Loreley singt nicht mehr

Judith Merchant

Loreley
singt
nicht mehr

Kriminalroman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Judith Merchant

Judith Merchant studierte Literaturwissenschaft und unterrichtet heute Creative Writing an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Für ihre Kurzgeschichten wurde sie zweimal mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Nach der Veröffentlichung ihrer Rheinkrimi-Serie (darunter »Nibelungenmord« und »Loreley singt nicht mehr«) zog Judith Merchant von der Idylle in die Großstadt. 2019 erschien ihr Thriller »ATME!«.

Impressum

eBook-Ausgabe 2012

Knaur eBook

© 2012 Knaur Taschenbuch

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Maria Hochsieder

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: Collage aus Motiven von plainpicture/Millennium/Miguel Sobreira und shutterstock.com

ISBN 978-3-426-41309-8

 

 

Für Sanjay

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,

Dass ich so traurig bin;

Ein Märchen aus alten Zeiten,

Das kommt mir nicht aus dem Sinn.

 

Die Luft ist kühl und es dunkelt,

Und ruhig fließt der Rhein;

Der Gipfel des Berges funkelt

Im Abendsonnenschein.

 

Die schönste Jungfrau sitzet

Dort oben wunderbar;

Ihr goldnes Geschmeide blitzet,

Sie kämmt ihr goldenes Haar.

 

Sie kämmt es mit goldenem Kamme

Und singt ein Lied dabei;

Das hat eine wundersame,

Gewaltige Melodei.

 

Den Schiffer im kleinen Schiffe

Ergreift es mit wildem Weh;

Er schaut nicht die Felsenriffe,

Er schaut nur hinauf in die Höh.

 

Ich glaube, die Wellen verschlingen

Am Ende Schiffer und Kahn;

Und das hat mit ihrem Singen

Die Lore-Ley getan.

 

Heinrich Heine

Prolog

Niemand außer ihm war wach, so dachte er zumindest. Er selbst schlief niemals. Ruhelos wälzte er sich in seinem schlammigen Bett, über sich die Sterne, die ihm keinen Blick mehr wert schienen nach so vielen Jahren der Nachbarschaft.

Bald würde der Morgenwind kommen, ihm die Nebelfetzen vom grauen Rücken zupfen und sie in Richtung Südbrücke wehen, die aufgehende Sonne würde seine silbrigen Schuppen für wenige Minuten in unwirklichem Rot erstrahlen lassen, doch all das war ihm gleichgültig. Seit einiger Zeit rührte ihn selbst die eigene Schönheit nicht mehr.

Vater Rhein war alt geworden. Längst hatte er seinen Kampf gegen den regen Last- und Fährverkehr der Schiffe aufgegeben. Klaglos schluckte er ihre öligen Exkremente, litt stumm und sann auf Vergeltung. In den Wintermonaten schwoll er dann, wenn die Wetter günstig waren, gewaltig an, hob sein mächtiges Haupt und spie seine eisige Verachtung in die Keller und Wohnräume der Menschen.

Wehmütig dachte der Rhein an vergangene Zeiten. Damals war er noch nicht allein gewesen, er hatte eine Freundin gehabt, eine Spielgefährtin. Gemeinsam hatten sie Schiffer gejagt. Sie hatte hoch oben auf dem Felsen gesessen und ihren betörenden Gesang über die glitzernden Wellen perlen lassen, einen Gesang, der die Sinne der Schiffer verwirren konnte. Der Rhein hatte an den Kähnen gerüttelt, und die Männer waren willenlos in seine Wogen gesunken, begleitet von ihrem silberhellen Gelächter.

Loreley.

Er vermisste sie. Seit sie nicht mehr da war, war er allein.

Beim ersten Morgengrauen würden wie immer die ersten Jogger auftauchen, rhythmisch schnaufend, manche von ihnen mit Hunden, und ihre Runden über die drei Rheinbrücken ziehen, sinnlose Achten und Schleifen, am Ufer entlang, über die Brücke, am gegenüberliegenden Ufer zurück, eine andere Brücke überquerend, alle taten das, Tag für Tag, Jahr für Jahr.

So vertieft war der Rhein in seine Gedanken, dass ihm das kleine Abenteuer beinahe entgangen wäre. Etwas war ins Wasser gefallen, und er hatte reflexartig seine silbergrauen Wogen darüber zusammenschlagen lassen, noch ehe er erfasst hatte, was es war.

Es war ein Mensch.

Erstaunlich, dachte der Rhein und blinzelte zum Ufer hin, aber sein trüber Blick reichte nicht weit. Er konnte nicht ausmachen, ob der Mensch nur ein besonders dummer Schwimmer war oder aber von einem seiner Artgenossen ins Wasser geschubst worden war.

Der Rhein schüttelte seine Trägheit ab und konzentrierte sich auf den Körper, der ihm so unverhofft zugefallen war. Vor Vorfreude entschlüpfte ihm ein Glucksen.

Das Spiel konnte beginnen.

Er schickte seinem Opfer einen Strudel hinterher, umfing ein blasses Fußgelenk, zog spielerisch daran. Vom eigenen Auftrieb beflügelt, schnellte der Körper in die Höhe.

Vater Rhein tastete ihn mit seinen nassen Finger ab. Der Mensch war nackt. Das war seltsam, jetzt, im Winter. Neugierig musterte er die helle Haut. Etwas ließ ihn stutzen. Flecken. Dunkle, ungleichmäßige Flecken überzogen den Körper wie ein löchriges Netz.

Er schlang seine nassen Arme um das Opfer, um mit eisiger Umklammerung die Temperatur des fremden Körpers seiner eigenen anzupassen. Viel zu tun blieb ihm nicht.

Der Körper war bereits kalt.

Tag eins

Erst als der Haken sich durch sein weiches Fleisch bohrte, krümmte sich der Wurm, doch wenn er damit gegen sein Schicksal protestieren wollte, so krümmte er sich umsonst. Es war dunkel, so dass der Angler ihn nicht sehen konnte, und selbst wenn, es wäre ihm egal gewesen.

Hannes Menzenbach warf die Angel aus, und während er sich zurücklehnte, spürte er, wie sich eine wohlbekannte Erregung in ihm aufbaute. Er war bereit. Bereit für den Aal, der früher oder später anbeißen würde.

Andere priesen die Ruhe, die das Angeln mit sich brachte, aber für Hannes war es anders. Für ihn war Angeln ein Kampf, ein Zweikampf. Sein Gegner war der Aal, und Hannes wusste, er würde ihn besiegen. Er besaß alles, was er dazu brauchte: einen Ring mit Knicklicht als Bissanzeiger. Tauwürmer, damit die Kleinfische ihm nicht alles wegfraßen. Vor allem aber besaß er die nötige Erfahrung.

Er hatte einen halben Tauwurm pro Haken aufgezogen. Als der Köder mit einem hellen Klatschen unter der schwarzen Wasseroberfläche verschwand, verschwand mit ihm auch alles andere, selbst die bevorstehende Verabredung, die ihn die halbe Nacht wach gehalten hatte. Nur Chris verschwand nicht. Gerade in den Stunden, in denen Hannes allein mit dem Rhein war und auf den ersten Biss wartete, war Chris bei ihm. Und das war gut so. Diese Stunden gehörten ihm und seinem Sohn. Und dem Aal, wenn er kam.

Es war nachtschwarz, der helle Schein der Straßenbeleuchtung, die die Rheinpromenade säumte, hätte auch bei klarer Sicht nicht bis zum äußersten Ende der Buhne gereicht, wo er saß, jetzt aber, im Nebel, konnte er die hellen Lichtflecken in der Schwärze der Nacht kaum ausmachen.

