Andreas Franz / Daniel Holbe

Der Fänger

Roman

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Inhaltsübersicht

Über Andreas Franz / Daniel Holbe

Andreas Franz’ große Leidenschaft war von jeher das Schreiben. Bereits mit seinem ersten Erfolgsroman »Jung, blond, tot« gelang es ihm, unzählige Krimileser in seinen Bann zu ziehen. Seitdem folgte Bestseller auf Bestseller, die ihn zu Deutschlands erfolgreichstem Krimiautor machten. Seinen ausgezeichneten Kontakten zu Polizei und anderen Dienststellen ist die große Authentizität seiner Kriminalromane zu verdanken. Andreas Franz starb im März 2011. Er war verheiratet und Vater von fünf Kindern.

Daniel Holbe, Jahrgang 1976, lebt mit seiner Familie in der Wetterau unweit von Frankfurt. Insbesondere Krimis rund um Frankfurt und Hessen faszinieren den lesebegeisterten Daniel Holbe schon seit geraumer Zeit. So wurde er Andreas-Franz-Fan – und schließlich selbst Autor. Todesmelodie, Tödlicher Absturz, Teufelsbande und Die Hyäne, in denen er die Figuren des früh verstorbenen Andreas Franz weiterleben lässt, waren Bestseller.

Impressum

eBook-Ausgabe 2016

Knaur eBook

© 2014 Knaur Taschenbuch Verlag Ein Unternehmen der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Regine Weisbrod

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: plainpicture / Westend61

ISBN 978-3-426-42677-7

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


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Für meine Familie,
die um ein weiteres Mitglied trauert.

Danke, Papa, für deine Liebe und dein Vorbild.

 

 

 

 

Wir werden unschuldig geboren.

Erst unsere Entscheidungen machen uns zu guten
oder zu bösen Menschen.

Unsere größte Schwäche dabei ist unsere Beeinflussbarkeit.

 

Die Sünden von anderen jedoch
rechtfertigen nicht die eigenen.

Prolog

Jakob Schneider. Der Name schrieb sich, als trüge er ihn schon zeit seines Lebens. Seinem Gegenüber fiel nichts auf, als er kurz zögerte und über das Geburtsjahr nachdachte. Er konnte ja schlecht um seinen Personalausweis bitten, um nachzusehen. Er fuhr sich durch das dunkelblonde Haar, welches an den Seiten kurz rasiert war und oben in Strähnen nach hinten fiel. SS-Schnitt nannte man es zuweilen, doch er hatte die Bezeichnung lange nicht mehr gehört.

»Wie lange bleiben Sie?« Die Stimme klang freundlich, wenn auch desinteressiert. Vermutlich war es nur ein Nebenjob. Nachtportier. Was man wohl dabei verdiente?

Schneider beäugte den jungen Mann mit den fein gezeichneten Gesichtszügen. Er wusste Perfektion zu schätzen, hatte einen Sinn für das Schöne. Makellose Menschen erregten ihn.

»Drei Nächte«, antwortete er gepresst, »vielleicht auch länger.«

Als müsse er die Buchungen checken, flogen die Hände seines Gegenübers durch den Kalender. Es waren keine Ferien, draußen standen kaum Autos.

»Das müsste gehen. Sagen Sie aber bitte so früh wie möglich Bescheid.«

»Erwarten Sie etwa eine Reisegruppe?«

»Man kann nie wissen«, kam es mit einem schlagfertigen Grinsen zurück.

Jakob Schneider griff seinen Zimmerschlüssel und seinen Rollkoffer. Viel führte er nicht mit sich.

Zwanzig Minuten später – er hatte sich den Oberkörper gewaschen, ein neues Hemd angezogen und auf die Haare reichlich Wachs aufgetragen – verließ er die Absteige und fuhr in Richtung Stadtgrenze. Er musterte die ausgemergelten Körper, die rauchend an den Laternen standen. Manche winkten, einige rangen sich ein kokettes Lächeln ab. Doch die Augen waren allesamt leer. Das Licht seiner Scheinwerfer brachte ihnen Sekunden des Glanzes, dann kehrte die Trostlosigkeit zerstörter Träume zurück. Makellosigkeit würde er hier nicht finden. Ungeduldig suchte Schneider, bis er es schließlich aufgab. Seine Lenden pochten heiß, er gierte danach, sich zu befriedigen. Als sein Fuß das Gaspedal gerade hinabdrücken wollte, taumelte ein hagerer Körper vor seine Stoßstange. Fluchend stieg er in die Eisen, sein Oberkörper ruckte nach vorn. Kein Aufprall, doch es konnten kaum mehr Millimeter sein.

»Hast du keine Augen im Kopf?«

Er bedauerte seinen Schrei sofort, als sich das Gesicht im Lichtkegel zeigte. Sie war keine Schönheit, doch sie war natürlich. Nicht überschminkt, kein Kussmund, keine Netzstrümpfe. Sie erregte ihn. Er stieß die Tür auf und reichte dem Mädchen den Arm, Schneider schätzte sie auf Anfang zwanzig.

In fast akzentfreiem Deutsch nuschelte sie eine Entschuldigung.

»Ist ja nichts passiert. Wie heißt du?«

»Lola.«

Sofort dachte Schneider an die Kinks. Er rechnete nach. Der Song war vierzig Jahre alt. Die Kleine kannte ihn vermutlich nicht einmal.

»Möchtest du mitkommen? Ich habe ein warmes Zimmer in der Nähe.«

Lola zog die Augen zu Schlitzen. »Ich mach’s aber nicht umsonst.« Sie deutete in Richtung Motorhaube. »Ist ja nichts passiert.«

»Reifen und Bremsen haben schon was abgekriegt«, gab er zurück, »aber so ein Kleinkarierter bin ich nicht. Ich war hier draußen und habe jemanden gesucht. Nichts Perverses, keine kranken Phantasien.« Er kniff die Augen zusammen und wartete auf ihre Reaktion.

»Normalerweise mach ich’s im Auto.«

Schneider nannte den Namen seiner Absteige und deutete hinter sich ins Nichts. »Du kennst sie doch garantiert. Noch nie dagewesen?«

Lola nickte murmelnd und stieg ein.

 

Der Sex war binnen Minuten abgehandelt. Schneider hatte die Wahrheit gesagt, doch das hatte sie nicht wissen können. Er hatte ihr nicht weh getan, kaum gesprochen, nur beinahe zärtlich mit ihren Brüsten und Schenkeln gespielt, bevor er in Missionarsstellung in sie eindrang. Selbst über das Benutzen eines Kondoms hatte er nicht diskutiert, als er es abzog, glaubte Lola ein leises Schluchzen zu hören.

Wortlos griff er nach seiner Hose.

»Habe ich was falsch gemacht?«

Er hielt für einen Augenblick inne. Betrachtete, wie sie ihren Körper räkelte. Er tat ihr leid, weshalb, hätte sie nicht zu sagen vermocht. Sie bot ihm eine Illusion, aber es kostete sie weniger Überwindung als sonst. Er hatte bezahlt, er würde auch ein weiteres Mal bezahlen. Doch er schüttelte nur den Kopf.

»Ich habe zu tun.«

»So eilig?«

Fast schon schnurrend klopfte sie neben sich auf die Matratze und hob die Augenbrauen.

Er knöpfte sein Hemd zu und steckte es in die Jeans.

