch einmal. »Das wird man doch mal sagen dürfen.«
Durfte man nicht. Nicht an diesem besonderen Tag, nicht gegenüber Sanne.
»Sexuell frustriert?«, blitzte sie mich an. »Oder bloß die verfrühte Midlife-Crisis?«
Die Antwort blieb mir erspart. Denn in diesem Moment balancierte Carla die Scheidungstorte in den Raum. Raunen und Klatschen klang durch die Orangerie. Auf der Spitze der jungfräulich weißen blumenverzierten Torte thronte eine einsame Figur im Brautkleid. Blutrote Flecken liefen über drei Etagen bis zum Fuß der Torte, wo der entsorgte Ehemann in einer angedeuteten Blutlache lag. Es tat mir in der Seele weh, meinen Schwager so zu sehen. Im Gegensatz zu Anja hatte ich mich bestens mit Joshi verstanden.
»Und?«, fragte Anja, als sie mir ein Stück Torte überreichte. »Wie läuft es mit Sanne?«
Ich hatte keine Ahnung, worüber sie sprach. »Gar nichts läuft da«, sagte ich. »Höchstens ich, nämlich weg.«
»Meinst du, ich habe nicht gemerkt, dass du dich für Sanne interessierst«, insistierte Anja. »Schon früher bist du jedes Mal in mein Zimmer gestürzt, wenn Sanne zu Besuch kam.«
Mir war unbegreiflich, dass die frisch geschiedene Anja nicht warten konnte, andere in einen Zustand zu bringen, aus dem sie sich gerade mithilfe eines Scheidungsrichters befreit hatte.
»Wer sagt, dass ich Single bin?«, konterte ich.
»Die Erfahrung«, entgegnete Anja trocken.
Ich verspürte keine Lust, meinen Beziehungsstatus mit Anja zu diskutieren. Dabei grübelte ich selbst, warum ich immer noch alleine war. Dank der ingeniösen mathematischen Formel des Astrophysikers Frank Drake und des statistischen Landesamtes, das auf seiner Website umfangreiches Datenmaterial über die Bevölkerung zugänglich machte, konnte ich akribisch berechnen, wie groß die Chance war, in Berlin meiner Traumfrau zu begegnen. Die Formel diente ursprünglich dazu, zu ermitteln, wie viele außerirdische Arten in der Galaxie der Milchstraße theoretisch zu erwarten waren. Ich hatte die Variablen so angepasst, dass sie eine mathematisch untermauerte Antwort auf die Frage lieferten, wie viele potenzielle Freundinnen ich in Berlin erwarten durfte. Meine Ausschlusskriterien waren nicht sonderlich exzentrisch. Meine Zukünftige sollte im Umkreis von 25 Kilometern wohnen, einen festen Job haben, sich nicht mehr als fünf Jahre im Alter unterscheiden und unverheiratet sein. Am besten war sie Mitglied eines Sportvereins (ein bisschen mehr Sport könnte mir nicht schaden) und mochte Horrorfilme (die Sammlung aus Jugendtagen wartete schon lange auf Wiederentdeckung). Von den 1.779.366 Frauen, die in Berlin gemeldet waren, blieben auf diese Weise circa 4.000 mögliche Kandidatinnen über. Dazu musste ich berücksichtigen, dass mir etwa fünf Prozent der Frauen rein optisch gefielen. Umgekehrt konnte ich höchstens bei drei Prozent mit meiner Erscheinung punkten. Am Ende meines Katalogs kam ich auf sechs Frauen, die rechnerisch alle meine Kriterien erfüllten. Die logistische Herausforderung war, sie im Dschungel der Großstadt zu finden.
»Vielleicht gibt es schon bald was Neues«, erklärte ich kryptisch.
»Erzähl«, forderte Anja mich auf. Geduld war noch nie ihre Stärke. Begeistert winkte sie Beate und Carla herbei. »Tom hat eine neue Freundin«, verkündete sie.
In drei Augenpaaren leuchtete die Vorfreude auf lang erwartete Neuigkeiten aus meinem Liebesleben. Ich zweifelte, ob meine mathematisch weder bewanderten noch interessierten Schwestern meine Theorien nachvollziehen konnten.
