Inhaltsverzeichnis

 

 

 

 

Mit sechs Zeichnungen von Bruno Schulz

»Gelobt sei, der seltsame Wesen schafft.«

S.J. Agnon, Und das Krumme wird gerade

 

 

 

 

»Sehr verehrter, hochgeschätzter, lieber Herr Thomas Mann«, schrieb an einem überraschend warmen Herbsttag im November 1938 ein kleiner, dünner, ernster Mann langsam und vorsichtig in sein Notizbuch – und strich den Satz sofort wieder durch. Er erhob sich von dem viel zu niedrigen, leise quietschenden Drehstuhl, auf dem er seit dem frühen Nachmittag an dem ebenfalls zu niedrigen Schreibtisch aus dem alten Büro seines Vaters gesessen hatte, erstreckte, wie bei der Morgengymnastik, die Arme ein paarmal nach oben und zur Seite und blickte zwei, drei Minuten lang zu dem schmalen, verschmutzten Oberlicht hinauf, vor dem immer wieder Schuhe und Beine, Schirmspitzen und Rocksäume der auf der Florianskastraße vorbeigehenden Passanten auftauchten. Dann setzte er sich wieder hin und begann noch mal.

»Sehr geehrter Herr!«, schrieb er. »Ich weiß, dass Sie täglich viele Briefe bekommen und wahrscheinlich mehr Zeit damit verbringen, sie zu beantworten, als mit dem Schreiben Ihrer wunderbaren, weltberühmten Romane. Ich kann mir vorstellen, was das bedeutet! Ich selbst muss sechsunddreißig Stunden in der Woche meinen lieben, aber völlig unbegabten Jungen das Zeichnen beibringen, und wenn ich am Ende des Tages das Jagiello-Gymnasium, an dem ich unterrichte, müde verlasse –« Er brach ab, stand wieder auf, und dabei stieß er mit dem linken Knie gegen den Tisch. Statt aber, sowie es jeder andere getan hätte, das angeschlagene Knie zu reiben oder leise schimpfend durch den kleinen Kellerraum zu springen, hielt er seinen Kopf mit beiden Händen fest – es war ein sehr großer, fast dreieckiger, hübscher Kopf, der von Weitem an die Papierdrachen erinnerte, die seine Schüler seit den ersten windigen Septembertagen im Steinbruch von Koszmarsko steigen ließen –, und kurz darauf ließ er den Kopf mit einer einzigen heftigen Bewegung los, als ob er so seinen Gedanken raushelfen könnte. Es funktionierte, wie fast immer, und schon saß er wieder am Tisch und schrieb auf eine neue, leere Seite schnell und ohne zu überlegen: »Lieber Dr. Thomas Mann! Obwohl wir uns nicht persönlich kennen, muss ich Sie darüber informieren, dass vor drei Wochen ein Deutscher in unsere Stadt gekommen ist, der behauptet, Sie zu sein. Da ich Sie, wie wir alle in Drohobycz, nur von Fotografien aus den Zeitungen kenne, kann ich nicht mit letzter Sicherheit sagen, dass Sie es nicht sind, aber alle in die Geschichten, die er erzählt – von seiner abgetragenen Kleidung und dem starken Körpergeruch abgesehen, der ihn umgibt –, machen ihn verdächtig.«

So, sehr gut, das genügt für den Anfang, dachte der kleine, ernste Mann in dem Keller in der Florianskastraße zufrieden und schob den Bleistift – es war ein Koh-i-Noor HB, mit dem man notfalls auch zeichnen konnte – in die Innentasche seines dicken, belgischen Jacketts, das er das ganze Jahr trug. Dann klappte er das schwarze Notizbuch mit dem leeren Etikett auf dem Deckblatt zu und streichelte, als wäre er nicht er selbst, sein Gesicht. Er hatte das erste Mal an diesem Tag, nein, das erste Mal seit vielen Monaten, vielleicht sogar seit Jahren, nicht mehr das Gefühl, als würden gleich aus den Wänden um ihn herum große, schwarze Echsen und böse grinsende, schielende, petrol-grüne Schlangen herauskriechen, er hörte nicht wie sonst alle paar Minuten hinter sich das Schlagen und Rauschen riesiger Archaeopteryxflügel, er fürchtete nicht, dass sich schon bald, ganz bald etwas unvorstellbar Schreckliches ereignen würde. Als ihm das klar wurde, geriet er sofort wieder in Panik, denn das konnte nur eine Falle des Schicksals sein.