»Sehr eilig.« Dann widmete er sich den Schuhen. Es waren Schnürstiefel aus Leder. Dann hielt er inne. »Du könntest auf mich warten«, schlug er vor.

»Wie lange?«

»So lange, bis ich zurück bin. Ein paar Stunden, höchstens. Aber du müsstest dich jetzt sofort entscheiden.«

Lolas Gedanken begannen zu rasen. Der innere Alarm schlug an, ihr waren genug Geschichten zu Ohren gekommen. Unauffällig schielte sie in Richtung Tür, vergewisserte sich, ob man sie von innen öffnen konnte, wenn sie verriegelt war. Dann zum Fenster.

»Hör mal, es drängt«, forderte Schneider mit einem Blick auf die Armbanduhr.

»Was, wenn ich es mir zwischenzeitlich anders überlege?«

Sie bereute die Frage in dem Moment, als sie ihr über die Lippen kam. Doch Schneider blieb gleichgültig.

»Entweder du bleibst, oder du gehst. Es ist mir nicht egal, denn ich würde nachher gern noch einmal mit dir schlafen. Doch es liegt bei dir. Wenn du mich für einen gestörten Sextäter hältst, dann sei dir gewiss, dass ich es schon längst hinter mich gebracht hätte.«

Sie schluckte und riss die Augen auf. Er fuhr unbeirrt fort: »Und wenn ich ein Hurenkiller oder Ähnliches wäre, dann auch. Oder ich täte es spätestens jetzt. Diese Entscheidung würdest niemals du treffen, verstehst du das? Dein Job ist gefährlich, aber das ist nicht meine Schuld. Ich möchte von dir nur wissen, ob du bleibst. Die Minibar ist voll, das Zimmer sauber und warm. Auf dem Nachttisch liegen fünfhundert Euro, die gehören dir. Egal, wie du dich entscheidest.«

Er war zu schnell, seine Worte zu effizient, um zu merken, ob er sie manipulierte. Als Lola sich entspannte und das Laken über sich zog, wussten beide, dass sie bleiben würde. Als sei es ihre Idee gewesen.

Kurz bevor Schneider das Zimmer verließ, deutete er auf eine schwarze Ledertasche.

»Du kannst machen, was du möchtest. Pay-TV auch, wenn’s sein muss. Aber untersteh dich, diese Tasche auch nur anzufassen.«

»Lass mich raten«, scherzte sie, »du müsstest mich dann töten.«

Schneider schenkte ihr einen Blick, der sie schaudern ließ.

 

Es gab nur einen Grund, weshalb Jakob Schneider hierhergekommen war. Und das waren weder das unerträgliche Wetter noch die gekaufte Liebe. Ein beschissener Sommer. Der Regen zog Bindfäden. Der Sex hatte einen Trieb gestillt, aber mehr auch nicht. Frei sein konnte er erst, wenn er seinem wahren Bedürfnis nachgekommen war. Seiner Bestimmung. Schneider parkte in einer schlecht ausgeleuchteten Seitenstraße. Um diese Uhrzeit achtete niemand mehr auf den Verkehr.

Er eilte geduckt bis zum Vordach des Einfamilienhauses, welches sich unauffällig ins Design der Nachbarhäuser einfügte. Er prüfte die Hausnummer und den Namen an der Tür. Es bereitete ihm keinerlei Schwierigkeiten, das Schloss zu öffnen. Im Inneren war es warm, fast schon stickig. Schneider passierte einen Garderobenspiegel, seine Silhouette huschte im Dunkel vorbei. Auch wenn er sein Spiegelbild nicht sah, er wusste, wie er aussah. Wer er war. Er lächelte schmal, denn er war zufrieden mit sich und mit dem, was er tat. Das Töten selbst bereitete ihm keine besondere Freude, wohl aber Genugtuung.

Er fokussierte den Flur. Ein Katzenklo, vor dem sich Streukrümel wie Rollsplitt verteilten, deutete auf einen vierbeinigen Mitbewohner hin. An den Wänden hingen keine Fotos. Über die Familienverhältnisse war Schneider zwar informiert, aber nicht auf dem letzten Stand. Er tastete nach seiner Waffe. Tschechisches Modell, kleines Kaliber, Schalldämpfer. Sollte sich neben der Zielperson eine andere Person im Haus befinden, wäre das ein Kollateralschaden.

Langsam schlich er die Treppe nach oben, als er ein Geräusch vernahm. Dann sprang ihm auch schon ein graues Fellbüschel entgegen, mit gesträubten Schwanzhaaren, das ihn mehr an ein Eichhörnchen als an eine Katze denken ließ. Es polterte im entlegensten Teil des Erdgeschosses, dann kehrte wieder Ruhe ein. Schneider schritt weiter. Die Schlafzimmertür war zur Hälfte geöffnet, ein Keuchen war zu hören. Vermutlich dreht sich das fette Schwein gerade um, dachte er voller Ekel. Er würde die Visage niemals vergessen. Auch wenn das Gesicht gealtert sein musste und das Körpervolumen umfangreicher geworden war, es war derselbe Mann, der da vor ihm lag. Alleine, wie Schneider mit Erleichterung feststellte. Er tötete nicht gerne ohne Grund.

Lautlos näherte Schneider sich seinem Opfer. Dann ein leises Ploppen, es roch für einige Sekunden sauer. Als der Verschwitzte sich mit einem letzten Grunzen auf den Rücken drehte und sein Kinn hinabfiel, lächelte der Assassine mit bitterem Blick. Er hob die Decke, unter der es nach Urin und Schweiß roch. Das Opfer trug nichts am Leib bis auf eine weiße Unterhose. Die Brusthaare klebten auf dem aufgeschwemmten Gewebe.

»Junge, bist du fett geworden«, bemerkte er mit einem spöttischen Grinsen.

Er wiederholte diese Worte Minuten später. Diesmal gepresst und ohne eine Spur von Humor, als er den leblosen Körper die Treppe hinabzerrte. Prüfend vergewisserte er sich, ob Geräusche zu vernehmen waren. Fahrzeuge vorbeifuhren. Doch die Nacht hatte den vierbeinigen Hausbewohner geschluckt, und das Wetter und die Uhrzeit ließen das Viertel wie ausgestorben erscheinen.

 

Als er das Zimmer betrat, erwartete Lola ihn im Bett. Der Fernseher war aus, nur die Bettlampen brannten. Nichts im Raum deutete auf Veränderung hin. Doch Schneider hatte am blauen Schimmer hinter den Gardinen erkannt, dass sie noch vor Sekunden auf den Bildschirm gestarrt hatte.

»Ich habe dich schon vermisst«, gurrte sie und schenkte ihm einen lüsternen Blick. Er passte nicht zu ihr. Sie sollte studieren oder zumindest einen vernünftigen Beruf erlernen. Mürrisch warf er seine Jacke über die Stuhllehne.

»Du bekommst dein Geld, auch ohne dass du mir etwas vorspielst.«

Er begann das Hemd aufzuknöpfen.

»Ist es nicht etwas, was man gerne hört?« Das Mädchen blinzelte verunsichert.