Nichts anderes war wichtig. Nur er und der Rhein und sein Aal. Alles war gut. Er hatte alles im Griff.

Hannes stellte sich vor, wie sein Aal zielstrebig durch das eisige Wasser glitt auf der Suche nach einem Opfer. Der Aal war ein nachtaktives Raubtier, und jetzt, in den frühsten Morgenstunden, war seine Zeit. Hellwach zickzackte er umher, wenn die Fähren noch fest vertäut am Ufer ruhten und bestenfalls im Wind leicht schaukelten, aber noch war kein Wind aufgekommen.

Der Köder war gut. Der Aal würde anbeißen, dem kalten Wetter zum Trotz.

Doch bis dahin verging viel Zeit, Zeit, in der Hannes auf die dunkle Wasseroberfläche starrte und seinen Gedanken nachhing. Dann meldete sich der Bissanzeiger. Der Aal hatte angebissen. Hannes stand auf, schlug mit der Rutenschnur an, so dass der Haken sich fest ins Maul des Tieres grub, und drillte ihn so schnell es ging ans Ufer, damit der Aal sich nicht festsetzen konnte.

Hannes griff ihn fest, so fest er konnte, bemüht, seinem sich kraftvoll windenden, glitschigen Leib auszuweichen. Sein Messer trennte den Kopf vom Rumpf, aber auch jetzt ließ er keine Sekunde locker, denn dies war der kritische Moment.

Einem weniger erfahrenen Angler mochte der Aal an dieser Stelle entwischen, nicht aber Hannes. Er hatte alles im Griff. Er wusste, dass die Muskelkraft eines geköpften Aals enorm war, immer noch konnte das Tier sich losreißen, ins schwarze Wasser klatschen und weiterschwimmen, ein kopfloser Geisterfisch, der es noch eine Zeitlang mit der eiskalten Strömung des Rheins aufnehmen würde, selbst wenn sein Kopf am Ufer lag und mit toten Augen auf die umherliegenden Basaltbrocken blickte.

Hannes umklammerte den sich windenden Aal länger als nötig. Er genoss den Zweikampf. Diese Minuten waren es, die das stundenlange Warten in Kälte und Dunkelheit krönten, der einsame Kampf.

Dann quirlte der Aal kopflos im Eimer, und Hannes warf die Angel erneut aus, doch der Wurf misslang. Als er die Angelschnur einholen wollte, spürte er, dass etwas Schweres daran hing. Er zog noch einmal, diesmal vorsichtiger, und spürte Widerstand. Der Haken hing fest. Hannes zog die Taschenlampe aus dem Rucksack und ließ ihren hellen Lichtkegel über die Wasseroberfläche huschen.

Sanfte, schwarze Wellen kräuselten sich, eine neben der anderen.

Dann sah er das bleiche Bein.

*

Schon seit Jahren gab es keinen Ganzkörperschlaf mehr für Juli. Wenn sie schlief, blieb mindestens eines ihrer Ohren wach.

Als sie den dumpfen Aufprall hörte, blieb ihr Herz stehen, zumindest fühlte es sich so an. Für einen Moment lag sie schockstarr, gefangen im Gespinst ihrer Traumfetzen. Dann kam der Gedanke an die Kinder, an das, was ihnen passieren konnte, und sie war schlagartig hellwach.

Juli hatte gerade geträumt. Sie konnte nicht mehr sagen, was sie geträumt hatte, es war etwas Schönes gewesen, sie war an einem Ort gewesen, wo sie warm und weich und sicher war, vielleicht im Urlaub, Atlantikküste, blaues Meer, Sonnenwärme auf dem nackten Bauch, Plastikspielzeug im Sand verstreut, die Vorfreude auf ein Eis vielleicht.

Gewöhnlich waren es durchdringende »Mama, Mama!«-Rufe, die sie weckten, dieses Geräusch war neu, bedrohlich. Als ob jemand aus dem Bett gefallen wäre. Fips vielleicht …

Sie war aufgesprungen, unwillkürlich, instinktiv. Aus dem Zimmer der Jungen hörte sie Gemurmel. Sie drückte den Schalter, und Licht flutete das Zimmer, entriss der Nacht die bunte Autotapete, den gelben, mit vielen Filzstiftstrichen bemalten Sitzsack, den mit Zeichnungen übersäten Maltisch.

»Was ist passiert?«

Die Antwort war unterdrücktes Kichern. Sie trat zum Hochbett. Die Ausbuchtungen unter der Bettdecke verrieten ihr, dass die Jungs sich wieder in das untere Bett verkrochen hatten und dort darauf warteten, dass sie die Decke wegzog und sie entdeckte. Sie tat ihnen den Gefallen.

»Huch!«, machte sie. »Wo sind denn meine Jungs? Ich kann sie nicht sehen! Ach, hallo, Krokodil, kannst du mir helfen, meine Jungs zu suchen?« Sie klapperte gefährlich mit den Zähnen und hörte Fips unter der Decke entzückt aufschreien, dann schnappte sie nach den Knabenfüßen, die darunter hervorlugten. »Ha! Ich hab was!«

Noch ehe sie ebenfalls nach Antons Füßen suchen konnte, hing Fips ihr schon um den Hals, sie roch seinen tröstlichen Kindergeruch und fühlte seine weichen Lippen, als er sie mit Küssen überschüttete. Mit ihm auf dem Arm setzte sie sich auf die Bettkante.

»Warum seid ihr wach? Ich hab ein Geräusch gehört.«

»Fips ist aus dem Bett gesprungen, von ganz oben. Wir wollen mit dir Verstecken spielen«, sagte Anton und zog verlegen an seinem Schlafanzugoberteil. Er wusste genau, dass sie eigentlich nachts schlafen sollten, und versuchte, an ihrer Reaktion abzuschätzen, ob sie schimpfen würde oder nicht. Fips war das egal, er presste seinen Kopf weiter an ihren, bis sie sich vorsichtig aus seiner Umklammerung löste.

»Es hat so laut gerumst. Hast du dir weh getan?«

Fips schüttelte den Kopf, und Juli unterdrückte das Bedürfnis, seinen mageren Jungenkörper nach Verletzungen abzusuchen. Er war das wildeste ihrer Kinder, und so manches Mal war er mit Prellungen und aufgeschlagenen Knien herumgelaufen, die sie erst abends beim Baden entdeckt hatte. Aber sie wusste, wenn sie das Licht nicht bald wieder löschte, war an Schlaf nicht mehr zu denken. Sie durfte nicht zu viel herumalbern. Das Krokodilspiel … Für einen Moment war sie froh, dass Gis nicht aufgewacht war. Mit den Augen von Gis betrachtet, hatte sie gerade wieder eine pädagogische Sünde begangen.

Die Kinder werden nie lernen durchzuschlafen, wenn du bei jedem Pups aufstehst und Quatsch mit ihnen machst.

Irgendwie hatte er recht. Auf der anderen Seite – er schlief jetzt tief und fest. Von den nächtlichen Unruhen war Gis durch zwei Stöpsel Ohropax getrennt, da konnte er, wenn er morgens ausgeruht erwachte, leicht pädagogische Reden schwingen.

»Marsch ins Bett«, sagte sie so streng wie möglich und dämpfte ihre Stimme, wie um der nächtlichen Stunde Tribut zu zollen. »Sonst wacht Hedda auf. Es ist noch nicht Zeit zum Aufstehen.«

»Wie spät ist es?«, wollte Anton wissen. Er lernte gerade die Uhr.

