Lisa Jackson
Wehe dem,
der Böses tut /
Dark Silence
Zwei Thriller in einem Band
Aus dem Amerikanischen
von Elisabeth Hartmann
Knaur e-books
Lisa Jackson zählt zu den amerikanischen Top-Autorinnen, deren Romane regelmäßig die Bestsellerlisten der »New York Times«, der »USA Today« und der »Publishers Weekly« erobern. Ihre Hochspannungsthriller wurden in 15 Länder verkauft. Auch in Deutschland hat sie mit ihrer in New Orleans angesiedelten Detective-Rick-Bentz-Serie erfolgreich den Sprung auf die Spiegel-Bestsellerliste geschafft. Lisa Jackson lebt in Oregon.
Mehr Infos über die Autorin und ihre Romane unter: www.lisajackson.com
Wehe dem, der Böses tut:
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel
»See How She Dies« bei Kensington Publishing Corp., New York.
Dieser Titel erschien bereits als Knaur eBook unter der Nummer 41638.
Dark Silence:
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel
»If She Only Knew« bei Kensington Publishing Corp., New York.
Dieser Titel erschien bereits als Knaur eBook unter der Nummer 41635.
eBook-Sonderausgabe 2014
Knaur eBook
Wehe dem, der Böses tut:
Copyright © 2004 by Susan Lisa Jackson
Copyright © 2008 für die deutsche Erstausgabe bei
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt 67, 86167 Augsburg
Lizenzausgabe der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Copyright © 2010 für die deutschsprachige Ausgabe bei Knaur Taschenbuch.
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München.
Dark Silence:
Copyright © 2000 by Susan Lisa Jackson
Copyright © 2009 für die deutschsprachige Ausgabe
bei Droemersche Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Published by arrangement with Kensington Publishing Corp.,
New York, NY, USA
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Gettyimages/MAINAS Lionel
ISBN 978-3-426-42869-6
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Adria versuchte das Gefühl abzuschütteln, dass etwas nicht stimmte, zögerte jedoch sekundenlang, als sie nach dem Türknauf griff. Die Angst ließ ihre Hand mit dem Schlüssel mitten in der Bewegung verharren. So albern es auch sein mochte, sie hatte das unheimliche Gefühl, dass jemand oder etwas kürzlich in böser Absicht hier gewesen war. Eine düstere Vorahnung jagte ihr kalte Schauer über den Rücken.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Zachary so dicht hinter ihr, dass sie seinen Atem im Nacken spürte.
»Nein, nein, alles in Ordnung.«
»Soll ich vorangehen?«
»Nein, ich glaube, das schaffe ich selbst. Hör auf mit diesen Bodyguard-Allüren, ja?« Sie rang sich ein halbherziges Lächeln ab, steckte den Schlüssel ins Schloss und stieß mit der Schulter die Tür auf.
Adria trat einen Schritt ins Zimmer. Als ihr Blick an dem mannshohen Spiegel neben dem Schrank hängen blieb, stockte ihr schier das Herz und sie konnte nur mit Mühe einen Aufschrei unterdrücken. »O Gott«, hauchte sie entsetzt.
»Was ist?«, wollte Zach wissen und drängte sich an ihr vorbei, doch bei dem Anblick, der sich ihm bot, blieb er ebenfalls wie vom Donner gerührt stehen.
Der Spiegel war gesplittert und blutverschmiert, als hätte jemand mit der bloßen Faust hineingeschlagen. Auf das geborstene Glas war ein großes, verstümmeltes Foto von Adria geklebt. Ihr Kopf war vom Körper abgetrennt; der blutige Riss im Spiegel zog sich quer über ihren Hals. Ihre Augen waren ausgeschnitten und mit Blut gerändert, der Spiegel voller roter Schlieren, sodass Adria, wenn sie das Bild betrachtete, ihre eigenen Augen wie durch einen blutigen Schleier sah.
Sie begann zu zittern. »Welches Ungeheuer tut so etwas?«
Zach legte den Arm um ihre Schultern. »Jemand, der will, dass du von der Bildfläche verschwindest …«
1980
Heißes Wasser prasselte auf ihren nackten Rücken. Dampf erfüllte die große, gekachelte Kabine und beschlug die Glastür. Kat Danvers hoffte, unter der Dusche einen klaren Kopf zu bekommen, diese Lethargie und Benommenheit abspülen zu können, die Folge von zu vielen Drinks, mit denen sie eine Handvoll … oder waren es zwei? … ihrer Lieblingspillen hinuntergespült hatte.
Valium, Dicodid und Wodka – kein Wunder, dass ihr Verstand benebelt, ihr Blick getrübt war und ihr jede Bewegung unendlich mühsam erschien. Ein schlechter Geschmack stieg ihr in der Kehle auf, und sie hatte das Gefühl, als bewege sie sich durch Fließsand. Langsam atmete sie aus. Sie war kurz davor, sich übergeben zu müssen.
Jetzt hör schon auf damit, Kat. Reiß dich zusammen! Ihr Gewissen ließ keine Gelegenheit aus, sie zu plagen.