»Wenn es ehrlich gemeint ist, schon.«

»Ich habe mich wirklich gefreut. Ich bin nicht gerne allein.«

»Dann sind wir beide sehr unterschiedlich.« Das Hemd segelte über die Jacke. Schneider zog sich das Shirt über den Kopf. Es war feucht vom Schweiß. Kein einziges Haar wuchs auf seinem Oberkörper. Lola schwieg. Er öffnete die Hose und stieg hinaus. Hob das Kinn in Richtung Badezimmer und sagte wie aus dem Nichts: »Duschen wir zusammen?«

»Okay«, kam es kleinlaut. Was sollte sie schon erwidern?

Sie trug noch immer keine Kleidung, wie er feststellte, außer ihrem Slip. Der Temperaturregler war höher gedreht, eine der vielen kleinen Veränderungen, die Schneider wahrgenommen hatte. Als sie an seiner Tasche vorbeischritten registrierte er, wie ihr verräterischer Blick für eine Sekunde daran haften blieb.

Als sie das Badezimmer betraten, seufzte er leise.

»Das war sehr dumm von dir«, sagte er tonlos vor sich hin und schob Lola über die Fliesen.

2004

Der Bus hielt mit einem Quietschen. Noch eine Viertelstunde bis zum Gong zur ersten Stunde. Patrick bewegte sich durch eine lärmende Meute von Fünftklässlern und fühlte sich hundeelend. Prall gefüllte Schulrucksäcke rempelten ihn an, einer traf ihn schmerzhaft in die Rippen. Vor ein paar Wochen hatte Leah aus der Parallelklasse von einem Ranzen zwei Zähne ausgeschlagen bekommen. Patricks Vater tobte, als er davon hörte. Es sei Aufgabe des Busfahrers, für geordnete Verhältnisse zu sorgen. Denn das gefährliche Gedrängel an der Haltestelle wiederholte sich täglich. Es grenzte an ein Wunder, dass noch niemand unter die Räder gekommen war.

Patrick wusste, dass sein Vater ihn beschützte. Er ließ es nicht zu, dass seinem Sohn etwas geschah. Das versicherte er Patrick immer wieder. Jedes Mal, nachdem er ihm weh getan hatte. Patrick wusste, dass es falsch war, was er mit ihm tat. Er hatte Mitleid mit ihm, er konnte in seinen Augen sehen, dass er krank war und darunter litt. Doch in den Minuten, wenn der Schmerz ihm die Tränen in die Augen trieb, hasste Patrick seinen Vater aus tiefster Seele.

»Patty!«, schrie es plötzlich durch die Menge. Lukas. Patrick rollte entnervt die Augen. Er hatte ihm schon x-mal gesagt, dass er nicht »Patty« genannt werden wollte, er sei schließlich kein Mädchen. Patrick war größer, als man es von einem Zehnjährigen erwartete, doch seine Gesichtszüge waren bleich und feminin. Ein Junge, der sich lieber in die Welt von Magic-Karten und Fantasy-Rollenspielen vertiefte, als sich auf dem Fußballplatz auszutoben.

Er bahnte sich einen Weg durch das lärmende Schultaschenmeer, bis er vor seinem Freund stand. Dem einzigen, den er hatte.

»Luke, hör auf, mich Patty zu nennen.«

»’tschuldigung«, grinste dieser. Er hatte gut lachen. Sein Spitzname war cool. Bei Patrick stattdessen brauchte es nicht mal einen Spitznamen, um ihn tagtäglich mit dem stupiden rosa Seestern von SpongeBob aufzuziehen.

Er versuchte, bequem zu stehen, doch es gelang ihm nicht.

»Was ist denn los? Morgen ist Wochenende.«

Zwischen dem Wochenende und jetzt lag eine Doppelstunde Sport. Patrick fröstelte. Allein beim Gedanken daran tat ihm alles weh.

»Ich gehe wieder«, murmelte er und sah sich um. Kein Lehrer zu sehen.

»Waaas?«

»Ich hau ab, bevor jemand sieht, dass ich da bin. Kommst du mit?«

Lukas trat unschlüssig von einem Fuß auf den anderen. Patrick hätte es ihm nicht krummgenommen, wenn er abgelehnt hätte. Er beneidete seinen Freund um dessen Elternhaus. Lukes Vater war wie ein großer Bruder zu seinem Sohn. Wenn er ihm übers Haar fuhr, dann geschahen die Berührungen unschuldig und ohne Unbehagen. Lukes Mutter stellte immer tausend Fragen. Das krasse Gegenteil zu Pattys eigener Mom, die im Grunde ausschließlich mit sich selbst beschäftigt war.

Umso mehr wunderte es Patrick, als Lukas ihn am Arm packte und sagte: »Okay, dann los. Lass uns abhauen. Wie Tom Sawyer und Huck.«

»Du bist Huck!«, grinste Patrick.

Beinahe wären die beiden Kevin in die Arme gelaufen, einem grobschlächtigen Typen aus der Neun. Vermeide den Augenkontakt, sagte Patrick sich immer, wenn Kevin sich mit seinem Schlägertrupp näherte und den Schulhof nach Opfern ausspähte.

»Lass uns in Ruhe«, zischte Lukas, und schon waren sie um die Gebäudeecke verschwunden. Einen verdutzten Kevin in einer abebbenden Schülertraube hinter sich lassend. Fassungslos, als sich im Laufe der Zeit herausstellte, dass er die letzte Person gewesen sein sollte, die Luke und Patty wohlauf gesehen hatte.

2014

Sonntag

Sonntag, 12. Oktober 2014, 8:35 Uhr
Landkreis Offenbach.

Peter Brandt blinzelte gegen die Sonne. Hoffte, er bilde sich das Gesicht nur ein, das in seinen Fokus rückte. Doch dann ertönte auch schon die Stimme mit dem einschlägigen hessischen Dialekt.

»Kollege Brandt. Hätte ich mir ja denken können.«

Dieter Greulich. Von allen Kriminalbeamten war er der letzte, auf den der Kommissar in diesem Augenblick Lust hatte.

Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Vor Jahren hatte Kommissariatsleiter Spitzer die beiden aus der Misere erlöst, gemeinsam Dienst tun zu müssen. Greulich war zum Rauschgiftdezernat gewechselt, wo eine neue Karriere auf ihn wartete. Brandt hatte ihn an keinem Tag vermisst. Kriminalbeamte, denen die Fäuste zu locker saßen, brauchte es bestenfalls im Fernsehen. Dennoch gerieten sie sich zuweilen ins Gehege, wenn Drogen- und Gewaltdelikte Hand in Hand gingen. So auch an diesem Vormittag. Es war noch nicht einmal halb neun, und Peter Brandt schlürfte bereits den dritten Becher Kaffee. Schwarze, übersüßte Brühe, die bestenfalls nach bitterer Pappe schmeckte. Dunst lag über den Baumspitzen, die pfeilgerade verharrten. Im Hintergrund rauschte der Verkehr der Autobahn. Immer angespannt, immer schwelend, als könnte es jeden Moment zum Unfall kommen. Die A3 traf in wenigen Kilometern auf die A5; das berüchtigte Frankfurter Kreuz.

»Frankfurt«, dachte Brandt abfällig. Lag das Kreuz nicht genauso in Neu-Isenburg, und gehörte der Flughafen nicht ebenso zu Kelsterbach und Mörfelden? »Aber Hauptsache, sie können überall ihr versnobtes Etikett draufkleben.«

»Hat’s dir die Sprache verschlagen?« Greulich hatte sich vor Brandt aufgebaut und funkelte ihn auf seine überhebliche Art an.