»Ich geh eine rauchen«, kürzte ich die Diskussion ab.
»Seit wann rauchst du?«, fragte Beate irritiert.
»Seit eben«, meinte ich.
Ich war nicht der Einzige, der Anjas Scheidungsparty wenig abgewinnen konnte. Im Garten stieß ich auf Carlas Tochter Florentine, die mit einem Stock in den Blumenbeeten des Schlossparks herumstocherte und gefundene Regenwürmer in einer leer getrunkenen Colaflasche festsetzte. Mit dem mageren Körper, den großen Zähnen, den kurzen Haaren und dem schlammfarbenen Hoodie sah sie aus wie der Neffe, den ich nicht hatte.
»Für meinen Kompost«, erklärte sie. »Ich züchte Würmer.«
Florentine war mir in vielen Punkten ähnlich. Sie hielt nichts von geselligen Familienfeiern. Und von Beziehungsdramen.
»Anja tut nur so, als wäre sie glücklich«, analysierte Florentine treffsicher. »Ich glaube, sie ist nur deswegen so laut, damit niemand merkt, wie sehr sie Joshi vermisst.«
Mit zwölf Jahren war Florentine schlauer als alle Erwachsenen um sie herum. Sie warf einen traurigen Blick durch die großen Scheiben, hinter denen Anja unter dem Beifall ihrer beiden Schwestern den Tanz eröffnete. Mit einem exzentrischen Solo.
»Ich hab was für dich«, sagte Florentine und fischte aus ihrer Hosentasche eine zerknitterte Einladungskarte. Auf feinstem Papier lud die Handelskammer Frau Florentine Bender zum Netzwerktreffen des Young Business Clubs.
»Mama hat mir verboten, hinzugehen«, beklagte sie sich. »Sie zwingt mich, um acht Uhr ins Bett zu gehen. Wenn wir nicht gerade Scheidung feiern.«
Florentine überraschte mich immer wieder: »Wie kommst du an eine Einladung der Handelskammer?«
»Ich habe mich wegen eines Gründerdarlehens an die gewandt«, erklärte meine Nichte ernst. »Eine neue Geschäftsidee.«
»Und du bist noch nicht dazu gekommen, zu erwähnen, dass du zwölf Jahre alt bist«, riet ich.
Florentine nickte: »Junge Unternehmer werden überall diskriminiert. Selbst in der eigenen Familie.«
Auf der Tanzfläche nahm das ABC-Team Florentines Schwestern in ihre Mitte und tanzte albern und ausgelassen herum. Keine schien uns zu vermissen.
»Reicht dein Taschengeld nicht aus für deine Pläne?«, fragte ich.
»Mama hat es gestrichen, seit ich bei meinem letzten Experiment aus Versehen den Küchentisch angekokelt habe«, rückte Florentine heraus.
Ich fand den Entdeckergeist meiner Nichte phänomenal: »Wie viel Kredit brauchst du?«
»50 Euro«, gestand Florentine.
»Das ist eine Menge«, gab ich zu bedenken.
»Ich kann dir eine Firmenbeteiligung anbieten«, erklärte meine Nichte mit gewichtiger Stimme. Sie hatte sich gründlich eingelesen und packte das Problem Finanzierung professionell an. Die Geschäftstüchtigkeit ihres Vaters manifestierte sich deutlich in der nächsten Generation. Leider war Alexander in Russland. Oder war es Asien? Seit mein eigener Vater an meinem sechsten Geburtstag die Familie verlassen hatte, hatten sich alle männlichen Zugänge in der Familie Morbach als flüchtige Gäste erwiesen. Anja war geschieden, Beate fühlte sich zu Frauen hingezogen, und Carlas Gatte, zugleich Florentines Vater, war als Vertriebsmann beruflich so eingespannt, dass er wie ein entfernter Verwandter wirkte, wenn er in seiner eigenen Familie auftauchte. Ich hoffte, er nahm sich wenigstens in der Ferne Zeit dafür, stolz auf Florentine zu sein.
Ich zückte mein Portemonnaie. »Mein Beitrag ist eine stille Beteiligung«, warnte ich und legte den Finger auf meine Lippen. Ich hatte keine Lust, mich mit Carla anzulegen.