Juli seufzte. Sie hatte ihre Armbanduhr nicht um. Aber es war wichtig, Anton zu bestärken, wenn er einmal von sich aus etwas wissen wollte. Das kam selten genug vor. Während sein jüngerer Bruder die Welt von früh bis spät mit Fragen bestürmte, blieb der sechsjährige Anton immer im Hintergrund. Juli ging also ins anliegende Bad, warf einen Blick auf den Radiowecker und trat zurück zu den Jungs. »Vier Uhr und fünfzehn Minuten.«

»Viertel nach vier«, korrigierte Anton sie ernsthaft, dann wartete er, bis sie ihn zugedeckt hatte. Sie küsste die Jungen, löschte das Licht und schloss vorsichtig die Tür.

Vier Uhr! Sie war erst vor drei Stunden zu Bett gegangen, hatte noch Wäsche zusammengelegt für den Kindergarten. Die Eltern wuschen die Handtücher reihum, und irgendwie war sie jede Woche dran, zumindest kam es ihr so vor. Vielleicht wusch sie zu oft? Vielleicht hatte sich jemand bei der Liste vertan, und sie wusch die Handtücher ganz allein, nur weil sie die Verteilung nicht in Frage stellte? Sie sollte das nachprüfen. Noch während sie im Geiste eine Notiz machte, wusste sie, dass ihr morgen im Kindergarten ohnehin alles egal sein würde, sobald sie Fips und Anton glücklich abgeliefert und drei kostbare Stunden freie Zeit vor sich hatte. Zeit, um einzukaufen, Wäsche zu waschen und das Mittagessen zu kochen. Das Mittagessen im Kreise der Familie war wichtig, ebenso wie das Essen selbst, Bio sollte es sein und selbstgekocht und …

Bitte, lieber Gott, mach, dass sie jetzt schlafen, dachte sie, dann öffnete sie leise die Tür zu Heddas Zimmer. Egal, wie müde sie war, sie konnte nie darauf verzichten, bei jedem Kind nach dem Rechten zu sehen, genauso, wie sie bei jedem nach der Geburt die Finger und Zehen gezählt hatte, wieder und wieder, starr vor Staunen über das Wunder, das die Natur an ihren Kindern vollbracht hatte.

Zum achten Geburtstag hatte Hedda sich eine neue Zimmerfarbe aussuchen dürfen, und die linke Zimmerwand leuchtete in sattem Lila, ihrer aktuellen Lieblingsfarbe. Anders als ihre kleineren Brüder hatte Hedda Angst im Dunkeln. Juli trat ans Bett.

Ihre Tochter schlief. Obwohl es kühl im Zimmer war, kringelte sich ihr Haar in schweißfeuchten Strähnen, und Juli schlug vorsichtig die Bettdecke auf, damit sie ein wenig Hitze abgeben konnte. Halb erwartete Juli, dass das Mädchen hochschrecken würde und weinend ihre Arme um sie schlingen würde, gefangen im Gespinst schrecklicher Alpträume, aber Hedda atmete tief und fest, und das war gut, auch wenn Juli für einen irrationalen Moment gern die Kinderarme um ihren Hals gespürt hätte.

Hedda schlief. Alles war gut. Die Kinder waren in Sicherheit.

Noch zwei Stunden Schlaf, dachte Juli, als sie ins Bett kroch, neben Gis, der regungslos auf seiner Seite lag. Höchstens. Nur, wenn sie umgehend einschlief und bis zum Schrillen des Weckers nicht gestört wurde. Trotzdem musste sie lächeln.

Ich würde verrückt werden, wenn Lilly nachts ständig nach mir verlangte, hatte Marla gesagt, aber Marla war eben Marla, und Juli war Juli. Juli hielt das aus. Juli hielt viel aus. Alles.

Nur fünf Stunden. Sie wusste, sie würde heute wieder nicht auf mehr als fünf Stunden Schlaf kommen. Es sei denn … Juli spürte, wie sich ihre Glieder lockerten, sie wurde müde.

Sie schlief beinahe.

»Mama?« Ein kleiner dunkler Schatten stand in der Tür. Für einen Moment ging in Julis Kopf alles durcheinander, das mochte eine vierjährige Hedda sein oder war es Anton, aber dann trat die Gestalt auf sie zu, und sie erkannte, dass es Fips war, klein und mager für sein Alter. »Ich hab einen Alptraum«, verkündete er siegesgewiss.

Juli richtete sich auf, sie fühlte sich benommen. »Fips«, sagte sie.

»Mama! Ein Alptraum!«

Sie seufzte. »Du bist wach. Wenn man wach ist, hat man keinen Alptraum.«

»Doch, ich schon! Und wenn ich allein schlafen muss im Bett, dann hab ich das die ganze Nacht, viele davon. Darf ich bei dir schlafen?« Treuherzig blickte er sie an.

Sie seufzte und hob die Decke. »Komm! Aber keinen Mucks.«

Sie wartete, bis er zu ihr gekrabbelt war, dann drehte sie sich zur Wand und schloss die Augen. Bitte schlaf, dachte sie.

»Ist ja auch besser, wenn ich bei dir schlafe«, hörte sie Fips an ihrem Rücken. »Weil, Papa schläft ja immer so fest. Und einer muss dich beschützen. Das mach ich jetzt. Weil, ich bin dann dein Beschützer. Oder, Mama?«

Sie presste die Augen fest zu und hoffte, dass sie beide der Schlaf überfallen würde, jetzt, unvermittelt.

»Mama? Ich hab dich was gefragt.«

»Schlaf gut, mein Schatz«, flüsterte sie.

Mit angehaltenem Atem lauschte sie ins dunkle Haus, ob Anton seinem Bruder folgen würde, aber kein Laut drang aus dem Jungenzimmer. Fips bohrte seinen Kopf in ihre Seite, seufzte, warf sich herum und zog dabei die Decke mit sich. »Warum schläft Papa immer so doll?«, murmelte er schläfrig.

Juli antwortete nicht, um ihn nicht zu weiteren Fragen zu animieren, aber in ihr nahm die Frage Fahrt auf, kurvte durch ihren Kopf und warf ein Echo in das Tal ihrer Schädeldecke.

Warum schläft Papa immer so tief?

Irgendetwas an dieser Frage erschien ihr bedrohlich. Als ob diese Frage noch viele, viele Sorgen mit sich bringen würde. Sie dachte darüber nach, bis sie endlich einschlief, eine knappe halbe Stunde ehe der Wecker schrillte.

*

Als Kriminalhauptkommissar Jan Seidel am Fundort eintraf, war es fast Morgen, doch er hatte noch keine Sekunde geschlafen. Er parkte seinen Mini am Fähranleger Niederdollendorf und rieb sich noch einmal die Augen, ehe er ausstieg, um seinen Job zu tun.

Sein erster Blick galt nicht dem Einsatzwagen, der weithin sichtbar mit blinkenden Lichtern auf die Anwesenheit seiner Kollegen hinwies, sondern den Möwen. Die Möwen schienen unbeeindruckt von den Lampen, die die Morgendämmerung erhellten, sie hockten nebeneinander auf dem Strick, mit dem die Reservefähre am Ufer vertäut war, dunkle Schemen. Eine löste sich aus dem Pulk, segelte durch die Luft und kreiste dann kreischend über der nebelverhangenen Buhne, ganz so, als wolle sie ihm freundlich den Weg weisen.