»Morgen.« Brandt zog die Mundwinkel breit. Dann hob er die Augenbrauen und fragte: »Wo ist denn die Leiche?«

»Er.«

»Wie bitte?«

»Sie ist ein Er

»Witzbold.« Es blieb doch trotzdem eine Leiche, egal, welches Geschlecht sie hatte. »Also, wo?«

Greulich setzte sich in Bewegung und brabbelte etwas über Brandts miese Stimmung, von der er sich nicht die Laune vermiesen lassen wolle.

Der Boden war vom Regen aufgeweicht, und bald hatte sich ein Kranz aus Erde um Peter Brandts Schuhe gebildet. Sie waren dem geteerten Weg gefolgt, hatten ein altes Metalltor passiert, das aus den Angeln gehoben war. Panzersperren aus Stahlbeton lagen umgekippt neben der Zufahrt. Sie waren zerbröckelt, anscheinend war man so oft dagegen gefahren, bis sie nachgegeben hatten. Seit die Amerikaner das Gelände verlassen hatten, lag es brach. Die Wildnis eroberte sich die niedrigen Gebäude zurück. Lkw-Aufleger standen herum, ein alter Nissan Sunny, auf dessen Windschutzscheibe drei signalorange Aufkleber darauf hinwiesen, dass das Gefährt umgehend zu entfernen sei. Zwischen allem die üblichen Einsatzfahrzeuge, Brandt erkannte die Kollegen der Spurensicherung. Dann Andrea Sievers, die Rechtsmedizinerin. Er seufzte, sie grinste. Vor einigen Jahren waren die beiden ein Paar gewesen, und Andrea war noch immer eng mit seiner jetzigen Partnerin befreundet. Der Gedanke, dass die beiden sich über ihn unterhielten, schmeckte ihm überhaupt nicht. Er wusste, wie die Frauen waren. Heute blieb ihm anscheinend nichts erspart.

»Warum so grimmig?«, fragte Andrea. Sie war Anfang vierzig, doch man sah ihr die Jahre nicht an. Selbst in ihrem Ganzkörperkondom und mit zurückgebundenen Haaren wirkte sie so anziehend wie eh und je.

»Zu viel Kaffee, zu wenig Schlaf«, brummte Brandt und entschied, seine üble Laune mit einem Lächeln zu bekämpfen. Es gelang ihm nur mäßig, doch Andrea lachte.

»Hat dich deine Staatsanwältin nicht zur Ruhe kommen lassen? Ich weiß zufällig, dass ihr gestern …«

Brandt schnaubte. Er würde mit Sicherheit keine Details der letzten Nacht vor seiner Ex-Freundin ausbreiten. Schlimm genug, wenn er sich vorstellte, dass die beiden über ihn sprachen, wenn sie sich zu einem ihrer Mädelsabende trafen, was zum Glück nur selten geschah.

»Okay, ich geb’s ja zu«, er hob die Hände, »ich habe einen Kater. Also bitte hab ein wenig Mitleid mit mir, ich musste mich schon mit Greulich auseinandersetzen.«

Sievers verzog den Mund. Ihr Daumen hob sich über die Schulter und deutete auf ein Gebäude, bei dem sämtliche Fenster eingeschlagen waren.

»Dann solltest du den Kalten vielleicht jemand anderem überlassen.«

»So schlimm?«

»Übel.«

»Zeig ihn mir.«

 

Krähen schrien und übertönten das Verkehrsrauschen der Autobahn. Es roch nach feuchtem Beton, von Waldatmosphäre war nicht viel zu spüren. Brandt überlegte, welche Armeen hier alle ihre Spuren hinterlassen hatten. Die Gegend war voll von Relikten aus beiden Weltkriegen. Alte Versorgungsbahnen, geheime Flugplätze, von der Wehrmacht bestmöglich getarnt. Die Amerikaner hatten das, was sie nicht zerstören konnten, für eigene Zwecke übernommen. Manches war im Laufe der Zeit an die Bundeswehr gefallen. Vieles verfiel. Wie üblich an vergessenen Orten waren die Spuren unverkennbar, die Vandalen hinterlassen hatten. Graffiti, Scherben, Fäkalien. Andere nutzten den Platz als Müllhalde. Zerbrochene Fensterrahmen, alte Fässer, Windelsäcke und, als Krönung, das Wrack des Nissan.

Der Tote lag abseits des Ganzen, von außen nicht zu sehen. Nur die Krähen hatten ihn entdeckt. Und der Anrufer, der seinen Fund gemeldet hatte. Dem das Ganze womöglich die Pilze vergällt hatte, für die es ihn hierher verschlagen hatte. Wie man hörte, war es ein ausgezeichnetes Jahr für Pfifferlinge, auch wenn Brandt diese nicht derart nah an der Autobahn gesucht hätte. Um die Aussage, die längst protokolliert war, würde er sich später kümmern.

Der Mann, sein Alter war schwer zu schätzen, saß halb aufrecht an der hinteren, fensterlosen Wand des schmalen Raumes. Zeitungspapier und Glaswolle waren auf dem Boden verteilt. Es stank nach Urin. Seine Haut war gräulich, Mund und Augen geschlossen. Brandt wusste, dass sich einige Stunden nach Todeseintritt die Gesichtsmuskulatur entspannte. Es gab eine Menge Blut unter dem Körper, im Bauchbereich war die Kleidung regelrecht vollgesogen. Andrea hielt unbeeindruckt mit dem Strahl ihrer Taschenlampe darauf.

»Eine Hinrichtung, wenn du mich fragst«, ließ sie verlauten. »Ich zähle mindestens fünf Einschüsse. Bauch, Leber, Genitalien, Herz. Der Gute hatte null Überlebenschancen. Die Spusi hat dort, wo du stehst, eine Handvoll Patronenhülsen gesichert.«

Instinktiv trat Brandt zur Seite und sah zu Boden. Knapp drei Meter zur Leiche, wie er schätzte. Abzüglich der Armlänge des Schützen betrug die Distanz gerade zwei Meter.

»Gibt es Fehlschüsse?«, erkundigte er sich.

»Mich interessieren nur die Treffer«, frotzelte Dr. Sievers und beugte sich hinab. Dann schüttelte sie den Kopf. »Sieht aber nicht so aus. Wieso fragst du?«

Brandt war sich nicht sicher. Aus so naher Distanz konnte selbst ein ungeübter Schütze treffen. Er winkte ab. »Ich dachte nur an das, was du eben gesagt hast.«

»Das mit der Hinrichtung?«

»Mhm.«

Er betrachtete den Mann genauer. Seine Kleidung wirkte abgetragen, doch auch teuer. Womöglich eine Kleiderspende. Handelte es sich um einen Obdachlosen? Das Gesicht war schlecht rasiert, die Haare klebrig. Doch richtig verwahrlost sah der Mann nicht aus.

»Hältst du ihn für einen Vagabunden?«, fragte er Andrea.

Diese zog eine nachdenkliche Miene. Dann verneinte sie. »Wenn, dann noch nicht lange. Er müsste … anders aussehen. Außerdem«, sie schniefte, »wer erschießt denn einen Penner?«

»Täusch dich mal nicht«, murmelte Brandt düster. Während er die Kollegen der Spurensicherung suchte, wünschte er sich zurück in seine warme Küche, wo er mit seinen Töchtern Sarah und Michelle Toastbrot mit Nutella essen würde. Am besten zurück ins Jahr 2000, als sie noch zur Schule gingen und das größte Problem darin bestand, welche überteuerte Kleidungsmarke gerade angesagt war.