»Ich maile dir den Businessplan und die Verträge«, versprach Florentine. »Und du gehst zum Netzwerktreffen der Handelskammer und erzählst mir alles.«
Die Entschlossenheit, mit der sie mir die Einladung in die Hand drückte, überraschte mich nicht. Ich machte mir über ihre unternehmerische Zukunft weniger Sorgen als über die meinige.
»Wer weiß«, fügte sie hinzu, »vielleicht lernst du da eine nette Frau kennen.«
Ich lächelte matt. Wenn sich selbst Zwölfjährige Gedanken über mein Liebesleben machten, war die Lage ernster als gedacht.
Der Sonntag nach der Scheidungsparty begann mit einem Kater. Und mit Nichts. An sechs Tagen in der Woche konnte ich mir einreden, dass ich mein Singleleben, in dem ich nur für mich selbst verantwortlich war, genoss. An Sonntagen begegnete man in den Straßen eng umschlungenen Pärchen, Familien im Wochenendmodus und Frischverliebten, denen die Intimität der ersten gemeinsamen Nacht anzusehen war. Mein Terminkalender war genauso leer wie der Kühlschrank. Niemand hatte meinen Lieblingsjoghurt besorgt, »die Wurst, die du so magst« oder eine Flasche Prosecco fürs Frühstück im Bett. Die Tatsache, dass ich weder Prosecco noch Krümel im Bett besonders schätzte, tröstete mich nur bedingt über meinen Sonntagsblues hinweg. Selbst mein abgegriffener Stoffpinguin aus Kindertagen ließ den Kopf hängen. Ich konnte von Glück sagen, dass Pinguine monogame Wesen waren. Sonst hätte er mich vermutlich schon längst aus Langeweile verlassen.
Florentine hatte recht. Es musste etwas passieren. Durchschnittlich heirateten Männer mit 33,6 Jahren eine vier Jahre jüngere Frau. Die Statistik lehrte, dass die meisten Paare sich fünf Jahre kannten, bevor sie den Schritt zum Traualtar wagten. Unter diesen Voraussetzungen hatte ich allen Grund, kurz vor meinem 29. Geburtstag in Panik zu geraten. Wenn meine Altersgenossen zuhauf Beziehungen eingingen, die einmal in der Ehe enden würden, potenzierte sich die Gefahr, dass sich eine meiner sechs Damen in diesen Minuten einem anderen zuwandte. Mit jedem Tag, der in Einsamkeit verstrich, schwanden meine Chancen, dass sich in diesem Leben noch einmal etwas an meinem Beziehungsstatus ändern würde. Die Frauen waren überall. Nur nicht in meinem Bett. Ich war Single. Quasi von Geburt an. Wenn man von meiner Kurzbeziehung mit Sophie einmal absah.
Bis zu meinem Geburtstag am 21. Juni blieben mir 23 Tage. Die Wahrscheinlichkeit, in dieser knapp bemessenen Zeitspanne einer der sechs Frauen, die rein rechnerisch mein Leben komplettieren könnte, in der Bäckerei um die Ecke, beim Zahnarzt oder auf der Straße zu begegnen, tendierte gegen null. Schließlich musste ich zu alledem noch den Tom-Quotienten hineinrechnen. Selbst wenn ich meiner Traumfrau in der U-Bahn gegenübersitzen würde, würde ich mich mit allergrößter Wahrscheinlichkeit so absonderlich und schrullig verhalten, dass jede Kandidatin entsetzt die Flucht ergreifen würde, noch bevor sie sich in mich verlieben konnte. Frank Drakes Formel offenbarte in Zahlen, was ich längst ahnte: Vermutlich würde ich eher einem Alien begegnen als meiner Zukünftigen.