Sie schloss die Augen und stützte sich mit den Armen gegen die schlüpfrigen Kacheln. Das Wasser war so heiß, dass sie sich beinahe verbrühte. Sie musste nüchtern werden, und zwar schnell. So rasch sie konnte, drehte sie den Hahn. Mit einem Schlag wurde das Wasser eisig kalt und sie rang nach Luft. Für einen Augenblick wurde ihr Kopf ganz klar.
Und da spürte sie es – eine seltsame Empfindung, als ob sich etwas bewegte, und über das Rauschen der Dusche hinweg hörte sie einen schwachen, undefinierbaren Laut. Sie riss die Augen auf und spähte durch das beschlagene Glas. Sah sie da einen Schatten an der offenen Tür zum Schlafzimmer? Oder bildete sie es sich nur ein? Gaukelten ihr müder, von Drogen betäubter Verstand, ihr verschwommener Blick ihr etwas vor? Sie brauchte ihre Kontaktlinsen oder die Brille.
Wahrscheinlich war da gar nichts.
Trotzdem überlief ihren nassen Körper eine Gänsehaut, die nicht nur durch das kalte Wasser verursacht war.
»Alles Einbildung«, murmelte sie, drehte jedoch den Wasserhahn zu. Zitternd und tropfnass stand sie da, ohne sich zu rühren, und lauschte.
Nichts. Nur das stetige Tropfen aus dem Duschkopf, das leise Summen der Heizung, die Weihnachtsmelodien aus den verborgenen Lautsprechern – und weiter entfernt, gedämpft, das leise Rauschen des Stadtverkehrs. Aber kein Geräusch von Schritten auf dem hochflorigen Teppich der Präsidentensuite, kein Klappern des Servierwagens vom Zimmerservice, kein Klicken eines Schlüssels im Schloss … nichts Beunruhigendes.
Träge öffnete sie die Glastür und griff nach ihrem Bademantel.
»Mama …«
Ein dünnes Stimmchen. Eine Mädchenstimme.
Kats Herz setzte einen Schlag aus. Sie erstarrte.
Nein! Das konnte nicht sein. Sicher spielte ihre Wahrnehmung ihr wieder mal einen Streich … die Kombination aus Drogen und Alkohol …
»Mama?«
O Gott.
Kats Knie drohten nachzugeben.
Hastig stieg sie aus der Duschkabine und wäre beinahe auf dem schlüpfrigen Marmor ausgeglitten. Die Melodie von »Stille Nacht« erfüllte den Raum. »Baby?«, flüsterte sie.
Barfuß, eine nasse Spur hinterlassend, taumelte sie zur Tür. Im Gehen schob sie mühsam ihre Arme, die ihr nicht gehorchen wollten, in die Ärmel des Bademantels. Reiß dich zusammen! Es war nur wieder eine Halluzination, das weißt du genau. Dein Baby ist nicht hier. Komm zu dir! Kat hielt sich am Türrahmen fest und spähte ins Schlafzimmer. Das große Doppelbett war zerwühlt, eine schmale Delle war auf der Bettdecke zu sehen, wo sie kurz zuvor eingeschlafen war. Ihr fast leeres Glas stand beschlagen auf dem Nachttisch neben zwei ebenfalls leeren Tablettenröhrchen.
Der Schrank stand einen Spalt offen, darin hingen ihre Kleider ordentlich auf hoteleigenen Bügeln.
»Mama?«, drang es klar und deutlich durch die offenen Fenstertüren herein.
»Oh, Liebling«, rief Kat, und ihre Stimme brach. Sie fuhr hastig – zu hastig – zum Wohnbereich herum, stürzte gegen den Nachttisch und schürfte sich den Arm und die Wange auf. Die antike Lampe fiel zu Boden, die Glühbirne zersprang.
Glaub es nicht, Kat! Glaub nicht, dass sie lebt. Wage es nicht, deinem dummen Herzen zu trauen.
Doch ein Fünkchen Hoffnung nistete sich trotz allem in ihrem Herzen ein. Als sie wieder auf die Füße kam, drehte sich der Raum um sie. Kat blinzelte heftig, bemühte sich vergebens, das Schwindelgefühl unter Kontrolle zu bringen. Nichts deutete auf einen Eindringling hin, alles war an seinem Platz. Auf einem Glastisch standen Blumen und ein Obstkorb, zwei Queen-Anne-Stühle und ein kleines Zweiersofa waren um den antiken Kamin gruppiert, in dem ein behagliches Feuer brannte.
Kein finsterer Unbekannter lauerte in den Schatten.
Und auch ihre Tochter wartete nicht auf sie.
Natürlich nicht – ihre Einbildung, ihr Verfolgungswahn hielten sie nur wieder einmal zum Narren. Sie war drauf und dran, den Verstand zu verlieren. Als sie flüchtig ihr verschwommenes Bild im Spiegel sah, verzog sie das Gesicht. Zerzaustes, nasses Haar, ein magerer Körper in einem zu großen Bademantel, kein Make-up, die ehemals schönen Gesichtszüge verhärmt von Schmerz und Schuldgefühlen. Bei dem Anblick traten ihr Tränen in die Augen. Sie verlor langsam, aber sicher den Verstand.