Nette Möwe, dachte Jan. Er folgte ihrem Wink.

Es gab keinen Grund, sich vor dem Anblick der Leiche zu fürchten, denn es war, so viel hatte die Einsatzzentrale ihm mitgeteilt, ein Mann, den man gefunden hatte. Mit männlichen Leichen hatte Jan kein Problem. Es waren die toten Frauenkörper, die sich in den unmöglichsten Augenblicken vor sein Blickfeld schoben und ihn an seiner geistigen Gesundheit zweifeln ließen.

Jans aktuelles Problem war seine Müdigkeit, und die verdankte er dem Treffen mit Nicoletta, von dem ihn der Anruf fortgerissen hatte. Es war ein vielversprechendes Treffen gewesen, das erste seit dem desaströsen Versuch eines Neustarts letzten November. Nicoletta hatte ein neues Kleid getragen, dunkelrot, mit einem eigenartig verwickelten Ausschnitt, der ihm etwas präsentierte, das gleichzeitig vertraut und gefährlich schien. Dieses Kleid ist eine Botschaft, hatte er gedacht, und der Abend hatte sich zunächst so entwickelt, als habe er mit dieser Einschätzung recht gehabt. Ein spätes Essen beim Japaner in Bonn, ein Cocktail im Che Guevara, ein Spaziergang am Rhein, vorbei an schlafenden Möwen. Und als Abschluss der Kaffee in seinem Zimmer bei Edith. Es waren eigentlich mehrere Kaffee gewesen, die Art von Kaffee, die den Abschied hinauszögerte oder eher: die Entscheidung, in welche Richtung sich das Treffen entwickeln sollte.

Dazu Nicoletta, die mit schiefgelegtem Kopf lachte, die ihn beiläufig berührte und immer wieder diesen Ausschnitt präsentierte, vertraut, fremd. Sie hatte viel erzählt, neue Anschaffungen, Verwandtschaftsgeschichten, Jobgeschichten, beinahe, als läge ihr all das auf dem Herzen, als wolle es raus, als wolle es zu ihm, nein, als müsse es ihm erzählt werden, unbedingt. Doch dann hatte das Gespräch eine schockierende Wendung genommen.

Der Anruf mit der Nachricht, am Flussufer in Königswinter sei eine Leiche gefunden worden, hatte ihn gerettet vor dem, was er unweigerlich hätte sagen müssen. Deswegen trat er trotz seiner Müdigkeit vergleichsweise tatkräftig auf die bucklige, betonverschandelte Rampe, die hinunter zum Ufer und auf die Buhne führte.

Der Rhein lag verhüllt von Nebelschleiern, aber leises Stimmengewirr aus dem milchigen Gespinst verriet ihm, wo die Kollegen im Einsatz waren. Die Weiden und Platanen waren winterlich kahl, in ihnen ballten sich dunkle Kugeln. Misteln. Jan dachte an Mistelzweige, die zum Küssen einluden, an das vergangene Weihnachtsfest mit seiner Großmutter. Sie war die Einzige, die ihn derzeit küsste.

Die Strahler der Spurensicherung erhellten nur den Anfang der Buhne, leuchteten jedes Detail aus: buckliger Basalt, dazwischen Beton, Geröll. Die Kollegen wuselten umher, errichteten eine Sichtsperre, damit der Tote vom Ufer aus nicht zu sehen war. Der Rest der Buhne lag im Dunkeln. Im Dunkeln? Nein.

Jetzt sah er das Leuchten. Es kam vom Ende der Buhne. Ein fluoreszierendes gelbliches Licht. Was war das? Er trat näher.

Eine Gestalt löste sich aus dem Nebel und trat auf ihn zu. Es war seine Kollegin Elena Vogt.

»Was ist denn hier los? Arbeiten die Kollegen jetzt im Dunkeln?«

»Eine ganz spezielle Auffindesituation, extra für dich. Die Kollegen sind schon an der Leiche dran«, sagte sie und deutete auf die helle Stelle im wabernden Nebel.

In diesem Moment flammten die starken Lampen der Spurensicherung auf und erhellten die gesamte Buhne. »Licht aus!«, brüllte Elena. »Seidel ist hier!«

Das Licht erlosch, und jetzt konnte Jan das geisterhafte Leuchten wieder sehen. »Was ist da los?«, fragte er. »Was für ein Licht ist das?«

Elena hob die Augenbrauen. »So eine Art Christbaumbeleuchtung, könnte man sagen. Komm und schau es dir an.«

Mit jedem Schritt, den Jan näher trat, wurde das Leuchten stärker. Männer in weißen Schutzanzügen huschten wie Gespenster um ihn herum, die Kollegen von der Spurensicherung, die ihre Arbeit taten, mysteriöse Linien zogen, numerierte Täfelchen verteilten und unsichtbare Fundstücke in etikettierte Plastiktüten steckten.

Jan konnte die Umrisse eines Körpers erkennen, der im dunklen Wasser lag. Wenige Meter entfernt floss der Rhein schnell und stark, aber hier hatte die Buhne ihn beruhigt, so dass die Wasseroberfläche fast unbewegt schien. Der Mann war offenbar nackt, die fahle Haut seines Rückens geisterhaft erhellt von unzähligen Lichtpunkten.

Die Leiche leuchtete.

Jan ging unwillkürlich in die Hocke. »Was zum Teufel ist das? Probieren die Kollegen irgendwelche modernen Methoden aus?«

Elena schnaubte. »Die Kollegen von der KTU spucken im Moment Gift und Galle, weil unsere Leiche mit Fremdspuren versaut wurde.«

»Was sind das für Lichter?«

»Knicklichter. So was gehört zum Anglerbedarf.«

»Die Leiche wurde so aufgefunden?«

»Nicht direkt. Offenbar hat unser Zeuge sich extra die Mühe gemacht, sie für uns herzurichten, damit wir sie besser finden – das behauptet er zumindest.« Der spöttische Unterton in Elenas Stimme verriet, wie viel sie von diesen Beteuerungen hielt.

»Er hat was?«

»Die Leiche für uns zum Leuchten gebracht. Simsalabim!«

»Wer ist der Mann?«

»Hannes Menzenbach, ein Hobbyangler. Sitzt da hinten und starrt auf den Rhein.« Elenas Finger wies auf eine unsichtbare Stelle im Nebel. »Er hat um 5 Uhr 47 bei der Zentrale angerufen. Hätte er noch eine halbe Stunde gewartet, wäre mein Wecker sowieso gegangen. Na ja, wir mussten schnell machen, ehe die Presse kommt.«

Jans Blick wanderte zum Ufer. Jetzt verstand er die Eile. Die geisterhaft glimmenden Knicklichter boten der Presse ein spannendes Motiv, das bald, da es Tag wurde, nicht mehr viel wert war. Ein feiner schwefelgelber Streifen ließ die Silhouette des Siebengebirges bereits deutlich hervortreten.

»Warst du etwa noch aus?« Elena musterte mit hochgezogenen Augenbrauen seinen modernen Anzug, das gestreifte Hemd. Jan konnte ihr ansehen, dass der Anruf sie aus dem Bett geholt hatte. Sie trug unter dem offenen Mantel eine falsch geknöpfte Strickjacke, und wenn ihn nicht alles täuschte, lugte darunter ihr Pyjama hervor. Elena legte so wenig Wert auf ihr Äußeres, dass es ihm manchmal in den Augen weh tat.