Die Suche nach der Richtigen ähnelte der Jagd nach dem Gottesteilchen. Forscher hatten in den Sechzigerjahren herausgefunden, dass so ein Elementarteilchen existieren musste, der praktische Nachweis ließ Jahrzehnte auf sich warten. Ich verdrängte den Gedanken, wie viel Zeit und Geld das Kernforschungszentrum CERN hatte aufwenden müssen, das theoretisch Mögliche in der Wirklichkeit zu beweisen. Wenn das Schicksal sich nicht freiwillig ergab, musste ich mit wissenschaftlichen Methoden nachhelfen. Die Formel zum Glück lautete für mich Eins plus 1. So nannte sich eine Online-Partnervermittlung, die, zu meiner großen Freude, von Mathematikern geleitet wurde. Die Software der Firma kombinierte Menschen anhand der Daten, die ihre Kunden selbst eingaben. 150 Fragen umfasste der Katalog der Eigenschaften. Bei Eins plus 1 glaubten sie fest daran, dass Algorithmen der Schlüssel zu ewiger Liebe waren. Wenn eine meiner möglichen Partnerinnen bei der Plattform zu finden war, würde ich sie in Rekordzeit aufspüren. Alles, was ich tun musste, war, mich einzuschreiben. Seit Tagen hatte ich mich mit dem Angebot und dem Kleingedruckten vertraut gemacht. Jetzt war der Moment gekommen, die Theorie hinter mir zu lassen und mich via Computer anzumelden. Sekundenschnell erhielt ich die vorformulierte Antwort eines gewissen Nico, dem Gründer von Eins plus 1. Wie schön, dass du zu uns gefunden hast, schrieb er. Lass dir Zeit zum Beantworten der Fragen. Aber nicht zu viel. Spontaneität gewinnt.
Ich war noch nie gut darin gewesen, Leistung auf Kommando abzurufen. Nicht einmal in meiner Paradedisziplin Mathe. Wenn ich in der Schule an die Tafel gerufen wurde, konnte ich davon ausgehen, dass mir, einmal vorne angekommen, nichts mehr einfiel.
Wie das Kaninchen vor der Schlange saß ich in Schockstarre vor dem Bildschirm. Größe, Alter, Gewicht: Die exakten Daten waren schnell ausgefüllt. Die persönlichen Fragen überforderten mich. Den halben Sonntag brütete ich über der Entscheidung, ob ich eher in die Wüste oder den Wald wollte, den Urlaub lieber im Segelboot, auf dem Fahrrad oder beim Sonnenbaden verbrachte, klassische Musik dem Pop vorzog oder Bachblüten Aspirin. Wie sollte ich wissen, ob das Glas halb voll, halb leer oder einfach nur unpassend war? Zu allem Überfluss sollte ich meine Antworten auf einer Skala von eins bis zehn gewichten. Die Entscheidung, wie bedeutsam Ordnung in meinem Leben war im Vergleich zum Kinderwunsch und einem gesunden Ausgleich zwischen Arbeit und Freizeit, bereitete mir stundenlanges Kopfzerbrechen. Noch schwieriger war die Auswahl eines passenden Profilfotos, das weibliche Kandidatinnen animieren sollte, in Kontakt mit mir zu treten. Lag es an der linkischen Haltung, den merkwürdigen Klamotten, dem Seitenscheitel im ungekämmten Haar oder meinem chronisch verschreckten Fotografiergesicht? Ich brauchte keine Streberbrille mit dicken Gläsern, um auszusehen wie ein ungeküsster Frosch. Mit Magenschmerzen schickte ich mein Profil in die Welt. Das große Warten hatte begonnen.
Nichts. Null. Nada. Eins plus 1 ließ nichts von sich hören. Ganz offensichtlich war das System überfordert, in den bestehenden Datensätzen eine Partnerin für mich aufzuspüren. Der Montagmorgen begann wie jeder andere Montag. Um 6.45 Uhr sprang ich aus dem Bett, legte meine Uhr an, öffnete erst den linken, dann den rechten Teil des Vorhangs und begab mich ohne Zwischenhalt Richtung Dusche, wo ich sechs Minuten lang zwischen heiß und kalt wechselte, um den Kreislauf auf Trab zu bringen. Um den Tag nicht mit Nebensächlichkeiten zu beginnen, hatte ich meine Kleidung bereits am Vorabend herausgesucht. Zu einer hellen Hose und kariertem Hemd trug ich Schuhe mit blauem Schlangenmuster. Die auffälligen Treter waren ein Geschenk meines Exschwagers Joshi, der mir aufgetragen hatte, das mit neuartigem Kautschuk besohlte Schuhwerk für seinen Webshop auf Haltbarkeit zu testen. Beim Anblick des exzentrischen Musters zweifelte ich, ob ich die Aufgabe nicht zu ernst nahm.