Kat wischte sich mit dem Handrücken die Nase und schalt sich selbst eine Närrin. Ausgerechnet sie, eine Frau, die immer gewusst hatte, was sie wollte, und es sich genommen hatte. Die sich mit ihrer Schönheit und ihrem Verstand den reichsten Mann in Portland geangelt hatte. Sie, die noch vor kurzer Zeit alles gehabt hatte, was eine Frau sich wünschen konnte. Jetzt war von all dem nichts mehr geblieben als Scherben bitterer Erinnerungen, schlaflose Nächte und endlose Stunden, in denen sie den Schmerz mit rezeptpflichtigen Medikamenten und Alkohol zu betäuben suchte.
Sie band den Gürtel ihres Bademantels straffer um ihre schmale Taille. Da spürte sie einen Luftzug, einen leisen Hauch, der ihren Nacken streifte. Kat sah sich um und bemerkte, dass sich die Vorhänge an den Balkontüren bewegten. Aber sie hatte die Fenstertüren doch geschlossen, bevor sie unter die Dusche ging … oder? Ihren Drink hatte sie auf dem kleinen Balkon genommen, hatte über die Stadt hinweggeschaut, an Selbstmord gedacht und diesen Schritt dann als zu dramatisch, zu beängstigend, zu erniedrigend verworfen.
Warum waren die Türen jetzt geöffnet?
Hatte sie sie nicht verriegelt, nachdem sie ins Zimmer zurückgekehrt war? Doch, ganz gewiss … Sie hatte abgeschlossen, noch einen letzten Schluck von ihrem Drink genommen und das Glas dann auf dem Nachttisch abgestellt, bevor sie sich auszog und ins Bad wankte. So war es doch gewesen …?
Oder brachte sie alles durcheinander?
Weshalb konnte sie sich nicht erinnern?
Warum war alles so verschwommen?
Vielleicht hatte sie sich nur eingebildet, sie habe die Tür abgeschlossen.
Vielleicht hatte sie, als sie unter der Dusche stand, wirklich jemanden in diesen Zimmern gehört.
Ihre Kehle wurde trocken.
Wieder spürte sie, dass jemand da war.
Etwas stimmte hier ganz und gar nicht.
Sie streckte die Hand nach dem Telefon aus.
»Mama.«
Eine dünne, verängstigte Stimme.
Kat blieb beinahe das Herz stehen. »London? Baby?« Die Stimme kam vom Balkon, drang durch den Türspalt ins Zimmer. Das war doch verrückt. Sie sollte den Sicherheitsdienst des Hotels rufen. Die Polizei.
Wie schon einmal?
Damit dich alle ansehen, als hättest du den Verstand verloren?
Damit sie bedeutungsvolle Blicke wechseln, wenn sie die Röhrchen auf dem Nachttisch bemerken?
Damit sie dir raten, dich jemandem »anzuvertrauen«?
Möchtest du das noch einmal durchmachen?
Nein.
Mit heftig pochendem Herzen tastete sie sich zur Balkontür, deren Vorhänge sich im kühlen Dezemberwind leicht blähten. Durch den hauchdünnen Stoff sah sie einen dunklen Schatten. Klein. Zitternd.
London?
Liebstes, heißgeliebtes Kind!
Kat riss die Tür auf.
Ein frostiger Windstoß schlug ihr entgegen.
Eine Kakophonie aus Straßenlärm, Verkehrsgeräuschen, Musik und Stimmen scholl bis zum neunzehnten Stock herauf.
Die zusammengekauerte Gestalt regte sich.
»Oh, Schätzchen …«, flüsterte Kat, und plötzlich war ihre Kehle wie zugeschnürt.
Drinnen ging das Licht aus.
Die Gestalt wandte sich ihr zu, und trotz ihrer Benommenheit und des Halbdunkels über der Stadt erkannte sie die Züge: Es war nicht das Gesicht ihrer verschollenen Tochter, sondern das einer verräterischen, bösartigen, verschlagenen Person.
»Du«, fauchte sie und wollte sich abwenden, schlug blindlings um sich in dem Versuch zu entkommen.
Zu spät.
Starke Finger packten ihre Schultern und mit der Kraft wilder Entschlossenheit stieß die Gestalt sie an die niedrige Balkonbrüstung. Kat schrie. Ihre Knie schrammten gegen die hundert Jahre alten Backsteine; verzweifelt suchte sie nach einem Halt, jedoch vergebens. Ihr Angreifer warf sich mit aller Macht gegen ihren Rücken, schleuderte sie nach vorn, dichter an den Abgrund und an die zerbröckelnde … »Nein! O Gott, nein!«, schrie Kat, als sie aus den Augenwinkeln eine behandschuhte Hand sah, die ein Stück Ziegel umklammerte. Kat zuckte zurück.
Bam!
Schmerz explodierte hinter ihren Augen und Dunkelheit umfing sie. Ihre Beine gaben nach, doch ihr Angreifer hielt sie aufrecht, stieß sie nach vorn gegen das Geländer, das unter dem Anprall nachgab.