Seit damals war er nicht mehr so glücklich gewesen.

Sonntag, 9:35 Uhr
Frankfurt.

Berger besuchte den Friedhof längst nicht mehr zweimal in der Woche, so wie früher. Er tat es vor allem nicht mehr am Abend, wenn Scharen von Frauen mit kleinen Schippen und Harken die Bepflanzungen pflegten. Wenn Banales über die Marmorsteine hinwegposaunt wurde, als sei es den Toten darunter egal. Wenn Alte wie Junge sich um die Wasserstellen scharten wie eine Herde Antilopen. Seit zweiundzwanzig Jahren besaß er ein Doppelgrab, in dessen linker Hälfte Bergers erste Frau ruhte. Das Grab befand sich am anderen Ende des Friedhofs, einen langen Marsch vom Haupttor entfernt. Die unweit stehende Hainbuche war zu beachtlicher Größe herangewachsen und warf ihren Schatten bis auf seine Füße. Wie die anderen Bäume kleidete sie sich allmählich in ein farbiges Herbstkleid. Berger bückte sich und hob ein Dutzend Blätter auf, die auf der Grabstätte lagen. Niemand befand sich in seiner Nähe. Die meisten benachbarten Gräber wurden mittlerweile durch Grünfirmen gepflegt. Ehepartner verstarben, Enkel hatten Besseres zu tun, als vier Quadratmeter Beet instand zu halten. Trübsinnig dachte er an seine Tochter Andrea. Sie war längst erwachsen, keine Rechenschaft mehr schuldig. Selbst am Todestag ihrer Mutter und ihres Bruders, der neben ihr beigesetzt war, musste er seine Tochter meist zu einem Besuch überreden. Vor drei Wochen hatte es sich gejährt. Der einundzwanzigste September. Berger kniete sich hinab und beäugte das Gesteck, welches sie niedergelegt hatten. Sonnenblumen und Lavendel. Das Wetter hatte ihm zugesetzt, doch für eine Woche wollte er es noch liegen lassen. Berger blickte sich prüfend um. Er war immer noch allein. So erfüllend sein Beruf und seine neue Partnerschaft auch waren, einmal im Jahr kochte der Schmerz auf höchster Flamme. Wie aus dem Nichts, auf der Heimfahrt vom Kindergarten, an einer Ampel, die sie schon unzählige Male passiert hatten, hatte ein Dreißigtonner den Kleinwagen zermalmt. Eine musterhafte Familie, zerplatzt wie eine Seifenblase. Zur Hälfte ausgelöscht von einem Betrunkenen, der selbst eine Frau und zwei Kinder hatte. Berger wusste nicht, wie oft er sich betrunken hatte, wie oft er geschrien und geweint hatte, wie oft er sich eine Waffe so fest an die Schläfe hielt, dass man Stunden später noch die Abdrücke sah. Hätte es Andrea nicht gegeben, die damals kurz vor dem Abitur stand – eine Verantwortung, die ihm nun plötzlich alleine oblag –, er hätte es getan. Stattdessen hatten Alkohol und Nikotin ihn auf Raten ruiniert, bis er endlich einen Weg aus dem Teufelskreis fand. Wie so vieles, was er erreicht hatte, schrieb er es den beiden Frauen in seinem Leben zu.

Tränen sammelten sich in seinen Augen. Sekunden, bis sie ihm die Wange hinabkullern würden. In zwanzig Minuten würde sich das Team im Präsidium dann das Maul darüber zerreißen, weshalb ihr Chef, den sie gern als Fels in der Brandung wahrnahmen, geheult hatte. Hastig wischte er sich über das Gesicht. Mit der Rechten spürte er seine Pistole, die er mit sich trug. Frisch gereinigt und mit vollem Magazin. Berger fürchtete sich vor den Phantasien, die ihn heimsuchten. Todessehnsucht. Gedanken wie: Sie werden es ohne dich schaffen oder Nimm dich nicht zu wichtig. Rechtfertigungen, den feigsten aller Wege zu gehen. Aber dann wurde ihm klar, dass er auch heute nicht abdrücken würde. Er würde die Waffe am Abend zurück in den Safe legen und sie morgen wieder herausnehmen. Und mit ein wenig Glück würde er sie niemals mehr abfeuern müssen.

Bergers Linke tastete sich zu einer Flasche Chantré vor, die er vor zehn Minuten an einem Wasserhäuschen, wie die Trinkhallen in Frankfurt genannt wurden, gekauft hatte. Die Flasche und eine Tüte Eukalyptuspastillen. Für eine Sekunde hatte er am Eingang mit sich gekämpft, beides in den Mülleimer mit den Gartenabfällen zu versenken.

Doch es fehlte ihm an Kraft. Kommissariatsleiter Berger kam nicht mehr weiter. Er hatte das Gefühl, als zöge eine mannshohe Feder ihn bei jedem Schritt, den er tat, zwei Schritte zurück. Seine Zukunft, der klägliche Rest, der ihm noch davon blieb, erschien wie ein Tunnel, dessen Ende immer enger wurde. Seit er am Vorabend, zwischen Tagesschau und Spielfilm, einen Anruf entgegengenommen hatte, hatte der alte Berger aufgehört zu existieren.

Sonntag, 10:50 Uhr
Sachsenhausen, Institut für Rechtsmedizin.

Andrea Sievers hatte vor kurzem die Leitung übernommen. Mehr ein bürokratischer Akt, es änderte sich dadurch kaum etwas, denn Professor Bock war schon länger im Ruhestand. Trotz seiner Emeritierung hielt dieser noch hin und wieder Vorträge für Medizinstudenten und genoss es, wenn es dem jungen Gemüse beim Anblick ihrer ersten Leichenöffnung die Farbe aus dem Gesicht fegte. Wenn das große Würgen begann, sobald er beim Öffnen einer Bauchdecke von »Spaghetti bolognese« oder dergleichen sprach. Ansonsten aber hielt er sich raus. Es war Wochen her, seit er Andrea zum letzten Mal am Seziertisch besucht hatte und ihr über die Schultern sah, prüfend, wie ein Lehrvater. Manchmal vermisste sie die alten Zeiten mit ihm und auch dem Kollegen Morbs. Die ganze Bürokratie, für die sie nun zuständig sein sollte, lag ihr nur wenig, und sie delegierte sie so weit als möglich an Kollegen. Denn Andrea Sievers’ Metier waren seit jeher die Tatorte und die Suche nach außergewöhnlichen Todesumständen. Ekel verspürte sie nur selten, und sie umgab sich mit einer Hülle aus Sarkasmus, die sie schützte.

Sie zog sich einen Haargummi über den braunen Schweif. Mittlerweile reichte er bis hinab zu den Schulterblättern.