Infernalisches Getöse verhinderte, dass ich einen klaren Gedanken fassen konnte. »Hands up, nigga, hands up, hands up in the air«, brüllte ein Rapper. Wüster Gangster-Hip-Hop mit elektronischen Bässen dröhnte durch die Decke zwischen den Geschossen, begleitet von unermüdlichem Gestampfe auf Parkett. Über mir wohnte seit Neuestem Kimmie, eine zwölfjährige Möchtegern-Hip-Hopperin mit leichtem Übergewicht. Ihre alleinerziehende Mutter besaß mehrere Studios für Haarentfernung, die so gut liefen, dass sie sich hatte leisten können, eine Horde polnischer Bauarbeiter zu engagieren, die das marode Dachgeschoss unseres Hauses zum luxuriösen Penthouse ausgebaut hatten. Nach monatelangem Hämmern, Klopfen und Bohren waren Tamara und Kimberly kurz nach Ostern eingezogen. Seitdem tanzte Kimmie mir auf dem Kopf herum. Trotz überzähliger Kilos träumte das Mädchen vom Showbusiness. Sie hatte beim Ansehen Hunderter Castingshows verinnerlicht, dass sich eine Bühnenkarriere durch beständiges Wiederholen und Trainieren erzwingen ließ. Ich stand mit dem Rücken zur Wand. Mit dem Blick auf zukünftige Wohnwünsche ihrer Tochter hatte Tamara die unterliegende Etage miterworben. Mit mir als Mieter.
Bevor die Damen Schmitz eingezogen waren, liefen meine Morgende wie ein schnurrendes Uhrwerk, in dem alle Zahnräder mühelos ineinandergriffen. Jetzt blieb mir ein 15-minütiges Zeitfenster, mich ungesehen zum Bäcker zu stehlen, bevor das Mutter-Tochter-Duo zur Schule und Arbeit aufbrach. Zur Sicherheit kontrollierte ich jeden Morgen am Spion, ob ich Gefahr lief, auf der Treppe in eine Unterhaltung verwickelt, oder, schlimmer noch, von Paris und Aphrodite beschnüffelt zu werden, Tamaras eleganten afghanischen Windhunden, die sich für etwas Besseres hielten. Wie ein Verbrecher in der Nacht stahl ich mich zur Bäckerei Schwab, wo ich von der immer gleichen und immer gleichgültigen Angestellten namens Annette zwei Brötchen, jeden dritten Tag ein halbes Brot und zweimal im Monat frischen Kaffee erwarb. Meine Exfreundin Sophie hatte ständig versucht, mich dafür zu gewinnen, das riesige Sortiment von Schwab durchzuprobieren. Ich hing an meinen Gewohnheiten: »Anstatt mir beim Bäcker den Kopf darüber zu zerbrechen, was ich heute essen will, kann ich ungestört an dich denken«, erklärte ich ihr.
Wenig später verzichtete sie auf meine frischen Brötchen und warmen Gedanken.
Sophie war weg, die Schmitzens so anwesend, wie man anwesend sein konnte. An guten Tagen bewältigte ich kollisionsfrei das Treppenhaus, an schlechten stieß ich frontal auf meine neue Vermieterin und wurde auf nüchternen Magen bestraft mit Gesprächen über das Wetter, die Flüchtlingskrise, Kimberlys nächste Aufführung, die Verdauung ihrer Hunde oder den Weltfrieden. Heute war ein besonders schlechter Tag. Die Afghanen, rettungslos verheddert in ihre Flexileinen, blockierten den Rückweg. Kimmie, noch in der Wohnung, kreischte durchs Treppenhaus, dass sie weder ihren zweiten Schuh noch die Schulaufgabe oder gar den Schlüssel finden konnte.