Und dann stürzte sie plötzlich, fiel durch die kalte Nachtluft …
Wenn sie sich doch nur erinnern könnte. Wenn sie doch die Wahrheit wüsste.
Wenn sie doch sicher wäre, dass ihre Mission nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Sie blickte zum dunklen Oktoberhimmel Oregons auf und spürte die sanfte Feuchtigkeit des Nebels auf dem Gesicht. Hatte sie schon jemals so den Kopf in den Nacken gelegt, bis sich der Nebel auf ihre Lippen und Wangen legte? Hatte sie an genau dieser Straßenecke gestanden, gegenüber dem alten Hotel Danvers, und an der Hand ihrer Mutter darauf gewartet, dass die Ampel auf Grün schaltete?
Der Verkehr strömte an ihr vorbei, unter den Rädern der Autos und Busse stoben Wasserfontänen auf. Obwohl sie sich fest in ihren Mantel hüllte, fröstelte sie, jedoch nicht wegen der kalten Herbstluft oder des Windes, der vom modrigen Willamette River ein paar Blocks weiter östlich herüberwehte. Nein, was sie frösteln ließ, waren die Gedanken an ihren Plan – ihr Schicksal, wie man ihr gesagt hatte. Sie wusste, dass ihr der Kampf ihres Lebens bevorstand.
Doch sie hatte sich nun einmal darauf eingelassen und konnte jetzt nicht aufgeben. Sie war hunderte Meilen gereist, war emotional durch die Hölle gegangen, während sie stundenlang, tagelang in mühseliger Kleinarbeit Bibliotheken und Zeitungsarchive überall im Nordwesten durchstöberte. Sie hatte jede Chronik, jeden Artikel, jede Schlagzeile über die Familie Danvers gelesen, die sie finden konnte.
Und nun sollte ihr Plan Früchte tragen. Oder sie ins Verderben stürzen. Sie blickte an dem Hotel hinauf: sieben Stockwerke viktorianischer Baukunst, um die Jahrhundertwende eines der größten Gebäude der Stadt, nun jedoch von neueren Bauwerken aus Beton und Stahl überragt, Wolkenkratzern, die sich majestätisch über den schmalen Straßen der Innenstadt erhoben. »Gott steh mir bei«, flüsterte sie. Trotz seiner Schönheit wirkte das Hotel Danvers doch irgendwie feindselig, als bewahrte es düstere Geheimnisse – Geheimnisse, die ihr Leben für immer verändern konnten.
Was für eine alberne Vorstellung.
Dennoch vermochte Adria die Kälte nicht abzuschütteln.
Ohne länger abzuwarten, lief sie bei Rot über die Ampel. Ein heftiger Windstoß riss ihr die Kapuze vom Kopf. Das Tageslicht wurde bereits schwächer, die wolkenverhangene Sonne senkte sich hinter die Berge im Westen, wo inmitten üppig grüner Waldlandschaft vereinzelt teure Landhäuser standen.
Das Hotel Danvers war bereits seit Monaten wegen Restaurierung für den Publikumsverkehr geschlossen. Nun waren die Arbeiten beinahe vollendet und bald würde das Hotel sich wieder in seiner früheren Großartigkeit präsentieren. In den vergangenen zwei Tagen hatte Adria beobachtet, wie Lieferwagen Tische, Stühle und andere Möbel zum Service-Eingang gebracht hatten. Heute waren für die große Neueröffnung am Wochenende Tischwäsche, Gläser und sogar Lebensmittel geliefert worden.
Gerüchten zufolge hielt sich der gesamte Danvers-Clan – Witt Danvers' erste Frau und seine vier noch lebenden Kinder – in der Stadt auf. Gut so.
Böse Vorahnungen krampften ihren Magen zusammen wie eine kalte Faust. Seit sie von der Schließung und der bevorstehenden Wiedereröffnung des Hotels gehört hatte, plante sie ihre Einführung in die Familie. Doch vorher musste sie, um das Terrain zu sondieren, mit dem Mann sprechen, der den Umbau des Hotels leitete: Zachary Danvers, der Rebell der Familie, Witts zweiter Sohn. Nach allem, was in der Presse berichtet worden war, hatte Zachary sich nie so recht eingefügt. Die Familienähnlichkeit der Danvers', die bei seinen Geschwistern so unübersehbar war, trat bei ihm nicht zutage. Außerdem war er in seiner Jugend mehr als einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Nur das Vermögen seines alten Herrn hatte Zachary vor ernsthaften Schwierigkeiten bewahrt, und es wurde gemunkelt, er sei nicht nur das ungeliebteste von Witts Kindern, sondern werde auch in seinem Testament kaum bedacht.