»Hässlicher Kerl«, kommentierte sie für sich selbst, als sie die Obduktion des Mannes begann, für den Brandt und sein Team zuständig waren. Immer wieder dachte sie an Peter, in letzter Zeit tat sie das häufiger. Auch wenn es schon geraume Zeit her war, er war ihre letzte ernste Beziehung gewesen. Sexpartner konnte man als Frau überall finden. Jedenfalls hatte eine adrette Brünette wie Andrea damit noch nie Schwierigkeiten gehabt. Aber einen Partner, der zu einem aufsieht, der zu einem steht …

Sievers ließ einen Seufzer los und tätschelte dem Unbekannten die Schulter. Sein Genital war überdurchschnittlich groß.

»Mach dir keine Hoffnungen«, murmelte sie mit einem bitteren Grinsen weiter. »So verzweifelt bin ich noch nicht.«

Dann schnitt sie den Körper auf die übliche Weise auf.

Der Mann war in den Vierzigern, groß, aber nicht muskulös. Seine Haut war blass, das Haar dünn, glatt und dunkel. Am Hinterkopf deutete sich eine kahle Stelle an. Nase und Kinn waren markant. Obwohl sie den Gedanken unterdrücken wollte, musste Sievers unwillkürlich an eine dumme Volksweisheit denken. Große Nase, großer Penis. Sie schüttelte den Kopf und konzentrierte sich weiter. Der Tote hatte kaum Körperbehaarung. Wäre es nicht ein Körper von eins fünfundachtzig gewesen, so könnte man meinen, es läge ein Knabe vor ihr. Babyspeck inklusive. Der gesamte Körper wies keine trainierten Muskeln auf, und alles wirkte sonderbar zart. Jetzt, nachdem er von all dem Dreck und den blutverklebten Kleidern befreit war, wirkte nicht einmal mehr das halbe Dutzend Einschusslöcher sonderlich beeindruckend.

 

Peter Brandt betrat den Raum, als sie mit dem Rücken zu ihm stand. Er lauschte ihrer Stimme, sie berichtete gerade über Verletzungen an der Leber. Dann bewegte sich Andreas rechte Hand, und eine Pinzette ließ ein Projektil in eine Metallschale fallen. Es musste die Spiegelung in der gegenüberliegenden Glasscheibe sein, die seine Anwesenheit verriet.

»Peter!« Dr. Sievers fuhr herum.

»Andrea.« Er schritt näher und reckte den Hals. In der Schale lagen fünf Kugeln. »Sie haben ihn ziemlich zersiebt, hm?«

»Ein halbes Dutzend«, bestätigte sie. »Das war die letzte, die ich rausfischen konnte.«

Ihre Stirn glänzte, der Körper auf dem Tisch glich der Auslage in einer Fleischtheke. Brandt schluckte und suchte sein Spiegelbild in der Scheibe.

»Und die anderen?«

»Hättest mal besser angerufen, hm?«, stichelte sie.

»Lass uns bitte auf den Punkt kommen.«

»Ach, schau an.« Mehr sagte Sievers nicht und deutete auf ein Loch unterhalb des Kinns. Ränder rund um die Öffnung deuteten darauf hin, dass es sich um einen aufgesetzten Schuss gehandelt haben musste. So viel hatte Brandt mittlerweile gelernt.

»Das sieht für mich nach einem finalen Schuss aus«, erläuterte Andrea. »Die anderen wurden alle aus mehr oder weniger großer Entfernung abgefeuert. Auf den ersten Blick alles dasselbe Kaliber.«

Brandt hob die Augenbrauen. »Reden wir von einem besonders schlechten Schützen? Oder von einem ganzen Killerkommando?«

»Die Waffe könnte auch gewandert sein.« Andrea zuckte mit den Schultern. »Lass das mal die Ballistik machen. Ich denke, da tauchen keine Projektile mehr auf. Sollte ich noch eines finden …«

»Alles klar.« Brandt zwang sich zu einem erneuten Blick auf den Seziertisch, dann suchte er Andreas Miene.

Sie lächelte warmherzig, er erwiderte es. »Habe ich das richtig verstanden, es könnte eine Art Hinrichtung gewesen sein?«

»Sämtliche Kugeln trafen ihn sehr schmerzhaft, aber waren so plaziert, dass er am Leben blieb. Und bei Bewusstsein.« Sievers deutete in Richtung des Unterleibs des Toten. »Es gibt eine zerschossene Kniescheibe, der Oberschenkel wurde perforiert. Treffer in Leber und Leiste, ganz knapp neben sein bestes Stück.« Sie verzog den Mund. »Dann ein Schuss direkt ins Gemächt und zu guter Letzt in die Lunge. So zumindest sieht es aus. Mit ein wenig Phantasie gleicht es tatsächlich einem Mafiamord.«

»Hm.« Brandt kratzte sich am Hals. »Weiß man schon etwas über die Identität?«

»Man hat die Fingerabdrücke genommen«, erwiderte Andrea und deutete dabei auf sich. Sie blickte zur Wanduhr und kniff die Augen zusammen. »Scheint so, als gäbe es keine Übereinstimmung. Sonst hätte sich längst jemand gemeldet.«

»DNA

»Du weißt genau, dass das nicht so schnell geht.«

»Bitte bleib an der Sache dran. Spitzer steht mir auf den Füßen, weil er schon die Schlagzeilen sieht. Zwölf Schüsse. ›Kriegsschauplatz Offenbach‹.« Er setzte eine bittere Miene auf und deutete in die Ecke des Raumes, wo er Norden vermutete. »Den Fall hätten die da drüben gerne haben können.«

Andrea war diplomatisch genug, um darauf nichts zu erwidern. An Brandts Einstellung zu Frankfurt würde niemand mehr etwas ändern.

»Kümmere dich mal lieber um deinen Pilzsucher«, wechselte sie das Thema.

Brandt warf ihr einen irritierten Blick zu.

»Es heißt doch, ein Pilzsucher habe ihn gefunden, stimmt’s?«

»Ja.« Brandt erinnerte sich an den Bericht, den er am Abend zuvor noch überflogen hatte. Ein Mann namens Oliver Schuster hatte seinen Wagen vor der abgesperrten Zufahrt des Geländes geparkt, um anschließend seine Kreise zu ziehen. Er hatte den Toten entdeckt und gemeldet. Der Kommissar musste unwillkürlich an früher denken. An die pasta al forno seiner italienischen Großmutter, die ausschließlich mit eigenhändig gesammelten Pilzen zubereitet wurde. Er legte den Kopf zur Seite. »Mir sind da keine Unstimmigkeiten aufgefallen.«

»Dann befrage ihn mal etwas konkreter.«

Brandt konnte es nicht leiden, wenn Andrea geheimnisvoll tat. Andererseits tat sie es nie, wenn sie nicht wirklich etwas mitzuteilen hatte. Ungeduldig winkte er ihr zu.

»Ja. Okay. Weiter im Text.«

»Du bist kein Pilzkenner, hm? Ich schon. Hätten wir es länger miteinander ausgehalten, dann …«

»Andrea, bitte«, drängte er.

»Jaja«, reagierte sie pikiert. »Jedenfalls esse ich einen ganzen Korb Fliegenpilze, wenn der dort auf Pilzsuche war. Abgesehen davon, dass es da kaum Pfifferlinge gibt, stecken die Pilze voll von Gift und Schadstoffen.« Sie tippte sich an den Kopf. »Keiner, der etwas auf sich hält, wird Pilze zubereiten, die am Rand einer Autotrasse wie der A3 wachsen.«

Sonntag, 14:50 Uhr
Rodgau.