Tamara lächelte das morgendliche Chaos weg. »Ich hab was für dich«, verkündete sie und kramte aus ihrer übergroßen Handtasche ein Werbegeschenk, das mich zur Eröffnung ihrer Filiale im Einkaufszentrum am Leipziger Platz einlud. Der überwältigende Geruch von Seife lieferte einen Hinweis, was in der edlen Pappschachtel enthalten war.
»Komm einfach auf ein Glas Rosé vorbei«, säuselte sie. »Es wird Zeit, dass wir uns ein bisschen näher kennenlernen.«
Erschöpft widmete ich mich meiner Tasse Espresso, verspeiste am Klapptisch in der Küche erst die untere, dann die obere Hälfte des Brötchens. Nach der zweiten Tasse Kaffee hatte ich mich so weit von Tamara und ihrer Tochter erholt, dass ich mich psychisch und physisch dazu in der Lage fühlte, mit der Arbeit zu beginnen. Als selbstständiger Unternehmensberater war für mich der Juni traditionell der umsatzschwächste meiner umsatzschwachen Monate. Die stärker werdende Sonne versetzte die Kleinunternehmer und Existenzgründer, die ich bei Businessplänen und Logistik unterstützte, in einen kollektiven Sommerrausch, der sie bei passenden Temperaturen locker bis in den Oktober trug. Mein Kundenstamm, der so nur in der Hauptstadt zu finden war, lebte mit den Jahreszeiten. Wer will sich schon mit Unternehmenszahlen auseinandersetzen, wenn man gleichzeitig im Biergarten mit Gleichgesinnten neue Ideen ventilieren kann? In Ermangelung eines zeitfressenden Privatlebens blieb mir ausreichend Zeit, mich der Werbung von Neukunden zu widmen. Auf einem Zettel hatte ich die Namen potenzieller Geschäftspartner und idealer Zielkunden notiert. Ich trank eine außerplanmäßige Tasse Kaffee, um Zeit zu gewinnen und mein Telefonskript noch einmal durchzugehen. Guten Tag, mein Name ist Thomas Morbach. Ich habe mich ausführlich mit Ihnen und Ihrem (Produkt – Dienstleistung ergänzen) beschäftigt. Ich habe Ideen, wie Sie jährlich erhebliche Summen einsparen können. Darüber würde ich mich gerne einmal persönlich mit Ihnen unterhalten.
Einschlägige Ratgeber zum Thema Telefonmarketing empfahlen, beim Überbringen unerwünschter Werbebotschaften zu lächeln. Angeblich vermittelte sich freundliche Aufgeschlossenheit selbst dann, wenn sie nur gespielt war.
Ich trank eine weitere Tasse Kaffee. Mit ein bisschen mehr Koffein klang meine Stimme aufgeweckter. Gegen Mittag flatterte mein Herz so stark, dass ich die Kaltakquise aus gesundheitlichen Gründen auf den nächsten Tag verschob.
Mein Freiberuflerdasein gestaltete sich komplizierter als gedacht. Dabei hatte ich mein Berufsleben einmal als Senkrechtstarter begonnen. Ich hatte gerade mal fünf Semester theoretische Mathematik an der Frankfurter Universität hinter mir (absichtlich weit weg von Berlin, meinen Schwestern und den Erinnerungen), als ich einen Sommerjob bei einer Bank annahm. Als Aushilfe im Hausbotendienst. Tag für Tag schob ich mit meinem quietschenden Wägelchen Postgut, interne Schreiben, Akten und bestellte Brötchen durch das 28 Stockwerke zählende Hochhaus.
Nach zwei Wochen ausgedehnter Wanderungen durch die verwinkelten Gänge, Konferenzsäle und Zimmerfluchten zitierte mich Mareike Vogel, eine der jüngeren Investmentbankerinnen, in ihr Büro, um mich zur Rede zu stellen.