Ja, Zachary war der Mann, den sie zuerst aufsuchen musste. Sie hatte sich sein Foto gut eingeprägt, sodass sie ihn sicher auf Anhieb erkennen würde. Etwas über einsachtzig groß, mit pechschwarzem Haar, bräunlichem Teint und tief liegenden grauen Augen unter dichten Brauen, war er der einzige von Witt Danvers' Söhnen, der seinem Vater nicht ähnlich sah. Er war schmaler gebaut als die übrigen Männer der Familie, und seine Gesichtszüge wirkten wie aus dem Stein der Klippen gemeißelt, die sich über dem Pazifik erhoben. Er war ein schroffer Kerl, zäh wie Leder, mit einem harten Mund, der auf Fotos kaum jemals lächelte. Über dem rechten Ohr hatte er eine Narbe, die durch den Haaransatz verlief, und seine gebrochene Nase zeugte von einem ungestümen Temperament.
Durch eine Seitentür, die für die Arbeiter geöffnet war, gelangte Adria in das Foyer, wo gerade zwei Männer unter dem Gewicht eines langen, in Folie verpackten Sofas ächzten. Sie hörte Stimmen im Hintergrund, sah Hotelangestellte und Handwerker zwischen dem Speisesaal und der Küche gegenüber der Eingangstür hin und her eilen. Der Geruch von Reinigungsmitteln, Terpentin und Möbelpolitur schlug ihr entgegen und das Kreischen einer Säge mischte sich in das Summen von Industriestaubsaugern.
Während die Arbeiter das Sofa an einem riesigen Kamin abstellten, blieb Adria im Foyer stehen und sah sich um. Dieses Hotel war einmal das prächtigste in ganz Portland gewesen, ein Versammlungsort für Würdenträger und Stadtväter, an dem Entscheidungen getroffen und Zukunftspläne geschmiedet wurden. Sie hob den Blick zu den kunstvollen Bleiglasfenstern über den Außentüren, die die letzten Strahlen des Tageslichts einfingen und bernsteinfarbene, rosige und blaue Flecken auf den Fliesenboden vor dem Empfangstresen warfen.
Adria schluckte krampfhaft, doch der Kloß in ihrem Hals wollte nicht verschwinden. Dieses Hotel war ihr Erbe. Ihr Geburtsrecht. Ihre Zukunft.
Oder nicht?
Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Entschlossen ging sie auf die breite, geschwungene Treppe zu, die hinauf zur Galerie führte.
»He, Sie da! Lady, hier ist geschlossen!« Die tiefe Stimme gehörte zu einem kräftigen, grobschlächtigen Mann, der auf einem Gerüst unter dem Treppenabsatz des ersten Stockwerks stand und sich an dem Kronleuchter über dem Empfangstresen zu schaffen machte.
Adria ignorierte ihn und stieg die mit Teppich ausgelegte Treppe hinauf.
»Hey, ich rede mit Ihnen!«
Sie zögerte, eine Hand auf dem Geländer. Ihr Vorhaben versprach nicht einfach zu werden, doch der Elektriker war nur ein unbedeutendes Hindernis. Das erste von vielen. Mit einem entwaffnenden Lächeln drehte sie sich um und straffte die Schultern. »Sind Sie Zachary Danvers?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort kannte.
»Nein, aber …«
»Sind Sie mit den Danvers' verwandt?«
»Was soll das?« Der Handwerker sah sie unter seinem Schutzhelm hervor finster an. »Nein, natürlich nicht, aber Sie dürfen da nicht raufgehen!«
»Ich habe eine Verabredung mit Zachary Danvers«, erklärte sie, kühle Autorität in der Stimme.
»Eine Verabredung?«, wiederholte der Elektriker skeptisch.
Sie hielt seinem Blick stand. »Ja, eine Verabredung.«
»Das ist mir neu. Ich bin sein Vorarbeiter und er hat mir nichts davon gesagt.« Der Mann musterte sie mit Argwohn.
»Vielleicht hat er es vergessen«, entgegnete Adria und zwang sich zu einem unterkühlten Lächeln. »Aber ich muss mit ihm oder einem anderen Mitglied der Familie Danvers reden.«
»Er kommt ungefähr in einer halben Stunde zurück«, sagte der Mann widerwillig.
»Ich werde auf ihn warten. Im Ballsaal.«
»Hey, ich glaube nicht …«
Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, eilte Adria die übrigen Treppenstufen hinauf. Der hochflorige Teppich verschluckte das Geräusch ihrer Schritte. Ihr Atem ging flach vor Nervosität.
»Scheiße«, fluchte der Mann leise, blieb jedoch auf dem Gerüst und setzte seine Arbeit fort. »Verdammte Weiber …«
Adrias Herz schlug so heftig, dass sie kaum zu atmen vermochte, doch am oberen Treppenabsatz angekommen, wandte sie sich zielstrebig nach links und stieß eine Doppeltür auf. Es war dunkel in dem Raum. Ihre Kehle wurde eng und sie tastete rasch nach dem Lichtschalter.
Plötzlich tauchten hunderte Miniaturkerzen in Kristalllüstern den gesamten Saal in strahlendes Licht. Ihr stockte der Atem beim Anblick des polierten Eichenbodens, der hohen Bogenfenster und des schwindelerregenden Lichtes von einer Million kleiner Glühbirnen, das sich im Kristall brach.
Sie spürte einen Kloß im Hals und musste blinzeln, um die Tränen zurückzuhalten. Hier war es geschehen? Hier war ihr junges Leben aus der vorbestimmten Bahn gerissen worden, einer ungewissen Zukunft entgegen?