»Ja«, sagte er. »Wissen wir schon etwas über die Identität?«

»Ich wusste gar nicht, dass du so eine Nachteule bist«, sagte Elena und grinste. »In unmittelbarer Umgebung sind keine Kleider, keine Papiere, nichts. Wenn er irgendwo ins Wasser gegangen sein sollte, dann weiter oben. Ich glaube kaum, dass er bei den winterlichen Temperaturen nackt bis zum Rhein gelaufen ist.«

Bei ihren Worten sah Jan unwillkürlich zu den Füßen des Toten, aber er konnte nicht viel erkennen. Egal. Leichenschau war nicht sein Job. Das sollte Frenze machen. »Irgendwelche Hinweise auf Gewaltanwendung?«

»Auf den ersten Blick nicht.«

»Spinnt der Kerl?«

»Wer?«

»Der Zeuge, der die Leiche gefunden hat. Wegen der Lichter.«

»Auf mich macht er nicht den Eindruck. Er behauptet, er habe die Leiche markieren müssen, damit er sie wiederfindet. Er hatte kein Handy dabei und musste zum Telefonieren nach Hause, das ist rheinaufwärts, im Ortskern Königswinter.« Das war dort, wo auch Jan wohnte. »Irgendetwas ist da komisch, aber er ist kein Psychotiker oder so.«

»Dann sollten wir uns ihn ganz genau angucken.«

Schweigend betrachteten sie das geisterhafte Glimmern des toten Körpers, dann trat Elena einen Schritt nach vorn, bückte sich nach einem der Lichter und gab es Jan.

Misstrauisch bewegte er es zwischen den Fingern. Es war etwa so lang wie sein kleiner Finger und sehr dünn, die Oberfläche war aus Plastik.

»Komisches Teil«, murmelte er.

»Kennst du die Dinger echt nicht? Darin befinden sich zwei Flüssigkeiten, und wenn man das Stäbchen knickt, fließen sie zusammen und beginnen zu leuchten.«

»Aha.«

»Früher kursierten die Dinger eine Zeitlang auf Technopartys.«

»Du warst mal auf Technopartys?«

»Du nicht?«

»Nein.«

Elena sah ihn an und seufzte, wahrscheinlich bedauerte sie ihn dafür, dass ihm diese Erfahrung entgangen war.

»Wie weit strahlen die Lichter?«

»Warum?«

»Ich will wissen, bis in welche Entfernung man diese Stelle sehen kann. Es muss doch einen Grund geben, warum unser Mann das gemacht hat.«

Elena zuckte die Achseln. »Frag ihn einfach, vielleicht sagt er dir was anderes als mir.«

Hannes Menzenbach hockte zusammengekauert am Ufer und starrte in den Nebel, als läge darin etwas verborgen, das sich jeden Moment enthüllen konnte. Hinter ihm stand ein Eimer, daneben eine Anglertasche. Jan trat zu ihm.

»Kriminalhauptkommissar Jan Seidel, ich werde die Ermittlungen leiten. Geht es Ihnen gut?«

»Bestens«, sagte Menzenbach, und wenn er es ironisch meinte, so war es ihm nicht anzumerken. Er war jünger, als Jan auf den ersten Blick gedacht hatte, vielleicht Ende dreißig. Ein schmales, hageres Gesicht, unrasiert. In sein dunkles Haar mischte sich bereits eine gehörige Portion Grau.

»Sie haben die Leiche gefunden?«

»Ja.«

»Und die Knicklichter darauf befestigt?«

»Und darum herum. Damit ich sie wiederfinde«, sagte Menzenbach und nickte. Er bewegte seine linke Schulter, als ob sie ihn schmerzte. »Ihre Kollegin sagte schon, dass ich das nicht hätte tun dürfen, aber ich habe nicht weiter darüber nachgedacht.«

»Seit wann sind Sie hier?«

Die Schultern unter dem dunklen Regenmantel hoben sich. »Ich habe keine Uhr dabei. Es war noch dunkel. Das habe ich Ihrer Kollegin schon gesagt.«

»Ich fürchte, Sie müssen alles noch einmal wiederholen. Wann sind Sie denn von zu Hause aufgebrochen?«

»Für Aale muss man früh aufstehen. Mein Wecker ging um kurz vor vier. Ich angle am liebsten am frühen Morgen.«

»Kann ich verstehen«, sagte Jan. Er verstand es tatsächlich. Es war schön. Anders als sonst lag der Rhein still und ungestört. Die Sonne war zögernd aufgegangen, und der Morgennebel begann sich zu lichten und gab den Blick auf glitzerndes Wasser frei. Es würde ein schöner Tag werden. Ein schöner, kalter Tag. »Haben Sie denn etwas gefangen?«

Stumm wies der Mann in den Eimer. Darin wimmelte es dunkel, es mochte ein Aal sein, vielleicht auch mehrere.

»Und Sie wohnen wo?«

Der Kopf des Anglers deutete rheinaufwärts. »In Königswinter. Zu Fuß ist es nicht weit.«

»Warum angeln Sie hier?«

Schulterzucken. »Das ist eine gute Stelle.«

»Die Zentrale sagt, Sie haben von einer Telefonzelle aus angerufen. Warum?«

»Ich habe mein Handy nicht dabei.«

»Warum nicht?«, fragte Jan und hockte neben dem Mann nieder. Jetzt erst bemerkte er, wie der Mann bebte, sein Körper wurde förmlich geschüttelt. Ein Schock?

»Wenn ich angle, will ich meine Ruhe haben.«

»Sie zittern. Ist Ihnen kalt?«

Der Mann nickte und wies auf seine Hosenbeine. Sie glänzten vor Nässe.

»Sie müssen was Warmes anziehen, sonst erkälten Sie sich. Was halten Sie davon, wenn ich Sie nach Hause begleite und wir unser Gespräch dort fortsetzen?«

Menzenbach nickte wieder, nahm seinen Eimer und die Tasche und folgte Jan. Seine Gummistiefel quietschten bei jedem Schritt, es klang, als sei Wasser in ihnen. Die linke Schulter hielt er immer noch schief.

Zaghaftes Morgenlicht zeigte den Rhein in seiner ganzen winterlich-nebligen Schönheit, den gewichtigen Petersberg und die Ruine des Drachenfelsens, die über Königswinter zu wachen schien.

Das Glimmern der Leiche war verblasst. Die Männer vom Erkennungsdienst hatten ihre Arbeit offenbar beendet oder zumindest den Fundort so weit freigegeben, dass der Körper in die Rechtsmedizin wandern konnte. Zwei Männer waren ins Wasser getreten, das hier flach war, und griffen unter den bleichen Körper. Der Kopf der Leiche bewegte sich nicht, als man ihn aus dem Wasser zog, offenbar hatte die Totenstarre eingesetzt. Das bedeutete, der Mann war seit mindestens acht Stunden tot, wahrscheinlich länger. Etwas hing aus dem Gesicht des Mannes, schlingerte, peitschte dann mit einem satten Schmatzen ins Wasser und verschwand im Grau des Rheins.

Ein Aal. Es wurde kalt in Jans Magengegend, und er musste sich abwenden. Er versuchte, das Bild abzuschütteln, ehe es sich einbrannte.

Ein Aal in der Leiche. Die Blechtrommel fiel ihm ein, die eklige Stelle mit dem Pferdekopf, er hatte den Film als Kind gesehen. Er hatte nächtelang Alpträume gehabt, und Edith hatte mit seiner Mutter geschimpft, dass sie ihn den Film hatte sehen lassen.