Brandt parkte seinen Alfa Romeo vor einem heruntergekommenen Mietshaus. Die Wand war grau, feuchte Stellen zeichneten sich ab. Hinter schmalen Fenstern hingen bunte Gardinen, die Luft schmeckte nach Abgasen. Es gab hier weiß Gott schönere Wohngegenden, wie der Kommissar wusste. Auf dem Namensschild fand er nicht, was er suchte. Also klingelte er an den beiden untersten der sechs. Hinter einem Fenster schob sich der blickdichte Stoff beiseite. Dann wurde es gekippt.

»Wer sind Sie?« Es war die heisere Stimme einer alten Dame in Kittelschürze.

Brandt zeigte seinen Ausweis. »Ich bin auf der Suche nach Oliver Schuster.«

Sie tat so, als sei sie nicht neugierig, was ihr nicht gelang. »Was wollen Sie denn von ihm?«

»Nur ein paar Fragen.« Brandt kam sich vor wie im Fernsehen.

»Hmm. Drücken Sie ganz oben. Links. Bis auf meinen Namen stimmt keines der Klingelschilder mehr.« Sie seufzte und sah den Kommissar erwartungsvoll an. Doch er bedankte sich nur und wandte sich dem Drückerfeld zu.

Schuster ließ nicht lange auf sich warten und bat den Kommissar herein.

»Oberster Stock.«

Brandt betrat das Haus ohne Hoffnung auf einen Aufzug, und tatsächlich musste er die Etagen zu Fuß überwinden. Er verfluchte die Tiefkühlpizzen und den wenigen Sport, den er derzeit trieb.

In Schusters Wohnung sah alles so aus, als sei dort seit den Neunzigern nichts mehr verändert worden. Kratzspuren an den Wänden deuteten auf eine Katze hin, doch es war keine zu sehen. Kalter Zigarettenrauch hing in der Luft. Der Mann wirkte, als liefe er auf Eierschalen. Eingefallene Augen lagen hinter markanten Wangenknochen. Seine Haut war nahezu grau. Er überragte Brandt um eine Kopflänge und musste einmal gut trainiert gewesen sein, doch davon schien kaum mehr etwas übrig. Möglicherweise hatte er getrunken, was eine Erklärung für seine trägen Bewegungen sein konnte, oder er nahm Medikamente. In Schusters Blick lag etwas Glasiges. Eine Fahne war jedoch nicht zu riechen.

»Sie sind also auf Pilzsuche gewesen?«, fragte er, nachdem sie Platz genommen hatten. Schuster schien der schäbige Zustand seiner Wohnung peinlich zu sein, er hatte hastig Zeitschriften und leere Colaflaschen sortiert. Der Fernseher lief, er schaltete ihn aus.

»Mhm. Ich habe alles zu Protokoll gegeben.«

»Gehen Sie öfter dort suchen?«

Schuster kratzte sich. »Gute Gegend.«

»Ich habe italienische Wurzeln«, lächelte Brandt fordernd. »Pilzgerichte sind eine Delikatesse. Haben Sie einen Tipp für mich?«

»Man verrät seine Verstecke nicht, soweit ich weiß«, wich sein Gegenüber aus.

»Haben Sie denn eine gute Ausbeute gemacht?«

»Alles schon gegessen.« Schuster klopfte sich auf den Bauch.

Brandt überlegte, ob er in der Küche nach Geschirr Ausschau halten sollte. Oder nach Rezepten fragen. Doch trotz seiner Nervosität schien Schuster vorbereitet zu sein. Er entschied sich dagegen.

»Weshalb haben Sie die Gebäude betreten?«

»Ich habe etwas gehört. Dann habe ich die Krähen gesehen.« Der Mann senkte seine Stimme. »Nun ja, und dann den Toten.«

Daran war nichts auszusetzen. Schuster hatte den Fund gemeldet, auf die Beamten gewartet, die schnell vor Ort gewesen waren, und seine Aussage gemacht. Brandt ließ seinen Blick über die Wohnzimmerwand gleiten. Fotos von einem Haus mit großen Terrassenfenstern. Fotos von drei Personen, im Hintergrund die Frankfurter Zeil-Galerie. Fotos einer glücklich lachenden Familie.

»Wer sind die beiden?«, erkundigte Brandt sich im Aufstehen, nachdem er noch ein paar Belanglosigkeiten gefragt hatte.

Schuster seufzte. »Das war ein anderes Leben«, sagte er trocken. »Ist lange vorbei. War das alles, was Sie wissen wollten?«

Brandt hätte zu gerne noch weitergefragt, doch er wurde bereits in Richtung Hausflur bugsiert. Als die Tür sich schloss, fühlte er sich überrumpelt. Und ihm ging das Foto nicht aus dem Kopf, was in ihm Erinnerungen an seine Töchter aufkommen ließ. Ein Junge mit Schultüte und stolzem Blick. Lukas stand darauf geschrieben.

Sonntag, 21:20 Uhr
Frankfurt, Riedberg.

Immer wenn sie aus ihrer Uniform stieg, fühlte sie sich, als legte sie eine zentnerschwere Rüstung ab. Einen Panzer, der ihre Bewegungen hemmte, ihre Gefühle gefangen hielt und sich eng um ihren Brustkorb schloss. Dabei war es nichts als eine Kombi, wie tausend andere Kolleginnen sie auch trugen. Etwas angepasst an ihre weiblichen Formen, ein wenig modifiziert, um sich von den anderen Einheiten abzuheben.

Matilda Brückner konnte stolz sein auf das, was sie erreicht hatte. Das sagte sie sich immer wieder, und auch ihr Mann wiederholte es wie ein Mantra. Sie lauschte dem Radio, blickte ins Leere, die verschwitzten Handflächen um das Lenkrad geklammert. Es gab kaum Durchgangsverkehr in ihrem Viertel, keine Menschenströme, selbst tagsüber nicht. Der neue Uni-Campus lag weit genug entfernt, und wenn man in Richtung Park und Weiher blickte, konnte man fast meinen, auf dem Land zu leben.

Als seine Fingerknöchel auf die regennasse Scheibe trafen, schrak Matilda auf. So etwa, glaubte sie, musste sich ein Herzinfarkt anfühlen. Dann öffnete er die Tür.

»Was machst du denn hier?«

Er war Grundschullehrer, ein durch und durch liebevoller Mann und Vater. Seine Mundwinkel zogen sich in die Breite. »Dasselbe könnte ich dich fragen.« Er hob die andere Hand, in der ein Plastiksack baumelte. »Jonathan schläft, ich wollte nur rasch den Müll rausbringen. Wie lange sitzt du denn schon hier unten?«

Sie seufzte. Sobald sie ausstieg, würde er sehen, dass sie geheult hatte. Matilda nutzte die Sekunden, in denen er den Müllbeutel entsorgte, um sich mit dem Ärmel übers Gesicht zu fahren. Ein dicker Regentropfen begrüßte sie, als sie den Kopf aus dem Auto schob. Ein weiterer platschte ihr auf die Stirn. »Verdammt!« Sie nutzte die Chance, sich die Augen zu reiben.

»Was ist denn?«

»Ich habe einen Tropfen ins Auge bekommen.« Es klang weinerlich, und sie biss sich auf die Unterlippe.