Warum? Sie nagte an ihrer Unterlippe. Lieber Himmel, weshalb konnte sie sich nur nicht erinnern?
Der Oktoberregen tropfte aus seinem Haar in den Kragen seiner Jacke. Totes Laub klebte auf dem Gehsteig, dichter Oktobernebel schien von den nassen Straßen aufzusteigen und sich an den Häuserecken zu verdichten. Autos, Lieferwagen und LKW donnerten vorüber. Ihre Scheinwerfer durchdrangen schwach den von Straßenlaternen erhellten Dunst.
Zachary Danvers war übel gelaunt. Dieses Projekt hatte sich zu lange hingezogen, er hatte zu viel Zeit damit vergeudet. Das war es nicht wert, auch wenn er einen gewissen Stolz auf seine Leistungen empfand. Hier zu arbeiten, diese Restaurierung zu leiten gab ihm das Gefühl, ein Heuchler zu sein. Er war froh, dass die Arbeiten so gut wie abgeschlossen waren. Leise auf sich selbst, seine Brüder und vor allem auf seinen verstorbenen Vater fluchend, öffnete er die Glastür des alten Hotels. Ein Jahr seines Lebens hatte er hier verbracht. Ein ganzes Jahr – und das nur wegen eines Versprechens, das er vor ein paar Jahren am Sterbebett seines Vaters geleistet hatte. Aus Habgier.
Bei dem Gedanken stieg es ihm säuerlich in die Kehle. Vielleicht war er dem alten Herrn doch ähnlicher, als er sich eingestehen mochte.
Der kürzlich eingestellte Hotelmanager, ein nervöser Typ mit schütterem Haar und einem Adamsapfel, der ständig in Bewegung war, stand hinter einem langen Mahagonitresen, dem Prunkstück des Foyers, und wies einen neuen Mitarbeiter ein. Zachary hatte das geschundene Stück aus dunklem Holz in einer jahrhundertealten Kneipe in einem heruntergekommenen Haus abseits von Burnside entdeckt. Die Kneipe sollte abgerissen werden, doch Zach hatte sich entschieden, den Bartresen zu restaurieren. Die Arbeit war zeitraubend gewesen, aber nun schimmerte das einst verschrammte Mahagoni herrlich im Lampenlicht.
Sämtliche Installationen waren durch Antiquitäten oder sehr gute Nachbildungen ersetzt worden, und nun strahlte das Hotel den authentischen Charme der 1890er aus, gepaart mit den Annehmlichkeiten der 1990er.
Den Werbeleuten hatte diese Formulierung ausgezeichnet gefallen.
Warum er eingewilligt hatte, das alte Hotel zu renovieren, war ihm selbst immer noch ein Rätsel. Womöglich gar aus einem latenten Familienstolz heraus. »Scheiße«, knurrte er. Er war die Stadt mit ihrem Lärm und der schlechten Luft leid, vor allem aber war er seine Familie leid oder das, was von ihr geblieben war.
»Hey, Danvers!«, schrie sein Vorarbeiter Frank Gillette ihm von seinem Platz hoch oben auf dem Gerüst aus zu, als er ins Foyer trat. Gillette arbeitete gerade an der Verkabelung eines besonders launischen Kronleuchters. »Da sind Sie ja. Oben im Ballsaal wartet eine Frau auf Sie, schon seit über einer Stunde.«
Zachs Augen wurden schmal. »Was für eine Frau?«
»Hat sich nicht vorgestellt. Sie behauptet, sie hätte eine Verabredung mit Ihnen.«
»Mit mir?«
»Sagt sie.« Frank stieg die Leiter hinunter. »Mit mir konnte sie nicht reden, weil ich kein – wie war das – kein ›Mitglied der Familie Danvers‹ bin.«
Frank sprang zu Boden und rieb sich den Staub von den Händen. Dann zog er ein zerknittertes Taschentuch aus der Gesäßtasche und wischte sich damit unter seinem Schutzhelm den Schweiß ab.
Irgendwo aus der Nähe der Küche ertönte ein Scheppern, gefolgt vom Klappern von Besteck, das durch das gesamte Hotel hallte.
»Herrgott noch mal!« Frank hob ruckartig den Kopf und warf einen erbosten Blick in Richtung Küche. »Zum Teufel mit Casey.«
»Ist sie Reporterin?«
»Die Frau?« Frank klopfte seine Taschen nach Zigaretten ab. »Wenn ich das wüsste. Ich sag ja, sie wollte nicht mit mir reden, weil ich kein Danvers bin. Dabei hätte ich gar nichts dagegen gehabt, mich ein bisschen um sie zu kümmern.«
»Hübsch?«
Frank nickte. »Allerdings.«
»M-hm.«
»Hören Sie, ich hab keine Ahnung, was es mit der Dame auf sich hat, aber wenn wir sie nicht gerade eigenhändig hier rauszerren wollen, haben wir ein Problem. Das Betreten des Hotels ist verboten. Wenn sie ausrutscht und sich den Hals bricht und die Aufsichtsbehörde kriegt Wind davon …«
»Sie machen sich zu viele Sorgen.«
»Dafür bezahlen Sie mich schließlich.« Frank fand sein verknittertes Päckchen Camel und klopfte eine Zigarette heraus.