Als er das dumpfe Stöhnen hörte, dachte er zuerst, es sei sein eigenes, aber es war Hannes Menzenbach, der sich vornübergebeugt hatte und sichtlich mit sich kämpfte.

»Kein schöner Anblick«, sagte Jan.

Menzenbach sah nicht auf, er spuckte auf den Boden und sagte etwas, das Jan nicht verstehen konnte. Jan ging ein Gedanke durch den Kopf. Nur Aale gehen an totes Fleisch.

Menzenbach richtete sich auf und öffnete den Mund. Erschrecken stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er wies auf den Toten, der jetzt vom Schein der Lampen grell erleuchtet war. »Ich glaube, ich … Nein.«

»Was?«

»Ich dachte gerade …«

»Kennen Sie den Mann?«

Menzenbach senkte den Kopf. »Ich glaube, ja. Gernot Schirner ist sein Name. Wenn er es ist.«

»Sind Sie sicher?«

Hannes Menzenbach wischte sich mit der Hand über den Mund und sah ihn an. Seine Stimme war leise. »Er ist der Bruder unseres Nachbarn. Ich glaube schon, dass er es ist. Das Gesicht …«

Jan warf einen Blick zur Leiche, musterte das nur leicht verfärbte Gesicht, das vom Tod kaum entstellt war. Die Veränderungen toter Körper unterlagen ihren eigenen Gesetzen. Jan hatte Tote gesehen, die nach nur einem Tag von der eigenen Ehefrau nicht erkannt worden waren. Dieser jedoch hatte kühl gelegen. Er sah keine Fraßspuren. Hatte er sich die Aale nur eingebildet?

Elena trat zu ihnen. In der Hand hielt sie einen angebissenen Apfel.

»Herr Menzenbach glaubt, er kennt unsere Leiche. Er glaubt, es ist ein Herr …«

»Gernot. Gernot Schirner.« Menzenbachs Stimme klang fest.

»Ach was.« Elena biss ein letztes Mal in ihren Apfel, besah beinahe bedauernd das verbliebene Gehäuse und steckte es nach einem Blick auf die Kollegen von der Spurensicherung in die Tasche ihres Mantels.

»Ich überprüfe das. Gernot Schirner, sagen Sie? Wenn er es wirklich ist, sollte sich das schnell feststellen lassen. Kommt er aus Königswinter?«

»Nein«, sagte Menzenbach. »Ich glaube, er wohnt in Ludwigshafen.«

»Haben Sie eine Ahnung, weswegen er sich hier aufgehalten haben könnte?«

Menzenbach schüttelte den Kopf.

»Ist ja auch egal«, sagte Elena und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Danke, jedenfalls. Ist Schirner verheiratet?«

»Ja.«

»Ich kläre dann mal das mit dem Zahnabgleich«, sagte Elena, holte ihr Handy heraus und wandte sich ab. »Ganz schön kalt«, setzte sie hinterher und wies auf die nassen Hosenbeine des Mannes.

Jan überlegte kurz. »Sie werden sich eine ordentliche Erkältung holen, wenn Sie nicht schnell ins Warme kommen. Ich fahre Sie nach Hause«, sagte er dann und wedelte mit dem Autoschlüssel. Einen Zeugen, der die Leiche nicht nur illuminierte, sondern offenbar auch persönlich gekannt hatte, wollte er genau unter die Lupe nehmen, da galt es keine Zeit zu verschwenden.

Menzenbach nickte nur. Vielleicht stand er unter Schock.

»Mein Wagen steht dort drüben«, sagte Jan. Der Gedanke, einige glitschige Aale im Auto zu chauffieren, missfiel ihm, aber er konnte sich schlecht verweigern. Er würde dafür sorgen, dass Menzenbach die Eimer in den Kofferraum stellte, vielleicht konnte er zur Sicherheit eine Plane darunter legen. Und darüber.

Hinter ihnen tauchte Elena auf. Sie nickte Jan kurz zu. Ich habe die Nummer, hieß das wohl. Dann wandte sie sich an Menzenbach. »Eine Frage hätte ich noch, Herr Menzenbach. Haben Sie Ihren Bekannten denn vorher nicht erkannt?«

Hannes zog die Schultern zusammen. »Nein.«

»Warum nicht?«

Der Mann zögerte, sein Gesicht wurde noch eine Spur blasser. »Er lag mit dem Gesicht nach unten.«

»Sie haben ihn nicht bewegt?«

»Man guckt doch nicht so genau hin, wenn man eine Leiche findet.«

»Nein? Und wenn der Mensch noch gelebt hätte? Vielleicht hätten Sie ihm helfen können.«

»Er hat nicht mehr gelebt.«

»Sind Sie Arzt? Oder warum können Sie das mit solcher Sicherheit sagen? Wir von der Kripo müssen für diese Feststellung nämlich auf den Arzt warten.«

»Weil …« Der Mann schauderte, rang nach Atem. »Die Möwen waren schon an ihm dran«, flüsterte er, dann machte er einen Satz zur Seite und übergab sich.

Jan sah in den morgengeröteten Himmel. Wieder kreiste eine Rheinmöwe über der Fundstelle und stieß heisere Schreie aus, aber ganz anders als bei seiner Ankunft erschien sie Jan jetzt nicht mehr freundlich.

*

Das Haus lag tatsächlich nur fünfzehn Gehminuten vom Tatort entfernt, inmitten des Gewirrs kleiner Gässchen, das für die Altstadt von Königswinter so typisch war. Es war hellgelb und wirkte gemütlich, beinahe niedlich mit seinen Holzläden.

Hannes Menzenbach allerdings schien unbehaglich zumute, als er die Tür aufschloss, aber vielleicht lag das an seiner durchnässten Hose. Ihm musste mittlerweile eiskalt sein.

»Und nebenan wohnt also der Bruder von Gernot Schirner?«, vergewisserte sich Jan und warf einen Blick auf das Nachbarhaus.

Menzenbach nickte zögernd.

»Ist Ihnen denn etwas aufgefallen?«

Menzenbach schüttelte den Kopf. »Ich schlafe normalerweise sehr tief. Ohropax. Ich muss mir den Wecker neben den Kopf stellen, damit ich ihn überhaupt höre.«

»Aha«, sagte Jan und wunderte sich.

»Marla?«, rief Hannes ins offene Treppenhaus, doch er bekam keine Antwort. Mit einem schwer zu deutenden Blick nickte er Jan zu. »Offenbar ist meine Frau noch nicht fertig, treten Sie doch bitte ein.«

Das Haus wirkte seltsam unbewohnt auf Jan. Helle Fliesen, weiße Wände, eine greifbare Atmosphäre. In der leeren Küche dudelte das Frühstücksradio. Es roch nach verbranntem Toast.

»Hallo, Papa«, sagte ein Stimmchen aus dem Wohnzimmer.

Das kleine, blondgelockte Mädchen saß vor dem flackernden Fernseher, auf dessen Bildschirm Comicfiguren um einen Baum jagten. Sie trug Rosa von Kopf bis Fuß. Neben ihr stand ein unberührter Teller mit einem Nutella-Toast.

»Wo ist Mama?«

Das Mädchen zuckte die Achseln und sah weiter auf den Fernseher.

Hannes Menzenbach rieb sich die Stirn, er sah erschöpft aus. »Setzen Sie sich doch, es ist leider etwas unordentlich. Meine Frau kommt sicher auch gleich, vermutlich zieht sie sich gerade an.« Er sah an seine tropfnassen Sachen hinunter und zögerte, vermutlich überlegte er, ob er seine Tochter mit dem fremden Polizisten allein lassen konnte.