»Wie machen Sie das?«, hatte sie gefragt. »Die Post kommt drei Stunden früher als bei unserer festen Kraft.«
Ich hatte nichts anderes zu berichten, als dass ich mir die Büronummern, Stockwerke und Namen gemerkt und zu Hause ein softwaregestütztes Verteilsystem entwickelt hatte. Seitdem fragte Frau Vogel mich regelmäßig um Hilfe bei logistischen Problemen. Kurz vor Weihnachten teilte sie mir einen eigenen Schreibtisch im dritten Stock zu. Zermürbt von ewigen Geldsorgen, erlag ich der Versuchung, die theoretische Mathematik aufzugeben und stattdessen meinen Weg ins Arbeitsleben abzukürzen. Von der Null in der Poststelle ins Eckbüro in hundert Tagen! Ich arbeitete nicht an der Kundenfront, sondern im Backoffice der Bank, wo die Büros überfüllt, Gehälter knapp bemessen, Anzüge von der Stange und Schuhe ausgetreten waren. Statt zu studieren, berechnete ich nun 14 Stunden am Tag, welche Risiken mit den Wertpapiergeschäften der Abteilung Vogel verbunden waren. Ihr Ehrgeiz, immer neue und immer komplexere Finanzprodukte zu entwickeln, war atemberaubend. Dass sich das alles nicht rechnete, wollte niemand hören. Je höher man in den Bürotürmen stieg, umso weniger begriffen die Banker die Zahlen und Statistiken, die ich tagtäglich produzierte. Regelmäßig beschimpfte Frau Vogel uns Quants, wie die quantitativen Analysten genannt wurden, als Erbsenzähler und Verhinderer. Als Mareike Vogels Luftschlösser im Zuge der Kreditkrise in sich zusammenfielen, war unsere Abteilung eine der ersten, die aufgelöst wurde. Mareike Vogel erhielt einen Bonus und wechselte in den Vorstand, das Backoffice wurde kollektiv wegen erwiesener Unfähigkeit entlassen. Ohne Studienabschluss und mit dem Engagement im Risikomanagement einer angeschlagenen Bank als einziger beruflicher Qualifikation war die Flucht in die Freiberuflichkeit pure Notwehr. Genauso wie die Rückkehr nach Berlin. In Rekordtempo fand ich in Friedrichshain eine erschwingliche Wohnung. Die kleinen Start-ups, die sich in meinem stylish heruntergekommenen Viertel angesiedelt hatten, wurden meine neuen Kunden. Junge Weltverbesserer, die an grünen Ideen bastelten, Eventagenturen, der Tante-Emma-Laden, der komplett auf Einwegverpackungen verzichtete, die Hausfrau, die selbst gebackene Kuchen via Fahrrad vertrieb, die töpfernde Trude, die altes Geschirr aufkaufte und mithilfe von applizierten Fotos in Kunstobjekte verwandelte, die unermüdlichen App-Bastler: Die Firmengründer waren chronisch pleite und chronisch gut gelaunt. In atemberaubendem Tempo feuerten sie Ideen in den Raum, als wären ihre Einfälle Silvesterböller. Ihr Leben war geprägt von der ungebrochenen Hoffnung, das nächste eBay, Facebook, SnapChat oder amazon zu erfinden und dabei genug Freizeit zu haben. Weil die Unternehmer von morgen heute knapp bei Kasse waren, arbeitete ich mit Rückstellungen und Unternehmensbeteiligungen. Meine Auftraggeber nannten sich Entrepreneurs und verließen sich auf das Gesetz vom blinden Huhn und dem Korn, das sich irgendwann findet, wenn man nur ausdauernd genug pickt. Die Gesetze der Wahrscheinlichkeit gaben ihnen recht. Vielleicht waren meine Klienten blinde Hühner, aber sie waren unermüdlich: Wenn die Idee, Stadtführungen als lockeren Marathon zu veranstalten, nicht zündete, dann vielleicht die neue Website, die individuelle Reiseleiter vermittelte, oder das Start-up, das Lotto-Tippgemeinschaften bündelte, um so die Chancen zu erhöhen. Ich half beim Finden von Gründerkrediten und EU-Subventionen, bei logistischen Problemen und noch viel häufiger bei Insolvenzen. Zum Stundenpreis. Seit der Einführung eines Start-up-Bonus arbeitete ich unter Marktwert. Ich hatte ein buntes Sortiment Firmen-T-Shirts, eine endlose Auswahl Stoffbeutel mit flotten Aufdrucken und am Monatsende Kopfschmerzen, wie ich meine Miete bezahlen sollte. Florentine hatte recht: Das Netzwerktreffen kam wie gerufen.