»Machen Sie nur ihre Arbeit. Ich kümmere mich um die Versicherung und um die Frau.«
»Gut.« Zufrieden ließ der Vorarbeiter sein Feuerzeug klicken und sog den Zigarettenrauch tief ein. »So, dann wollen wir mal sehen, ob das Ding jetzt funktioniert. Hey, Roy, schalte den Saft wieder ein.« Er griff hinter den Tresen und betätigte den Schalter für den Kronleuchter. Glühlampen in der Form von Kerzen leuchteten eine Sekunde lang auf, flackerten dann und verloschen. »Diese verdammten Leitungen«, knurrte Frank erbost. Die Zigarette hüpfte zwischen seinen Lippen. »Ich hab diesem Schwachkopf Jerry doch gesagt, er soll … ach, zum Teufel!« Gereizt blies er den Rauch durch die Nase aus. »Roy, mach den Strom wieder aus!«, brüllte er.
»Dann gehe ich jetzt mal rauf und rede mit der geheimnisvollen Dame.«
»Tun Sie das«, brummte Frank, drückte seine Zigarette aus und stieg wieder auf das Gerüst. Zach zweifelte nicht daran, dass rechtzeitig zur grandiosen Eröffnungsfeier alles perfekt funktionieren würde. Frank würde dafür sorgen, und wenn er persönlich zwei Drähte aneinanderhalten müsste.
Von der Treppe aus ließ Zach den Blick über das Foyer schweifen. Dabei dachte er an seinen Vater, Witt Danvers. Ein Mann, der einem den letzten Nerv rauben konnte.
Im Augenblick wäre Witt stolz gewesen auf den Sohn, den er ein halbes Dutzend Mal enterbt hatte. Nicht dass das jetzt noch einen Unterschied gemacht hätte – Witt Danvers war tot und kremiert, seine Asche war vor zwei Jahren über die bewaldeten Hügel Oregons verstreut worden. Ein angemessenes Ende für einen Bauholzbaron, der sein Leben lang das Land ausgebeutet hatte.
Zach rieb durch seine Lederjacke hindurch die Narbe an seiner Schulter, ein Andenken daran, dass er Witt Danvers' Sohn war. Es hatte Jahre gedauert, bis er mit dem alten Herrn auf einen grünen Zweig gekommen war, und jetzt war es zu spät für eine Wiedergutmachung.
»Ruhe in Frieden, du elender Schweinehund«, sagte Zachary vor sich hin und presste die Lippen zusammen, während er für einen Moment vor der Tür zum Ballsaal stehen blieb. Sein Vater hatte Zach immer anders behandelt als seine übrigen Kinder. Doch das brauchte ihn heute nicht mehr zu kümmern. Zach besaß sein eigenes Gewerbe, führte sein eigenes Leben. Die Schlinge um den Hals, die man als Sohn eines der reichsten Männer von Portland stets spürte, erschien ihm nicht mehr so eng.
Er öffnete die Tür, ging zwei große Schritte in den Ballsaal hinein und blieb dann beim Anblick der Frau wie vom Donner gerührt stehen. Sie trug einen langen schwarzen Mantel und dazu passende kniehohe Stiefel. Als sie ihn eintreten hörte, drehte sie sich um, und noch bevor sie ein Wort gesprochen hatte, wusste er, warum sie gekommen war.
Glänzende schwarze Locken umspielten ein makelloses Gesicht. Blaue Augen, eingerahmt von dichten schwarzen Wimpern, sahen ihm offen entgegen. Sie zog fragend die schmalen schwarzen Augenbrauen hoch, dann lächelte sie, und Zach hatte das Gefühl, als setze sein Herz einen Schlag aus beim Anblick der gleichmäßigen weißen Zähne, der zart geschwungenen Wangenknochen und des kräftigen, etwas eigenwilligen Kinns.
Atemlos starrte er sie an.
»Du bist Zachary«, sagte sie, als sei es ihr gutes Recht, in diesem Ballsaal zu stehen – als gehörte sie hierher.
Zachs Kehle war plötzlich wie ausgetrocknet und lang verdrängte Erinnerungen wollten sich Bahn brechen. »Ganz recht.«
»Danvers«, vervollständigte sie mit leiser Stimme, und ihr Mund wurde ein wenig schmaler. Dann ging sie mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. »Ich wollte dich schon lange einmal kennenlernen«, sagte sie mit gezwungenem Lächeln. »Ich bin …«
»London«, vollendete er den Satz, und jeder Muskel in seinem Körper spannte sich an, als der Schmerz der Vergangenheit über ihn hereinbrach.
»Du erkennst mich?« Hoffnung glomm in ihren blauen Augen auf.
»Es besteht eine gewisse Ähnlichkeit. Ich habe geraten.«
»Oh.« Sie zögerte, war merklich verunsichert.