Jan nickte und nahm auf dem hellen, mit Krümeln übersäten Sofa Platz. Sein Blick glitt wie von selbst zum Bildschirm.

Menzenbach schien um eine Erklärung bemüht. »Lilly guckt sonst kaum fern, nur morgens. Dann ist es nicht so hektisch hier, wissen Sie. Wir müssen uns ja auch fertig machen.«

»Kein Problem«, sagte Jan. Es war interessant. Meist suchten Polizisten die Menschen in unpassenden, privaten Momenten auf, und doch hörten die Leute nicht auf, sich dafür zu entschuldigen, in welchem Zustand man sie antraf. Als sei Alltag etwas, wofür man sich schämen musste.

Allerdings, dachte er, nachdem Menzenbachs Schritte auf der Treppe verklungen waren, allerdings sah es hier tatsächlich chaotisch aus.

Erst einmal fiel ihm auf, wie dunkel es war. Ein schwerer Vorhang vor der Terrassentür sperrte den Tag gänzlich aus, dafür spendete eine Deckenlampe kaltes Licht. Eine ganze Wand wurde von einem weißen Regalschrank eingenommen, der eine Maßanfertigung sein musste. Darin stapelten sich in wüstem Durcheinander Bücher, Papiere, Hefter, Zeitschriften, zwischen deren Seiten wiederum lose Blätter hervorlugten, Buntstifte, Spielsachen, sogar Wäsche konnte Jan entdecken. Die Polster des Sofas, auf dem Jan saß, waren verrutscht, auf dem staubigen Esstisch setzte sich dasselbe Durcheinander fort wie im Regal. Es war ein großer Glastisch, aber er sah nicht so aus, als ob daran je gegessen wurde. Über einigen Stühlen hingen Wäschestücke, auf einem anderen türmten sich Taschen. An den Wänden hingen Bilder von der glücklichen Familie, Vater, Mutter, Tochter auf der Wildwasserbahn, Aufnahmen vom Kindergarten, Schnappschüsse aus dem Urlaub.

Als Jan die gemeinsame Wohnung mit Nicoletta geplant hatte, hatte er stapelweise Einrichtungszeitschriften gelesen, er hatte Gefallen an schönen Möbeln gefunden. Jetzt wohnte er bei seiner Großmutter im sogenannten Dienstmädchenzimmer, einem nur zwanzig Quadratmeter großen Raum, der auf halber Treppe lag, also von Ediths Wohnung getrennt war. Trotzdem hatte er ihn schön eingerichtet, es passte zu ihm. Es war persönlich.

Diesem Haus aber fehlte etwas, und dabei ging es nicht um schöne Möbel. Normalerweise waren es die Frauen, die mit Blumen, Bildern und Büchern für eine persönliche Note sorgten. Wie auch immer Hannes Menzenbach und seine Frau sein mochten, auf den Raum hatte ihre Persönlichkeit nicht abgestrahlt. Er wirkte unbeseelt. Es fehlte alles, was dem Raum Gemütlichkeit hätte geben können, nur die Spielsachen in Rosa und Pink, die sich von einer Zimmerecke mit Prinzessinnenteppich her ausbreiteten, gaben dem Raum ein wenig Leben.

Jan zuckte zusammen, als er von der Tür einen Laut vernahm und die Gestalt bemerkte. Dort stand eine Frau. Ein ovales, gotisches Gesicht, das von zwei großen grauen Augen beherrscht wurde, glänzendes aschblondes Haar hing schwer bis auf ihren bleigrauen Morgenmantel. Mit einer trägen Bewegung verschränkte sie die Arme, ohne dass ihre Kaffeetasse dabei ins Wanken geriet. »Entschuldigen Sie, ich wusste gar nicht, dass wir Besuch haben.« Bemerkenswert desinteressiert glitt ihr Blick von Jan zu ihrer Tochter und zurück. »Möchten Sie vielleicht auch einen Kaffee?«

»Gern«, sagte Jan.

Mit schleppenden Schritten kam die Frau zurück, stellte eine Tasse vor ihn hin und nahm ihm gegenüber auf dem Sessel Platz. »Er ist schwarz«, sagte sie und deutete auf seine Tasse.

»Das ist schon okay. Frau Menzenbach?«, fragte Jan und wartete ihr Nicken ab. »Mein Name ist Jan Seidel, ich bin von der Kriminalpolizei.«

»Polizei?« Ihre grauen Augen weiteten sich. »Ist etwas passiert?« Ihre langen schmalen Finger griffen hilfesuchend in den fließenden Stoff des Morgenmantels.

»Mama, wann kommt Juli?«, unterbrach sie das Mädchen.

Die Frau hielt ihre seltsamen grauen Augen unverwandt auf Jan geheftet, sie legte den Kopf schief, dann ging ein Ruck durch ihren Körper, und sie antwortete. »Gleich, Lilly. Was ist passiert?« Der letzte Satz war wieder an ihn gerichtet.

Jan zögerte und warf einen vielsagenden Blick auf das Mädchen. Sprach man vor Kindern von Leichen? Von ihrem Leuchten? Von Aalen und gierigen Möwen? Plötzlich fühlte er seine Müdigkeit wie eine schwere Decke. Er griff hilfesuchend nach dem Kaffee, nahm einen großen Schluck und erstarrte. Der Kaffee war eiskalt und so bitter wie Galle.

»Ich glaube, das ist kein Thema für Ihre Tochter«, sagte er dann.

»Würdest du eben in dein Zimmer gehen, Schätzchen?«, sagte Marla Menzenbach, ohne den Blick von ihm zu nehmen.

»Nein«, sagte das Kind und starrte weiter auf den Fernseher. »Gleich kommt Juli. Ich darf immer fernsehen, bis Juli kommt.«

Die Frau seufzte. »Unsere Nachbarin kommt gleich mit ihren Jungen, um die Kinder in den Kindergarten zu bringen. Wir wechseln uns ab.«

»Wie praktisch«, sagte Jan und versuchte, den Geschmack in seinem Mund zu ignorieren. Es gelang ihm nicht.

»Der Kaffee steht schon etwas länger«, sagte Marla, als habe sie seinen Ekel bemerkt.

»Och«, sagte Jan. Dann wechselte er in einen, wie er hoffte, lockeren Plauderton. »Wie lange wohnen Sie hier schon?«

»Seit sechs Jahren etwa.«

»Nette Gegend für Familien. So zentral, und dann dieser schöne Park vor der Tür. Es sind auch nur wenige Schritte zum Rhein.«

»Ja«, sagte sie, und ihre Stimme schien plötzlich zu flirren, unscharf zu werden. Oder war es nur Jans Müdigkeit?

»Wie alt ist Ihre Tochter?«

»Vier.«

Es war eine betretene Stille entstanden, zerrissen nur von den Mickymausstimmen der Zeichentrickserie. Aus dem oberen Stockwerk drang gedämpft das Geräusch prasselnden Wassers. Hannes Menzenbach duschte offenbar.

»Warum sind Sie denn hier, wenn ich fragen darf?«, fragte Marla. Ihre Hände strichen den Stoff des Morgenmantels glatt.

»Ihr Mann hat beim Angeln etwas gefunden und uns informiert«, sagte Jan und warf wieder einen vielsagenden Blick auf Lilly. Diese starrte weiterhin gebannt auf den Bildschirm.