»Beschissener Tag, hm?«

Matilda wusste, wie sehr er sich wünschte, sie ginge einem anderen Job nach. Einer normalen Arbeit, einem Frauenjob. Sekretärin. Kauffrau. Es gab in Frankfurt weiß Gott genügend Möglichkeiten. Er war jedoch viel zu unterwürfig, um es auszusprechen. Manchmal wünschte sie sich einen stärkeren Partner an ihrer Seite, einen Macho, jemanden, der ein halbes Dutzend Gegner verdreschen würde, nur um seine Liebste zu beschützen. Heute war einer dieser Tage. Matilda kämpfte mit den Tränen.

Er wollte sie in eine Umarmung ziehen, nur widerwillig gab sie ihm nach. Wich ihm aus, als er die Lippen öffnete. Plötzlich schob er den Kopf nach hinten.

»Du hast getrunken?«

»Nur eine Runde«, log sie. »Es gab was zu feiern.«

Er prüfte ihre Augen, zum Glück stand die nächste Straßenlaterne weit entfernt.

»Das sieht mir nach weitaus mehr aus.« In seiner Stimme lag Enttäuschung. »Verdammt, Tilda. Soll das jetzt zur Regel werden?«

Sofort ging sie in Abwehrhaltung. »Wovon redest du, um Himmels willen?«

»Du ertränkst deinen Frust mit Alkohol«, zischte Frederik und wollte seine übliche Litanei anstimmen, in der er über ihren Beruf und die beschissenen Dienstzeiten klagte. Sie würde es über sich ergehen lassen.

Der Regen wurde stärker und zwang sie, nach innen zu gehen. Schon im Treppenhaus hörten sie Jonathan weinen.

»Gehst du? Nein, vergiss es. Er soll dich so nicht sehen.«

»Er ist zweieinhalb!«, widersprach Matilda. »Du tust ja gerade so, als sähe ich wie ein Junkie aus.«

»Ich gehe ihn beruhigen«, kam es bloß. Jonathan war ein Papakind. Die meiste Elternzeit hatte er sich genommen, was nicht einfach gewesen war. Doch Matilda hatte es gar nicht erst versucht, selbst für zwei Jahre freizubekommen. Einmal draußen – für immer raus. Nach dem Mutterschutz hatte sie Jonathan in die Obhut ihres Mannes gegeben. Ein Kind, ein pflegeleichtes, unschuldiges Kind.

Matilda ließ sich eine Badewanne einlaufen. Das Rauschen des Wassers übertönte die Stimmen im Kinderzimmer. Und ihr bitterliches Schluchzen. Als der nach Lavendel riechende Schaum ihren Nabel überwucherte, rieb sie sich die Nase. Die Schleimhäute brannten beim Einatmen. Als sie die Hand zurück ins Wasser gleiten ließ, fiel ihr Blick auf eine Tätowierung. Ein Phönix, der sich mit nach oben gespreizten Flügeln aus einer Flamme erhob. Es war filigran gestochen und hatte, wenige Zentimeter unterhalb des Handgelenkes, höllisch weh getan. Matildas Hand klatschte in den Schaum, als könne das Badewasser das Bild wieder abwaschen. Ein letztes Mal schluchzte sie auf, hielt sich die andere Hand schützend vor den Mund, denn sie wollte Frederik nicht auf den Plan rufen.

Keine Tränen mehr, beschloss sie und tastete über den feuchten Rand der Wanne, bis ihre Finger fanden, wonach sie suchten.

Zehn Minuten später quoll Blut über den Feuervogel und färbte den Badeschaum rosa.

Montag

Montag, 13. Oktober, 8:45 Uhr
Frankfurt, Nordend.

Julia Durant spürte die Unebenheiten des Parketts unter den nackten Füßen. Sie hatte frei und bis halb neun geschlafen, was sie nur selten schaffte. Womöglich läge sie noch immer unter der Decke, hätte ein Anruf auf dem Festnetz sie nicht unsanft aus dem Bett befördert.

»Lass uns einfach ein andermal darüber reden«, klang es versöhnlich.

»Du hast mich doch deshalb angerufen«, erwiderte sie kühl. »Also bereden wir es jetzt.«

Sie wusste nicht, worüber sie sich mehr ärgern sollte. Seine Sturheit oder die plötzliche Unentschlossenheit.

»Ich habe mir das Ganze lange überlegt«, leitete er zum dritten Mal aufs Thema zurück. Als wollte er sich rechtfertigen.

»Du klingst aber so, als müsstest du dich selbst überzeugen, Paps.«

Pastor Durant, den neunzig deutlich näher als den achtzig, druckste. Er lebte in einer kleinen Gemeinde vor den Toren Münchens. War unermüdlich als Vertretung eingesprungen, denn Kirchendiener wurden zunehmend rarer. Ein Schlaganfall im vergangenen Sommer hatte ihn endgültig in den Ruhestand befördert. Außer einigen Stunden Telefonseelsorge, die er wöchentlich leistete, war sein Alltag sehr eintönig geworden.

»Machst du dir Sorgen um das Geld? Oder woran liegt es?«

Julia Durant schnaubte. »Es liegt daran, dass es auch in Frankfurt eine Menge guter Einrichtungen gibt. Wir hätten wenigstens mal ein oder zwei ansehen können.«

»Ich habe noch nichts unterschrieben.«

»Heißt das, du ziehst ein Altenheim hier bei mir in Betracht?«

»Ich möchte in meiner Heimat bleiben.«

Also war es doch längst entschieden. Durant seufzte. Sie drehten sich im Kreis. Pastor Durant hüstelte.

»Schau, Julia, ich könnte es nicht ertragen, wenn du meinetwegen in Gewissenskonflikte kämst. Du hast deine Stelle in Frankfurt, deine Freunde und die Eigentumswohnung. Das darfst du nicht aufgeben. Aber ich habe hier auch Freundschaften. Und es werden Jahr für Jahr weniger. Wir Durants sind Reisende, das weißt du doch.«

Julia erinnerte sich an die Geschichten, seit sie ein junges Mädchen war. Ihre Ahnen waren Franzosen, daher der Familienname. Hugenotten. Flüchtlinge, verfolgt und vertrieben wegen ihres Glaubens. In Deutschland hatten sie eine Heimat gefunden und neue Wurzeln geschlagen.

»Rund um Frankfurt haben auch viele Hugenotten gesiedelt«, warf sie ein. Friedrichsdorf. Dietzenbach. Das hatte sie schon vor Jahren festgestellt, und ihr Vater hatte das Ganze sehr spannend gefunden. Der Name Durant tauchte zwar in keiner der hiesigen Familienbücher auf, doch überall waren große Sippen sich ihrer Herkunft bewusst, und man las hin und wieder darüber. Trotzdem war es ein schwaches Argument, das wusste die Kommissarin selbst. Ihr Vater würde seine Heimat nicht aufgeben. Seit Generationen in Bayern. Von Geburt an in dem Haus, in dem er lebte.

»Meine Reise begann hier und endet hier«, kam es wie aufs Stichwort aus dem Hörer. Im Hintergrund war Klappern zu hören, vermutlich Frau Kästner, die Haushälterin ihres Vaters.

Bevor Durant etwas erwidern konnte (sie wusste nicht einmal, was genau sie hätte sagen sollen), brummte es von nebenan. Sofort identifizierte sie es als den Vibrationsalarm ihres Handys und war insgeheim erleichtert.