»Aber darum bist du hier, nicht wahr?«
»Ja.«
»Du hältst dich also für meine lang verschollene Schwester.« Der Zynismus in seinen Worten war nicht zu überhören.
Ihre klaren blauen Augen trübten sich und sie ließ die zum Gruß ausgestreckte Hand sinken. »Ich denke, dass ich es bin, aber ich weiß es nicht mit Sicherheit. Deswegen bin ich hergekommen.« Sie schien wieder zu ihrer früheren Selbstsicherheit zurückzufinden. »Mein Name ist schon seit langer Zeit Adria.«
»Du weißt es nicht?« Eine Minute lang starrte er wie gebannt in diese großen blauen Augen – Augen so ähnlich jenen anderen, trügerischen, die bis in den Grund seiner Seele zu blicken schienen. Doch dann besann er sich. Wie konnte er auch nur eine Sekunde lang glauben, diese Frau sei möglicherweise London? Erkannte er Betrügerinnen nicht längst auf eine Meile gegen den Wind? Schön, sie war also seiner Stiefmutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Na und? »Meine Schwester ist seit fast zwanzig Jahren tot«, sagte er in ausdruckslosem Ton, so, wie er mit Lügnern und Betrügern zu reden pflegte.
»Halbschwester.«
»Egal.«
Sie schaute sich im Saal um. »Ich wollte nur sehen, ob ich mich an diesen Ort erinnern kann …«
»London war vier.«
»Beinahe fünf. Und selbst Vierjährige haben Erinnerungen – vielleicht nur vage Eindrücke, aber dennoch …« Ihr Blick wanderte zu einer Ecke bei den Fenstern. »Dort in der Nische saß die Band und da standen Pflanzen … Bäume in Kübeln, glaube ich.« Sie zog die Augenbrauen zusammen, als versuchte sie, eine flüchtige Erinnerung zu greifen. »Und da war ein großer Brunnen und eine Skulptur aus Eis, ein … ein Pferd, das heißt … ein galoppierendes Pferd, und –«
»Du hast gründlich recherchiert.«
Sie presste die Lippen zusammen. »Du glaubst mir nicht.«
»Du solltest lieber gehen.« Zachary wies mit einer Kopfbewegung zur Tür. »London ist tot. Sie starb vor mehr als zwanzig Jahren. Also Schluss mit dem Theater – verschwinde, geh nach Hause, bevor ich dich vor die Tür setze.«
»Woher weißt du, dass London tot ist?«
Seine Kehle schnürte sich zu. Er erinnerte sich mit schmerzlicher Klarheit an die Vorwürfe gegen ihn, daran, wie man mit Fingern auf ihn gezeigt, ihm argwöhnische Blicke zugeworfen hatte. »Es ist mein Ernst. Du solltest jetzt gehen.«
»Mir ist es auch ernst, Zach.« Sie vergrub die Hände in den Taschen, sah sich noch einmal in dem Saal um und blickte ihm dann in die Augen. »Nur dass du's weißt: Ich gebe nicht so schnell auf.«
»Vergiss es.«
»Wer hat hier das Sagen?«
»Das spielt keine Rolle.« Seine Stimme klang hart, seine Miene drückte rücksichtslose Entschlossenheit aus. »Meinetwegen kannst du mit meinen Geschwistern reden, mit meiner Mutter oder mit den Anwälten, die sich mit dem Nachlass meines Vaters als Finanzgötter aufspielen – keiner von ihnen wird dich auch nur grüßen. Also spar dir die Mühe und vergeude nicht meine Zeit. Ich rate dir, geh einfach nach Hause.«
»Das hier könnte mein Zuhause sein.«
»Unsinn.«
»Schade, dass Katherine nicht mehr lebt.«
Bei der Erwähnung seiner schönen, viel zu jungen Stiefmutter überlief es Zachary kalt. Die Ähnlichkeit zwischen der Frau, die hier so selbstbewusst vor ihm stand, und der zweiten Ehefrau seines Vaters, Katherine, Kat – der Frau, die ihm jahrelang das Leben zur Hölle gemacht hatte –, war nicht zu übersehen. »Ist das wirklich schade oder doch eher günstig für dich?«, fragte er eisig.
Sie wurde ein wenig blass.
»Raus.«
»Du hast Angst vor mir.«
»Ich sagte: raus.«
Sie schaute ihm noch eine Sekunde lang eindringlich in die Augen, dann schritt sie durch die Tür des Ballsaals und die Treppe hinunter. Zachary trat ans Fenster und sah ihr nach, während sie mit langen, zielstrebigen Schritten durch den Regen die Straße entlangging.
Sie würde wiederkommen. Sie versuchten es immer von Neuem, so lange, bis sie vor der Macht der Danvers' kapitulieren und ihre kühnen Träume, ein wenig vom Geld des alten Herrn an sich zu bringen, aufgeben mussten.
Auf Nimmerwiedersehen, dachte er, doch als sie um eine Straßenbiegung verschwand, überkamen ihn dunkle Vorahnungen. Plötzlich wusste er mit beängstigender Sicherheit, dass diese hier – diese Hochstaplerin, die sich als London Danvers ausgab – irgendwie anders war als alle bisherigen.