Marla saß reglos da, dann hob sie die Hand an den Hals. »Mein Mann geht ja häufiger zum Angeln«, sagte sie. Irgendetwas geschah mit ihr. »Was ist passiert?«

Jan räusperte sich und sah erneut zu dem Mädchen. »Ich bin von der Kriminalpolizei, wie gesagt. Mordkommission. Wir haben im Rhein eine Leiche gefunden.«

Marla gab einen kleinen klagenden Laut von sich, sie griff sich auch mit der anderen Hand an den Hals, zwischen ihren schmalen weißen Fingern erblühten rote hektische Flecken, die sich ausbreiteten und bis in ihre Wangen stiegen. Sie sagte etwas, aber Jan verstand sie nicht.

»Ist Ihnen nicht gut? Trinken Sie einen Schluck.«

Sie schüttelte den Kopf. Die Röte war so schnell verflogen, wie sie erschienen war, ihr Gesicht war jetzt weiß. Ihr Atem ging schnell, ein zischendes Geräusch wie von einer Fahrradpumpe.

Verunsichert stand Jan auf. »Frau Menzenbach? Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Soll ich vielleicht Ihren Mann holen?«

Die Frau reagierte nicht, nur das Zischen antwortete ihm. Das Kind warf ihm einen kurzen Blick zu und konzentrierte sich dann erneut auf den Fernseher.

Jan war mit wenigen Schritten im Flur, hörte das Plätschern der Dusche aus dem Obergeschoss. »Herr Menzenbach, könnten Sie bitte kommen?«

Keine Antwort.

Jan trat in die kalte, unaufgeräumte Küche, fand ein sauberes Glas und füllte es mit Leitungswasser. Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer trat sein Fuß gegen etwas Schweres. Ein Klatschen, dann überflutete etwas kalt und nass seine Füße.

Der Eimer. Sein Inhalt wand sich schwarz und glitschig auf den nassen Fliesen, Jan musste einen Aufschrei unterdrücken.

Es war der Aal.

»Herr Menzenbach!«, brüllte er und merkte, wie Ekel und Panik ihn zu überwältigen drohten.

Als er zurück im Wohnzimmer war, hockte Lilly wie hypnotisiert vor dem Fernseher, mit Marla Menzenbach aber war eine seltsame Veränderung vorgegangen.

Ein Zittern hatte die Frau ergriffen, sie hielt die Arme geradeaus gestreckt, als wolle sie tanzen, und in ihr Gesicht war ein starrer Ausdruck getreten.

»Frau Menzenbach?«

In diesem Moment begann der Körper der Frau zu zucken. Er kippte rückwärts auf das Sofa, die Beine streckten sich durch, Speichel lief aus dem Mund.

»Hilfe! Kommen Sie her!«, brüllte Jan. Das Mädchen sah ihn erschreckt an. »Ruf deinen Papa«, rief er und hoffte, sie würde gehorchen.

Marlas Körper bebte wie unter Stromstößen. Ihr Kopf war nach hinten gestreckt, und in ihren Augen flackerte die Panik.

Jan war mit einem Satz bei ihr, tastete ihren Puls und griff nach seinem Handy. Noch während er wählte, trat er ins Treppenhaus und rief erneut nach dem Hausherrn.

Das Mädchen hatte zu weinen begonnen, schutzsuchend drängte sie sich an Jan. »Ist schon gut«, sagte er und hörte, wie albern seine Worte klangen, er konnte sie nicht beruhigen, er hatte keine Erfahrung mit Kindern. Immerhin versuchte er, mit seinem Körper den Blick des Kindes zu der kollabierenden Frau abzuschirmen. Wo, verdammt, blieb der Vater?

Endlich wurde er verbunden. Seine Stimme überschlug sich, als er einen Notarzt verlangte, hastig seinen Namen und die Adresse durchgab.

Während er sprach, hörte er endlich Schritte auf der Treppe. Sein Blick fiel auf die Frau. Die Arme waren durchgedrückt, die Hände steif und nach innen geklappt. Pfötchenhaltung, schoss ihm durch den Kopf, irgendetwas sagte ihm dieser Begriff, aber was?

Die Stimme im Hörer fragte, ob er einen Herzinfarkt vermutete.

»Kommen Sie einfach sofort! Es sieht nach einer Vergiftung aus, sie bekommt keine Luft mehr. Wir ermitteln hier wegen eines anderen Todesfalls, also müssen wir mit allem rechnen, ein Tötungsdelikt, ich rufe gleich die Kollegen an. Aber erst mal … Schicken Sie jemanden, machen Sie schnell, verdammt noch mal!«

Er legte auf, und ihm wurde bewusst, wovon er da gerade gesprochen hatte.

Gift. Im Beisein der Polizei. Ihm fiel der Kaffee ein, gallenbitter, eiskalt. Panik stieg in ihm auf.

Er selbst hatte davon getrunken.

In diesem Moment fiel Marla Menzenbach vom Sofa.

*

Elena war sauer. Markus Reimann, den alle, um ihn nicht mit den zahlreichen anderen Markussen im Präsidium zu verwechseln, nur beim Nachnamen nannten, war vor einer halben Stunde eingetroffen. In Gegenwart der Kollegen war es ihr gelungen, sich zurückzuhalten, aber nun, da sie allein mit ihm am Kiosk der Dollendorfer Fähre stand und Kaffee aus einem Plastikbecher gegen die Kälte schlürfte, brach sich ihr Ärger Bahn.

»Klettern mit Reimann«. Seit langem stand das in ihrem Kalender, und sie hatte sich ebenso lange darauf gefreut. Viel zu sehr gefreut, wie sie sich eingestehen musste, nun, da sich ihre Freude in gleichem Maße in Ärger verwandelt hatte.

Ihre On-and-off-Affäre mit Reimann war, seit er sich mit seiner Frau auf ein platonisches Zusammenleben – der Kinder wegen – geeinigt hatte, zu einer regelrechten Beziehung geworden. Und einvernehmlich vereinbarte Wochenenden sollten in so einem Arrangement heilig sein, fand sie.

»Es tut mir wirklich leid, Elena. Ich kann es aber nicht ändern. Es ist eine Familienfeier … da kann ich nichts machen. Meine Frau hat mir den Termin erst gestern genannt.«

Sie hasste es, wenn er meine Frau sagte. Seine Frau hatte einen Namen. »Jetzt schieb es doch nicht auf Sonja! Du hast die Termine durcheinandergebracht!«

»Ich hab gar nichts durcheinandergebracht!«

»Ach! Und wie kam das dann zustande? Du hättest unser Wochenende blockieren können, so macht man das, wenn etwas Priorität hat!«

»Blockieren, du meine Güte! Meine Schwiegereltern sprechen doch ihre Termine nicht vorher mit mir ab! Sie feiern nun mal an dem Wochenende, was soll ich denn da blockieren?«

»Dann fahr nicht hin.«

»Muss ich aber! Meine Frau kann den großen Wagen nicht fahren, und außerdem wollen die Mädels, dass ich mitkomme. Hör mal, müssen wir deswegen streiten? Es tut mir leid. Ändern kann ich es nicht.«

»Das sagtest du schon mal«, murmelte Elena und klappte ihr Handy auf. »Und jetzt frage ich erst mal nach, wo sich der Herr Schirner nach Meinung seiner Ehefrau befindet. Ehefrauen sind da doch meist im Bilde, oder was meinst du?«

Reimann antwortete nicht, er wandte ihr seinen breiten Rücken zu und zog seine Zigaretten aus der Jackentasche, ein Zeichen stummen Protests vielleicht, vielleicht auch nur seine leidige Sucht.